Luke und Jon
Roman. Originalausgabe
Das starke Coming-of-Age-Debüt aus England!
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Luke und Jon “
Das starke Coming-of-Age-Debüt aus England!
Klappentext zu „Luke und Jon “
»Das erste Mal begegnete ich Jon an einem Dienstagmorgen um halb acht. Dad trat an der Tür zur Seite, und meine Augen trafen auf das helle Morgenlicht: Selbst in der frühen Morgensonne sah er ungewöhnlich aus. Er trug Großvaterklamotten: braune Schuhe, eine graue Hose und einen dunkelgrünen Wollpullover. Und eine verdammte Krawatte. Sein Seitenscheitel legte eine dünne weiße Linie frei, und jede einzelne Haarsträhne wirkte starr, als wäre sie festgeklebt. Dad hatte uns allein gelassen, und wir standen einfach da und sahen uns an.« Robert Williams Roman Luke und Jon ist ein starkes, souveränes Coming-of-Age-Debüt über eine ungewöhnliche Freundschaft, Verlust und Erwachsenwerden.
"Das erste Mal begegnete ich Jon an einem Dienstagmorgen um halb acht. Dad trat an der Tür zur Seite, und meine Augen trafen auf das helle Morgenlicht: Selbst in der frühen Morgensonne sah er ungewöhnlich aus. Er trug Großvaterklamotten:
braune Schuhe, eine graue Hose und einen dunkelgrünen Wollpullover. Und eine verdammte Krawatte. Sein Seitenscheitel legte eine dünne weiße Linie frei, und jede einzelne Haarsträhne wirkte starr, als wäre sie festgeklebt. Dad hatte uns allein gelassen, und wir standen einfach da und sahen uns an."
Robert Williams' Roman Luke und Jon ist ein starkes, souveränes Coming-of-Age-Debüt über eine ungewöhnliche Freundschaft, Verlust und Erwachsenwerden. Prämiert mit dem englischen National Book Tokens Prize, der Buchhändler auszeichnet, die selbst Romane schreiben.
braune Schuhe, eine graue Hose und einen dunkelgrünen Wollpullover. Und eine verdammte Krawatte. Sein Seitenscheitel legte eine dünne weiße Linie frei, und jede einzelne Haarsträhne wirkte starr, als wäre sie festgeklebt. Dad hatte uns allein gelassen, und wir standen einfach da und sahen uns an."
Robert Williams' Roman Luke und Jon ist ein starkes, souveränes Coming-of-Age-Debüt über eine ungewöhnliche Freundschaft, Verlust und Erwachsenwerden. Prämiert mit dem englischen National Book Tokens Prize, der Buchhändler auszeichnet, die selbst Romane schreiben.
Lese-Probe zu „Luke und Jon “
Luke und Jon von Robert WilliamsAuf dem Berg
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Ich habe grüne Augen. Vermutlich nicht das Grün, an das ihr jetzt denkt. Sie sind leuchtend grün. Sie sind erstaunlich. Ich will damit nicht angeben. Ich versuche nur, genau zu sein. Präzise und klar. Wenn ich sagen würde, meine Augen sind grün und würde es dabei belassen, stellt ihr sie euch vielleicht braungrün oder olivgrün vor. Sie sind intensiv grün. Ich will von Anfang an ehrlich sein.
Wenn mich Leute zum ersten Mal sehen, reagieren sie oft geschockt und verstummen, dann versuchen sie sich schnell wieder zu fangen. Wir tun so, als wäre das normal. Die Schüchternen und Höflichen riskieren später einen Seitenblick. Die Selbstbewussten und Taktlosen starren. Alle wollen nur sichergehen, dass sie sich nicht geirrt haben, dass es keine Täuschung des Lichts ist und meine Augen wirklich so sind.
Ich wohne in einem Haus oben auf dem Bowland Fell. Von dort aus blickt man auf eine kleine Stadt namens Duerdale. Ich bin vor einiger Zeit mit meinem Dad hierhergezogen. Mein altes Leben hat woanders auf gehört, und mein neues sollte hier beginnen. In Duerdale landeten wir aus verschiedenen Gründen, der praktische war, dass wir uns das Haus leisten konnten. Wir konnten es uns leisten, weil es langsam zerfällt. Im Dach sind Löcher, die Wände haben Risse, und die Fensterrahmen sind morsch. »Kosmetische Probleme«, murmelte mein Dad, »wir nehmen es.« Er gab dem Makler die Hand und marschierte davon. Der Makler lachte und grinste dann. Er hielt meinen Dad für bescheuert. Mein Dad ist nicht bescheuert. Wir mussten nur irgendwo unterkommen, und dieses Haus konnten wir uns leisten.
Mein Dad stellt Kinderspielzeug her. Aus Holz. Kin¬der mögen keine Holzspielsachen. Sie wollen lieber Tele¬fone, Klamotten und Geld. Zum Glück sind manche El¬tern dumm oder altmodisch genug, um die Spielsachen von meinem Dad zu kaufen. Nur deswegen können wir uns überhaupt irgendeine Bleibe leisten. Das Kind be¬kommt ein Holzspielzeug und schmollt; ich bekomme ein Haus, das zerfällt.
Nur um das klarzustellen: Seine Spielsachen sind großartig. Er wurde vom ... wie heißt das noch? ... »Ver¬band traditioneller Spielzeughersteller« mit Preisen aus¬gezeichnet. Für die ist er so was wie ein Held. Und ein bisschen ein Außenseiter. Er hat seit elf Jahren keinen Beitrag mehr gezahlt, aber sie führen ihn trotzdem noch als Mitglied. So gut ist er.
Ich stelle keine Sachen aus Holz her, aber ich male gern. Die Leute sagen, ich sei sehr gut. Manchmal fragen sie mich, wie ich das mache, und dann weiß ich keine Antwort. Es ist einfach. Viele Dinge, die den meisten Leu¬ten leicht von der Hand gehen, kann ich überhaupt nicht. Ich bin nicht gut im Ballfangen, ich kann nicht singen und auch kein Mathe, und in Computerspielen bin ich lausig. Aber mit Farbe kann ich umgehen. Ich weiß, wie ich sie in den Griff kriege. Sie tut, was ich von ihr erwarte. Ein Lehrer an meiner alten Schule sagte mal im Scherz, es sei eine Kombination aus zwei Dingen: Ich hätte die Hände meines Vaters und magische Augen. Er lachte, aber mir leuchtete das ein.
Mein Dad stellt ein paar Standardspielsachen her - Autos, Boote, Flugzeuge, Züge -, die er an Marktständen im gesamten Bezirk verkauft. Er könnte sie im Schlaf herstellen. Sie sind sein Grundbestand, er macht sie ohne weiter darüber nachzudenken. Woran er wirklich Spaß hat, sind Aufträge, die ihm die Gelegenheit geben, etwas Einmaliges anzufertigen. Etwas Besonderes. Bei solchen Aufträgen garantiert er, dass es ein Unikat sein wird. Er redet von »Massenproduktion« und »Globalisierung«. Er sagt, sie beherrsche unser Leben und zerstöre unsere Stadtzentren: »Von Inverness bis Ipswich sieht es überall gleich aus.« Er meint, die Menschen sollten Wert auf Unterschiede legen, sie sollten sich einzigartige, besondere Dinge wünschen. Und manchmal tun sie das, manchmal klingelt unser Telefon.
Dad hört dann aufmerksam zu, macht sich Notizen, nickt oft und lenkt den Kunden anhand weniger Vorschläge in die richtige Richtung. »Buche ist schön, gewiss, aber haben Sie einmal über Palisander nachgedacht? Palisander wäre perfekt.« Hinterher geht er in seine Werkstatt und vertieft sich in sein Werk. Er verbringt Stunden mit winzigen Details. Er stellt sicher, dass sich Schubladen glatt und lautlos öffnen und schließen lassen. Er überprüft mehrfach, ob alles genau im richtigen Verhältnis steht. Er schmirgelt, streicht und lackiert, damit alles so perfekt wie möglich aussieht. Am Ende berechnet er dann die Hälfte von dem, was er eigentlich nehmen sollte. Vermutlich auch ein Grund, warum wir in einem Haus wohnen, das langsam zerfällt.
Das sind also wir. Der Spielzeugmacher und der Junge mit den leuchtend grünen Augen. Die beiden Sonderlinge vom Berg.
11. April, 16.27 Uhr
Wir zogen nach Duerdale, weil Mum gestorben war. Sie starb an einem schönen Aprilnachmittag, als ihr kleines rotes Auto und ein Lastwagen ineinanderkrachten. Am 11. April, 16.27 Uhr. »Es ging ganz schnell, sie hat mit Sicher heit nichts gespürt«, erklärten sie meinem Dad. Eine Floskel, aber das war wichtig. Mum war einfach weg. Von einer Sekunde auf die andere. Ihre letzten Worte waren: »Ich hol dich ab«, dann warf sie mir eine Kusshand zu. Darüber war ich froh. Bei einem anderen Jungen in unserer Klasse, Michael, war der Vater gestorben. Eigentlich wollten sie sich ein Fußballspiel ansehen, aber sein Vater rief von der Arbeit an und sagte, er könne nicht kommen, er fühle sich nicht wohl. Michael glaubte ihm nicht, weil er in der letzten Zeit sehr viel gearbeitet hatte. Er hielt es für eine Ausrede, und sie stritten sich. Michael schrie seinen Vater an und knallte den Hörer auf. Es war das letzte Mal, dass sie miteinander redeten. Sein Vater hatte einen Schlaganfall und starb noch in derselben Nacht.
Später erfuhr ich, dass sie die Umgehungsstraße acht Stunden lang gesperrt hatten, um Reifenspuren zu vermessen und zu fotografieren, was von Mums Auto übrig war. Im gesamten Bezirk gab es kilometerlange Staus. Bei der gerichtlichen Untersuchung sagten sie, keines der beiden Fahrzeuge hätte irgendwelche Mängel aufgewiesen und beide seien in verkehrstüchtigem Zustand gewesen. Der Lastwagen war in der Woche zuvor bei der Inspektion gewesen. Und ohne Beanstandung durchgekommen. Sie sagten, niemand sei schuld. Es sei »ein tragischer Unfall, der zu Verlust von Menschenleben führte«. Der Lastwagen und der Fahrer kamen natürlich weitgehend unversehrt davon. Bei der Größe von dem Ding hätte der Fahrer vermutlich gegen den Mond fahren können, und der Mond wäre schlechter weggekommen. Nur das Auto meiner Mutter war zerquetscht und verbogen und sah aus wie ein modernes Kunstwerk. In der Lokalzeitung sah ich ein Foto von Brian Stuart, dem LKW-Fahrer. Es wurde bei der gerichtlichen Untersuchung aufgenommen, nachdem man ihm gesagt hatte, ihn treffe keine Schuld. Sein Blick war ausdruckslos. Er sah aus wie ein Geist.
Meine Mutter hatte mich vom Kunstunterricht nach der Schule abholen wollen, als es passierte. Als sie nicht auftauchte, machte ich mich allein auf den Weg. Es war so ein Frühlingstag, der einen glauben lässt, dass am nächsten Tag der Sommer beginnt, es war beinahe warm, Autofenster waren heruntergelassen und Hemdsärmel hochgekrempelt. Ich ging an dem Verkehrsstau vorbei und an den frustrierten Leuten, die in ihren Autos zu Hause anriefen und sagten, sie kämen später, es habe einen Unfall gegeben. Als ich nach Hause kam, war ich vermutlich die einzige Person in der Stadt, die es noch nicht wusste. Die Polizei war bei uns gewesen und schon wieder verschwunden. Da war nur mein Dad, der mit schlaffem Gesicht auf seinem Stuhl saß.
Am nächsten Morgen wusste ich nicht, was ich tun sollte, deshalb tat ich, was ich immer tat, ich ging zur Schule. Als ich ins Klassenzimmer trat und mich anwesend meldete, füllten sich Mrs. Calverts Augen mit Tränen. Sie zerrte mich aus dem Zimmer, schob mich in ihr Auto und fuhr mich nach Hause. Sie sagte, ich solle erst wiederkommen, wenn es mir besserginge. Mir schien unwahrscheinlich, dass es mir jemals bessergehen könnte, deshalb ging ich am nächsten Tag wieder in die Schule. Ein paar Wochen lang behandelten mich meine Freunde und Lehrer anders. Besorgte Blicke und sanfte Stimmen. Leise Plaudereien in leeren Klassenzimmern. Sie fragten, wie ich zurechtkäme: »Wie geht es deinem Dad?« Ich zuckte die Schultern und murmelte etwas vor mich hin. Nach ein paar Wochen gaben sie das Fragen auf. Sie vergaßen es nicht, aber ich verstand, dass das Leben nicht für alle aufhört, nur weil es bei einem selbst so ist.
Mein Dad machte wochenlang gar nichts. Er saß auf seinem Stuhl. Er schlief nicht, er rasierte sich nicht, er magerte ab. Er ging zu den seltsamsten Nachtstunden nach unten und trank. Und schluchzte. Schließlich kamen lauter letzte Mahnungen, und das Telefon klingelte immerzu. Er las weder die Mahnungen, noch ging er ans Telefon. Mein Dad war schon unter besten Bedingungen nicht gut in Alltagsdingen. Und jetzt fing er ganz bestimmt nicht damit an, sich darum zu kümmern.
Ich malte häufiger. Ich malte, weil es meinen Kopf befreite. Es war wie Einschlafen. Einschlafen, ohne von Mum träumen zu müssen. Ich malte stundenlang. Beim Malen kam mein Kopf zur Ruhe. Es half.
Ein breites Grinsen
Sie hatten sich in der Abschlussklasse kennengelernt. Mum sagte, sie liebte ihn, weil er der eigenwilligste Mann war, den sie je gekannt hatte. Erst dachte sie, er ziehe eine Nummer ab. Sie dachte, er hätte beobachtet, wie andere Jungen sich an Mädchen heranmachten und versuche, auf sich aufmerksam zu machen, indem er sich genau gegenteilig verhielt. Sie lachte über ihr jüngeres Ich: »Ständig habe ich darauf gewartet, dass er herumschreit, rennt, drängelt oder versucht, zu flirten, aber nichts da. Er hat den Schultag einfach an sich vorbeiziehen lassen, das Chaos und den Lärm, die Streitereien und Tränen. Er arbeitete immer an einer Skulptur oder diesem und jenem. Er lebte auf einem anderen Planeten. Wenn ich am Ende des Tages nach Hause ging, stand er am Eingang und warte te mit einem breiten Grinsen und seinem neuesten Kunstwerk.«
Sie heirateten gleich nachdem sie ihr Abitur in der Tasche hatten. Einige hielten das für einen Fehler; sie sollten reisen und die Welt sehen, sollten herausfinden, welche Möglichkeiten sich dort draußen auftaten. Ihre Hochzeitsreise verbrachten sie an Loch Ness. Eine Woche in einem kleinen Haus an der Küste. Danach kehrten sie zurück und lebten bei ihren Eltern. Gegen Ende des Sommers schrieb sich mein Dad beim City and Guilds Institute für einen Fortgeschrittenenkurs in Kunst und Design ein, und meine Mum arbeitete bei einem Rechtsanwalt in der Stadt. Sie mieteten ein kleines Reihenhaus nahe der Stadtmitte. Ein Jahr später kam ich zur Welt.
Sie waren irrsinnig glücklich. Selbst als Kind fiel mir das auf. Manchmal allerdings hätte sie ihn am liebsten umgebracht. Sie ging morgens zur Arbeit und bat ihn, unbedingt daran zu denken, den Scheck für die Telefonrechnung oder das Gas, was auch immer, einzuwerfen. Nur eine Kleinigkeit. Dann küsste sie ihn zum Abschied in der Werkstatt, und er hatte es schon vergessen. Wenn sie acht Stunden später müde nach Hause kam, stand er noch immer an seinem Tisch, meißelte und schmirgelte - und der Scheck lag noch immer auf dem Küchentisch. Das machte sie wahnsinnig. Sie schrie ihn an, er knallte die Werkstatttür zu, und wir sahen ihn den ganzen Abend nicht mehr. Am nächsten Tag ging er einkaufen, bereitete das Abendessen vor, auf dem Tisch standen Blumen. Alles lief wieder normal. Als ich etwas älter war, funktionierte es besser. Auf dem Weg zur Schule warf ich Briefe ein, oder ich ging im Laden Brot und Milch einkaufen. Und er konnte sich ganz seiner Arbeit widmen und Mum und mich zum Lachen bringen. Wir waren ein gutes Team.
Melanin
Als ich zwölf Monate alt war, gingen meine Eltern mit mir zum Arzt. Sie dachten, mit meinen Augen wäre etwas nicht in Ordnung, weil sie so hell geworden waren. Sie dachten, ich hätte vielleicht irgendeine Infektion oder ein Sehproblem. Der Arzt gab ihnen recht und überwies mich zu einem Spezialisten. Anscheinend fand der Spezialist meine Augen großartig. Meine Mutter erzählte: »Er hat dir die ganze Zeit mit seiner Taschenlampe in die Augen geleuchtet und dabei gelacht. Er führte die Tests durch, die es für Babys gibt, und sagte, deine Sehkraft sei bestens. Du könntest dich glücklich schätzen, so schöne Augen zu haben.«
Man erklärte meinen Eltern, die Häufigkeit eines Pigments namens Melanin bestimme die Augenfarbe. Bei der Geburt sei so gut wie kein Melanin vorhanden, aber in den ersten zwölf Monaten entwickle es sich langsam. Unterschiedliche Melaninpegel oder Pigmentierung könnten unterschiedliche Farbnuancen bewirken. Man sagte ihnen, meine Augenfarbe könne sich mit zunehmendem Alter verändern und blasser werden, aber dazu kam es nicht.
Als ich klein war, dachte ich so gut wie nie über meine Augen nach, ebenso wenig wie meine Freunde - solche Dinge interessieren Kinder nicht. Als ich dann etwas älter war und die Leute Bemerkungen machten, hätte ich es besser gefunden, wenn sie nicht so auffällig gewesen wären. Heute sind es einfach meine Augen. Ein Teil von mir. Sie haben keinen Einfluss auf das, was ich bin.
Brian Stuart
Brian Stuart fuhr den LKW, der das Auto meiner Mutter zermalmte. Ob ich ihn dafür hasste? Ja. Und dann hieß es bei der Untersuchung, ihn treffe keine Schuld. Und ich sah das Foto von ihm in der Lokalzeitung. Er sah nicht aus wie jemand, den man freigesprochen hatte. Er wirkte nicht erleichtert, zufrieden oder reingewaschen. Er sah aus, als täte es ihm weh, im Gerichtssaal zu sitzen, als dächte er jede Sekunde daran, was geschehen war.
In der Zeitung stand, für welche Speditionsfirma er arbeitete, und eines Tages, ungefähr eine Woche nach der Untersuchung, ging ich dorthin. Ich wollte ihn ausfindig machen und beobachten. Ich stellte mich an eine Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite und tat, als würde ich auf einen Bus warten. Ich entdeckte ihn fast sofort. Er saß in einem Kabäuschen und sprach in ein Funkgerät. Ich beobachtete ihn mehrere Tage und sah, dass er die Lastwagen abspritzte, wenn sie am Ende einer Schicht in die Spedition zurückkamen. Er wirkte sehr ruhig. Unter den Fahrern wurde viel geschrien, aber er erhob nie die Stimme. Er machte nicht mit. Er wechselte immer nur ein paar Worte mit jemandem, ich sah ihn nie einen LKW fahren. Er bewegte sich langsam, als würden ihm die Knochen weh tun, als hätte er die Grippe. Ein paar Mal, als ich direkt nach der Schule hinkam, war er nicht da. Manchmal sah ich ihn sogar mehrere Tage hintereinander nicht. Dann war er plötzlich wieder da, noch dünner und langsamer als zuvor.
Als er mich entdeckte, ging ich nicht mehr hin. Einer der Fahrer hatte im Hof geparkt, lief zu ihm in sein Kabäuschen und sie unterhielten sich kurz. Sie blickten beide aus dem staubigen Fenster zu mir hinüber. Der Fahrer verabschiedete sich und ging in die Lagerhalle. Brian Stuart schaute weiter aus dem Fenster. Ein paar Minuten später kam er durch die Tür, lief mitten in den Hof und blieb stehen. Er stand mit herabhängenden Armen da und Tränen liefen ihm übers Gesicht. Wir sahen uns an, und er schüttelte den Kopf. Ich glaube, ich nickte. Ich weinte auch. Ein Bus hielt an, und ich stieg ein. Ich hatte keine Ahnung, wohin er fuhr, aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Nach dieser Begegnung ging ich nicht mehr hin.
Als ich erfuhr, dass er sich umgebracht hatte, musste ich weinen. Ich war schockiert, aber nicht überrascht. Er sah aus, als müsste er aus seinem Körper heraus, sofern das einen Sinn ergibt, als schmerzte es ihn zu sehr, noch auf der Welt zu sein. Er sah aus wie mein Dad, und das machte mir wahnsinnige Angst.
Übersetzung: Brigitte Jakobeit
Für die deutsche Ausgabe
© BV Berlin Verlag GmbH
Ich habe grüne Augen. Vermutlich nicht das Grün, an das ihr jetzt denkt. Sie sind leuchtend grün. Sie sind erstaunlich. Ich will damit nicht angeben. Ich versuche nur, genau zu sein. Präzise und klar. Wenn ich sagen würde, meine Augen sind grün und würde es dabei belassen, stellt ihr sie euch vielleicht braungrün oder olivgrün vor. Sie sind intensiv grün. Ich will von Anfang an ehrlich sein.
Wenn mich Leute zum ersten Mal sehen, reagieren sie oft geschockt und verstummen, dann versuchen sie sich schnell wieder zu fangen. Wir tun so, als wäre das normal. Die Schüchternen und Höflichen riskieren später einen Seitenblick. Die Selbstbewussten und Taktlosen starren. Alle wollen nur sichergehen, dass sie sich nicht geirrt haben, dass es keine Täuschung des Lichts ist und meine Augen wirklich so sind.
Ich wohne in einem Haus oben auf dem Bowland Fell. Von dort aus blickt man auf eine kleine Stadt namens Duerdale. Ich bin vor einiger Zeit mit meinem Dad hierhergezogen. Mein altes Leben hat woanders auf gehört, und mein neues sollte hier beginnen. In Duerdale landeten wir aus verschiedenen Gründen, der praktische war, dass wir uns das Haus leisten konnten. Wir konnten es uns leisten, weil es langsam zerfällt. Im Dach sind Löcher, die Wände haben Risse, und die Fensterrahmen sind morsch. »Kosmetische Probleme«, murmelte mein Dad, »wir nehmen es.« Er gab dem Makler die Hand und marschierte davon. Der Makler lachte und grinste dann. Er hielt meinen Dad für bescheuert. Mein Dad ist nicht bescheuert. Wir mussten nur irgendwo unterkommen, und dieses Haus konnten wir uns leisten.
Mein Dad stellt Kinderspielzeug her. Aus Holz. Kin¬der mögen keine Holzspielsachen. Sie wollen lieber Tele¬fone, Klamotten und Geld. Zum Glück sind manche El¬tern dumm oder altmodisch genug, um die Spielsachen von meinem Dad zu kaufen. Nur deswegen können wir uns überhaupt irgendeine Bleibe leisten. Das Kind be¬kommt ein Holzspielzeug und schmollt; ich bekomme ein Haus, das zerfällt.
Nur um das klarzustellen: Seine Spielsachen sind großartig. Er wurde vom ... wie heißt das noch? ... »Ver¬band traditioneller Spielzeughersteller« mit Preisen aus¬gezeichnet. Für die ist er so was wie ein Held. Und ein bisschen ein Außenseiter. Er hat seit elf Jahren keinen Beitrag mehr gezahlt, aber sie führen ihn trotzdem noch als Mitglied. So gut ist er.
Ich stelle keine Sachen aus Holz her, aber ich male gern. Die Leute sagen, ich sei sehr gut. Manchmal fragen sie mich, wie ich das mache, und dann weiß ich keine Antwort. Es ist einfach. Viele Dinge, die den meisten Leu¬ten leicht von der Hand gehen, kann ich überhaupt nicht. Ich bin nicht gut im Ballfangen, ich kann nicht singen und auch kein Mathe, und in Computerspielen bin ich lausig. Aber mit Farbe kann ich umgehen. Ich weiß, wie ich sie in den Griff kriege. Sie tut, was ich von ihr erwarte. Ein Lehrer an meiner alten Schule sagte mal im Scherz, es sei eine Kombination aus zwei Dingen: Ich hätte die Hände meines Vaters und magische Augen. Er lachte, aber mir leuchtete das ein.
Mein Dad stellt ein paar Standardspielsachen her - Autos, Boote, Flugzeuge, Züge -, die er an Marktständen im gesamten Bezirk verkauft. Er könnte sie im Schlaf herstellen. Sie sind sein Grundbestand, er macht sie ohne weiter darüber nachzudenken. Woran er wirklich Spaß hat, sind Aufträge, die ihm die Gelegenheit geben, etwas Einmaliges anzufertigen. Etwas Besonderes. Bei solchen Aufträgen garantiert er, dass es ein Unikat sein wird. Er redet von »Massenproduktion« und »Globalisierung«. Er sagt, sie beherrsche unser Leben und zerstöre unsere Stadtzentren: »Von Inverness bis Ipswich sieht es überall gleich aus.« Er meint, die Menschen sollten Wert auf Unterschiede legen, sie sollten sich einzigartige, besondere Dinge wünschen. Und manchmal tun sie das, manchmal klingelt unser Telefon.
Dad hört dann aufmerksam zu, macht sich Notizen, nickt oft und lenkt den Kunden anhand weniger Vorschläge in die richtige Richtung. »Buche ist schön, gewiss, aber haben Sie einmal über Palisander nachgedacht? Palisander wäre perfekt.« Hinterher geht er in seine Werkstatt und vertieft sich in sein Werk. Er verbringt Stunden mit winzigen Details. Er stellt sicher, dass sich Schubladen glatt und lautlos öffnen und schließen lassen. Er überprüft mehrfach, ob alles genau im richtigen Verhältnis steht. Er schmirgelt, streicht und lackiert, damit alles so perfekt wie möglich aussieht. Am Ende berechnet er dann die Hälfte von dem, was er eigentlich nehmen sollte. Vermutlich auch ein Grund, warum wir in einem Haus wohnen, das langsam zerfällt.
Das sind also wir. Der Spielzeugmacher und der Junge mit den leuchtend grünen Augen. Die beiden Sonderlinge vom Berg.
11. April, 16.27 Uhr
Wir zogen nach Duerdale, weil Mum gestorben war. Sie starb an einem schönen Aprilnachmittag, als ihr kleines rotes Auto und ein Lastwagen ineinanderkrachten. Am 11. April, 16.27 Uhr. »Es ging ganz schnell, sie hat mit Sicher heit nichts gespürt«, erklärten sie meinem Dad. Eine Floskel, aber das war wichtig. Mum war einfach weg. Von einer Sekunde auf die andere. Ihre letzten Worte waren: »Ich hol dich ab«, dann warf sie mir eine Kusshand zu. Darüber war ich froh. Bei einem anderen Jungen in unserer Klasse, Michael, war der Vater gestorben. Eigentlich wollten sie sich ein Fußballspiel ansehen, aber sein Vater rief von der Arbeit an und sagte, er könne nicht kommen, er fühle sich nicht wohl. Michael glaubte ihm nicht, weil er in der letzten Zeit sehr viel gearbeitet hatte. Er hielt es für eine Ausrede, und sie stritten sich. Michael schrie seinen Vater an und knallte den Hörer auf. Es war das letzte Mal, dass sie miteinander redeten. Sein Vater hatte einen Schlaganfall und starb noch in derselben Nacht.
Später erfuhr ich, dass sie die Umgehungsstraße acht Stunden lang gesperrt hatten, um Reifenspuren zu vermessen und zu fotografieren, was von Mums Auto übrig war. Im gesamten Bezirk gab es kilometerlange Staus. Bei der gerichtlichen Untersuchung sagten sie, keines der beiden Fahrzeuge hätte irgendwelche Mängel aufgewiesen und beide seien in verkehrstüchtigem Zustand gewesen. Der Lastwagen war in der Woche zuvor bei der Inspektion gewesen. Und ohne Beanstandung durchgekommen. Sie sagten, niemand sei schuld. Es sei »ein tragischer Unfall, der zu Verlust von Menschenleben führte«. Der Lastwagen und der Fahrer kamen natürlich weitgehend unversehrt davon. Bei der Größe von dem Ding hätte der Fahrer vermutlich gegen den Mond fahren können, und der Mond wäre schlechter weggekommen. Nur das Auto meiner Mutter war zerquetscht und verbogen und sah aus wie ein modernes Kunstwerk. In der Lokalzeitung sah ich ein Foto von Brian Stuart, dem LKW-Fahrer. Es wurde bei der gerichtlichen Untersuchung aufgenommen, nachdem man ihm gesagt hatte, ihn treffe keine Schuld. Sein Blick war ausdruckslos. Er sah aus wie ein Geist.
Meine Mutter hatte mich vom Kunstunterricht nach der Schule abholen wollen, als es passierte. Als sie nicht auftauchte, machte ich mich allein auf den Weg. Es war so ein Frühlingstag, der einen glauben lässt, dass am nächsten Tag der Sommer beginnt, es war beinahe warm, Autofenster waren heruntergelassen und Hemdsärmel hochgekrempelt. Ich ging an dem Verkehrsstau vorbei und an den frustrierten Leuten, die in ihren Autos zu Hause anriefen und sagten, sie kämen später, es habe einen Unfall gegeben. Als ich nach Hause kam, war ich vermutlich die einzige Person in der Stadt, die es noch nicht wusste. Die Polizei war bei uns gewesen und schon wieder verschwunden. Da war nur mein Dad, der mit schlaffem Gesicht auf seinem Stuhl saß.
Am nächsten Morgen wusste ich nicht, was ich tun sollte, deshalb tat ich, was ich immer tat, ich ging zur Schule. Als ich ins Klassenzimmer trat und mich anwesend meldete, füllten sich Mrs. Calverts Augen mit Tränen. Sie zerrte mich aus dem Zimmer, schob mich in ihr Auto und fuhr mich nach Hause. Sie sagte, ich solle erst wiederkommen, wenn es mir besserginge. Mir schien unwahrscheinlich, dass es mir jemals bessergehen könnte, deshalb ging ich am nächsten Tag wieder in die Schule. Ein paar Wochen lang behandelten mich meine Freunde und Lehrer anders. Besorgte Blicke und sanfte Stimmen. Leise Plaudereien in leeren Klassenzimmern. Sie fragten, wie ich zurechtkäme: »Wie geht es deinem Dad?« Ich zuckte die Schultern und murmelte etwas vor mich hin. Nach ein paar Wochen gaben sie das Fragen auf. Sie vergaßen es nicht, aber ich verstand, dass das Leben nicht für alle aufhört, nur weil es bei einem selbst so ist.
Mein Dad machte wochenlang gar nichts. Er saß auf seinem Stuhl. Er schlief nicht, er rasierte sich nicht, er magerte ab. Er ging zu den seltsamsten Nachtstunden nach unten und trank. Und schluchzte. Schließlich kamen lauter letzte Mahnungen, und das Telefon klingelte immerzu. Er las weder die Mahnungen, noch ging er ans Telefon. Mein Dad war schon unter besten Bedingungen nicht gut in Alltagsdingen. Und jetzt fing er ganz bestimmt nicht damit an, sich darum zu kümmern.
Ich malte häufiger. Ich malte, weil es meinen Kopf befreite. Es war wie Einschlafen. Einschlafen, ohne von Mum träumen zu müssen. Ich malte stundenlang. Beim Malen kam mein Kopf zur Ruhe. Es half.
Ein breites Grinsen
Sie hatten sich in der Abschlussklasse kennengelernt. Mum sagte, sie liebte ihn, weil er der eigenwilligste Mann war, den sie je gekannt hatte. Erst dachte sie, er ziehe eine Nummer ab. Sie dachte, er hätte beobachtet, wie andere Jungen sich an Mädchen heranmachten und versuche, auf sich aufmerksam zu machen, indem er sich genau gegenteilig verhielt. Sie lachte über ihr jüngeres Ich: »Ständig habe ich darauf gewartet, dass er herumschreit, rennt, drängelt oder versucht, zu flirten, aber nichts da. Er hat den Schultag einfach an sich vorbeiziehen lassen, das Chaos und den Lärm, die Streitereien und Tränen. Er arbeitete immer an einer Skulptur oder diesem und jenem. Er lebte auf einem anderen Planeten. Wenn ich am Ende des Tages nach Hause ging, stand er am Eingang und warte te mit einem breiten Grinsen und seinem neuesten Kunstwerk.«
Sie heirateten gleich nachdem sie ihr Abitur in der Tasche hatten. Einige hielten das für einen Fehler; sie sollten reisen und die Welt sehen, sollten herausfinden, welche Möglichkeiten sich dort draußen auftaten. Ihre Hochzeitsreise verbrachten sie an Loch Ness. Eine Woche in einem kleinen Haus an der Küste. Danach kehrten sie zurück und lebten bei ihren Eltern. Gegen Ende des Sommers schrieb sich mein Dad beim City and Guilds Institute für einen Fortgeschrittenenkurs in Kunst und Design ein, und meine Mum arbeitete bei einem Rechtsanwalt in der Stadt. Sie mieteten ein kleines Reihenhaus nahe der Stadtmitte. Ein Jahr später kam ich zur Welt.
Sie waren irrsinnig glücklich. Selbst als Kind fiel mir das auf. Manchmal allerdings hätte sie ihn am liebsten umgebracht. Sie ging morgens zur Arbeit und bat ihn, unbedingt daran zu denken, den Scheck für die Telefonrechnung oder das Gas, was auch immer, einzuwerfen. Nur eine Kleinigkeit. Dann küsste sie ihn zum Abschied in der Werkstatt, und er hatte es schon vergessen. Wenn sie acht Stunden später müde nach Hause kam, stand er noch immer an seinem Tisch, meißelte und schmirgelte - und der Scheck lag noch immer auf dem Küchentisch. Das machte sie wahnsinnig. Sie schrie ihn an, er knallte die Werkstatttür zu, und wir sahen ihn den ganzen Abend nicht mehr. Am nächsten Tag ging er einkaufen, bereitete das Abendessen vor, auf dem Tisch standen Blumen. Alles lief wieder normal. Als ich etwas älter war, funktionierte es besser. Auf dem Weg zur Schule warf ich Briefe ein, oder ich ging im Laden Brot und Milch einkaufen. Und er konnte sich ganz seiner Arbeit widmen und Mum und mich zum Lachen bringen. Wir waren ein gutes Team.
Melanin
Als ich zwölf Monate alt war, gingen meine Eltern mit mir zum Arzt. Sie dachten, mit meinen Augen wäre etwas nicht in Ordnung, weil sie so hell geworden waren. Sie dachten, ich hätte vielleicht irgendeine Infektion oder ein Sehproblem. Der Arzt gab ihnen recht und überwies mich zu einem Spezialisten. Anscheinend fand der Spezialist meine Augen großartig. Meine Mutter erzählte: »Er hat dir die ganze Zeit mit seiner Taschenlampe in die Augen geleuchtet und dabei gelacht. Er führte die Tests durch, die es für Babys gibt, und sagte, deine Sehkraft sei bestens. Du könntest dich glücklich schätzen, so schöne Augen zu haben.«
Man erklärte meinen Eltern, die Häufigkeit eines Pigments namens Melanin bestimme die Augenfarbe. Bei der Geburt sei so gut wie kein Melanin vorhanden, aber in den ersten zwölf Monaten entwickle es sich langsam. Unterschiedliche Melaninpegel oder Pigmentierung könnten unterschiedliche Farbnuancen bewirken. Man sagte ihnen, meine Augenfarbe könne sich mit zunehmendem Alter verändern und blasser werden, aber dazu kam es nicht.
Als ich klein war, dachte ich so gut wie nie über meine Augen nach, ebenso wenig wie meine Freunde - solche Dinge interessieren Kinder nicht. Als ich dann etwas älter war und die Leute Bemerkungen machten, hätte ich es besser gefunden, wenn sie nicht so auffällig gewesen wären. Heute sind es einfach meine Augen. Ein Teil von mir. Sie haben keinen Einfluss auf das, was ich bin.
Brian Stuart
Brian Stuart fuhr den LKW, der das Auto meiner Mutter zermalmte. Ob ich ihn dafür hasste? Ja. Und dann hieß es bei der Untersuchung, ihn treffe keine Schuld. Und ich sah das Foto von ihm in der Lokalzeitung. Er sah nicht aus wie jemand, den man freigesprochen hatte. Er wirkte nicht erleichtert, zufrieden oder reingewaschen. Er sah aus, als täte es ihm weh, im Gerichtssaal zu sitzen, als dächte er jede Sekunde daran, was geschehen war.
In der Zeitung stand, für welche Speditionsfirma er arbeitete, und eines Tages, ungefähr eine Woche nach der Untersuchung, ging ich dorthin. Ich wollte ihn ausfindig machen und beobachten. Ich stellte mich an eine Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite und tat, als würde ich auf einen Bus warten. Ich entdeckte ihn fast sofort. Er saß in einem Kabäuschen und sprach in ein Funkgerät. Ich beobachtete ihn mehrere Tage und sah, dass er die Lastwagen abspritzte, wenn sie am Ende einer Schicht in die Spedition zurückkamen. Er wirkte sehr ruhig. Unter den Fahrern wurde viel geschrien, aber er erhob nie die Stimme. Er machte nicht mit. Er wechselte immer nur ein paar Worte mit jemandem, ich sah ihn nie einen LKW fahren. Er bewegte sich langsam, als würden ihm die Knochen weh tun, als hätte er die Grippe. Ein paar Mal, als ich direkt nach der Schule hinkam, war er nicht da. Manchmal sah ich ihn sogar mehrere Tage hintereinander nicht. Dann war er plötzlich wieder da, noch dünner und langsamer als zuvor.
Als er mich entdeckte, ging ich nicht mehr hin. Einer der Fahrer hatte im Hof geparkt, lief zu ihm in sein Kabäuschen und sie unterhielten sich kurz. Sie blickten beide aus dem staubigen Fenster zu mir hinüber. Der Fahrer verabschiedete sich und ging in die Lagerhalle. Brian Stuart schaute weiter aus dem Fenster. Ein paar Minuten später kam er durch die Tür, lief mitten in den Hof und blieb stehen. Er stand mit herabhängenden Armen da und Tränen liefen ihm übers Gesicht. Wir sahen uns an, und er schüttelte den Kopf. Ich glaube, ich nickte. Ich weinte auch. Ein Bus hielt an, und ich stieg ein. Ich hatte keine Ahnung, wohin er fuhr, aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Nach dieser Begegnung ging ich nicht mehr hin.
Als ich erfuhr, dass er sich umgebracht hatte, musste ich weinen. Ich war schockiert, aber nicht überrascht. Er sah aus, als müsste er aus seinem Körper heraus, sofern das einen Sinn ergibt, als schmerzte es ihn zu sehr, noch auf der Welt zu sein. Er sah aus wie mein Dad, und das machte mir wahnsinnige Angst.
Übersetzung: Brigitte Jakobeit
Für die deutsche Ausgabe
© BV Berlin Verlag GmbH
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Autoren-Porträt von Robert Williams
Robert Williams, 32, Sohn zweier Bibliothekare, verbrachte als Kind viel Zeit in der Stadtbibliothek einer nordenglischen Kleinstadt und las sich durch die Bestände, bis seine Eltern Feierabend hatten. Er arbeitete acht Jahre lang als Buchhändler und lebt heute in Manchester - obwohl ihm eine Stadt am Meer eigentlich lieber wäre. Jakobeit, BrigitteBrigitte Jakobeit übersetzte u.a. literarische Werke von Lorrie Moore, William Trevor und Patti Smith sowie die Autobiografien von Miles Davis und Nina Simone. Sie wurde mehrfach mit dem deutschen Jugendliteraturpreis und dem Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen ausgezeichnet, außerdem erhielt sie 2018 den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis. Sie lebt in Hamburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Robert Williams
- 2010, 4. Aufl., 192 Seiten, Maße: 11,8 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Brigitte Jakobeit
- Verlag: Berlin Verlag Taschenbuch
- ISBN-10: 383330703X
- ISBN-13: 9783833307034
- Erscheinungsdatum: 03.11.2010
Rezension zu „Luke und Jon “
"Williams schreibt geradezu lyrisch. Ein absolut vielversprechender Roman. Mehr davon!" Times Literary Supplement "Eines der Bücher, wegen derer man überhaupt angefangen hat, Romane zu lesen." Financial Times
Pressezitat
»Es ist jedes Mal ein unbeschreibliches Erlebnis, wenn mir ein Buch die Sprache raubt. Ich möchte so viel schreiben und tauche ein in tiefes Schweigen, das mich wie eine dicke Strickjacke umarmt. Die Macht der Geschichte ist einfach zu groß und hält mich fest im Arm. Leise sitzen wir da und schauen uns lächelnd an. "Luke und Jon" von Robert Williams ist so ein Buch. [...]. Ich bin beeindruckt von so vielem: Die Sprache, die Geschichte, der Plot - alles!« Simone Finkenwirth klappentexterin.wordpress.com 20110222
Kommentar zu "Luke und Jon"
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