Mädchen Nr. 6
Thriller
Er tötet seine Opfer mit einer rostigen Gartenschere - und nimmt eine Haarsträhne als »Trophäe«. Die attraktive Polizistin Danielle setzt sich auf seine Fährte. Dabei gerät sie schnell gefährlich nah an ihre eigenen...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Mädchen Nr. 6 “
Er tötet seine Opfer mit einer rostigen Gartenschere - und nimmt eine Haarsträhne als »Trophäe«. Die attraktive Polizistin Danielle setzt sich auf seine Fährte. Dabei gerät sie schnell gefährlich nah an ihre eigenen Grenzen. Steht sie selbst schon auf der Liste des Wahnsinnigen? Wird sie das Mädchen Nr. 6?
Klappentext zu „Mädchen Nr. 6 “
Detective Daniela Cole ist Spezialistin für Serienkiller. Doch die Skrupellosigkeit dieser Morde schockiert selbst sie: drei Frauen, getötet mit einer rostigen Heckenschere, eine Haarsträhne brutal herausgerissen. Eines der Opfer konnte noch einen Hilferuf per Handy absetzen - an Danis große Liebe, Mitch Sheridan. Dann erhält Dani blutige Post. Steht auch die attraktive Polizistin auf der Liste des perversen Killers?
Lese-Probe zu „Mädchen Nr. 6 “
Mädchen Nr. 6 von Kate Brady 1
Camden Park, Lancaster, Maryland
Sonntag, 3. Oktober, 19:50 Uhr
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Jauchzen und fröhliches Gelächter. Es duftete nach Waffeln. Knarzende Luftballons wurden zu Pudeln mit runden Ohren geformt. Auf den Wegen wimmelte es von Müttern mit schwerbeladenen Buggys. Die Väter hatten Bluetooth-Sets im Ohr und achteten nicht auf ihre Kinder, die ihnen hinterhertrotteten, abgelenkt von den bunten Überresten zerplatzter Pudelballons und den Rufen der Eisverkäufer. Leichte Beute, wenn man ein Kinderschänder oder Entführer war. Der Killer war keines von beiden. Die Kinder interessierten ihn nicht, sie waren unschuldig. Schuldig waren die Mütter. Sie hatten abscheuliche, unaussprechliche Verbrechen begangen und dachten, sie kämen damit durch. Falsch gedacht. Schon bald würde er einer dieser Mütter eine Lektion erteilen. Einer jungen Frau mit dunklem, langem Haar und einem Porzellanteint. Sie lauerte hinter dem Stand eines Gauklers und schoss mit einer billigen Kamera heimlich Fotos von dem kleinen Austin, dem zweijährigen Sohn von Robert und Alana Kinney. Bereits seit einer Stunde verfolgte die Frau die Familie durch den Trubel. Jetzt, nach zwei Jahren, schien sie plötzlich das schlechte Gewissen zu packen. Zu spät, miese Schlampe. Dafür war es viel zu spät.
Ohne etwas von ihrem Verfolger zu ahnen, zog die Frau ihre Jeansjacke enger um sich und folgte den Kinneys zum Parkplatz. Sie schlich an der äußeren Wagenreihe entlang, hinter der der Wald begann, und schoss weitere Fotos des Jungen. Lächerlich. Bei ihr würde er leichtes Spiel haben. Bei dieser Frau, die sich vor den Blicken der anderen verborgen hielt, mit ihrer Rechtschaffenheit und ihrer kleinen Kamera. Der Killer kürzte seinen Weg an zwei Autos vorbei ab und war seiner Beute nun dicht auf den Fersen. Er hielt den Kopf gesenkt, aber man hätte ihn ohnehin nicht erkannt: Stiefel, Schirmmütze, Bart. Dazu ein weit geschnittener Anorak mit großen Taschen. Die alte Küchenschere verlässlich darin verborgen. Ruhig. Beobachte, warte den richtigen Augenblick ab. Die Kinneys gingen zum entgegengesetzten Ende des Parkplatzes. Austin saß auf den Schultern seines Vaters, das kleine Gesicht hinter einer Wolke hellblauer Zuckerwatte verborgen. Robert Kinney drückte auf den Autoschlüssel, und die Blinker eines schwarzen Mercedes leuchteten kurz auf. Die Frau, die bald sterben würde, kauerte jetzt im Park hinter einer Rhododendronhecke. Der Killer machte sich bereit. Adrenalin schoss ihm ins Blut. Sie war noch gut vier Meter entfernt. Abgelenkt, abgeschirmt und ahnungslos.
Jetzt.
Der Killer stürzte von hinten heran, die Küchenschere wie einen Torpedo auf den schlanken Hals seines Opfers gerichtet. Die Frau musste etwas bemerkt haben, denn sie fuhr herum und öffnete den Mund zu einem Schrei, doch da drangen die Schneidblätter bereits in ihre Kehle ein, und ihr entfuhr nur noch ein leises Unck. Die Knie gaben unter ihr nach, und sie sank zu Boden, während die Schere unablässig in ihr Fleisch stieß, vor und zurück, vor und zurück. Mit jedem Stoß schien die Zeit langsamer zu vergehen, wie die Zeitlupe eines schlechten Traums. Die Wange, vergiss die Wange nicht. Die Schneidblätter fuhren weiter oben in die weiche Haut und zerfetzten sie. Blut spritzte auf die Lippen des Killers und hinterließ den Geschmack von Kupfer. Fünfzehn, vielleicht zwanzig Sekunden vergingen - halt, hör auf, bevor sie völlig hinüber ist. Sie soll lange genug leben, um zu begreifen, was geschieht. Steh auf. Atme. Der Killer erhob sich keuchend und wischte sich über den Ärmel. Die Frau lag mit weit geöffneten Augen auf dem Boden. Sie hatte die Knie angezogen, und ein Gurgeln drang aus ihrer Kehle. Nach einigen Sekunden begriff sie, und der wunderbare Ausdruck des Verstehens trat in ihre Augen. Sie wusste Bescheid. In diesen letzten, göttlichen Sekunden kapierten die Frauen immer, worum es ging. Ich hab's verstanden, war in ihrem flackernden Blick zu lesen. Ja, das solltest du auch. Für Kristina. Damit sie zurückkommt. Der Killer kniete sich vor sein Opfer, ergriff ein dickes Büschel blutverschmierten Haars und säbelte es ab. Ein weiterer Schritt in Richtung Vergeltung. Eine Hupe ertönte. Verdammter Mist, Beeilung, es gab noch so viel zu tun. Fulton anrufen. Heute würde sich zeigen, ob er sein Geld wert war. Auch wenn die Leiche des Mädchens im Wald versteckt lag, konnte jemand sie finden. Für derlei Komplikationen war die Zeit jedoch zu knapp. Nur noch eine Woche bis zum Wiedersehen mit Kristina. Also, Schere und Haare gut wegstecken. Und die Kamera - um Himmels willen, vergiss bloß nicht die Kamera mit den Aufnahmen von Austin Kinney! Der Killer blickte zufrieden vor sich auf den Boden, dann holte er eine Karte aus Büttenpapier hervor und öffnete sie. Die Sekunden verrannen, aber das hier war wichtig: Die Liste musste aktualisiert werden. Auf die rechte Kartenseite hatte jemand ein Versprechen gekritzelt: Sonntag, 10.10., Kristina. 19:00 Uhr. Auf der linken Seite befand sich eine Liste mit sechs Namen in einer anderen Handschrift. Die ersten drei waren in Braunrot durchgestrichen. Der Killer beugte sich vor, fuhr mit dem Finger durch die aufklaffende Wange des toten Mädchens und markierte den vierten Namen mit einer rot glitzernden Spur. Auch Nummer vier war erledigt, zwei waren noch übrig. Jetzt musste er nur noch die Informationen auswerten, die das Mädchen herausgefunden hatte. Der Killer warf einen letzten Blick auf die Leiche am Waldboden, bevor er sich abwandte und zwischen den Bäumen davonging. Er holte ein Prepaid-Handy aus seiner Jackentasche. Fulton ging nach dem ersten Klingeln ran. »Bist du an Russell Sanders dran?« Fulton gähnte. »Er hat seine Wohnung den ganzen Abend nicht verlassen.« »Was treibt er?« »Herrgott, woher soll ich das wissen? Er ist allein. Hat sich eine Zeitlang in der Küche aufgehalten.« Okay, dann war er wenigstens nicht unterwegs, um mit der Polizei zu sprechen. Vielleicht hatte ihm das tote Mädchen noch nicht erzählt, dass sie Austin Kinney gefunden hatte. Trotzdem hatte sie Kontakt zu Sanders aufgenommen, so viel stand fest. Bestimmt wäre sie noch heute Abend mit den Fotos zu ihm gerannt. Ein Grund mehr, dafür zu sorgen, dass er nicht anfing herumzuschnüffeln, oder, schlimmer noch, seinen Kumpel Mitch Sheridan holte. »Soll ich ihn erledigen?«, fragte Fulton. Allmählich wurde er nervös. »Jetzt läuft er auf und ab. Schätze, er telefoniert.« Rief er die Polizei? Oder versuchte er, die tote Frau zu erreichen? Oder Mitch? Jemand musste Sanders aufhalten. »Ja, schnapp ihn dir.«
Der Gestank der eitrigen Verbände drang Mitch Sheridan aus ein paar Metern Entfernung in die Nase. Ein älterer Kurde, dessen Gewand sich um die Knöchel bauschte, hockte reglos am Boden, den Granatenwerfer gegen die gesunde Schulter gestützt. Hitze waberte vom Sand auf, und in der Ferne waren Zeltreihen zu erkennen. Die Planen waren schwer von den Mittelstangen heruntergesackt und wirkten wie Soldaten, die nicht mehr aufrecht stehen konnten.
Krk, Krk. Die Kamera surrte. Mitch betätigte den Zoom seiner Leica. Den Bildausschnitt nicht zu klein wählen und auf den rechten Armstumpf des Mannes ausrichten. Auf die vereiterten, nässenden Verbände. Nicht nach dem Namen fragen, das war eine eiserne Regel. Denk nicht an seine Schmerzen und frag dich nicht, was wohl geschehen war. Mach einfach das Foto und enthülle die Story dahinter.
Krk. »Du bist dran.« Mitch steckte die Leica in die Kameratasche, die ihm um den Hals hing. Der Junge übernahm. Er war ungefähr zehn Jahre alt und hielt eine weitere Kamera - auf die gleiche Art wie Mitch zuvor. Mitch war ihm kurz nach seiner Ankunft in dem Flüchtlingscamp begegnet, als der Junge neben einem Straßenköter den Müll durchwühlte. Der Junge war von der Kamera fasziniert gewesen, und nach ein paar Tagen hatte Mitch ihm seine Ersatz-Canon geliehen. Der Kleine war gut, hatte einen guten Blick.
Mitch wollte sich gerade hinknien, als sich der alte Mann plötzlich von seinem Wachposten erhob. Tiefe Falten bildeten sich in seinen Augenwinkeln, als er in die Sonne blickte. Er zitterte am ganzen Körper. »Firoke«, flüsterte er.
Mitch runzelte die Stirn. Firoke, Firoke. Er sollte das Wort eigentlich kennen, konnte sich jedoch nicht an die Bedeutung erinnern. Bis das Geräusch aus der Ferne näher kam.
Ffp-ffp-ffp-ffp ... Lieber Himmel, Firoke bedeutete Helikopter auf Kurdisch.
Mitchs Herz tat einen Satz. »Komm!«, rief er und packte den Jungen bei der Hand. Sie mussten sich sofort in Sicherheit bringen. Der Wachposten schrie panisch in sein Funkgerät, während das Dröhnen der Rotoren lauter wurde. In knapp hundert Metern Entfernung brach im Lager die Hölle los. Männer griffen nach ihren Waffen, Frauen liefen umher und riefen verzweifelt nach ihren Kindern.
Ffp-ffp-ffp ...
»Schneller!«, schrie Mitch und umklammerte die Hand des Jungen fester. Schon sauste der Helikopter wie eine gigantische Hornisse auf sie zu. Der Junge stolperte und wirbelte Sand auf. Mitch riss ihn auf die Füße. »Lauf weg!«, brüllte er, aber die Rotorblätter übertönten seine Stimme. Der Helikopter schwebte mittlerweile über ihnen in der Luft. Die Türen glitten auf, und dann war das Inferno da.
Bomben. Explosionen. Schüsse.
Mitch rannte weiter, über den Jungen gebückt, um dessen Kopf zu schützen, während neben ihnen der Sand in alle Richtungen aufstob. Noch fünfzig Meter, und sie waren in Sicherheit, vierzig. Weiterlauf-
Mit einem Mal riss es ihm die Beine fort. Der Junge schrie.
Mitch richtete sich halb auf und spuckte Sand aus. Nicht loslassen. Was auch geschieht, lass den Jungen nicht los. Doch seine Beine gaben erneut unter ihm nach. Schmerz schoss durch seine Glieder. Der Junge schrie ihm etwas zu und zog an seiner Hand.
Ich lass ihn los, dachte Mitch. Er kann es noch bis zum Lager schaffen. Doch verstärkten seine Finger ihren Griff, während Sand und heiße Blutstropfen wie Pfeilspitzen auf ihn niederprasselten. Mitch wollte losrobben, aber die Wüste unter ihm schien sich in Treibsand verwandelt zu haben. Er konnte die Beine nicht bewegen. »Komm!«, rief der Junge, und Mitch wusste, dass er es tun musste. Ihn loslassen.
Er fluchte und lockerte seinen Griff. »Lauf weg!«, brüllte er, und der Junge rannte los. Durch den Staub sah Mitch, wie der Junge auf das Lager zujagte. Näher, noch näher.
Der Himmel wurde weiß. »Neeein!«, schrie Mitch, als er das Rattern hörte. Der Junge wurde hochgeschleudert. Wie eine Stoffpuppe. Hilflos und mit schlaffen Gliedern. Alles war still, als er mit seinen Zöpfen, den Schleifenspangen und der Eistüte in der Hand einfach in die Luft geschleudert wurde. Was? Mitch schüttelte den Kopf. Das ergab keinen Sinn. Aber jetzt war es nicht mehr der Junge, sondern Mitchs kleine Schwester, die sich von ihm losgerissen hatte und auf die Straße gelaufen war. Nicht loslassen! Aber das hatte er getan. Mitch schrie, weil die Kampfgeräusche lauter wurden. Von oben fi ng es aus dem Helikopter an zu piepsen wie aus einem Müllwagen, der rückwärtsfuhr. Pliep-pliep ...
Mitch fuhr mit weit aufgerissenen Augen hoch. Sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb. Wieder dieser Traum. Er fluchte und wischte beim Klang seiner Stimme die Nachwirkungen des Alptraums beiseite. Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und stellte fest, dass er schwitzte. Sein Atem ging stoßweise. Verdammt noch mal, er hatte geglaubt, die Ereignisse im Lager längst überwunden und den tragischen Tod seiner Schwester vor zwei Jahrzehnten verarbeitet zu haben. Außerdem war er nicht mehr im Irak. Er befand sich in der Schweiz - und das schon seit sechs Monaten. Zwei davon hatte er in der Klinik gelegen und um sein Leben gekämpft. Anschließend hatte er in der Reha wieder laufen lernen müssen und war schließlich in diesen gemütlich eingerichteten Bungalow mit den modernsten Therapiegeräten und einem atemberaubenden Ausblick auf die Alpen gezogen. Das waren eben die Vorteile des Wohlstands. Hier gab es weder Kampfhubschrauber noch Bomben oder Fotografien eines Jungen, den er nicht hatte retten können. Hier störte nur das unaufhörliche Piepsen von dem Nachttischchen, das einen halben Meter neben seinem Bett stand.
Das Satellitentelefon.
Er streckte den Arm danach aus. Es gab nur einen Menschen, der ihn hier anrufen würde: Russell Sanders. Verdammt.
Mitch nahm den Anruf grunzend entgegen.
»Mitch, bist du es? Kannst du mich hören?«
Er schaltete die Lampe an und neigte den Kopf dem Apparat entgegen, der die Größe eines Ziegelsteins hatte. Wie die Walkie-Talkies, mit denen sein Bruder und er als Kinder gespielt hatten. Sie waren durch das Netz von Abwasserrohren unter dem Sedalia Park gekrochen und hatten beim Herausklettern aus einem der vielen Gullys am Seeufer aufpassen müssen, nicht in Gänsescheiße zu treten. Damals war die Kommunikation nur auf eine Entfernung von zirka fünfzig Metern möglich gewesen, während sie sich nun über den halben Globus erstreckte. Mitch räusperte sich. »Ich kann dich hören.«
»Lieber Himmel, ich hatte schon befürchtet, du würdest nicht drangehen.«
»Ich komme nicht nach Hause, Russ. Lass mich in Ruhe. Ich habe dir gesagt, dass ich mit dem Thema fertig bin.«
»Das hast du bestimmt nicht so gemeint. Du musst die Fotos deinem Publikum zeigen, die Hintergründe aufdecken. Das brauchst du doch wie die Luft zum Atmen.«
»Eher so dringend wie ein Geschwür.« Mitch schob seine Beine seitlich vom Bett und zwang sich, aufzustehen. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er tatsächlich geglaubt, mit seinen Fotografien etwas bewirken zu können. Aber seit dem Angriff auf das Lager von Ar Rutbah hatte er begriffen, dass es niemals aufhören würde. Was er auch tat, das Blutvergießen würde kein Ende nehmen. Irgendwo auf der Welt war immer ein Kampfhubschrauber unterwegs, gab es Hungersnöte und wurden kleine Jungen in der Luft zerfetzt. »Verdammt, Mitch, diese Ausstellung ist besonders wichtig.« »Sicher. Nur hier wird gezeigt, wie der berühmte Fotograf und Gutmensch J. M. Sheridan nicht verhindern konnte, dass ein Kind in Stücke gerissen wurde. Da klingelt die Kasse.«
»Das habe ich nicht so gemeint.«
»Du willst die Ar-Rutbah-Ausstellung? Schön, aber ohne mich. Du kannst dich glücklich schätzen, dass du die Fotos überhaupt hast. Ich hätte sie dir nämlich nicht geschickt.« Nein, das hatte Mitch einem Angestellten des Krankenhauses zu verdanken, der in guter Absicht Mitchs Habseligkeiten durchgesehen und die Aufnahmen seinem Bruder Neil ausgehändigt hatte, während Mitch noch im Koma lag. Neil wiederum hatte sie Russ gegeben. Mitch hatte den Großteil davon noch nicht einmal gesehen. Nicht, dass er besonders erpicht darauf gewesen wäre.
»Mitch, das ist wirklich wichtig.« Russ verstummte kurz. »Was auch geschehen mag, versprich mir, dass du die Ausstellung machst.«
»Was auch geschehen mag?« Mitch sträubten sich die Nackenhaare. »Wovon redest du?«
»Ich stecke in Schwierigkeiten, Mitch. Es ist wegen der Stiftung. Du musst nach Hause kommen. Die Ausstellung eröffnen. «
»Oh, bitte ...« Doch etwas in Russ' Stimme ließ Mitch aufhorchen. Es sah ihm gar nicht ähnlich, Mitch manipulieren zu wollen. »Hör mal, ich weiß wirklich nicht - «
»Was?«, sagte Russ, aber es klang, als habe er sich vom Telefon entfernt. Mitch hörte einen dumpfen Schlag.
»Russell?«
»Nein!« Ein schabendes Geräusch drang an Mitchs Ohr. Dann wieder Russ' Stimme. »Argh.«
»Russ, was geht da vor?«
Abermals ein Geräusch. Wie von einem Möbelstück, das über den Boden geschleift wurde. »Russ, was ist los bei dir?«
»Mitch!«
Mitch war nun aufgesprungen und hellwach. Sein linkes Bein schmerzte höllisch. Er umklammerte den Hörer fester.
»Russ?«
Wieder ein Ziehen und Zerren, dann die Stimme eines anderen Mannes. Panik ergriff Mitch. Er lauschte eindringlich und versuchte, die Geräusche auf der anderen Seite des Planeten zu verstehen. So plötzlich, wie der Tumult entstanden war, so plötzlich herrschte mit einem Mal Ruhe. Keine Stimmen, nichts mehr.
»Russell!«
Doch Mitch hörte nur noch das Hämmern seines eigenen Herzens. Die Leitung war tot.
2
Camden Park, Lancaster, Maryland
Montag, 4. Oktober, 6:46 Uhr
Ein Sturm tobte durch Dani Coles Träume. Donner krachte, und Schüsse fielen, bis das Summen ihres Mobiltelefons sie aus dem Schlaf riss. Eine Schnauze beschnupperte ihr Kinn.
»Pfui«, murmelte sie. »Weg mit dir.«
Runt, eine fünfundvierzig Pfund schwere Pitbull-Dame, lag auf ihrer Brust und rührte sich nicht. Dani schob ihre Schnauze mit einer Hand fort und griff mit der anderen nach dem Handy. »Was gibt's?«
Chief Gibson.
»Aufwachen«, befahl er. Gibson war kein Typ, der sich lange mit Höflichkeiten aufhielt, schon gar nicht bei Dani. Sie rollte sich seitwärts hoch und schob Runt auf ein Sofakissen. Seit zwei Wochen hatte Dani schon nicht mehr in ihrem Schlafzimmer übernachtet. Der Donner und die Schüsse wurden dort schlimmer.
»Was liegt an?«, fragte sie. »Wir haben einen Mordfall im Camden Park«, erwiderte Gibson. »Sie sind dabei.«
Träumte sie? Das ergab keinen Sinn. »Sie meinen, ich bin wieder im Einsatz?«, fragte sie. »Keine Schreibtischarbeit mehr?«
»So ist es«, erwiderte Gibson und klang nicht gerade erfreut.
»Tifton untersucht die Leiche. Er will, dass Sie sie sich ansehen. «
Alarmiert kam Dani auf die Füße. Tifton? Er war damals ihr Partner gewesen, als sie noch zusammen auf Streife gegangen waren. Anschließend hatten sie auf getrenntem Weg die Karriereleiter erklommen. Wieder an einem Fall arbeiten zu dürfen, war gut, zusammen mit Tifton noch besser.
Doch erst mussten ihre Bewacher von der Internen verschwinden. Dani verdrängte den aufkeimenden Zorn und ging barfuß zum Wohnzimmerfenster. »Einen Augenblick«, sagte sie und schob mit zwei Fingern die Lamellen der Jalousien auseinander. Wie nicht anders zu erwarten, stand ein grauer Sedan weniger als einen Block von ihrem Haus entfernt am Straßenrand.
Sie ließ die Lamellen zurückschnappen. »Wenn ich wieder im Einsatz sein soll, dann pfeifen Sie die Interne zurück«, sagte sie in das Handy.
Gibson zögerte. »Der Befehl kam nicht von mir.«
»Aber Sie können ihn aufheben. Seit zwei Wochen kann ich nicht mal mehr aufs Klo gehen, ohne meine Bewacher im Nacken zu spüren. Ich habe nicht vor, mich wegzuschleichen, um irgendwelche Deals mit Ty Craig auszuhandeln, und das wissen Sie ganz genau. Pfeifen Sie sie zurück.« Sie verstummte. Frust und Zorn hatten ihr die Röte in die Wangen getrieben. »Ich bin nicht wie mein Vater, Chief.«
Aber das hatte ihr Dave Gibson noch nie abgenommen. Dani wusste, dass er nur darauf wartete, dass sie die gleiche Grenze überschritt, die ihr Vater überschritten hatte, bevor er gefeuert wurde und den Rest seines erbärmlichen Daseins als Ex-Cop und zweitklassiger Schlägertyp für Ty Craig fristete. Trotz Danis Erfolgsquote für ihre Abteilung warf Gibson ihr immer noch Blicke zu, wie man sie sonst nur für etwas übrighatte, das unterm Küchenschrank hervorgekrochen kam.
Sie ließ es drauf ankommen. »Bin ich nun dabei oder nicht?« Er stieß einen Fluch aus. »Ich kümmere mich um die Interne. Sehen Sie zu, dass Sie zum Camden Park kommen.«
Zwanzig Minuten später, Dani band sich gerade die Haare zu einem Pferdeschwanz, sah sie, wie der graue Sedan wegfuhr. Erleichtert atmete sie auf. Kurz vor halb acht rollte ihr Wagen bereits durch die Pforten des Camden Park. Eine uniformierte Beamtin wies ihr den Weg zu einem Tatort, wie man ihn aus dem Fernsehen kannte: gelbes Absperrband, das einen Parkplatz und das dahinter liegende Wäldchen abgrenzte. Ein halbes Dutzend schwarz-weißer Polizeiwagen, die in verschiedenen Positionen davor parkten. Dazu ein paar graue Chevrolets, die Wagen der Ermittler. Ein Notarztwagen stand mit geöffneten Heckklappen schräg auf dem Bürgersteig. Zwei Sanitäter saßen auf der Stoßstange und unterhielten sich - es gab niemanden zu retten. Und die Medienmeute wurde auf Abstand gehalten, als nutzte das etwas bei den Zoomobjektiven, die sie heutzutage benutzten. Ein paar Detectives in Trenchcoats und mit lose gebundenen Krawatten standen ebenfalls auf dem Parkplatz herum.
Reginald Tifton war einer von ihnen. Er sprach gerade mit zwei Uniformierten und deutete mit weit ausholender Geste auf das Gelände hinter ihnen. Die beiden Beamten setzten sich in Bewegung, als Dani auf Tifton zuging.
»Wurde auch Zeit, Nails«, begrüßte er sie. Den Spitznamen hatte die Abteilung ihr gegeben. Er trat ein paar Schritte vom Gehsteig fort in eine leere Parklücke. Tifton war ein großer Mann, schwarz, im Alter von fünfundvierzig Jahren, der kurz davorstand, zum dritten Mal zu heiraten. Sein runder Kopf schien direkt in seine breiten Schultern überzugehen - ohne erkennbaren Hals. Er hatte die gewählte Ausdrucksweise eines Yale-Absolventen, konnte jedoch problemlos auf Straßenslang umschalten, wenn er einem Verdächtigen vormachen wollte, dass sie aus dem gleichen Milieu kamen. In Wahrheit stammte Tifton aus einer alteingesessenen, reichen Familie aus Cheshire Hills, und Dani vermutete, dass er wirklich in Yale studiert hatte. »Hat dein Schönheitsritual heute Morgen wieder länger gedauert?«
»Mach's dir selbst«, erwiderte sie. Es war noch zu früh für echte Schlagfertigkeit.
Tiftons Blick ruhte auf ihr. »Ich habe dich seit dem Begräbnis deines Vaters nicht mehr gesehen. Haben sie dich an den Schreibtisch verbannt?«
Ein Ziehen machte sich in ihrem Brustkorb bemerkbar. Kein Schmerz - den hatte die Beziehung zu ihrem Vater wahrlich nicht verdient. Wahrscheinlich bloß etwas Sodbrennen von dem Kaffee. »Du meinst, ob es mir Spaß macht, Papierstapel von rechts nach links zu schieben und die vorgeschriebenen Therapiesitzungen zur Trauerbewältigung einzuhalten? Klar doch.« Sie blickte sich um. »Was liegt an?«
Tifton wusste, wann er es gut sein lassen musste. Er wies mit dem Kinn in Richtung Gebüsch. »Ein Typ, der mit einem Metalldetektor in dem Park unterwegs war, ist auf ein totes Mädchen gestoßen. Sie wurde während des Jahrmarkts am Wochenende erstochen.«
»Warum hast du mich rufen lassen?«, fragte Dani und bewegte sich auf die Fundstelle zu.
»Könnte sein, dass du uns etwas über die Tote sagen kannst.«
»Wie das?«
»Sie war eine von den Fällen, die du betreut hast.« Dani blieb wie angewurzelt stehen. Ihr war, als habe man einen Kübel Eiswasser über ihr ausgekippt. Jemand, den sie kannte? Ihre Kehle schnürte sich zusammen, und sie beschleunigte ihre Schritte. Tifton trabte hinter ihr her.
»He, Nails, warte mal! Sie sieht wirklich übel aus. Ihr wurde - «
Die Füße des Opfers erschienen zuerst in ihrem Blickfeld. Dani zögerte und trat nur langsam näher. Die linke Gesichtshälfte war zwar bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt, erkennbar war jedoch, dass es sich um eine dunkelhaarige Frau handelte, die zusammengekrümmt dalag. Sie schien während des Sterbens die Embryonalhaltung eingenommen zu haben. Ihre Kehle war aufgeschlitzt - oder vielmehr zerhackt worden. In der blutroten Pfütze unter ihr wimmelte es vor Fliegen. Sogar hier draußen in der frischen Luft hing der Geruch des Todes über ihr. Es stank nach getrocknetem Blut, Exkrementen und verfaultem Fleisch.
Dani umrundete die Leiche, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Ein Stück nackte Haut blitzte unter dem Revers ihrer Bluse hervor. Danis Blick fiel auf eine winzige Tätowierung in Form einer Rosenblüte.
»O nein!«, rief sie aus und wich schockiert ein paar Schritte zurück. »Nein!«
»Das ist Rosie, nicht wahr?«, fragte Tifton.
Tränen brannten Dani hinter den Lidern. Sie kniff die Augen zusammen, beugte sich vor, die Hände auf die Knie gestützt, und zwang sich, nicht zu schluchzen. Dann schaute sie erneut auf das, was von dem Gesicht übrig geblieben war, und zwang sich, einzuatmen. »Rose McNamara.«
»Okay«, erwiderte Tifton und rief über Danis Schulter hinweg nach einem der Tatortermittler. »Ich hatte recht, Carter, es handelt sich um Rose McNamara. Sie hat als Nutte für Ty Craig gearbeitet, in der Nähe von Read-«
»Nein«, unterbrach Dani ihn. »Sie ging schon seit ein paar Jahren nicht mehr anschaffen. Sie war für eine Weile fortgezogen, hat mich aber vor ungefähr einem Monat angerufen und erzählt, dass sie zurückgekommen ist.« Dani wandte sich von der Leiche ab und blickte Tifton an. »Sie war sauber - hat weder für Craig noch sonst wen gearbeitet, sondern einen Job bei Big Lots in der Grimby Street gehabt. Hat ihre Miete gezahlt und versucht, sich mit ihrer Familie auszusöhnen. Sie war auf einem guten Weg.«
Trauer drohte Dani zu überwältigen, aber sie zwang sich, regelmäßig zu atmen und sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Denk nicht an das Opfer, sondern mach einfach deine Arbeit. Tu so, als sei sie eine Fremde, und konzentriere dich darauf, den Dreckskerl zu finden, der ihr das angetan hat.
Sie reckte das Kinn und betrachtete die Tote genau, um jedes Detail aufzunehmen. Die Augen des Opfers waren geöffnet und eingesunken, die Kehle ein blutiger Mischmasch aus zerstörter Haut und Knochen. Die rechte Gesichtshälfte war unversehrt. Sie hatte die rechte Hand leicht geöffnet, mit gekrümmten Fingern, als hätte sie etwas in der Hand gehalten. Die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt. Die junge Frau war vollständig bekleidet, und ihre Haare -
»Was zur Hölle ist das?« Dani hockte sich hin, um besser sehen zu können.
»Jemand hat ihr ein Haarbüschel abgeschnitten«, sagte der Gerichtsmediziner.
Dani war bestürzt. »Hier? Sie meinen, nach der Ermordung? «
»Ob post mortem, kann ich nicht sagen. Ob es hier geschehen ist, allerdings schon. Vermutlich hat er dasselbe Werkzeug benutzt, mit dem er ihr auch in die Kehle gestochen hat.«
»Welches Werkzeug?«
»Eine lange Klinge. Schmal, einseitig geschliffen.«
»Ein Jagd- oder Bowiemesser?« Danis Vater hatte so eins besessen und während der Jagdsaison seiner Beute damit die Kehle aufgeschlitzt, um sie anschließend ausbluten zu lassen. Dani erinnerte sich noch immer an den Geruch: scharf, kupferig.
»Könnte sein. Oder ein Ausbeinmesser«, sagte der Gerichtsmediziner. »Sie wissen schon, so eines, das Köche benutzen. «
Dani bewegte sich dicht an der Leiche entlang und versuchte, ein Gespür für den Killer zu entwickeln - war er Jäger oder Koch? Dann kauerte sie sich neben Rosies Gesicht. Tifton ging neben ihr in die Hocke.
»Also, wie lautet deine Theorie?«
Ein Monster, dachte Dani. »Ich habe keine.« Aber eine Vorstellung drängte sich auf: ein Verrückter, der seine Bettpfosten mit Frauenhaar schmückte.
»Komm schon, du bist schließlich die mit dem Abschluss in Psychologie. Was würde Freud über Messer und Haarsträhnen sagen?«
Ihr lag bereits eine schnippische Antwort auf der Zunge, als ihr bewusst wurde, dass sie Tifton vor sich hatte. Er machte sich nicht über sie lustig. Dani schüttelte den Kopf. »Freuds Spezialität waren Phallussymbole. Ich weiß nicht, was er über Haarsträhnen gedacht hat.« Sie stand auf und holte tief Luft. »Aber was auch immer es zu bedeuten hat, das hier ist nicht beiläufig geschehen. So eine Tat begeht man nicht mal eben so. Das hier ist persönlich. Vielleicht auch sexuell motiviert. «
»Also kannte sie ihn oder er sie. Vielleicht ist sie ihm hierher gefolgt.«
»Wir haben einige Spuren gefunden«, schaltete sich der Tatortermittler ein. »Von Stiefeln, höchstwahrscheinlich.«
»Super«, sagte Tifton. Fußabdrücke waren gut.
Der Mitarbeiter nahm den Abdruck und erledigte damit das, was sich drei- bis vierhundert Mal pro Jahr in großen Städten wie Philadelphia und Baltimore abspielte und einige wenige Dutzend Male in kleineren Gemeinden wie Lancaster County. Techniker, Uniformierte und Detectives, alle in Schutzkleidung, bestehend aus Überziehern und Handschuhen, gingen ihren Tätigkeiten nach: Untersuchung der Leiche, Zeugenbefragung, Absuchen des Wäldchens und des Parkplatzes.
Dani blieb bei Tifton, bis es ein paar Nachrichtenreportern gelang, sie zur Seite zu ziehen und auszuquetschen. Sie achtete streng darauf, nicht zu viel preiszugeben und ihre Abteilung in positivem Licht dastehen zu lassen. »Wir tun alles, um die unschuldigen Bürger unserer Stadt zu beschützen ...« Dann ließ sie bewusst ein paar Schlüsselworte fallen, falls der Mörder die Nachrichten verfolgte: dumm, irre, Monster. Sollte es sich hier um mehr als eine Zufallstat handeln - und die Haarsträhne sprach dafür - , würde der Täter den Fehdehandschuh vielleicht aufheben.
Mittlerweile waren zwei Stunden vergangen. »Wir können sie jetzt umdrehen«, verkündete der Gerichtsmediziner.
Dani beendete die Interviews und ging zu der Stelle, wo Rosie lag. Der Gerichtsmediziner und sein Assistent waren bei ihr. Als ein Techniker ihr Handy in einen Plastikbeutel stecken wollte, sagte Dani: »Zeigen Sie bitte mal her.« Sie zog sich ein frisches Paar Latexhandschuhe über, bevor sie das Mobiltelefon entgegennahm, und zwang sich zuzusehen, wie Rosies Leiche behutsam umgedreht wurde.
Nichts. Keine weiteren Wunden. Kein Tatwerkzeug, das ihr Körper vorher verdeckt hatte. Keine Hinweise auf den Mörder. Zumindest nichts, was mit bloßem Auge zu erkennen gewesen wäre. Dani ging mit Rosies Handy zum Parkplatz und beugte sich über die Haube von Tiftons Wagen. Dann drückte sie auf die »Power«-Taste und notierte sämtliche Rufnummern der getätigten, empfangenen und entgangenen Anrufe. Anschließend reichte sie das Handy dem Kriminaltechniker zurück und nahm ihr eigenes zur Hand. Sie rief auf dem Revier an und gab die Nummern und die entsprechenden Einträge an den diensthabenden Beamten weiter.
Fünfzehn Minuten später kam der Rückruf mit den Namen und Adressen aus Rosies Mobiltelefon. Dani erkannte einige davon wieder - die Schwester, der Vermieter und Rosies Mom. Keiner der Namen schien zu einem festen Freund zu gehören. Dani stellte nichts Ungewöhnliches fest, bis sie ans Ende der Liste kam. Russell Sanders. Erst wollte ihr der Name nichts sagen, doch dann sah sie den Rest des Eintrags: JMS Foundation.
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie erinnerte sich an einen Russell Sanders. Wenngleich sie ihm nie persönlich begegnet war, so hatte sie doch von ihm gehört - in jenem Sommer vor achtzehn Jahren, den sie mit aller Macht vergessen wollte.
Sie blickte sich um, als befürchtete sie, jemand könnte das Flattern in ihrem Bauch bemerken, was natürlich völlig irrational war. Dann prüfte sie die Zeit des Anrufs: Sonntag, 20:07 Uhr, der letzte Anruf, der von Rosies Handy aus getätigt worden war. Die Nummer war im Laufe des Wochenendes bereits zweimal angerufen worden.
»Aufgepasst, sonst bleiben die Falten für immer so stehen.« Tifton kam zu ihr und legte ihr seinen Daumen auf die gerunzelte Stirn.
Sie schob seine Hand beiseite und nahm ihr Handy, um die letzte Nummer anzurufen. Sie musste sich einfach Gewissheit verschaffen.
Ein Anrufbeantworter schaltete sich ein. »Guten Tag, Sie sind mit dem Anschluss von Russell Sanders, dem Geschäftsführer der J. M. Sheridan Foundation, verbunden. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht ...«
O Gott, es stimmte. Sheridan.
Dani atmete tief ein und versuchte, den Namen aus ihrem Kopf zu verbannen und sich auf die Frage zu konzentrieren, warum Rosie bei der Stiftung angerufen haben könnte. Sie wandte sich an Tifton. »Was hat eine ehemalige Prostituierte und jetzige Supermarktangestellte mit einer Nobelstiftung für Fotokunst zu tun?« Tifton sah sie begriffsstutzig an.
»Rosies letzter Anruf ging an Russell Sanders.«
»Wer ist Russell Sanders?«
»Der Geschäftsführer der J. M. Sheridan Foundation.«
»Wir öffnen Augen und Herzen. Der Sheridan?«
Als gäbe es einen anderen. Trotz sämtlicher Verdrängungsbemühungen kamen die Erinnerungen hoch: an den Jungen von nebenan und seinen Aufstieg zum weltbekannten Fotojournalisten. Reich. Gut aussehend. Held und Vorbild für viele Außenseiter. Es hatte mal Zeiten gegeben, da hatte er Danis Held sein wollen.
Und dafür hatte sie ihm die Nase gebrochen.
Lieber Himmel, jetzt reiß dich gefälligst zusammen! Sie hatte die Erinnerungen an Mitch Sheridan schon vor Jahren aus ihrem Gedächtnis gestrichen, zusammen mit jeglichen Anzeichen von Bedauern. »Klar, genau der«, antwortete sie Tifton.
»Ganz schön glamouröser Umgang für eine Nutte.«
»Ich habe dir doch gesagt, dass sie nicht mehr anschaffen ging.« Und doch hatte er recht. Worin bestand die Verbindung zwischen Rosie McNamara und einem angesehenen Mitglied der Gesellschaft wie Russell Sanders?
»Sieht aus, als wären wir hier fertig«, stellte Tifton fest und deutete auf den sich nähernden Van der Bezirkspolizei, dem der Wagen des Gerichtsmediziners folgte. Die Kriminaltechniker waren bereits beim Einpacken. »Wir müssen Rosies Angehörige informieren.«
Trauer lastete schwer auf Danis Brust. Sie hatte Rosies Mutter und Schwester vor ein paar Jahren kennengelernt, als Rosie noch in Schwierigkeiten steckte und sie sehr unter der Entfremdung litten. Dani mochte sich kaum vorstellen, wie viel schlimmer es jetzt für sie sein musste. »Ich werde mit ihnen reden, sobald ich die Zustimmung der Gerichtsmedizin habe.«
»Reden wir inzwischen mit diesem Sanders. Er hat zuletzt mit Rosie gesprochen. Außerdem passt er nicht recht ins Bild.«
In Ordnung.« Dani versuchte, keine Regung zu zeigen. Russell Sanders würde nicht mehr wissen, wer sie war. Und der Namensgeber der Stiftung, James Mitchell Sheridan, war - wie immer - irgendwo rund um den Globus unterwegs. Sie musste sich also nur darauf konzentrieren, Rosies Mörder aufzuspüren.
Dani verließ den Park. Als sie feststellte, dass sie versehentlich in die falsche Richtung losgefahren war, machte sie eine Kehrtwendung über die Blumenbeete auf dem Mittelstreifen. Tifton hinter ihr drückte kräftig auf die Hupe - er war ein Naturliebhaber - , aber sie beachtete ihn nicht und fuhr Richtung Franklin Avenue weiter. Unterdessen versuchte sie, sämtliche Gedanken an die Sheridan Foundation aus dem Kopf zu drängen und sich stattdessen mit Rosie zu befassen. Zwei Jahre zuvor hatte Dani sie wegen eines Falls verhört und das junge Mädchen schon nach zehn Sekunden ins Herz geschlossen. Die Kollegen hatten in ihr bloß irgendeine verkorkste Existenz gesehen, ein Beitrag für die Statistik. Dani hingegen hatte Rosie angemerkt, dass sie sich ... verloren fühlte. Sie war erst sechzehn Jahre alt gewesen und hatte mit einem so erstaunten Gesichtsausdruck in die Welt geblickt, als begreife sie einfach nicht, wie es so schlimm hatte kommen können. Dani hatte einige Straßen- huren befragt und herausgefunden, dass Rosie ein paar Monate vorher von der Straße verschwunden war. Als sie wieder auftauchte, hatte sie sich verändert, und etwas hatte nicht mit ihr gestimmt. Dani hatte erfahren, dass ihr Zuhälter Ty Craig war.
Und von diesem Augenblick an war Rosie ihr zu einem persönlichen Anliegen geworden. Es hätte nicht so sein dürfen, aber so war es nun einmal. Ty Craig war ein geldgeiler Gauner der Oberschicht, dessen kriminelle Interessen - Edelnutten und Darlehen mit Wucherzinsen - von seinen legalen Unternehmungen - eine Filialkette von Schmuckgeschäften und Immobilien - gedeckt wurden. Er war so etwas wie der Mafiaboss von Lancaster County, geschützt durch großzügige Spenden an Politiker und sein wohltätiges Engagement. Man konnte ihm nichts anhängen, und es hieß, dass er auch ein oder zwei Polizisten schmierte.
Wie Danis Vater.
Scham überlief sie heiß, und sie stieß einen Fluch aus. Sie war damals nicht so dumm gewesen, Craig herauszufordern, hatte sich aber geweigert, die sechzehnjährige Rosie McNamara zu ihm zurückzuschicken. Und so war Keller Brookes ins Spiel gekommen, eine Psychologin, die in einer Beratungsstelle für Jugendliche arbeitete. Keller war eine der Guten, und so gelang es Rosie schließlich, sich zu befreien. Dani hatte vor vier Wochen einen Anruf von Rosie erhalten und erfahren, dass sie wieder in die Gegend gezogen war, um bei ihrer Familie zu sein. Sie hatte ihren Abschluss nachgeholt und einen Job und eine Wohnung gefunden. Es ging ihr richtig gut.
Bis irgendein Perverser ihr am Rande eines Parks die Kehle zerfetzt und ein Büschel ihres Haars abgesäbelt hatte.
Ty Craig? Er hasste es, jemanden zu verlieren, aber davon abgesehen war Craig ein einflussreicher Geschäftsmann. Persönliche Rache war nicht sein Stil. Und schon gar nicht erst zwei Jahre, nachdem Rosie fortgegangen war. Russell Sanders? Das wäre zu einfach. Trotzdem war es seltsam, dass Rosie zuletzt ihn angerufen hatte. Diese Tatsache allein machte es erforderlich, sich mit ihm zu unterhalten.
Dani war noch einen Block von der Stiftung entfernt, als ihr Handy klingelte. Tifton. »Du kannst gleich wieder umdrehen «, sagte er. »Die Wache hat gerade angerufen.«
»Warum?«
»Russell Sanders' Sohn hat eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Sanders ist verschwunden.«
Übersetzung: Antje Nissen
Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2012 Knaur Verlag
Jauchzen und fröhliches Gelächter. Es duftete nach Waffeln. Knarzende Luftballons wurden zu Pudeln mit runden Ohren geformt. Auf den Wegen wimmelte es von Müttern mit schwerbeladenen Buggys. Die Väter hatten Bluetooth-Sets im Ohr und achteten nicht auf ihre Kinder, die ihnen hinterhertrotteten, abgelenkt von den bunten Überresten zerplatzter Pudelballons und den Rufen der Eisverkäufer. Leichte Beute, wenn man ein Kinderschänder oder Entführer war. Der Killer war keines von beiden. Die Kinder interessierten ihn nicht, sie waren unschuldig. Schuldig waren die Mütter. Sie hatten abscheuliche, unaussprechliche Verbrechen begangen und dachten, sie kämen damit durch. Falsch gedacht. Schon bald würde er einer dieser Mütter eine Lektion erteilen. Einer jungen Frau mit dunklem, langem Haar und einem Porzellanteint. Sie lauerte hinter dem Stand eines Gauklers und schoss mit einer billigen Kamera heimlich Fotos von dem kleinen Austin, dem zweijährigen Sohn von Robert und Alana Kinney. Bereits seit einer Stunde verfolgte die Frau die Familie durch den Trubel. Jetzt, nach zwei Jahren, schien sie plötzlich das schlechte Gewissen zu packen. Zu spät, miese Schlampe. Dafür war es viel zu spät.
Ohne etwas von ihrem Verfolger zu ahnen, zog die Frau ihre Jeansjacke enger um sich und folgte den Kinneys zum Parkplatz. Sie schlich an der äußeren Wagenreihe entlang, hinter der der Wald begann, und schoss weitere Fotos des Jungen. Lächerlich. Bei ihr würde er leichtes Spiel haben. Bei dieser Frau, die sich vor den Blicken der anderen verborgen hielt, mit ihrer Rechtschaffenheit und ihrer kleinen Kamera. Der Killer kürzte seinen Weg an zwei Autos vorbei ab und war seiner Beute nun dicht auf den Fersen. Er hielt den Kopf gesenkt, aber man hätte ihn ohnehin nicht erkannt: Stiefel, Schirmmütze, Bart. Dazu ein weit geschnittener Anorak mit großen Taschen. Die alte Küchenschere verlässlich darin verborgen. Ruhig. Beobachte, warte den richtigen Augenblick ab. Die Kinneys gingen zum entgegengesetzten Ende des Parkplatzes. Austin saß auf den Schultern seines Vaters, das kleine Gesicht hinter einer Wolke hellblauer Zuckerwatte verborgen. Robert Kinney drückte auf den Autoschlüssel, und die Blinker eines schwarzen Mercedes leuchteten kurz auf. Die Frau, die bald sterben würde, kauerte jetzt im Park hinter einer Rhododendronhecke. Der Killer machte sich bereit. Adrenalin schoss ihm ins Blut. Sie war noch gut vier Meter entfernt. Abgelenkt, abgeschirmt und ahnungslos.
Jetzt.
Der Killer stürzte von hinten heran, die Küchenschere wie einen Torpedo auf den schlanken Hals seines Opfers gerichtet. Die Frau musste etwas bemerkt haben, denn sie fuhr herum und öffnete den Mund zu einem Schrei, doch da drangen die Schneidblätter bereits in ihre Kehle ein, und ihr entfuhr nur noch ein leises Unck. Die Knie gaben unter ihr nach, und sie sank zu Boden, während die Schere unablässig in ihr Fleisch stieß, vor und zurück, vor und zurück. Mit jedem Stoß schien die Zeit langsamer zu vergehen, wie die Zeitlupe eines schlechten Traums. Die Wange, vergiss die Wange nicht. Die Schneidblätter fuhren weiter oben in die weiche Haut und zerfetzten sie. Blut spritzte auf die Lippen des Killers und hinterließ den Geschmack von Kupfer. Fünfzehn, vielleicht zwanzig Sekunden vergingen - halt, hör auf, bevor sie völlig hinüber ist. Sie soll lange genug leben, um zu begreifen, was geschieht. Steh auf. Atme. Der Killer erhob sich keuchend und wischte sich über den Ärmel. Die Frau lag mit weit geöffneten Augen auf dem Boden. Sie hatte die Knie angezogen, und ein Gurgeln drang aus ihrer Kehle. Nach einigen Sekunden begriff sie, und der wunderbare Ausdruck des Verstehens trat in ihre Augen. Sie wusste Bescheid. In diesen letzten, göttlichen Sekunden kapierten die Frauen immer, worum es ging. Ich hab's verstanden, war in ihrem flackernden Blick zu lesen. Ja, das solltest du auch. Für Kristina. Damit sie zurückkommt. Der Killer kniete sich vor sein Opfer, ergriff ein dickes Büschel blutverschmierten Haars und säbelte es ab. Ein weiterer Schritt in Richtung Vergeltung. Eine Hupe ertönte. Verdammter Mist, Beeilung, es gab noch so viel zu tun. Fulton anrufen. Heute würde sich zeigen, ob er sein Geld wert war. Auch wenn die Leiche des Mädchens im Wald versteckt lag, konnte jemand sie finden. Für derlei Komplikationen war die Zeit jedoch zu knapp. Nur noch eine Woche bis zum Wiedersehen mit Kristina. Also, Schere und Haare gut wegstecken. Und die Kamera - um Himmels willen, vergiss bloß nicht die Kamera mit den Aufnahmen von Austin Kinney! Der Killer blickte zufrieden vor sich auf den Boden, dann holte er eine Karte aus Büttenpapier hervor und öffnete sie. Die Sekunden verrannen, aber das hier war wichtig: Die Liste musste aktualisiert werden. Auf die rechte Kartenseite hatte jemand ein Versprechen gekritzelt: Sonntag, 10.10., Kristina. 19:00 Uhr. Auf der linken Seite befand sich eine Liste mit sechs Namen in einer anderen Handschrift. Die ersten drei waren in Braunrot durchgestrichen. Der Killer beugte sich vor, fuhr mit dem Finger durch die aufklaffende Wange des toten Mädchens und markierte den vierten Namen mit einer rot glitzernden Spur. Auch Nummer vier war erledigt, zwei waren noch übrig. Jetzt musste er nur noch die Informationen auswerten, die das Mädchen herausgefunden hatte. Der Killer warf einen letzten Blick auf die Leiche am Waldboden, bevor er sich abwandte und zwischen den Bäumen davonging. Er holte ein Prepaid-Handy aus seiner Jackentasche. Fulton ging nach dem ersten Klingeln ran. »Bist du an Russell Sanders dran?« Fulton gähnte. »Er hat seine Wohnung den ganzen Abend nicht verlassen.« »Was treibt er?« »Herrgott, woher soll ich das wissen? Er ist allein. Hat sich eine Zeitlang in der Küche aufgehalten.« Okay, dann war er wenigstens nicht unterwegs, um mit der Polizei zu sprechen. Vielleicht hatte ihm das tote Mädchen noch nicht erzählt, dass sie Austin Kinney gefunden hatte. Trotzdem hatte sie Kontakt zu Sanders aufgenommen, so viel stand fest. Bestimmt wäre sie noch heute Abend mit den Fotos zu ihm gerannt. Ein Grund mehr, dafür zu sorgen, dass er nicht anfing herumzuschnüffeln, oder, schlimmer noch, seinen Kumpel Mitch Sheridan holte. »Soll ich ihn erledigen?«, fragte Fulton. Allmählich wurde er nervös. »Jetzt läuft er auf und ab. Schätze, er telefoniert.« Rief er die Polizei? Oder versuchte er, die tote Frau zu erreichen? Oder Mitch? Jemand musste Sanders aufhalten. »Ja, schnapp ihn dir.«
Der Gestank der eitrigen Verbände drang Mitch Sheridan aus ein paar Metern Entfernung in die Nase. Ein älterer Kurde, dessen Gewand sich um die Knöchel bauschte, hockte reglos am Boden, den Granatenwerfer gegen die gesunde Schulter gestützt. Hitze waberte vom Sand auf, und in der Ferne waren Zeltreihen zu erkennen. Die Planen waren schwer von den Mittelstangen heruntergesackt und wirkten wie Soldaten, die nicht mehr aufrecht stehen konnten.
Krk, Krk. Die Kamera surrte. Mitch betätigte den Zoom seiner Leica. Den Bildausschnitt nicht zu klein wählen und auf den rechten Armstumpf des Mannes ausrichten. Auf die vereiterten, nässenden Verbände. Nicht nach dem Namen fragen, das war eine eiserne Regel. Denk nicht an seine Schmerzen und frag dich nicht, was wohl geschehen war. Mach einfach das Foto und enthülle die Story dahinter.
Krk. »Du bist dran.« Mitch steckte die Leica in die Kameratasche, die ihm um den Hals hing. Der Junge übernahm. Er war ungefähr zehn Jahre alt und hielt eine weitere Kamera - auf die gleiche Art wie Mitch zuvor. Mitch war ihm kurz nach seiner Ankunft in dem Flüchtlingscamp begegnet, als der Junge neben einem Straßenköter den Müll durchwühlte. Der Junge war von der Kamera fasziniert gewesen, und nach ein paar Tagen hatte Mitch ihm seine Ersatz-Canon geliehen. Der Kleine war gut, hatte einen guten Blick.
Mitch wollte sich gerade hinknien, als sich der alte Mann plötzlich von seinem Wachposten erhob. Tiefe Falten bildeten sich in seinen Augenwinkeln, als er in die Sonne blickte. Er zitterte am ganzen Körper. »Firoke«, flüsterte er.
Mitch runzelte die Stirn. Firoke, Firoke. Er sollte das Wort eigentlich kennen, konnte sich jedoch nicht an die Bedeutung erinnern. Bis das Geräusch aus der Ferne näher kam.
Ffp-ffp-ffp-ffp ... Lieber Himmel, Firoke bedeutete Helikopter auf Kurdisch.
Mitchs Herz tat einen Satz. »Komm!«, rief er und packte den Jungen bei der Hand. Sie mussten sich sofort in Sicherheit bringen. Der Wachposten schrie panisch in sein Funkgerät, während das Dröhnen der Rotoren lauter wurde. In knapp hundert Metern Entfernung brach im Lager die Hölle los. Männer griffen nach ihren Waffen, Frauen liefen umher und riefen verzweifelt nach ihren Kindern.
Ffp-ffp-ffp ...
»Schneller!«, schrie Mitch und umklammerte die Hand des Jungen fester. Schon sauste der Helikopter wie eine gigantische Hornisse auf sie zu. Der Junge stolperte und wirbelte Sand auf. Mitch riss ihn auf die Füße. »Lauf weg!«, brüllte er, aber die Rotorblätter übertönten seine Stimme. Der Helikopter schwebte mittlerweile über ihnen in der Luft. Die Türen glitten auf, und dann war das Inferno da.
Bomben. Explosionen. Schüsse.
Mitch rannte weiter, über den Jungen gebückt, um dessen Kopf zu schützen, während neben ihnen der Sand in alle Richtungen aufstob. Noch fünfzig Meter, und sie waren in Sicherheit, vierzig. Weiterlauf-
Mit einem Mal riss es ihm die Beine fort. Der Junge schrie.
Mitch richtete sich halb auf und spuckte Sand aus. Nicht loslassen. Was auch geschieht, lass den Jungen nicht los. Doch seine Beine gaben erneut unter ihm nach. Schmerz schoss durch seine Glieder. Der Junge schrie ihm etwas zu und zog an seiner Hand.
Ich lass ihn los, dachte Mitch. Er kann es noch bis zum Lager schaffen. Doch verstärkten seine Finger ihren Griff, während Sand und heiße Blutstropfen wie Pfeilspitzen auf ihn niederprasselten. Mitch wollte losrobben, aber die Wüste unter ihm schien sich in Treibsand verwandelt zu haben. Er konnte die Beine nicht bewegen. »Komm!«, rief der Junge, und Mitch wusste, dass er es tun musste. Ihn loslassen.
Er fluchte und lockerte seinen Griff. »Lauf weg!«, brüllte er, und der Junge rannte los. Durch den Staub sah Mitch, wie der Junge auf das Lager zujagte. Näher, noch näher.
Der Himmel wurde weiß. »Neeein!«, schrie Mitch, als er das Rattern hörte. Der Junge wurde hochgeschleudert. Wie eine Stoffpuppe. Hilflos und mit schlaffen Gliedern. Alles war still, als er mit seinen Zöpfen, den Schleifenspangen und der Eistüte in der Hand einfach in die Luft geschleudert wurde. Was? Mitch schüttelte den Kopf. Das ergab keinen Sinn. Aber jetzt war es nicht mehr der Junge, sondern Mitchs kleine Schwester, die sich von ihm losgerissen hatte und auf die Straße gelaufen war. Nicht loslassen! Aber das hatte er getan. Mitch schrie, weil die Kampfgeräusche lauter wurden. Von oben fi ng es aus dem Helikopter an zu piepsen wie aus einem Müllwagen, der rückwärtsfuhr. Pliep-pliep ...
Mitch fuhr mit weit aufgerissenen Augen hoch. Sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb. Wieder dieser Traum. Er fluchte und wischte beim Klang seiner Stimme die Nachwirkungen des Alptraums beiseite. Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und stellte fest, dass er schwitzte. Sein Atem ging stoßweise. Verdammt noch mal, er hatte geglaubt, die Ereignisse im Lager längst überwunden und den tragischen Tod seiner Schwester vor zwei Jahrzehnten verarbeitet zu haben. Außerdem war er nicht mehr im Irak. Er befand sich in der Schweiz - und das schon seit sechs Monaten. Zwei davon hatte er in der Klinik gelegen und um sein Leben gekämpft. Anschließend hatte er in der Reha wieder laufen lernen müssen und war schließlich in diesen gemütlich eingerichteten Bungalow mit den modernsten Therapiegeräten und einem atemberaubenden Ausblick auf die Alpen gezogen. Das waren eben die Vorteile des Wohlstands. Hier gab es weder Kampfhubschrauber noch Bomben oder Fotografien eines Jungen, den er nicht hatte retten können. Hier störte nur das unaufhörliche Piepsen von dem Nachttischchen, das einen halben Meter neben seinem Bett stand.
Das Satellitentelefon.
Er streckte den Arm danach aus. Es gab nur einen Menschen, der ihn hier anrufen würde: Russell Sanders. Verdammt.
Mitch nahm den Anruf grunzend entgegen.
»Mitch, bist du es? Kannst du mich hören?«
Er schaltete die Lampe an und neigte den Kopf dem Apparat entgegen, der die Größe eines Ziegelsteins hatte. Wie die Walkie-Talkies, mit denen sein Bruder und er als Kinder gespielt hatten. Sie waren durch das Netz von Abwasserrohren unter dem Sedalia Park gekrochen und hatten beim Herausklettern aus einem der vielen Gullys am Seeufer aufpassen müssen, nicht in Gänsescheiße zu treten. Damals war die Kommunikation nur auf eine Entfernung von zirka fünfzig Metern möglich gewesen, während sie sich nun über den halben Globus erstreckte. Mitch räusperte sich. »Ich kann dich hören.«
»Lieber Himmel, ich hatte schon befürchtet, du würdest nicht drangehen.«
»Ich komme nicht nach Hause, Russ. Lass mich in Ruhe. Ich habe dir gesagt, dass ich mit dem Thema fertig bin.«
»Das hast du bestimmt nicht so gemeint. Du musst die Fotos deinem Publikum zeigen, die Hintergründe aufdecken. Das brauchst du doch wie die Luft zum Atmen.«
»Eher so dringend wie ein Geschwür.« Mitch schob seine Beine seitlich vom Bett und zwang sich, aufzustehen. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er tatsächlich geglaubt, mit seinen Fotografien etwas bewirken zu können. Aber seit dem Angriff auf das Lager von Ar Rutbah hatte er begriffen, dass es niemals aufhören würde. Was er auch tat, das Blutvergießen würde kein Ende nehmen. Irgendwo auf der Welt war immer ein Kampfhubschrauber unterwegs, gab es Hungersnöte und wurden kleine Jungen in der Luft zerfetzt. »Verdammt, Mitch, diese Ausstellung ist besonders wichtig.« »Sicher. Nur hier wird gezeigt, wie der berühmte Fotograf und Gutmensch J. M. Sheridan nicht verhindern konnte, dass ein Kind in Stücke gerissen wurde. Da klingelt die Kasse.«
»Das habe ich nicht so gemeint.«
»Du willst die Ar-Rutbah-Ausstellung? Schön, aber ohne mich. Du kannst dich glücklich schätzen, dass du die Fotos überhaupt hast. Ich hätte sie dir nämlich nicht geschickt.« Nein, das hatte Mitch einem Angestellten des Krankenhauses zu verdanken, der in guter Absicht Mitchs Habseligkeiten durchgesehen und die Aufnahmen seinem Bruder Neil ausgehändigt hatte, während Mitch noch im Koma lag. Neil wiederum hatte sie Russ gegeben. Mitch hatte den Großteil davon noch nicht einmal gesehen. Nicht, dass er besonders erpicht darauf gewesen wäre.
»Mitch, das ist wirklich wichtig.« Russ verstummte kurz. »Was auch geschehen mag, versprich mir, dass du die Ausstellung machst.«
»Was auch geschehen mag?« Mitch sträubten sich die Nackenhaare. »Wovon redest du?«
»Ich stecke in Schwierigkeiten, Mitch. Es ist wegen der Stiftung. Du musst nach Hause kommen. Die Ausstellung eröffnen. «
»Oh, bitte ...« Doch etwas in Russ' Stimme ließ Mitch aufhorchen. Es sah ihm gar nicht ähnlich, Mitch manipulieren zu wollen. »Hör mal, ich weiß wirklich nicht - «
»Was?«, sagte Russ, aber es klang, als habe er sich vom Telefon entfernt. Mitch hörte einen dumpfen Schlag.
»Russell?«
»Nein!« Ein schabendes Geräusch drang an Mitchs Ohr. Dann wieder Russ' Stimme. »Argh.«
»Russ, was geht da vor?«
Abermals ein Geräusch. Wie von einem Möbelstück, das über den Boden geschleift wurde. »Russ, was ist los bei dir?«
»Mitch!«
Mitch war nun aufgesprungen und hellwach. Sein linkes Bein schmerzte höllisch. Er umklammerte den Hörer fester.
»Russ?«
Wieder ein Ziehen und Zerren, dann die Stimme eines anderen Mannes. Panik ergriff Mitch. Er lauschte eindringlich und versuchte, die Geräusche auf der anderen Seite des Planeten zu verstehen. So plötzlich, wie der Tumult entstanden war, so plötzlich herrschte mit einem Mal Ruhe. Keine Stimmen, nichts mehr.
»Russell!«
Doch Mitch hörte nur noch das Hämmern seines eigenen Herzens. Die Leitung war tot.
2
Camden Park, Lancaster, Maryland
Montag, 4. Oktober, 6:46 Uhr
Ein Sturm tobte durch Dani Coles Träume. Donner krachte, und Schüsse fielen, bis das Summen ihres Mobiltelefons sie aus dem Schlaf riss. Eine Schnauze beschnupperte ihr Kinn.
»Pfui«, murmelte sie. »Weg mit dir.«
Runt, eine fünfundvierzig Pfund schwere Pitbull-Dame, lag auf ihrer Brust und rührte sich nicht. Dani schob ihre Schnauze mit einer Hand fort und griff mit der anderen nach dem Handy. »Was gibt's?«
Chief Gibson.
»Aufwachen«, befahl er. Gibson war kein Typ, der sich lange mit Höflichkeiten aufhielt, schon gar nicht bei Dani. Sie rollte sich seitwärts hoch und schob Runt auf ein Sofakissen. Seit zwei Wochen hatte Dani schon nicht mehr in ihrem Schlafzimmer übernachtet. Der Donner und die Schüsse wurden dort schlimmer.
»Was liegt an?«, fragte sie. »Wir haben einen Mordfall im Camden Park«, erwiderte Gibson. »Sie sind dabei.«
Träumte sie? Das ergab keinen Sinn. »Sie meinen, ich bin wieder im Einsatz?«, fragte sie. »Keine Schreibtischarbeit mehr?«
»So ist es«, erwiderte Gibson und klang nicht gerade erfreut.
»Tifton untersucht die Leiche. Er will, dass Sie sie sich ansehen. «
Alarmiert kam Dani auf die Füße. Tifton? Er war damals ihr Partner gewesen, als sie noch zusammen auf Streife gegangen waren. Anschließend hatten sie auf getrenntem Weg die Karriereleiter erklommen. Wieder an einem Fall arbeiten zu dürfen, war gut, zusammen mit Tifton noch besser.
Doch erst mussten ihre Bewacher von der Internen verschwinden. Dani verdrängte den aufkeimenden Zorn und ging barfuß zum Wohnzimmerfenster. »Einen Augenblick«, sagte sie und schob mit zwei Fingern die Lamellen der Jalousien auseinander. Wie nicht anders zu erwarten, stand ein grauer Sedan weniger als einen Block von ihrem Haus entfernt am Straßenrand.
Sie ließ die Lamellen zurückschnappen. »Wenn ich wieder im Einsatz sein soll, dann pfeifen Sie die Interne zurück«, sagte sie in das Handy.
Gibson zögerte. »Der Befehl kam nicht von mir.«
»Aber Sie können ihn aufheben. Seit zwei Wochen kann ich nicht mal mehr aufs Klo gehen, ohne meine Bewacher im Nacken zu spüren. Ich habe nicht vor, mich wegzuschleichen, um irgendwelche Deals mit Ty Craig auszuhandeln, und das wissen Sie ganz genau. Pfeifen Sie sie zurück.« Sie verstummte. Frust und Zorn hatten ihr die Röte in die Wangen getrieben. »Ich bin nicht wie mein Vater, Chief.«
Aber das hatte ihr Dave Gibson noch nie abgenommen. Dani wusste, dass er nur darauf wartete, dass sie die gleiche Grenze überschritt, die ihr Vater überschritten hatte, bevor er gefeuert wurde und den Rest seines erbärmlichen Daseins als Ex-Cop und zweitklassiger Schlägertyp für Ty Craig fristete. Trotz Danis Erfolgsquote für ihre Abteilung warf Gibson ihr immer noch Blicke zu, wie man sie sonst nur für etwas übrighatte, das unterm Küchenschrank hervorgekrochen kam.
Sie ließ es drauf ankommen. »Bin ich nun dabei oder nicht?« Er stieß einen Fluch aus. »Ich kümmere mich um die Interne. Sehen Sie zu, dass Sie zum Camden Park kommen.«
Zwanzig Minuten später, Dani band sich gerade die Haare zu einem Pferdeschwanz, sah sie, wie der graue Sedan wegfuhr. Erleichtert atmete sie auf. Kurz vor halb acht rollte ihr Wagen bereits durch die Pforten des Camden Park. Eine uniformierte Beamtin wies ihr den Weg zu einem Tatort, wie man ihn aus dem Fernsehen kannte: gelbes Absperrband, das einen Parkplatz und das dahinter liegende Wäldchen abgrenzte. Ein halbes Dutzend schwarz-weißer Polizeiwagen, die in verschiedenen Positionen davor parkten. Dazu ein paar graue Chevrolets, die Wagen der Ermittler. Ein Notarztwagen stand mit geöffneten Heckklappen schräg auf dem Bürgersteig. Zwei Sanitäter saßen auf der Stoßstange und unterhielten sich - es gab niemanden zu retten. Und die Medienmeute wurde auf Abstand gehalten, als nutzte das etwas bei den Zoomobjektiven, die sie heutzutage benutzten. Ein paar Detectives in Trenchcoats und mit lose gebundenen Krawatten standen ebenfalls auf dem Parkplatz herum.
Reginald Tifton war einer von ihnen. Er sprach gerade mit zwei Uniformierten und deutete mit weit ausholender Geste auf das Gelände hinter ihnen. Die beiden Beamten setzten sich in Bewegung, als Dani auf Tifton zuging.
»Wurde auch Zeit, Nails«, begrüßte er sie. Den Spitznamen hatte die Abteilung ihr gegeben. Er trat ein paar Schritte vom Gehsteig fort in eine leere Parklücke. Tifton war ein großer Mann, schwarz, im Alter von fünfundvierzig Jahren, der kurz davorstand, zum dritten Mal zu heiraten. Sein runder Kopf schien direkt in seine breiten Schultern überzugehen - ohne erkennbaren Hals. Er hatte die gewählte Ausdrucksweise eines Yale-Absolventen, konnte jedoch problemlos auf Straßenslang umschalten, wenn er einem Verdächtigen vormachen wollte, dass sie aus dem gleichen Milieu kamen. In Wahrheit stammte Tifton aus einer alteingesessenen, reichen Familie aus Cheshire Hills, und Dani vermutete, dass er wirklich in Yale studiert hatte. »Hat dein Schönheitsritual heute Morgen wieder länger gedauert?«
»Mach's dir selbst«, erwiderte sie. Es war noch zu früh für echte Schlagfertigkeit.
Tiftons Blick ruhte auf ihr. »Ich habe dich seit dem Begräbnis deines Vaters nicht mehr gesehen. Haben sie dich an den Schreibtisch verbannt?«
Ein Ziehen machte sich in ihrem Brustkorb bemerkbar. Kein Schmerz - den hatte die Beziehung zu ihrem Vater wahrlich nicht verdient. Wahrscheinlich bloß etwas Sodbrennen von dem Kaffee. »Du meinst, ob es mir Spaß macht, Papierstapel von rechts nach links zu schieben und die vorgeschriebenen Therapiesitzungen zur Trauerbewältigung einzuhalten? Klar doch.« Sie blickte sich um. »Was liegt an?«
Tifton wusste, wann er es gut sein lassen musste. Er wies mit dem Kinn in Richtung Gebüsch. »Ein Typ, der mit einem Metalldetektor in dem Park unterwegs war, ist auf ein totes Mädchen gestoßen. Sie wurde während des Jahrmarkts am Wochenende erstochen.«
»Warum hast du mich rufen lassen?«, fragte Dani und bewegte sich auf die Fundstelle zu.
»Könnte sein, dass du uns etwas über die Tote sagen kannst.«
»Wie das?«
»Sie war eine von den Fällen, die du betreut hast.« Dani blieb wie angewurzelt stehen. Ihr war, als habe man einen Kübel Eiswasser über ihr ausgekippt. Jemand, den sie kannte? Ihre Kehle schnürte sich zusammen, und sie beschleunigte ihre Schritte. Tifton trabte hinter ihr her.
»He, Nails, warte mal! Sie sieht wirklich übel aus. Ihr wurde - «
Die Füße des Opfers erschienen zuerst in ihrem Blickfeld. Dani zögerte und trat nur langsam näher. Die linke Gesichtshälfte war zwar bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt, erkennbar war jedoch, dass es sich um eine dunkelhaarige Frau handelte, die zusammengekrümmt dalag. Sie schien während des Sterbens die Embryonalhaltung eingenommen zu haben. Ihre Kehle war aufgeschlitzt - oder vielmehr zerhackt worden. In der blutroten Pfütze unter ihr wimmelte es vor Fliegen. Sogar hier draußen in der frischen Luft hing der Geruch des Todes über ihr. Es stank nach getrocknetem Blut, Exkrementen und verfaultem Fleisch.
Dani umrundete die Leiche, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Ein Stück nackte Haut blitzte unter dem Revers ihrer Bluse hervor. Danis Blick fiel auf eine winzige Tätowierung in Form einer Rosenblüte.
»O nein!«, rief sie aus und wich schockiert ein paar Schritte zurück. »Nein!«
»Das ist Rosie, nicht wahr?«, fragte Tifton.
Tränen brannten Dani hinter den Lidern. Sie kniff die Augen zusammen, beugte sich vor, die Hände auf die Knie gestützt, und zwang sich, nicht zu schluchzen. Dann schaute sie erneut auf das, was von dem Gesicht übrig geblieben war, und zwang sich, einzuatmen. »Rose McNamara.«
»Okay«, erwiderte Tifton und rief über Danis Schulter hinweg nach einem der Tatortermittler. »Ich hatte recht, Carter, es handelt sich um Rose McNamara. Sie hat als Nutte für Ty Craig gearbeitet, in der Nähe von Read-«
»Nein«, unterbrach Dani ihn. »Sie ging schon seit ein paar Jahren nicht mehr anschaffen. Sie war für eine Weile fortgezogen, hat mich aber vor ungefähr einem Monat angerufen und erzählt, dass sie zurückgekommen ist.« Dani wandte sich von der Leiche ab und blickte Tifton an. »Sie war sauber - hat weder für Craig noch sonst wen gearbeitet, sondern einen Job bei Big Lots in der Grimby Street gehabt. Hat ihre Miete gezahlt und versucht, sich mit ihrer Familie auszusöhnen. Sie war auf einem guten Weg.«
Trauer drohte Dani zu überwältigen, aber sie zwang sich, regelmäßig zu atmen und sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Denk nicht an das Opfer, sondern mach einfach deine Arbeit. Tu so, als sei sie eine Fremde, und konzentriere dich darauf, den Dreckskerl zu finden, der ihr das angetan hat.
Sie reckte das Kinn und betrachtete die Tote genau, um jedes Detail aufzunehmen. Die Augen des Opfers waren geöffnet und eingesunken, die Kehle ein blutiger Mischmasch aus zerstörter Haut und Knochen. Die rechte Gesichtshälfte war unversehrt. Sie hatte die rechte Hand leicht geöffnet, mit gekrümmten Fingern, als hätte sie etwas in der Hand gehalten. Die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt. Die junge Frau war vollständig bekleidet, und ihre Haare -
»Was zur Hölle ist das?« Dani hockte sich hin, um besser sehen zu können.
»Jemand hat ihr ein Haarbüschel abgeschnitten«, sagte der Gerichtsmediziner.
Dani war bestürzt. »Hier? Sie meinen, nach der Ermordung? «
»Ob post mortem, kann ich nicht sagen. Ob es hier geschehen ist, allerdings schon. Vermutlich hat er dasselbe Werkzeug benutzt, mit dem er ihr auch in die Kehle gestochen hat.«
»Welches Werkzeug?«
»Eine lange Klinge. Schmal, einseitig geschliffen.«
»Ein Jagd- oder Bowiemesser?« Danis Vater hatte so eins besessen und während der Jagdsaison seiner Beute damit die Kehle aufgeschlitzt, um sie anschließend ausbluten zu lassen. Dani erinnerte sich noch immer an den Geruch: scharf, kupferig.
»Könnte sein. Oder ein Ausbeinmesser«, sagte der Gerichtsmediziner. »Sie wissen schon, so eines, das Köche benutzen. «
Dani bewegte sich dicht an der Leiche entlang und versuchte, ein Gespür für den Killer zu entwickeln - war er Jäger oder Koch? Dann kauerte sie sich neben Rosies Gesicht. Tifton ging neben ihr in die Hocke.
»Also, wie lautet deine Theorie?«
Ein Monster, dachte Dani. »Ich habe keine.« Aber eine Vorstellung drängte sich auf: ein Verrückter, der seine Bettpfosten mit Frauenhaar schmückte.
»Komm schon, du bist schließlich die mit dem Abschluss in Psychologie. Was würde Freud über Messer und Haarsträhnen sagen?«
Ihr lag bereits eine schnippische Antwort auf der Zunge, als ihr bewusst wurde, dass sie Tifton vor sich hatte. Er machte sich nicht über sie lustig. Dani schüttelte den Kopf. »Freuds Spezialität waren Phallussymbole. Ich weiß nicht, was er über Haarsträhnen gedacht hat.« Sie stand auf und holte tief Luft. »Aber was auch immer es zu bedeuten hat, das hier ist nicht beiläufig geschehen. So eine Tat begeht man nicht mal eben so. Das hier ist persönlich. Vielleicht auch sexuell motiviert. «
»Also kannte sie ihn oder er sie. Vielleicht ist sie ihm hierher gefolgt.«
»Wir haben einige Spuren gefunden«, schaltete sich der Tatortermittler ein. »Von Stiefeln, höchstwahrscheinlich.«
»Super«, sagte Tifton. Fußabdrücke waren gut.
Der Mitarbeiter nahm den Abdruck und erledigte damit das, was sich drei- bis vierhundert Mal pro Jahr in großen Städten wie Philadelphia und Baltimore abspielte und einige wenige Dutzend Male in kleineren Gemeinden wie Lancaster County. Techniker, Uniformierte und Detectives, alle in Schutzkleidung, bestehend aus Überziehern und Handschuhen, gingen ihren Tätigkeiten nach: Untersuchung der Leiche, Zeugenbefragung, Absuchen des Wäldchens und des Parkplatzes.
Dani blieb bei Tifton, bis es ein paar Nachrichtenreportern gelang, sie zur Seite zu ziehen und auszuquetschen. Sie achtete streng darauf, nicht zu viel preiszugeben und ihre Abteilung in positivem Licht dastehen zu lassen. »Wir tun alles, um die unschuldigen Bürger unserer Stadt zu beschützen ...« Dann ließ sie bewusst ein paar Schlüsselworte fallen, falls der Mörder die Nachrichten verfolgte: dumm, irre, Monster. Sollte es sich hier um mehr als eine Zufallstat handeln - und die Haarsträhne sprach dafür - , würde der Täter den Fehdehandschuh vielleicht aufheben.
Mittlerweile waren zwei Stunden vergangen. »Wir können sie jetzt umdrehen«, verkündete der Gerichtsmediziner.
Dani beendete die Interviews und ging zu der Stelle, wo Rosie lag. Der Gerichtsmediziner und sein Assistent waren bei ihr. Als ein Techniker ihr Handy in einen Plastikbeutel stecken wollte, sagte Dani: »Zeigen Sie bitte mal her.« Sie zog sich ein frisches Paar Latexhandschuhe über, bevor sie das Mobiltelefon entgegennahm, und zwang sich zuzusehen, wie Rosies Leiche behutsam umgedreht wurde.
Nichts. Keine weiteren Wunden. Kein Tatwerkzeug, das ihr Körper vorher verdeckt hatte. Keine Hinweise auf den Mörder. Zumindest nichts, was mit bloßem Auge zu erkennen gewesen wäre. Dani ging mit Rosies Handy zum Parkplatz und beugte sich über die Haube von Tiftons Wagen. Dann drückte sie auf die »Power«-Taste und notierte sämtliche Rufnummern der getätigten, empfangenen und entgangenen Anrufe. Anschließend reichte sie das Handy dem Kriminaltechniker zurück und nahm ihr eigenes zur Hand. Sie rief auf dem Revier an und gab die Nummern und die entsprechenden Einträge an den diensthabenden Beamten weiter.
Fünfzehn Minuten später kam der Rückruf mit den Namen und Adressen aus Rosies Mobiltelefon. Dani erkannte einige davon wieder - die Schwester, der Vermieter und Rosies Mom. Keiner der Namen schien zu einem festen Freund zu gehören. Dani stellte nichts Ungewöhnliches fest, bis sie ans Ende der Liste kam. Russell Sanders. Erst wollte ihr der Name nichts sagen, doch dann sah sie den Rest des Eintrags: JMS Foundation.
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie erinnerte sich an einen Russell Sanders. Wenngleich sie ihm nie persönlich begegnet war, so hatte sie doch von ihm gehört - in jenem Sommer vor achtzehn Jahren, den sie mit aller Macht vergessen wollte.
Sie blickte sich um, als befürchtete sie, jemand könnte das Flattern in ihrem Bauch bemerken, was natürlich völlig irrational war. Dann prüfte sie die Zeit des Anrufs: Sonntag, 20:07 Uhr, der letzte Anruf, der von Rosies Handy aus getätigt worden war. Die Nummer war im Laufe des Wochenendes bereits zweimal angerufen worden.
»Aufgepasst, sonst bleiben die Falten für immer so stehen.« Tifton kam zu ihr und legte ihr seinen Daumen auf die gerunzelte Stirn.
Sie schob seine Hand beiseite und nahm ihr Handy, um die letzte Nummer anzurufen. Sie musste sich einfach Gewissheit verschaffen.
Ein Anrufbeantworter schaltete sich ein. »Guten Tag, Sie sind mit dem Anschluss von Russell Sanders, dem Geschäftsführer der J. M. Sheridan Foundation, verbunden. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht ...«
O Gott, es stimmte. Sheridan.
Dani atmete tief ein und versuchte, den Namen aus ihrem Kopf zu verbannen und sich auf die Frage zu konzentrieren, warum Rosie bei der Stiftung angerufen haben könnte. Sie wandte sich an Tifton. »Was hat eine ehemalige Prostituierte und jetzige Supermarktangestellte mit einer Nobelstiftung für Fotokunst zu tun?« Tifton sah sie begriffsstutzig an.
»Rosies letzter Anruf ging an Russell Sanders.«
»Wer ist Russell Sanders?«
»Der Geschäftsführer der J. M. Sheridan Foundation.«
»Wir öffnen Augen und Herzen. Der Sheridan?«
Als gäbe es einen anderen. Trotz sämtlicher Verdrängungsbemühungen kamen die Erinnerungen hoch: an den Jungen von nebenan und seinen Aufstieg zum weltbekannten Fotojournalisten. Reich. Gut aussehend. Held und Vorbild für viele Außenseiter. Es hatte mal Zeiten gegeben, da hatte er Danis Held sein wollen.
Und dafür hatte sie ihm die Nase gebrochen.
Lieber Himmel, jetzt reiß dich gefälligst zusammen! Sie hatte die Erinnerungen an Mitch Sheridan schon vor Jahren aus ihrem Gedächtnis gestrichen, zusammen mit jeglichen Anzeichen von Bedauern. »Klar, genau der«, antwortete sie Tifton.
»Ganz schön glamouröser Umgang für eine Nutte.«
»Ich habe dir doch gesagt, dass sie nicht mehr anschaffen ging.« Und doch hatte er recht. Worin bestand die Verbindung zwischen Rosie McNamara und einem angesehenen Mitglied der Gesellschaft wie Russell Sanders?
»Sieht aus, als wären wir hier fertig«, stellte Tifton fest und deutete auf den sich nähernden Van der Bezirkspolizei, dem der Wagen des Gerichtsmediziners folgte. Die Kriminaltechniker waren bereits beim Einpacken. »Wir müssen Rosies Angehörige informieren.«
Trauer lastete schwer auf Danis Brust. Sie hatte Rosies Mutter und Schwester vor ein paar Jahren kennengelernt, als Rosie noch in Schwierigkeiten steckte und sie sehr unter der Entfremdung litten. Dani mochte sich kaum vorstellen, wie viel schlimmer es jetzt für sie sein musste. »Ich werde mit ihnen reden, sobald ich die Zustimmung der Gerichtsmedizin habe.«
»Reden wir inzwischen mit diesem Sanders. Er hat zuletzt mit Rosie gesprochen. Außerdem passt er nicht recht ins Bild.«
In Ordnung.« Dani versuchte, keine Regung zu zeigen. Russell Sanders würde nicht mehr wissen, wer sie war. Und der Namensgeber der Stiftung, James Mitchell Sheridan, war - wie immer - irgendwo rund um den Globus unterwegs. Sie musste sich also nur darauf konzentrieren, Rosies Mörder aufzuspüren.
Dani verließ den Park. Als sie feststellte, dass sie versehentlich in die falsche Richtung losgefahren war, machte sie eine Kehrtwendung über die Blumenbeete auf dem Mittelstreifen. Tifton hinter ihr drückte kräftig auf die Hupe - er war ein Naturliebhaber - , aber sie beachtete ihn nicht und fuhr Richtung Franklin Avenue weiter. Unterdessen versuchte sie, sämtliche Gedanken an die Sheridan Foundation aus dem Kopf zu drängen und sich stattdessen mit Rosie zu befassen. Zwei Jahre zuvor hatte Dani sie wegen eines Falls verhört und das junge Mädchen schon nach zehn Sekunden ins Herz geschlossen. Die Kollegen hatten in ihr bloß irgendeine verkorkste Existenz gesehen, ein Beitrag für die Statistik. Dani hingegen hatte Rosie angemerkt, dass sie sich ... verloren fühlte. Sie war erst sechzehn Jahre alt gewesen und hatte mit einem so erstaunten Gesichtsausdruck in die Welt geblickt, als begreife sie einfach nicht, wie es so schlimm hatte kommen können. Dani hatte einige Straßen- huren befragt und herausgefunden, dass Rosie ein paar Monate vorher von der Straße verschwunden war. Als sie wieder auftauchte, hatte sie sich verändert, und etwas hatte nicht mit ihr gestimmt. Dani hatte erfahren, dass ihr Zuhälter Ty Craig war.
Und von diesem Augenblick an war Rosie ihr zu einem persönlichen Anliegen geworden. Es hätte nicht so sein dürfen, aber so war es nun einmal. Ty Craig war ein geldgeiler Gauner der Oberschicht, dessen kriminelle Interessen - Edelnutten und Darlehen mit Wucherzinsen - von seinen legalen Unternehmungen - eine Filialkette von Schmuckgeschäften und Immobilien - gedeckt wurden. Er war so etwas wie der Mafiaboss von Lancaster County, geschützt durch großzügige Spenden an Politiker und sein wohltätiges Engagement. Man konnte ihm nichts anhängen, und es hieß, dass er auch ein oder zwei Polizisten schmierte.
Wie Danis Vater.
Scham überlief sie heiß, und sie stieß einen Fluch aus. Sie war damals nicht so dumm gewesen, Craig herauszufordern, hatte sich aber geweigert, die sechzehnjährige Rosie McNamara zu ihm zurückzuschicken. Und so war Keller Brookes ins Spiel gekommen, eine Psychologin, die in einer Beratungsstelle für Jugendliche arbeitete. Keller war eine der Guten, und so gelang es Rosie schließlich, sich zu befreien. Dani hatte vor vier Wochen einen Anruf von Rosie erhalten und erfahren, dass sie wieder in die Gegend gezogen war, um bei ihrer Familie zu sein. Sie hatte ihren Abschluss nachgeholt und einen Job und eine Wohnung gefunden. Es ging ihr richtig gut.
Bis irgendein Perverser ihr am Rande eines Parks die Kehle zerfetzt und ein Büschel ihres Haars abgesäbelt hatte.
Ty Craig? Er hasste es, jemanden zu verlieren, aber davon abgesehen war Craig ein einflussreicher Geschäftsmann. Persönliche Rache war nicht sein Stil. Und schon gar nicht erst zwei Jahre, nachdem Rosie fortgegangen war. Russell Sanders? Das wäre zu einfach. Trotzdem war es seltsam, dass Rosie zuletzt ihn angerufen hatte. Diese Tatsache allein machte es erforderlich, sich mit ihm zu unterhalten.
Dani war noch einen Block von der Stiftung entfernt, als ihr Handy klingelte. Tifton. »Du kannst gleich wieder umdrehen «, sagte er. »Die Wache hat gerade angerufen.«
»Warum?«
»Russell Sanders' Sohn hat eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Sanders ist verschwunden.«
Übersetzung: Antje Nissen
Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2012 Knaur Verlag
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Autoren-Porträt von Kate Brady
Brady, KateKate Brady ist Chorleiterin und Dozentin für Musik. Für ihren Debütroman "Puppengrab" wurde sie mit dem begehrten RITA-Award ausgezeichnet. "Mädchen Nr. 6" ist ihr zweiter Roman bei Knaur. Sie lebt mit ihrer Familie in Atlanta. Nissen, Antje
Antje Nissen, geboren in Hamburg, hat Literaturwissenschaften, Amerikanistik und Medienkultur studiert und jahrelang im Buchhandel gearbeitet. Ihre Liebe zu Büchern hat sie nach München geführt, wo sie sich unter anderem verschiedenen Projekten innerhalb einer großen Verlagsgruppe widmete. Seit 2003 ist sie freiberufliche Lektorin, Herausgeberin und Übersetzerin in ihrer Wahlheimat.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kate Brady
- 2014, 464 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Antje Nissen
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426505851
- ISBN-13: 9783426505854
- Erscheinungsdatum: 26.05.2014
Rezension zu „Mädchen Nr. 6 “
"Spektakulär bis zur überraschenden Auflösung." Grazia 20121004
Pressezitat
"Spektakulär bis zur überraschenden Auflösung." Grazia 20121004
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