Machtlos
Thriller
Die Anwältin Valerie Weymann wird verhaftet, da man ihr Kontakte zu Terrormitgliedern von al-Quaida unterstellt. Valerie ist fassungslos. Doch dann explodiert am Hamburger Hauptbahnhof eine Bombe und der mutmaßliche Täter ist ein Bekannter von ihr. Es beginnt eine rasante Jagd.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Machtlos “
Die Anwältin Valerie Weymann wird verhaftet, da man ihr Kontakte zu Terrormitgliedern von al-Quaida unterstellt. Valerie ist fassungslos. Doch dann explodiert am Hamburger Hauptbahnhof eine Bombe und der mutmaßliche Täter ist ein Bekannter von ihr. Es beginnt eine rasante Jagd.
Klappentext zu „Machtlos “
In Hamburg laufen die Vorbereitungen für den internationalen Krisengipfel auf Hochtouren. Erste Terrorwarnungen sind bereits bei den Geheimdiensten eingegangen. Zur selben Zeit wird die Anwältin Valerie Weymann am Flughafen verhaftet. In end-losen Verhören unterstellen ihr Agenten von BKA und CIA Kontakte zu Terrormitgliedern von al-Qaida. Die Anwältin ist fassungslos und verweigert die Aussage. Doch ihr juristisches Wissen nützt ihr nichts, als am Hamburger Hauptbahnhof eine Bombe explodiert. Der mutmaßliche Täter ist ein Bekannter von ihr. Noch in derselben Nacht wird Valerie in ein geheimes Gefängnis nach Osteuropa gebracht, und eine rasante Jagd auf Leben und Tod beginnt ...
Lese-Probe zu „Machtlos “
Machtlos von Alex BergAm 10. Dezember, dem Gedenktag zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, wird weltweit jährlich für die strikte Einhaltung der Charta plädiert, die zwar Fortschritte gebracht hat, aber immer noch in vielen Ländern nicht hinreichend beachtet wird selbst bei uns.
In den westlichen Industriestaaten versuchen Politiker, die Freiheit zu schützen, indem sie sie abschaffen. Was einst mit der Französischen Revolution seinen blutigen Anfang nahm, stellen die Anti-Terror-Gesetze heute, zweihundertdreißig Jahre später, wieder in Frage.
So dürfen Personen, die auf einer Terrorliste der Europäischen Union landen, nicht mehr ins Ausland reisen, und ihre Konten können gesperrt werden. Was ihnen vorgeworfen wird, erfahren sie nicht. Sie gelten als Unterstützer terroristischer Organisationen, ohne dass sie sich je gegen diesen Verdacht verteidigen können oder ein Gericht ihre Schuld festgestellt hätte. Es kann jeden von uns treffen. Jeden Tag. Überall. Ein unglücklicher Zufall genügt. Eine Verwechslung. Und unser Leben ist nicht mehr das, was es einmal war.
TEIL I
Artikel 11, Paragraph 1 der Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen
Jeder, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, hat das Recht, als unschuldig zu gelten, solange seine Schuld nicht in einem öffentlichen Verfahren, in dem er alle für seine Verteidigung notwendigen Garantien gehabt hat, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.
Leonie und Sophie stritten auf der Rückbank des Autos auf dem Weg in die Schule. Hätte Valerie geahnt, was sie erwartete, hätte sie vielleicht ihren Stimmen anders gelauscht, hätte versucht, den Streit zu schlichten, und über das schmale Rechteck des Rückspiegels den Blick in die Gesichter ihrer Töchter gesucht. Ihnen ein Lächeln
... mehr
geschenkt. Stattdessen starrte sie nur auf die Straße vor sich, auf den dichten Verkehr, der sich um diese Uhrzeit durch die Straßen zwängte, und war in Gedanken längst in London bei ihrer Besprechung, zu der sie am späten Vormittag erwartet wurde.
Ihr Flug ging in einer knappen Stunde. Sie hatte nur Handgepäck: ihre Unterlagen und ihren Laptop für die Präsentation.
»Warum fährst du uns heute zur Schule, Mami? Das machst du doch sonst nie«, riss Leonie sie aus ihren Gedanken.
»Ich muss zum Flughafen. Die Schule liegt auf dem Weg«, erwiderte Valerie kurz angebunden.
»Aber Janine holt euch heute Nachmittag wie immer ab und geht dann gleich mit euch zum Zahnarzt.« Sie ließ den Wagen vor dem Schulgelände ausrollen, wandte sich zu ihren Töchtern um und sah sie streng an. »Lasst sie bitte nicht wieder warten.«
Sie starrte den blonden Schöpfen ihrer Mädchen nach, bis sie im Gewühl verschwunden waren, und fragte sich, ob sie ihnen genug Geld mitgegeben hatte.
Hinter Valerie hupte es. Sie gab den Parkplatz frei, schlug den Weg zum Flughafen ein und ging noch einmal im Kopf die Liste der Dinge durch, die sie heute brauchen würde: Geldbeutel, Papiere, Handy, die Unterlagen waren vollständig, das Netzkabel für den Laptop in der Tasche.
Alles, was sie sonst eventuell brauchte, konnte sie unterwegs kaufen. Sie stoppte den Wagen vor einer roten Ampel und schloss für einen Moment die Augen. In vierzehn Stunden würde sie zurück sein. Marc würde auf sie warten. Sie hatte den Rotwein schon rausgestellt, den sie gemeinsam trinken wollten. Sie lächelte unwillkürlich bei dem Gedanken daran und stellte sich vor, wie Marcs dunkle Augen auf ihr ruhten und die Wärme seines Atems über ihre Haut strich, wenn er sich zu ihr beugte und sie küsste.
Die Ampel schaltete auf Grün. Ihr Fuß verharrte einen Augenblick unschlüssig über dem Gaspedal, dann drückte sie es entschlossen herunter. Am Flughafen tauchte sie ein in die morgendliche Hektik eines ganz normalen Werktages. Geschäftsreisende hasteten an Pauschaltouristen vorbei, die große Koffertrolleys mühsam hinter sich herzogen und mit suchendem Blick aus der Drehtür in das Terminal traten. In der Mitte der großen Halle erinnerte sie der riesige Weihnachtsbaum, dass am Wochenende schon der zweite Advent sein würde.
Vor den Check-in-Schaltern von British Airways warteten lange Schlangen. Valerie war froh, am Vorabend bereits per Internet eingecheckt zu haben. Auf dem Weg zu ihrem Gate machte sie noch einen Stopp an einem Geldautomaten. Sie schob ihre EC-Karte in den Schlitz, gab ihre Pin-Nummer ein und den Betrag, den sie sich auszahlen lassen wollte, doch der Automat brach die Transaktion ab. »Auszahlung zurzeit nicht möglich« erschien auf dem Display. Irritiert starrte sie darauf, bevor sie ihre Karte wieder entgegennahm. Ein weiterer Automat war nicht in Sichtweite. Valerie warf einen Blick auf die Uhr an der Stirnseite des Terminals. Noch vierzig Minuten bis zum Abflug.
In London würde sie mit ihrer Kreditkarte zahlen müssen. Sie zog den Ausdruck ihrer Bordkarte aus der Tasche, und die Dame am Schalter winkte sie durch. An der Sicherheitskontrolle musste sie warten. Der Mann vor ihr musste nicht nur sein Jackett, sondern auch Schuhe und Gürtel ausziehen. Valerie trommelte ungeduldig mit den Fingern auf ihre Tasche.
Sie selbst konnte die Kontrolle unbehelligt passieren. Ihre hochhackigen Schuhe klapperten auf dem glatten Boden, als sie an den hell erleuchteten Duty-free-Shops vorbeieilte. Große goldene Pakete lagen in den Schaufenstern, verziert mit leuchtend roten Schleifen. Vor einem Laden stand ein riesiger strombetriebener Weihnachtsmann neben einem ausgestopften Rentier und winkte allen Passanten zu. In einem der Fenster konnte sie einen Blick auf ihre eigene schmale Silhouette werfen.
Das lange Haar, das ihr in weichen Wellen über die Schultern fiel. Der dunkelgraue Hosenanzug war eine gute Wahl gewesen.
»Zu sachlich«, hatte Marc kommentiert. Also genau das Richtige für den Anlass. Von weitem schon konnte sie die Menschentraube vor ihrem Gate erkennen. Bei dem Anblick unterdrückte sie ein Seufzen. Sämtliche Fluggäste für Großbritannien und die USA mussten auf den europäischen Flughäfen nach wie vor einen weiteren Sicherheitscheck über sich ergehen lassen. Sie bemühte sich um ein neutrales Gesicht, als sie dem uniformierten Beamten ihren Ausweis reichte. Er gab
die Daten in den Computer ein. In diesem Moment begann das Boarding.
Eine Mutter mit zwei kleinen Kindern und einem Buggy ging an den Wartenden vorbei. Valerie ertappte sich dabei, dass sie hoffte, nicht in ihrer Nähe sitzen zu müssen, und biss sich bei dem Gedanken unwillkürlich auf die Lippe. So weit war es also schon.
Sie wandte sich wieder dem Beamten am Schalter zu. Er telefonierte und hielt ihren Ausweis noch immer in der Hand. Sie sah ihn an und streckte ihre Hand nach der Plastikkarte aus, die ihre Identität verifizierte.
»Einen Augenblick, bitte«, sagte er höflich. »Es geht gleich weiter.«
Hinter ihr kam Bewegung in die Schlange der Wartenden. Sie sah sich um und erblickte zwei Beamte der Bundespolizei. Was war nun wieder? Hatte jemand unvorsichtigerweise das Wort »Bombe« fallen lassen? Vor nicht allzu langer Zeit war ein guter Freund von Marc in Amsterdam auf dem Flughafen verhaftet worden, weil er einen der Beamten darauf hingewiesen hatte, dass das Gerät, das jener argwöhnisch untersuchte, ein teurer Beamer und keine Bombe sei.
Im nächsten Augenblick hatte er in die Mündung einer Maschinenpistole geblickt und schließlich mehr als eine Stunde in Gewahrsam der Polizei verbracht, bis ein eilig hinzugerufener Staatsanwalt nach eingehender Befragung das Missverständnis geklärt und ihn mitsamt des Beamers in die nächste Maschine nach Deutschland gesetzt hatte. Es war eine immer wieder gern erzählte Geschichte im Freundeskreis, die für Lacher sorgte.
»Frau Valerie Weymann?« Irritiert sah sie auf, als sie ihren Namen hörte, und blickte in das Gesicht eines der Beamten der Bundespolizei. »Ja?«
»Würden Sie bitte mit uns kommen?« Die Menschen um sie herum wichen zurück.
»Ich ... mein Flug geht gleich.« Wie zur Bestätigung wandte sie sich an den Beamten hinter dem Schalter. Doch der reagierte nicht, sondern reichte stattdessen ihren Ausweis an den Bundespolizisten, der sie angesprochen hatte. Dieser sah auf ihr Foto, dann auf sie.
»Wir müssen Sie bitten, mit uns zu kommen«, wiederholte er seine Aufforderung mit neutraler Stimme.
»Ist etwas passiert?«, fragte sie und zwang sich, ruhig zu bleiben. Die neugierige Stille, die sich ausbreitete, war ihr unangenehm. Die Aufmerksamkeit, die sie erregte.
»Ist etwas mit den Kindern? Oder meinem Mann?« Sie tastete unwillkürlich nach dem Handy in ihrer Tasche und bemerkte, wie die Hand des zweiten Polizisten bei dieser Bewegung zu der Waffe an seinem Gürtel glitt. Die Wartenden um sie herum wichen noch ein Stück weiter zurück, sie starrten unsicher und fasziniert.
Die Frau mit den beiden Kindern betrat soeben den Schlauch, der zum Flugzeug führte. Der kleine Junge an ihrer Hand sah sich zu Valerie um und stolperte, während er den Blick nicht von ihr ließ. »Kommen Sie.« Eine Hand griff nach ihrem Arm. In ihrem Hinterkopf schrillte eine Alarmglocke. Laut und hässlich. Der Raum, in den sie sie gebracht wurde, war fensterlos und leer bis auf einen Tisch in der Mitte und vier Metallstühle.
Sie starrte die beiden Männer an. »Was soll das?«, brach es aus ihr heraus. »Könnte ich bitte meinen Ausweis wiederbekommen?«
Die beiden Beamten erwiderten ihren Blick schweigend und mit ausdruckslosen Mienen. Sie hätte keinen von ihnen auf der Straße wiedererkannt.
»Bitte setzen Sie sich«, bat der Beamte, der sie am Arm in diesen Raum geführt hatte. Valerie wollte sich nicht setzen. Sie wollte wissen, was hier passierte. Sie wollte ihren Flug nicht verpassen.
»Hören Sie, ich habe einen wichtigen Geschäftstermin in London ...« Der andere Polizist platzierte sich vor der Tür. Die Männer sahen über sie hinweg, als wäre sie nicht da. Valerie biss ihre Zähne so hart aufeinander, dass sie knirschten. Von draußen drang die Geräuschkulisse des Flughafens zu ihnen herein. Stimmengewirr. Durchsagen. Der letzte Aufruf für ihren Flug nach London. Valerie machte einen weiteren Versuch.
»Sie können mich hier nicht einfach festhalten. Ich bin Anwältin. Ich kenne meine Rechte.«
Sie hätte genauso gut gegen eine Wand sprechen können. Frustriert wandte sie den Männern den Rücken zu. Was war passiert? Die Mädchen. Marc. Valerie ballte die Fäuste und atmete gegen die Panik an, die in ihr aufstieg. In ihrer Tasche vibrierte ihr Handy. Sie zog es heraus und erkannte Marcs Nummer auf dem Display. Hastig drückte sie die Taste, um das Gespräch anzunehmen, doch einer der Beamten war bereits bei ihr und griff nach dem Telefon. Valerie war schneller.
»Marc!«, rief sie und wich zurück, das Handy fest am Ohr. »Die Polizei hält mich am Flughafen fest! Ist etwas zu Hause passiert?«
Doch bevor sie Marcs Stimme hörte, prallte sie gegen den anderen Polizisten, der ihr das Telefon aus den Fingern riss.
Valerie wirbelte herum. Hände umschlossen ihre Arme. Der Beamte unterbrach die Verbindung und ließ das Handy in seiner Tasche verschwinden.
»Ich will jetzt sofort von Ihnen wissen, warum Sie mich hier festhalten«, stieß sie hervor. Sie wand sich in seinem Griff. »Sie haben kein Recht, mich so zu behandeln. Nach Paragraph 239 StGB liegt hier der Straftatbestand der Freiheitsberaubung vor. Das wird Konsequenzen für Sie haben. Ich werde es nicht hinnehmen, dass ich aufgrund Ihrer Handlungen meinen Flug und damit meinen Geschäftstermin in London verpasse.«
Über ihren Kopf hinweg tauschten die beiden Männer einen Blick. Sie erkannte es an der Mimik des Polizisten, der ihr gegenüberstand. Aber sie sagten nichts. Valerie ballte wütend die Fäuste und senkte den Kopf. Der Beamte ließ sie los, und sie rieb sich ihre Arme.
»Bitte ... setzen Sie sich«, sagte einer der beiden. Sie machte sich nicht die Mühe aufzusehen, um herauszufinden, welcher es war. »Es wird einen Augenblick dauern, bis die Kollegen da sind.«
Die Kollegen. Valerie presste die Lippen zusammen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich in einer solchen Situation befunden, ihrer Rechte beraubt, ausgeliefert. Ihre Stimmung schwankte in der folgenden halben Stunde zwischen kalter Wut und Fassungslosigkeit. Das Klopfen an der Tür kam so unverhofft, dass sie beinahe von ihrem Platz an dem Tisch hochfuhr.
Der Beamte an der Tür öffnete und ließ zwei Männer in Zivil herein. Sie trugen gut sitzende Anzüge aus teuren Stoffen, wie Valerie auf den ersten Blick erkannte, doch die Art, wie sie sich bewegten und leise mit den uniformierten Beamten der Bundespolizei sprachen, verriet, dass auch sie Polizisten sein mussten. Sie beobachtete sie schweigend. Schließlich wandte sich ihr der Jüngere der beiden zu. »Frau Weymann, wir müssen Sie bitten, mit uns zu kommen.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme über der Brust.
»Ich werde nirgendwo hingehen.« Ihre Wut hatte gesiegt. Der Mund des Mannes verzog sich nachdenklich. Er war nicht unattraktiv. Groß, kantig, breitschultrig. Er strich sich mit der Hand über das glatt rasierte Kinn.
»Ich würde vorschlagen, Sie erklären mir erst einmal, was hier vorgeht und warum Sie mich seit bald einer Stunde ohne Begründung festhalten«, sagte sie mit fester Stimme. »Und dann wüsste ich gern, wer Sie sind.«
Er zog eine Karte aus der Brusttasche seines Anzugs und legte sie vor sie auf den blanken Tisch. Eric Mayer, las sie. Die Farben der deutschen Flagge sprangen ihr entgegen, der Bundesadler und eine Adresse in Berlin. Sie fasste die Karte nicht an.
»Wir haben nur ein paar Fragen an Sie«, sagte er. »Wenn Sie jetzt bitte ...«
»Ich bin Anwältin, Herr Mayer«, fiel Valerie ihm mit einem letzten Blick auf die Karte ins Wort. »Ich kenne meine Rechte. Ich sollte seit einer halben Stunde auf dem Weg nach London sein. Ich ...«
Der Blick des zweiten Beamten in Zivil ließ sie verstummen. Es lag so viel offensichtliche Ablehnung in seinen kalten blaugrauen Augen, dass sie unvermittelt schluckte.
»Wir können unsere Befragung hier nicht durchführen«, unterbrach Eric Mayer ihr plötzliches Schweigen. »Bitte kommen Sie jetzt. Desto schneller können Sie wieder Ihrer Wege gehen.«
Später war es genau dieser Moment, der ihr immer wieder ins Gedächtnis kam. Warum hatte sie ihre Blockadehaltung aufgegeben? Hatte sie Mayer vertraut?
Der Adler und die Farben der deutschen Flagge auf seiner Visitenkarte hatten ihr eine trügerische Sicherheit vermittelt, doch sie ließ sich von der unverfänglichen Adresse nicht täuschen. Mayer war kein einfacher Staatsbeamter. Er war vom Bundesnachrichtendienst. Was wäre passiert, wenn sie sich weiter geweigert hätte?
Sie erinnerte sich, wie sie, flankiert von den beiden Beamten in ihren tadellosen Anzügen, das Flughafengebäude durchquert hatte, wie sich nach nur kurzem Aufblitzen ihrer Ausweise Türen wie von Zauberhand öffneten, Menschen ihnen den Weg frei machten. Der Gedanke an Flucht hatte sie auf diesem Weg ständig begleitet. Was wäre passiert, wenn sie sich geweigert hätte?
Sie stieg in den dunklen Audi Geländewagen, der vor dem Terminal im Halteverbot wartete. Mayer setzte sich neben sie, sein Kollege nahm neben dem Fahrer Platz. Kein Wort wurde gewechselt während der Fahrt durch die Stadt, die hinter getönten Scheiben an ihr vorbeiflog. Ihr Meeting in London würde in einer Stunde ohne sie beginnen. Sie dachte an all die Arbeit, die sie in das Projekt investiert hatte. An all die Hoffnung, die darauf ruhte. Bislang gab es nicht einmal eine Erklärung dafür, warum sie nicht dort war. Ihre Gedanken rasten noch immer, als der Wagen keine zehn Minuten später in die Tiefgarage des Polizeipräsidiums in der City Nord einbog.
Sie musste Meisenberg anrufen. Ihn zuerst. Er musste sich mit London in Verbindung setzen. Sie hier rausholen. Wenn jemand herausfinden konnte, was sie in diese Situation gebracht hatte, dann er. Der Fahrstuhl brachte sie in den zweiten Stock des sternförmigen Gebäudes.
»Erkennungsdienst« las sie auf einem Schild. Sie wandte sich an Mayer.
»Was soll das?«, fragte sie und spielte in Gedanken die Möglichkeiten einer Dienstaufsichtsbeschwerde durch.
»Reine Routine«, erwiderte Mayer ruhig. Als sie stehen blieb, nahm er ihren Arm. Sie musste ihre Fingerabdrücke abgeben und wurde fotografiert.
»Wollen Sie keine Speichelprobe?«, fragte sie mit vor Wut geröteten Wangen. »Später.«
Wieder ging es in den Fahrstuhl. Als sie ausstiegen, wehte ihnen der schwache Geruch von Kaffee entgegen. Mayer führte sie in einen leeren Raum.
»Ich möchte etwas zu trinken haben«, sagte sie. Sie ließen sie allein, und sie hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Valerie trat ans Fenster und starrte hinaus auf den runden, von Glasfassaden umschlossenen Innenhof, der wie die Nabe eines Rades im Zentrum des Gebäudekomplexes lag. Das leuchtende Rot des Morgens war einem grau verhangenen Himmel gewichen, leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Sie wünschte sich, Marcs Stimme zu hören. Bei ihm zu sein.
Es dauerte nicht lange, bis Mayer zurückkam. Er reichte ihr einen Plastikbecher mit Wasser, und sie trank durstig. Hinter ihm schloss sein Kollege die Tür. Er hielt einen Ordner in der Hand.
»Setzen Sie sich«, bat Mayer und ließ sich ihr gegenüber an dem kleinen Tisch nieder, der vor dem Fenster stand. Erst jetzt bemerkte sie das Aufzeichnungsgerät, das er dort abgestellt hatte.
»Wir werden Ihre Aussagen aufnehmen«, sagte er lediglich, als er ihren Blick bemerkte. Sie zog den Stuhl zurück und betrachtete Mayers Kollegen erstmals genauer. Seinem Äußeren nach zu urteilen, war er vermutlich schon in seinen Fünfzigern, das hagere Gesicht von Falten durchzogen. Sein stahlgraues Haar war millimeterkurz geschnitten und verlieh ihm eine unangenehme militärische Strenge. Er hatte in ihrer Gegenwart noch nicht einmal den Mund aufgemacht. Jetzt setzte er sich neben Mayer und reichte ihm den Ordner. Mayer klappte ihn wortlos auf und entnahm eine Fotografie im DIN-A4-Format. Schob sie ihr über den Tisch hinweg zu.
»Kennen Sie diese Frau?« Valerie starrte auf eine Halbprofilaufnahme mit orientalischem Äußeren. Das Gesicht wurde von schwarzem Haar umrahmt, das in einem lockeren Knoten im Nacken zusammengefasst war. Die hohen Wangenknochen der Beduinen prägten die Züge. Valerie verschränkte ihre Hände fest ineinander, um ihr plötzliches Zittern zu unterdrücken, während ihr Blick beinahe liebkosend die feine Falte zwischen den Brauen suchte und die geschwungene Linie der Lippen Noor al-Almawis nachzog. Ihr Gehirn arbeitete fieberhaft.
Was hatte ihre beste Freundin in den Fokus des BND gebracht? Sie blickte in Mayers abwartendes Gesicht.
»Sie ist meine Freundin«, antwortete sie ruhig. »Wir arbeiten eng zusammen im Rahmen eines ehrenamtlichen Projekts, das die Zusammenführung von Flüchtlingsfamilien unterstützt. Aber das wissen Sie vermutlich bereits, sonst wäre ich ja nicht hier, oder?«
Ihr entging nicht das kurze Aufglimmen in den kalten Augen von Mayers schweigsamem Kollegen bei diesen Worten.
»Erzählen Sie uns von al-Almawis Familie«, forderte Mayer sie auf. Valerie blickte auf das Aufnahmegerät. Die Spulen rauschten leise.
»Ich möchte mit einem Anwalt sprechen«, sagte sie. Mayer drückte die Stopptaste. »Sie werden hier lediglich als Zeugin befragt. Dafür benötigen Sie keinen Anwalt.«
Valerie lehnte sich vor und sah Mayer fest in die Augen. »Als Zeugin hätten Sie mich zu einem Vernehmungstermin vorladen können. Stattdessen nehmen Sie mich fest und behandeln mich erkennungsdienstlich wie eine potentielle Verdächtige. Kein weiteres Wort ohne meinen Anwalt.« Mayers grauhaariger Kollege schob Noors Bild zurück in den Ordner und schloss denselben mit Nachdruck.
»Wie Sie wollen«, erwiderte er, und seine Stimme war so kalt wie der Blick seiner Augen. »Wir kommen morgen wieder, dann haben Sie es sich vielleicht überlegt.«
Sein kaum merkbarer amerikanischer Akzent ließ sie aufhorchen. Wer war dieser Mann? Er trat selbstbewusst neben Mayer auf, sie arbeiteten Hand in Hand. Das ließ nur einen Schluss zu. Einen Schluss, der einen ungewollten Schauer über Valeries Rücken jagte.
Sie wurde in eine Zelle im Keller des Gebäudes gebracht. Durch ein vergittertes Fenster fiel trübes Licht. Valerie blieb in der Tür stehen und starrte fassungslos auf die schmale Pritsche, die nackte Toilettenschüssel und die hellgelben Wände.
»Das ist nicht Ihr Ernst«, wandte sie sich zu dem Beamten um, der sie nach unten begleitet hatte. »Bitte machen Sie keine Schwierigkeiten.«
»Schwierigkeiten? Ich ...?« Die Tür fiel ins Schloss. Schritte entfernten sich, und eine Stille umfing sie, in der ihr das Geräusch ihres eigenen Atems unnatürlich laut erschien. Der Adrenalinpegel in ihrem Blut sackte ab. Ein Zittern durchlief ihren Körper, und ein dicker Kloß in ihrer Kehle machte das Schlucken schwer. Tränen rollten über ihre Wangen. Valerie konnte plötzlich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Alles wirbelte durcheinander.
Bilder von Noor, Marc, den Geschehnissen der letzten Stunden. Eine Polizistin brachte ihr etwas zu essen und zu trinken. Danach sah und hörte sie niemanden mehr. Valerie starrte auf das Tablett auf dem Boden neben der Pritsche, auf eine Plastikflasche mit Mineralwasser und zwei eingepackte Sandwiches, ohne sie wirklich zu sehen. Vor ihrem inneren Auge tauchte die Fotografie von Noor auf, die Mayer ihr gezeigt hatte. Jede Einzelheit des Bildes hatte sich ihr eingebrannt, scharf und unauslöschlich. Valerie spürte erneut das Herzklopfen, das der Anblick in ihr ausgelöst hatte.
Die plötzliche Angst. Sie hatte ihren Gefühlen keinen Raum gegeben in der Gegenwart der beiden Männer. Doch jetzt, wo sie allein und unbeobachtet war, konnte sie sich ihnen nicht mehr entziehen, und die Sorge um ihre Freundin ließ sie alles andere vergessen.
Copyright © 2010 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Ihr Flug ging in einer knappen Stunde. Sie hatte nur Handgepäck: ihre Unterlagen und ihren Laptop für die Präsentation.
»Warum fährst du uns heute zur Schule, Mami? Das machst du doch sonst nie«, riss Leonie sie aus ihren Gedanken.
»Ich muss zum Flughafen. Die Schule liegt auf dem Weg«, erwiderte Valerie kurz angebunden.
»Aber Janine holt euch heute Nachmittag wie immer ab und geht dann gleich mit euch zum Zahnarzt.« Sie ließ den Wagen vor dem Schulgelände ausrollen, wandte sich zu ihren Töchtern um und sah sie streng an. »Lasst sie bitte nicht wieder warten.«
Sie starrte den blonden Schöpfen ihrer Mädchen nach, bis sie im Gewühl verschwunden waren, und fragte sich, ob sie ihnen genug Geld mitgegeben hatte.
Hinter Valerie hupte es. Sie gab den Parkplatz frei, schlug den Weg zum Flughafen ein und ging noch einmal im Kopf die Liste der Dinge durch, die sie heute brauchen würde: Geldbeutel, Papiere, Handy, die Unterlagen waren vollständig, das Netzkabel für den Laptop in der Tasche.
Alles, was sie sonst eventuell brauchte, konnte sie unterwegs kaufen. Sie stoppte den Wagen vor einer roten Ampel und schloss für einen Moment die Augen. In vierzehn Stunden würde sie zurück sein. Marc würde auf sie warten. Sie hatte den Rotwein schon rausgestellt, den sie gemeinsam trinken wollten. Sie lächelte unwillkürlich bei dem Gedanken daran und stellte sich vor, wie Marcs dunkle Augen auf ihr ruhten und die Wärme seines Atems über ihre Haut strich, wenn er sich zu ihr beugte und sie küsste.
Die Ampel schaltete auf Grün. Ihr Fuß verharrte einen Augenblick unschlüssig über dem Gaspedal, dann drückte sie es entschlossen herunter. Am Flughafen tauchte sie ein in die morgendliche Hektik eines ganz normalen Werktages. Geschäftsreisende hasteten an Pauschaltouristen vorbei, die große Koffertrolleys mühsam hinter sich herzogen und mit suchendem Blick aus der Drehtür in das Terminal traten. In der Mitte der großen Halle erinnerte sie der riesige Weihnachtsbaum, dass am Wochenende schon der zweite Advent sein würde.
Vor den Check-in-Schaltern von British Airways warteten lange Schlangen. Valerie war froh, am Vorabend bereits per Internet eingecheckt zu haben. Auf dem Weg zu ihrem Gate machte sie noch einen Stopp an einem Geldautomaten. Sie schob ihre EC-Karte in den Schlitz, gab ihre Pin-Nummer ein und den Betrag, den sie sich auszahlen lassen wollte, doch der Automat brach die Transaktion ab. »Auszahlung zurzeit nicht möglich« erschien auf dem Display. Irritiert starrte sie darauf, bevor sie ihre Karte wieder entgegennahm. Ein weiterer Automat war nicht in Sichtweite. Valerie warf einen Blick auf die Uhr an der Stirnseite des Terminals. Noch vierzig Minuten bis zum Abflug.
In London würde sie mit ihrer Kreditkarte zahlen müssen. Sie zog den Ausdruck ihrer Bordkarte aus der Tasche, und die Dame am Schalter winkte sie durch. An der Sicherheitskontrolle musste sie warten. Der Mann vor ihr musste nicht nur sein Jackett, sondern auch Schuhe und Gürtel ausziehen. Valerie trommelte ungeduldig mit den Fingern auf ihre Tasche.
Sie selbst konnte die Kontrolle unbehelligt passieren. Ihre hochhackigen Schuhe klapperten auf dem glatten Boden, als sie an den hell erleuchteten Duty-free-Shops vorbeieilte. Große goldene Pakete lagen in den Schaufenstern, verziert mit leuchtend roten Schleifen. Vor einem Laden stand ein riesiger strombetriebener Weihnachtsmann neben einem ausgestopften Rentier und winkte allen Passanten zu. In einem der Fenster konnte sie einen Blick auf ihre eigene schmale Silhouette werfen.
Das lange Haar, das ihr in weichen Wellen über die Schultern fiel. Der dunkelgraue Hosenanzug war eine gute Wahl gewesen.
»Zu sachlich«, hatte Marc kommentiert. Also genau das Richtige für den Anlass. Von weitem schon konnte sie die Menschentraube vor ihrem Gate erkennen. Bei dem Anblick unterdrückte sie ein Seufzen. Sämtliche Fluggäste für Großbritannien und die USA mussten auf den europäischen Flughäfen nach wie vor einen weiteren Sicherheitscheck über sich ergehen lassen. Sie bemühte sich um ein neutrales Gesicht, als sie dem uniformierten Beamten ihren Ausweis reichte. Er gab
die Daten in den Computer ein. In diesem Moment begann das Boarding.
Eine Mutter mit zwei kleinen Kindern und einem Buggy ging an den Wartenden vorbei. Valerie ertappte sich dabei, dass sie hoffte, nicht in ihrer Nähe sitzen zu müssen, und biss sich bei dem Gedanken unwillkürlich auf die Lippe. So weit war es also schon.
Sie wandte sich wieder dem Beamten am Schalter zu. Er telefonierte und hielt ihren Ausweis noch immer in der Hand. Sie sah ihn an und streckte ihre Hand nach der Plastikkarte aus, die ihre Identität verifizierte.
»Einen Augenblick, bitte«, sagte er höflich. »Es geht gleich weiter.«
Hinter ihr kam Bewegung in die Schlange der Wartenden. Sie sah sich um und erblickte zwei Beamte der Bundespolizei. Was war nun wieder? Hatte jemand unvorsichtigerweise das Wort »Bombe« fallen lassen? Vor nicht allzu langer Zeit war ein guter Freund von Marc in Amsterdam auf dem Flughafen verhaftet worden, weil er einen der Beamten darauf hingewiesen hatte, dass das Gerät, das jener argwöhnisch untersuchte, ein teurer Beamer und keine Bombe sei.
Im nächsten Augenblick hatte er in die Mündung einer Maschinenpistole geblickt und schließlich mehr als eine Stunde in Gewahrsam der Polizei verbracht, bis ein eilig hinzugerufener Staatsanwalt nach eingehender Befragung das Missverständnis geklärt und ihn mitsamt des Beamers in die nächste Maschine nach Deutschland gesetzt hatte. Es war eine immer wieder gern erzählte Geschichte im Freundeskreis, die für Lacher sorgte.
»Frau Valerie Weymann?« Irritiert sah sie auf, als sie ihren Namen hörte, und blickte in das Gesicht eines der Beamten der Bundespolizei. »Ja?«
»Würden Sie bitte mit uns kommen?« Die Menschen um sie herum wichen zurück.
»Ich ... mein Flug geht gleich.« Wie zur Bestätigung wandte sie sich an den Beamten hinter dem Schalter. Doch der reagierte nicht, sondern reichte stattdessen ihren Ausweis an den Bundespolizisten, der sie angesprochen hatte. Dieser sah auf ihr Foto, dann auf sie.
»Wir müssen Sie bitten, mit uns zu kommen«, wiederholte er seine Aufforderung mit neutraler Stimme.
»Ist etwas passiert?«, fragte sie und zwang sich, ruhig zu bleiben. Die neugierige Stille, die sich ausbreitete, war ihr unangenehm. Die Aufmerksamkeit, die sie erregte.
»Ist etwas mit den Kindern? Oder meinem Mann?« Sie tastete unwillkürlich nach dem Handy in ihrer Tasche und bemerkte, wie die Hand des zweiten Polizisten bei dieser Bewegung zu der Waffe an seinem Gürtel glitt. Die Wartenden um sie herum wichen noch ein Stück weiter zurück, sie starrten unsicher und fasziniert.
Die Frau mit den beiden Kindern betrat soeben den Schlauch, der zum Flugzeug führte. Der kleine Junge an ihrer Hand sah sich zu Valerie um und stolperte, während er den Blick nicht von ihr ließ. »Kommen Sie.« Eine Hand griff nach ihrem Arm. In ihrem Hinterkopf schrillte eine Alarmglocke. Laut und hässlich. Der Raum, in den sie sie gebracht wurde, war fensterlos und leer bis auf einen Tisch in der Mitte und vier Metallstühle.
Sie starrte die beiden Männer an. »Was soll das?«, brach es aus ihr heraus. »Könnte ich bitte meinen Ausweis wiederbekommen?«
Die beiden Beamten erwiderten ihren Blick schweigend und mit ausdruckslosen Mienen. Sie hätte keinen von ihnen auf der Straße wiedererkannt.
»Bitte setzen Sie sich«, bat der Beamte, der sie am Arm in diesen Raum geführt hatte. Valerie wollte sich nicht setzen. Sie wollte wissen, was hier passierte. Sie wollte ihren Flug nicht verpassen.
»Hören Sie, ich habe einen wichtigen Geschäftstermin in London ...« Der andere Polizist platzierte sich vor der Tür. Die Männer sahen über sie hinweg, als wäre sie nicht da. Valerie biss ihre Zähne so hart aufeinander, dass sie knirschten. Von draußen drang die Geräuschkulisse des Flughafens zu ihnen herein. Stimmengewirr. Durchsagen. Der letzte Aufruf für ihren Flug nach London. Valerie machte einen weiteren Versuch.
»Sie können mich hier nicht einfach festhalten. Ich bin Anwältin. Ich kenne meine Rechte.«
Sie hätte genauso gut gegen eine Wand sprechen können. Frustriert wandte sie den Männern den Rücken zu. Was war passiert? Die Mädchen. Marc. Valerie ballte die Fäuste und atmete gegen die Panik an, die in ihr aufstieg. In ihrer Tasche vibrierte ihr Handy. Sie zog es heraus und erkannte Marcs Nummer auf dem Display. Hastig drückte sie die Taste, um das Gespräch anzunehmen, doch einer der Beamten war bereits bei ihr und griff nach dem Telefon. Valerie war schneller.
»Marc!«, rief sie und wich zurück, das Handy fest am Ohr. »Die Polizei hält mich am Flughafen fest! Ist etwas zu Hause passiert?«
Doch bevor sie Marcs Stimme hörte, prallte sie gegen den anderen Polizisten, der ihr das Telefon aus den Fingern riss.
Valerie wirbelte herum. Hände umschlossen ihre Arme. Der Beamte unterbrach die Verbindung und ließ das Handy in seiner Tasche verschwinden.
»Ich will jetzt sofort von Ihnen wissen, warum Sie mich hier festhalten«, stieß sie hervor. Sie wand sich in seinem Griff. »Sie haben kein Recht, mich so zu behandeln. Nach Paragraph 239 StGB liegt hier der Straftatbestand der Freiheitsberaubung vor. Das wird Konsequenzen für Sie haben. Ich werde es nicht hinnehmen, dass ich aufgrund Ihrer Handlungen meinen Flug und damit meinen Geschäftstermin in London verpasse.«
Über ihren Kopf hinweg tauschten die beiden Männer einen Blick. Sie erkannte es an der Mimik des Polizisten, der ihr gegenüberstand. Aber sie sagten nichts. Valerie ballte wütend die Fäuste und senkte den Kopf. Der Beamte ließ sie los, und sie rieb sich ihre Arme.
»Bitte ... setzen Sie sich«, sagte einer der beiden. Sie machte sich nicht die Mühe aufzusehen, um herauszufinden, welcher es war. »Es wird einen Augenblick dauern, bis die Kollegen da sind.«
Die Kollegen. Valerie presste die Lippen zusammen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich in einer solchen Situation befunden, ihrer Rechte beraubt, ausgeliefert. Ihre Stimmung schwankte in der folgenden halben Stunde zwischen kalter Wut und Fassungslosigkeit. Das Klopfen an der Tür kam so unverhofft, dass sie beinahe von ihrem Platz an dem Tisch hochfuhr.
Der Beamte an der Tür öffnete und ließ zwei Männer in Zivil herein. Sie trugen gut sitzende Anzüge aus teuren Stoffen, wie Valerie auf den ersten Blick erkannte, doch die Art, wie sie sich bewegten und leise mit den uniformierten Beamten der Bundespolizei sprachen, verriet, dass auch sie Polizisten sein mussten. Sie beobachtete sie schweigend. Schließlich wandte sich ihr der Jüngere der beiden zu. »Frau Weymann, wir müssen Sie bitten, mit uns zu kommen.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme über der Brust.
»Ich werde nirgendwo hingehen.« Ihre Wut hatte gesiegt. Der Mund des Mannes verzog sich nachdenklich. Er war nicht unattraktiv. Groß, kantig, breitschultrig. Er strich sich mit der Hand über das glatt rasierte Kinn.
»Ich würde vorschlagen, Sie erklären mir erst einmal, was hier vorgeht und warum Sie mich seit bald einer Stunde ohne Begründung festhalten«, sagte sie mit fester Stimme. »Und dann wüsste ich gern, wer Sie sind.«
Er zog eine Karte aus der Brusttasche seines Anzugs und legte sie vor sie auf den blanken Tisch. Eric Mayer, las sie. Die Farben der deutschen Flagge sprangen ihr entgegen, der Bundesadler und eine Adresse in Berlin. Sie fasste die Karte nicht an.
»Wir haben nur ein paar Fragen an Sie«, sagte er. »Wenn Sie jetzt bitte ...«
»Ich bin Anwältin, Herr Mayer«, fiel Valerie ihm mit einem letzten Blick auf die Karte ins Wort. »Ich kenne meine Rechte. Ich sollte seit einer halben Stunde auf dem Weg nach London sein. Ich ...«
Der Blick des zweiten Beamten in Zivil ließ sie verstummen. Es lag so viel offensichtliche Ablehnung in seinen kalten blaugrauen Augen, dass sie unvermittelt schluckte.
»Wir können unsere Befragung hier nicht durchführen«, unterbrach Eric Mayer ihr plötzliches Schweigen. »Bitte kommen Sie jetzt. Desto schneller können Sie wieder Ihrer Wege gehen.«
Später war es genau dieser Moment, der ihr immer wieder ins Gedächtnis kam. Warum hatte sie ihre Blockadehaltung aufgegeben? Hatte sie Mayer vertraut?
Der Adler und die Farben der deutschen Flagge auf seiner Visitenkarte hatten ihr eine trügerische Sicherheit vermittelt, doch sie ließ sich von der unverfänglichen Adresse nicht täuschen. Mayer war kein einfacher Staatsbeamter. Er war vom Bundesnachrichtendienst. Was wäre passiert, wenn sie sich weiter geweigert hätte?
Sie erinnerte sich, wie sie, flankiert von den beiden Beamten in ihren tadellosen Anzügen, das Flughafengebäude durchquert hatte, wie sich nach nur kurzem Aufblitzen ihrer Ausweise Türen wie von Zauberhand öffneten, Menschen ihnen den Weg frei machten. Der Gedanke an Flucht hatte sie auf diesem Weg ständig begleitet. Was wäre passiert, wenn sie sich geweigert hätte?
Sie stieg in den dunklen Audi Geländewagen, der vor dem Terminal im Halteverbot wartete. Mayer setzte sich neben sie, sein Kollege nahm neben dem Fahrer Platz. Kein Wort wurde gewechselt während der Fahrt durch die Stadt, die hinter getönten Scheiben an ihr vorbeiflog. Ihr Meeting in London würde in einer Stunde ohne sie beginnen. Sie dachte an all die Arbeit, die sie in das Projekt investiert hatte. An all die Hoffnung, die darauf ruhte. Bislang gab es nicht einmal eine Erklärung dafür, warum sie nicht dort war. Ihre Gedanken rasten noch immer, als der Wagen keine zehn Minuten später in die Tiefgarage des Polizeipräsidiums in der City Nord einbog.
Sie musste Meisenberg anrufen. Ihn zuerst. Er musste sich mit London in Verbindung setzen. Sie hier rausholen. Wenn jemand herausfinden konnte, was sie in diese Situation gebracht hatte, dann er. Der Fahrstuhl brachte sie in den zweiten Stock des sternförmigen Gebäudes.
»Erkennungsdienst« las sie auf einem Schild. Sie wandte sich an Mayer.
»Was soll das?«, fragte sie und spielte in Gedanken die Möglichkeiten einer Dienstaufsichtsbeschwerde durch.
»Reine Routine«, erwiderte Mayer ruhig. Als sie stehen blieb, nahm er ihren Arm. Sie musste ihre Fingerabdrücke abgeben und wurde fotografiert.
»Wollen Sie keine Speichelprobe?«, fragte sie mit vor Wut geröteten Wangen. »Später.«
Wieder ging es in den Fahrstuhl. Als sie ausstiegen, wehte ihnen der schwache Geruch von Kaffee entgegen. Mayer führte sie in einen leeren Raum.
»Ich möchte etwas zu trinken haben«, sagte sie. Sie ließen sie allein, und sie hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Valerie trat ans Fenster und starrte hinaus auf den runden, von Glasfassaden umschlossenen Innenhof, der wie die Nabe eines Rades im Zentrum des Gebäudekomplexes lag. Das leuchtende Rot des Morgens war einem grau verhangenen Himmel gewichen, leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Sie wünschte sich, Marcs Stimme zu hören. Bei ihm zu sein.
Es dauerte nicht lange, bis Mayer zurückkam. Er reichte ihr einen Plastikbecher mit Wasser, und sie trank durstig. Hinter ihm schloss sein Kollege die Tür. Er hielt einen Ordner in der Hand.
»Setzen Sie sich«, bat Mayer und ließ sich ihr gegenüber an dem kleinen Tisch nieder, der vor dem Fenster stand. Erst jetzt bemerkte sie das Aufzeichnungsgerät, das er dort abgestellt hatte.
»Wir werden Ihre Aussagen aufnehmen«, sagte er lediglich, als er ihren Blick bemerkte. Sie zog den Stuhl zurück und betrachtete Mayers Kollegen erstmals genauer. Seinem Äußeren nach zu urteilen, war er vermutlich schon in seinen Fünfzigern, das hagere Gesicht von Falten durchzogen. Sein stahlgraues Haar war millimeterkurz geschnitten und verlieh ihm eine unangenehme militärische Strenge. Er hatte in ihrer Gegenwart noch nicht einmal den Mund aufgemacht. Jetzt setzte er sich neben Mayer und reichte ihm den Ordner. Mayer klappte ihn wortlos auf und entnahm eine Fotografie im DIN-A4-Format. Schob sie ihr über den Tisch hinweg zu.
»Kennen Sie diese Frau?« Valerie starrte auf eine Halbprofilaufnahme mit orientalischem Äußeren. Das Gesicht wurde von schwarzem Haar umrahmt, das in einem lockeren Knoten im Nacken zusammengefasst war. Die hohen Wangenknochen der Beduinen prägten die Züge. Valerie verschränkte ihre Hände fest ineinander, um ihr plötzliches Zittern zu unterdrücken, während ihr Blick beinahe liebkosend die feine Falte zwischen den Brauen suchte und die geschwungene Linie der Lippen Noor al-Almawis nachzog. Ihr Gehirn arbeitete fieberhaft.
Was hatte ihre beste Freundin in den Fokus des BND gebracht? Sie blickte in Mayers abwartendes Gesicht.
»Sie ist meine Freundin«, antwortete sie ruhig. »Wir arbeiten eng zusammen im Rahmen eines ehrenamtlichen Projekts, das die Zusammenführung von Flüchtlingsfamilien unterstützt. Aber das wissen Sie vermutlich bereits, sonst wäre ich ja nicht hier, oder?«
Ihr entging nicht das kurze Aufglimmen in den kalten Augen von Mayers schweigsamem Kollegen bei diesen Worten.
»Erzählen Sie uns von al-Almawis Familie«, forderte Mayer sie auf. Valerie blickte auf das Aufnahmegerät. Die Spulen rauschten leise.
»Ich möchte mit einem Anwalt sprechen«, sagte sie. Mayer drückte die Stopptaste. »Sie werden hier lediglich als Zeugin befragt. Dafür benötigen Sie keinen Anwalt.«
Valerie lehnte sich vor und sah Mayer fest in die Augen. »Als Zeugin hätten Sie mich zu einem Vernehmungstermin vorladen können. Stattdessen nehmen Sie mich fest und behandeln mich erkennungsdienstlich wie eine potentielle Verdächtige. Kein weiteres Wort ohne meinen Anwalt.« Mayers grauhaariger Kollege schob Noors Bild zurück in den Ordner und schloss denselben mit Nachdruck.
»Wie Sie wollen«, erwiderte er, und seine Stimme war so kalt wie der Blick seiner Augen. »Wir kommen morgen wieder, dann haben Sie es sich vielleicht überlegt.«
Sein kaum merkbarer amerikanischer Akzent ließ sie aufhorchen. Wer war dieser Mann? Er trat selbstbewusst neben Mayer auf, sie arbeiteten Hand in Hand. Das ließ nur einen Schluss zu. Einen Schluss, der einen ungewollten Schauer über Valeries Rücken jagte.
Sie wurde in eine Zelle im Keller des Gebäudes gebracht. Durch ein vergittertes Fenster fiel trübes Licht. Valerie blieb in der Tür stehen und starrte fassungslos auf die schmale Pritsche, die nackte Toilettenschüssel und die hellgelben Wände.
»Das ist nicht Ihr Ernst«, wandte sie sich zu dem Beamten um, der sie nach unten begleitet hatte. »Bitte machen Sie keine Schwierigkeiten.«
»Schwierigkeiten? Ich ...?« Die Tür fiel ins Schloss. Schritte entfernten sich, und eine Stille umfing sie, in der ihr das Geräusch ihres eigenen Atems unnatürlich laut erschien. Der Adrenalinpegel in ihrem Blut sackte ab. Ein Zittern durchlief ihren Körper, und ein dicker Kloß in ihrer Kehle machte das Schlucken schwer. Tränen rollten über ihre Wangen. Valerie konnte plötzlich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Alles wirbelte durcheinander.
Bilder von Noor, Marc, den Geschehnissen der letzten Stunden. Eine Polizistin brachte ihr etwas zu essen und zu trinken. Danach sah und hörte sie niemanden mehr. Valerie starrte auf das Tablett auf dem Boden neben der Pritsche, auf eine Plastikflasche mit Mineralwasser und zwei eingepackte Sandwiches, ohne sie wirklich zu sehen. Vor ihrem inneren Auge tauchte die Fotografie von Noor auf, die Mayer ihr gezeigt hatte. Jede Einzelheit des Bildes hatte sich ihr eingebrannt, scharf und unauslöschlich. Valerie spürte erneut das Herzklopfen, das der Anblick in ihr ausgelöst hatte.
Die plötzliche Angst. Sie hatte ihren Gefühlen keinen Raum gegeben in der Gegenwart der beiden Männer. Doch jetzt, wo sie allein und unbeobachtet war, konnte sie sich ihnen nicht mehr entziehen, und die Sorge um ihre Freundin ließ sie alles andere vergessen.
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Autoren-Porträt von Alex Berg
Berg, Alex Alex Berg hat viele Jahre als freie Journalistin gearbeitet, bevor sie ihre ersten Spannungsromane verfasste. Ihre politisch brisanten Thriller "Machtlos" und "Die Marionette" sowie ihr Roman "Dein totes Mädchen" haben die Leser im Sturm erobert. Hinter dem Pseudonym Alex Berg verbirgt sich die Autorin Stefanie Baumm.Mehr Informationen unter www.alex-berg.com
Bibliographische Angaben
- Autor: Alex Berg
- 2010, 4. Aufl., 376 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426506491
- ISBN-13: 9783426506493
- Erscheinungsdatum: 08.06.2010
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