Liquidation
Für den Lektor Keserü wird 10 Jahre nach der Wende ein Theaterstück seines Freundes B. zum Gegenstand obsessiver Erinnerungsarbeit. B. hat sich 1990 umgebracht, in dem Stück jedoch genau die Situation vorweggenommen, die die Hinterbliebenen erleben...
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Für den Lektor Keserü wird 10 Jahre nach der Wende ein Theaterstück seines Freundes B. zum Gegenstand obsessiver Erinnerungsarbeit. B. hat sich 1990 umgebracht, in dem Stück jedoch genau die Situation vorweggenommen, die die Hinterbliebenen erleben sollten: Verwirrung, Streit und Schlammschlachten aller Art.
Liquidation vonImre Kertész
LESEPROBEN
Nennen wir unseren Mann, den Helden dieser Geschichte,Keserü. Wir denken uns einen Menschen und dazu einen Namen. Oder andersherum:wir denken uns den Namen und dazu einen Menschen. Obschon wir das alles auchlassen können, weil unser Mann, der Held dieser Geschichte, auch inWirklichkeit Keserü heißt.
Schon seinVater hieß so.
Und sogarschon sein Großvater.
Keserü warinfolgedessen unter dem Namen Keserü ins Geburtenregister eingetragen worden:Das also ist die Wirklichkeit, von welcher - der Wirklichkeit nämlich - Keserüneuerdings nicht mehr allzu viel hielt. Neuerdings - in einem der späten Jahredes vergehenden Jahrtausends, sagen wir, just im frühen Frühling 1999,an einem sonnigen Vormittag - war die Wirklichkeit für Keserü zueinem problematischen Begriff, doch was noch schlimmer ist: zu einemproblematischen Zustand geworden. Ein Zustand, dem es - nach Keserüs innigstem Empfinden- am allermeisten an Wirklichkeit mangelte. Wenn er irgendwie zum Gebrauchdieses Wortes gezwungen war, setzte Keserü sofort immer »die sogenannte Wirklichkeit«hinzu. Es war allerdings eine ziemlich armselige Genugtuung, die Keserü auchnicht befriedigte.
Keserü stand,wie neuerdings oft, am Fenster seiner Wohnung und sah auf die Straße hinunter.Diese Straße bot den allergewöhnlichsten und alltäglichsten Anblick dergewöhnlichen und alltäglichen Straßen von Budapest. Auf dem von Unrat, Öl undHundekot verdreckten Gehsteig parkten Autos, in den meterbreiten Lücken zwischenden Autos und den leprösen Häuserwänden gingen die allergewöhnlichsten undalltäglichsten Fußgänger ihren Angelegenheiten nach, der feindselige Ausdruckihrer Gesichter ließ auf finstere Gedanken schließen. Manche von ihnen,vielleicht in Eile, gingen vom Gehsteig herunter, um die im Gänsemarsch voranziehendeKolonne zu umgehen, doch die widersinnige Hoffnung, aus der Reihe tanzen zukönnen, wurde ihnen schon bald von einem ganzen Chor haßerfüllter Hupen vereitelt.Auf den Bänken des gegenüberliegenden Platzes - sofern deren Holz noch nichtabmontiert war - hatten sich die Obdachlosen des Viertels niedergelassen, mit ihrenBeuteln, Tüten und Plastikflaschen. Über einem struppigen Bart leuchtete einekarmesinrote Strickmütze, die herunterbaumelnde Troddel schaukelte fröhlich um diemartialische Gesichtsbehaarung. Den schweren, verblichenen, seiner Knöpfeberaubten Wintermantel eines Mannes mit einer zerknautschten Offiziersmütze aufdem Kopf umgürtete ein aufreizend buntgeblümtes Seidenband, vermutlich derehemalige Bestandteil eines Damenmorgenrocks. Aus einer Farmerhose blicktenknotige Frauenfüße in schiefgetretenen silbernen Abendschuhen hervor; etwasweiter entfernt lagerte, die Knie angezogen, in katatonischer Reglosigkeit eineundefinierbare Gestalt auf dem schäbigen schmalen Rasenstreifen, einem HaufenLumpen ähnlich, von Alkohol oder Drogen zu Boden gestreckt, vielleicht vonbeidem zugleich.
Während erdie Obdachlosen beobachtete, kam Keserü plötzlich zu Bewußtsein, daß er schonwieder die Obdachlosen beobachtete. Unzweifelhaft verschwendete Keserüneuerdings zuviel Aufmerksamkeit auf die Obdachlosen. Er war imstande, ganzehalbe Stunden - seiner ohnehin wertlosen Zeit - am Fenster zu vertrödeln, mitder Hingerissenheit eines Voyeurs, der sich von dem sich bietenden obszönenAnblick in keiner Weise lösen kann. Obendrein wurde dieses voyeuristischeVerhalten bei Keserü von Schuldgefühlen begleitet, gleichzeitig von einer ekelerregendenAnziehung, die schließlich in eine widerwärtige Beklemmung, in Existenzangstmündete. In dem Moment, als diese Beklemmung sich unverkennbar in ihmabzeichnete, wandte Keserü sich fast befriedigt vom Fenster ab, als hätte seinrätselhaftes Treiben sein noch rätselhafteres Ziel erreicht, und trat an seinenSchreibtisch, auf dem verschiedene Manuskripte herumlagen, aufgeblättert undausgebreitet wie verendete Vögel.
Keserü warsich darüber im klaren, daß die zwanghafte Beziehung, die sich bei ihmneuerdings, man könnte sagen, ohne sein Wissen und Einverständnis, zu den Obdachlosenentwickelt hatte, etwas Beunruhigendes hatte. Im Grunde litt er darunter wieunter einer Krankheit. Es hätte nicht mehr bedurft als den Entschluß, nichtmehr ans Fenster zu treten. Oder ganz allein zum Zweck des Lüftens oder andererpraktischer Verrichtungen dorthin zu gehen. Nur ertappte er sich dann aufeinmal abermals am Fenster, wie er die Obdachlosen beobachtete. (...)
© RowohltVerlag
Übersetzung:Laszlo Kornitzer und Ingrid Krüger
- Autor: Imre Kertész
- 2005, 144 Seiten, Maße: 11,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Lacy Kornitzer, Ingrid Krüger
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499241560
- ISBN-13: 9783499241567
- Erscheinungsdatum: 01.11.2005
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