Lincoln Rhyme Band 4: Das Gesicht des Drachen
Doch kurz vor der Küste zündet er einen gewaltigen Sprengsatz und verschwindet, ohne eine Spur...
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Doch kurz vor der Küste zündet er einen gewaltigen Sprengsatz und verschwindet, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Fieberhaft machen sich Lincoln Rhyme und Amelia Sachs daran, den eiskalten Killer aufzuspüren.
''Deaver ist ein grandioser Erzähler, der den Leser auf eine Achterbahn der Gefühle schickt.''
Daily Telegraph
Das Gesicht des Drachen von Jeffery Deaver
LESEPROBE
Sie waren die Verschwundenen, die vom Unglück Verfolgten.
Für die Menschenschmuggler - die »Schlangenköpfe« -, die sie wie Palettenverdorbener Ware um die halbe Welt beförderten, waren sie ju-jia: Ferkel.
Für die Beamten der amerikanischen Einwanderungsbehörde, die ihre Schiffeaufbrachten, sie verhafteten und abschoben, waren sie Illegale.
Sie waren die Hoffnungsvollen, die Heimat, Familie und eine tausendjährigeAhnenreihe gegen die illusionslose Gewissheit eintauschten, dass ihnengefährliche und arbeitsreiche Jahre bevorstanden.
Die nur eine winzige Chance hatten, in einem Land sesshaft zu werden, das ihrenFamilien Wohlstand versprach, weil dort, so hieß es, Freiheit, Geld undZufriedenheit so alltäglich wie Sonnenschein und Regen seien.
Sie waren seine kostbare Fracht.
Und nun musste Kapitän Sen Zi-jun, die Beine gegen die tosenden, fünf Meterhohen Wogen fest auf den Boden gestemmt, sich von der Brücke zwei Decks nachunten in den düsteren Laderaum vorkämpfen, um ihnen die schlimme Nachricht zuüberbringen, dass die wochenlange beschwerliche Reise womöglich ganz umsonstgewesen war.
Es war kurz vor Tagesanbruch an einem Dienstag im August. Der stämmige Seemann,der seinen Kopf kahl geschoren hatte und stolz einen kunstvoll gezwirbelten,buschigen Schnurrbart zur Schau trug, schob sich an den leeren Containernvorbei, die zur Tarnung auf dem Deck der zweiundsiebzig Meter langen FuzhouDragon verzurrt waren, und öffnete die schwere Stahlluke zum Frachtraum. In demspartanischen, fensterlosen Raum kauerten zwei Dutzend Menschen. Unter denbilligen Feldbetten trieben Abfälle und Kinderbauklötze aus Plastik im flachenBilgenwasser.
Trotz des starken Seegangs stieg Kapitän Sen, der dreißig Jahre Erfahrung aufden Weltmeeren besaß, die steile Metalltreppe hinunter, ohne die Handläufe zubenutzen, und trat in die Mitte des Laderaums. Ein Blick auf dieKohlendioxidanzeige verriet keine besorgniserregende Konzentration, obwohl dieLuft nach Dieselkraftstoff und nach Menschen stank, die zwei Wochen auf engstemRaum ausgeharrt hatten.
Im Gegensatz zu den Kapitänen und Mannschaften vieler anderer »Eimer« - wie dieSchlepperschiffe im Allgemeinen genannt wurden -, die ihre Passagierebestenfalls ignorierten, sie manchmal jedoch sogar schlugen odervergewaltigten, fügte Sen den Leuten keinen Schaden zu, sondern war fest davonüberzeugt, ein gutes Werk zu tun: Er half diesen Familien aus einer schwierigenLage, an deren Ende zwar kein sicherer Reichtum, aber immerhin die Aussicht aufein glückliches Leben in Amerika stand, das auf Chinesisch Mei Guo hieß:»Schönes Land«.
Auf dieser Überfahrt allerdings schienen die meisten der Emigranten ihm nichtzu trauen. Das war verständlich, denn sie nahmen an, er mache gemeinsame Sachemit dem Schlangenkopf, der die Dragon gechartert hatte: Kwan Ang, eher bekanntunter seinem Spitznamen Gui, der Geist. Da Kwan als überaus gewalttätig galt,hatten die Passagiere fast jedes Gesprächsangebot des Kapitäns ausgeschlagen.Nur mit einem der Männer hatte Sen sich ein wenig anfreunden können. ChangJingerzi - der den westlichen Namen Sam Chang vorzog - war fünfundvierzig Jahrealt und hatte früher als Universitätsprofessor in einem Vorort der großensüdostchinesischen Hafenstadt Fuzhou gelebt. Er nahm seine gesamte Familie nachAmerika mit: seine Frau, zwei Söhne und seinen verwitweten Vater.
Unterwegs hatten Chang und Sen ein halbes Dutzend Mal im Frachtraum gesessen,den starken mao-tai getrunken, den der Kapitän stets in ausreichender Menge anBord mitführte, und sich über das Leben in China und den Vereinigten Staatenunterhalten.
Sen entdeckte Chang auf einer Pritsche in der vorderen Ecke des Laderaums. Derhoch gewachsene, gelassene Mann runzelte die Stirn, als er den Kapitän sah. Erreichte seinem halbwüchsigen Sohn das Buch, aus dem er den anderen vorgelesenhatte, und stand auf.
Alle Anwesenden verstummten.
»Unser Radar zeigt ein schnelles Schiff auf Abfangkurs.«
Bestürzung machte sich breit.
»Die Amerikaner?«, fragte Chang. »Die Küstenwache?«
»So muss es wohl sein«, antwortete der Kapitän. »Wir befinden uns inamerikanischen Hoheitsgewässern.«
Er ließ den Blick über die verängstigten Gesichter der Emigranten schweifen.Wie bei nahezu jeder Ladung Illegaler, die Sen transportiert hatte, waren auchdiese ehemals Fremden innerhalb kurzer Zeit zu Freunden geworden. Nun fasstensie einander bei den Händen oder raunten sich leise etwas zu, mancheverunsichert, andere beruhigend. Die Augen des Kapitäns richteten sich auf eineFrau, die ihre anderthalbjährige Tochter im Arm hielt. Die Mutter, derenGesicht von den Schlägen in einem Umerziehungslager gezeichnet war, senkte denKopf und brach in Tränen aus.
»Was können wir tun?«, fragte Chang besorgt.
Kapitän Sen wusste, dass der Professor offene Kritik am chinesischen Regimegeäußert hatte und daraufhin fliehen musste. Falls die amerikanischeEinwanderungsbehörde ihn zurück in die Heimat schickte, würde er wahrscheinlichals politischer Gefangener in einem der berüchtigten Gefängnisse im WestenChinas landen.
»Es ist nicht mehr weit bis zum Absetzpunkt, und wir sind mit voller Kraftunterwegs. Mit etwas Glück kommen wir nahe genug an die Küste heran, um Sie mitSchlauchbooten übersetzen zu können.«
»Nein, nein«, wandte Chang ein. »Bei diesen Wellen? Wir würden alle sterben!«
»Ich steuere einen natürlichen Hafen an. Dort dürfte es ruhig genug sein, dassSie auf die Boote umsteigen können. Am Ufer warten bereits Lastwagen, um Sienach New York zu bringen.«
»Und was ist mit Ihnen?«, fragte Chang.
»Ich fahre wieder hinaus in den Sturm. Bis die Beamten gefahrlos an Bord kommenkönnen, befinden Sie sich längst auf den goldenen Pfaden, die direkt in dieStadt der Diamanten führen ... Und jetzt sollten alle ihre Sachenzusammenpacken. Nehmen Sie nur das Notwendigste mit, das Geld, die Fotos. Allesandere lassen Sie zurück, denn Sie müssen so schnell wie möglich an Landgelangen. Bleiben Sie unter Deck, bis entweder der Geist oder ich Sie nach obenrufen.«
Kapitän Sen eilte die steile Treppe wieder hinauf und richtete ein Stoßgebet anTian Hou, die Göttin der Seeleute, sie möge ihrer aller Leben beschützen. Dannwich er der grauen Wasserwand aus, die neben dem Schiff aufragte.
Als er die Brücke erreichte, stand dort der Geist vor dem Radarschirm undstarrte auf die schimmernde Anzeige. Der Mann verharrte völlig reglos und hieltsich mit beiden Händen fest, um auf dem schlingernden Schiff nicht dasGleichgewicht zu verlieren.
Manche der Schlangenköpfe kleideten sich wie die reichen kantonesischenGangster aus einem Film von John Woo, doch der Geist sah stets wie ein ganzgewöhnlicher Chinese aus, mit schlichter Stoffhose und einem kurzärmeligenHemd. Er war muskulös, ziemlich klein, glatt rasiert, trug das Haar etwaslänger als ein typischer Geschäftsmann, benutzte aber weder Gel noch Spray.
»In fünfzehn Minuten haben sie uns erreicht«, sagte der Schlangenkopf. Sogarjetzt, angesichts einer drohenden Enterung und Festnahme, wirkte er solethargisch wie der Fahrkartenverkäufer eines ländlichen Busbahnhofs.
»Fünfzehn?«, entgegnete der Kapitän. »Unmöglich. Mit wie vielen Knoten sind diedenn unterwegs?«
Sen ging zum Kartentisch, dem Kernstück aller hochseetüchtigen Schiffe. Daraufausgebreitet lag eine Seekarte des Gebiets, hergestellt von der amerikanischenDefense Mapping Agency. Zur Ermittlung der relativen Position beider Schiffestanden ihm nur diese Karte und das Radar zur Verfügung, denn um nichtangepeilt werden zu können, hatten sie die Satellitennavigation der Dragon, dasEPIRB-Funkfeuer und das Global Maritime Distress and Safety Systemabgeschaltet.
»Ich schätze, es wird noch mindestens vierzig Minuten dauern«, sagte derKapitän.
»Nein, ich habe genau verfolgt, welche Strecke sie seit der ersten Sichtungzurückgelegt haben.«
Kapitän Sen sah kurz zu dem Matrosen am Ruder der Fuzhou Dragon, der sichschwitzend abmühte, die mit einem Stück Schnur markierte Speiche des Rads immergenau senkrecht zu halten, was bedeutete, dass das Steuer exakt parallel zum Rumpfausgerichtet war. Die Gashebel standen auf volle Kraft voraus. Falls der Geistmit seiner Einschätzung Recht behielt, blieb ihnen nicht mehr genug Zeit, dengeschützten Hafen zu erreichen. Sie würden sich der felsigen Küste allenfallsbis auf einen knappen Kilometer nähern können - was dicht genug war, um dieSchlauchboote zu Wasser zu lassen, die dann jedoch der erbarmungslosen Seeausgesetzt wären.
»Womit werden die Amerikaner bewaffnet sein?«, fragte der Geist.
»Wissen Sie das denn nicht?«
»Man hat mich noch nie abgefangen«, erwiderte der Geist. »Reden Sie schon.«
Bisher hatte Sen es zweimal erlebt, dass Schiffe unter seinem Kommandoangehalten und geentert wurden - zum Glück auf völlig legalen Reisen und nichtwährend seiner Emigrantentransporte für die Schlangenköpfe. Doch die Erfahrungwar trotzdem alles andere als angenehm gewesen. Ein Dutzend bewaffnete Beamtender Küstenwache hatten sich an Bord verteilt, derweil Sen und die Mannschaftvon Deck des anderen Boots aus mit einem zweiläufigen Maschinengewehr in Schachgehalten worden waren. Außerdem hatte es dort ein kleines Geschütz gegeben.
Er verriet dem Geist, womit sie rechnen mussten.
Der Mann nickte. »Wir sollten die verschiedenen Alternativen überdenken.«
»Was für Alternativen?«, fragte der Kapitän. »Sie denken doch nicht etwa daran,einen Kampf zu riskieren, oder? Nein, das werde ich nicht zulassen.«
Aber der Schlangenkopf reagierte nicht. Er blieb am Radar stehen und starrteauf den Schirm.
Der Mann wirkte absolut ruhig, wenngleich der Kapitän vermutete, dass erinnerlich vor Wut kochte. Keiner der Schlangenköpfe, mit denen Sen bislangzusammengearbeitet hatte, hatte so viele Vorkehrungen getroffen, um einemögliche Entdeckung und Gefangennahme zu vermeiden, wie der Geist auf dieserFahrt. Die zwei Dutzend Emigranten hatten sich in einem leeren Lagerhaus amRande Fuzhous einfinden und dort zwei Tage unter der Aufsicht eines Handlangersdes Geists - eines »kleinen Schlangenkopfs« - ausharren müssen. Dann hatte derMann die Chinesen in eine gecharterte Tupolev 154 verfrachtet, die zu einemverlassenen Militärflugplatz in der Nähe des russischen Sankt Petersburggeflogen war. Dort mussten die Leute in einen Schiffscontainer umsteigen,wurden 120 Kilometer nach Wyborg gefahren und an Bord der Fuzhou Dragongebracht, die erst tags zuvor in den russischen Hafen eingelaufen war. DieZolldokumente und das Ladungsverzeichnis hatte Sen höchstpersönlich undpeinlich genau ausgefüllt - alles streng nach Vorschrift, um keinen Verdacht zuerregen. Der Geist war erst in letzter Minute zu ihnen gestoßen, und das Schiffhatte planmäßig abgelegt. Nach Ostsee, Nordsee und dem englischen Kanal hattedie Dragon dann in der Keltischen See bei 49° nördlicher Breite und 7°westlicher Länge den Ausgangspunkt der berühmten Transatlantikrouten erreichtund südwestlichen Kurs nach Long Island, New York, eingeschlagen.
Genau genommen hätte nichts an dieser Fahrt das Misstrauen der amerikanischenBehörden wecken dürfen. »Wie hat die Küstenwache das angestellt?«, fragte derKapitän.
»Was denn?«, entgegnete der Geist zerstreut.
»Uns gefunden. Wie haben sie das geschafft? Es ist völlig unmöglich.«
© Blanvalet
Übersetzung: Thomas Haufschild
Autoren-Porträt von Jeffery Deaver
Jeffery Deaver gilt als einer der weltweit besten Autorenintelligenter psychologischer Thriller. Seit dem ersten großen Erfolg alsSchriftsteller hat er sich aus seinem Beruf als Rechtsanwalt zurückgezogen undlebt nun abwechselnd in Virginia und Kalifornien. Seine Bücher wurden in 12Sprachen übersetzt und haben ihm bereits zahlreiche renommierte Auszeichnungeneingebracht.
Die kongeniale Verfilmung seines Romans "Die Assistentin" unter dem Titel "DerKnochenjäger" (mit Denzel Washington und Angelina Joliein den Hauptrollen) war weltweit ein sensationeller Kinoerfolg und hat demfaszinierenden Ermittler- und Liebespaar Lincoln Rhymeund Amelia Sachs eine riesige Fangemeinde erobert.
- Autor: Jeffery Deaver
- 2004, 475 Seiten, Maße: 11,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Haufschild, Thomas
- Übersetzer: Thomas Haufschild
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442360919
- ISBN-13: 9783442360918
- Erscheinungsdatum: 01.10.2004
3 von 5 Sternen
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