Maori Band 4: Ruf der Dämmerung
Viola verliebt sich in Irland in den schönen und rätselhaften Ahi. Doch ihn umgibt ein Geheimnis: Denn er ist ein Wassergeist, der von der Lebensenergie der Menschen lebt. Und schon bald gerät Viola in den Sog einer verbotenen und...
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Produktinformationen zu „Maori Band 4: Ruf der Dämmerung “
Viola verliebt sich in Irland in den schönen und rätselhaften Ahi. Doch ihn umgibt ein Geheimnis: Denn er ist ein Wassergeist, der von der Lebensenergie der Menschen lebt. Und schon bald gerät Viola in den Sog einer verbotenen und unmöglichen Liebe, die sie in tödliche Gefahr bringt.
Klappentext zu „Maori Band 4: Ruf der Dämmerung “
Ein unergründlicher See. Eine uralte Legende aus vergangener Zeit. Ein Junge mit fahlblondem Haar und Augen, so blau wie die Dämmerung. Seit Viola nach Irland, in die Heimat ihres Vaters, gezogen ist, hat sich ihr Leben von Grund auf verändert. Sie liebt die raue Landschaft und die Menschen. Doch niemals hätte sie damit gerechnet, dass ihre Gefühle ausgerechnet von einem Jungen wie Ahi erwidert werden. Ahi ist schön und rätselhaft. Doch ihn umgibt ein Geheimnis: Er ist ein Wassergeist. Seit jeher lebt sein Volk von der Lebensenergie der Menschen. Immer tiefer gerät Viola in den Sog dieser unmöglichen, verbotenen Liebe, einer Liebe, die sie in tödliche Gefahr bringt ...
Lese-Probe zu „Maori Band 4: Ruf der Dämmerung “
Ruf der Dämmerung von Sarah Lark1
»Es macht dir wirklich nichts aus?«
Viola seufzte. Ihre Mutter fragte das nun zum fünften Mal, und das allein heute. Insgesamt hatte Viola die Frage garantiert schon Hundert Mal mit Nein beantwortet, und jetzt wäre es ohnehin zu spät gewesen, sich noch anders zu entscheiden. Schließlich hatte sie ihr Gepäck bereits aufgegeben und der Flieger nach Dublin war gleich zum Einsteigen bereit.
Davon abgesehen war es die falsche Frage. Was sollte Viola schließlich etwas ausmachen? Die paar Monate in Irland? Darauf freute sie sich eher. Sie hatte immer mal im Ausland zur Schule gehen wollen und die Sprache war auch kein Problem. Schließlich war sie zur Hälfte Irin und hatte stets so selbstverständlich Englisch mit ihrem Vater gesprochen wie Deutsch mit ihrer Mutter.
Also die Trennung von Mom? Viola und ihre Mutter waren einander in den vergangenen Monaten sehr nahegekommen. Manchmal etwas zu nahe. Besonders in der letzten Zeit hatte ihre Mom sie kaum noch aus den Augen gelassen. Viola stöhnte innerlich, wenn sie nur daran dachte. Es war sicher gut, das abzubauen.
Blieb der Aufenthalt in der neuen Familie ihres Vaters - und daran hatte sie zweifellos zu knabbern. Viola war sich jetzt schon sicher, dass sie Dads neue Frau nicht würde leiden können. Und dann war auch noch ein Halbgeschwisterchen unterwegs. Aber andererseits - vielleicht würde ihr das Ganze ja helfen, ihren Dad wenigstens ansatzweise zu verstehen.
Viola war jedenfalls entschlossen, die Reise als Abenteuer zu betrachten. Alles war besser, als weiter mit Mom in der leer wirkenden Wohnung zu sitzen und Trübsal zu blasen.
... mehr
»Es macht mir wirklich und absolut nichts aus!«, erklärte sie also nochmals und gab ihrer Mutter einen Abschiedskuss auf die Wange. »Im Gegenteil, es wird mir Spaß machen. Also vergiss mich jetzt einfach mal und freu dich auf Boston. Du hast einen großartigen Job in einer coolen Firma, und wenn du erst wieder da bist, wirst du die größte Filiale in Deutschland leiten. Du machst Karriere, und das werde ich Paps jeden Tag aufs Butterbrot schmieren, wenn er die Klos auf dem Campingplatz von seiner Ainné sauber macht.«
Über das Gesicht von Violas Mom zog ein Lächeln. Ein bisschen wehmütig, aber auch etwas schadenfroh. Zu Hause in Braunschweig hatte Violas Dad in einem Reisebüro gearbeitet. Seine praktische Begabung hielt sich in Grenzen - eigentlich schlug er sich jedes Mal den Daumen blau, wenn er nur versuchte, einen Nagel in die Wand zu hämmern. Als Mädchen für alles auf einem Campingplatz im irischen Nirgendwo konnte ihn sich seine alte Familie insofern kaum vorstellen. Und natürlich hatte er seinen neuen Job auch nicht so beschrieben. Laut eigenen Angaben würde er als »Manager« arbeiten. Darüber konnten Viola und ihre Mom allerdings nur lächeln. Bislang hatten Dads neue Frau und deren Vater den Betrieb schließlich mühelos allein geführt, mit einem oder zwei Saisonhelfern. Viele Management ebenen gab es da sicher nicht.
Viola nutzte den seltenen Moment der gelösten Stimmung für einen tränenlosen Abschied. Sie drückte ihre Mutter noch kurz an sich, griff dann nach ihrem Handgepäck und verschwand durch die Sperre. Während der Sicherheitskontrollen winkte sie Mom noch einmal zu und dann war es glücklich überstanden. Ihre Mutter wandte sich ab und schien sich dabei recht tapfer zu halten.
Viola atmete auf. Eine Tränenflut hätte sie heute auch nicht gut verkraftet. Das hatte sie in den Wochen nach der Trennung von Dad schließlich oft genug durchgemacht. Mom heulte damals fast täglich, während Viola selbst in eine Art verständnislose Starre gefallen war. Das Ganze war einfach zu plötzlich gekommen, um schnell damit fertig zu werden.
Viola schlenderte durch die Auslagen im Duty-free-Shop und dachte noch einmal an diese schrecklichen Wochen vor einem halben Jahr.
Genau hier, am Flughafen Hannover, hatten sie Dad damals verabschiedet. Eine Woche wollte er wegbleiben - ein Kongress in Galway. Mom, Viola und Dad hatten gelacht, sich umarmt - und Dad hatte davon gesprochen, dass die nächste Irlandreise ganz sicher ein Familienurlaub sein sollte. Vielleicht auf einem Hausboot den Shannon hinaufschippern oder einfach mit einem Leihwagen rund um die Insel. Mom neckte ihren Mann damit, dass man auch einen Tinkerkarren mit Pferd mieten könnte - sie wusste, dass er die Vierbeiner fürchtete, seit er als Kind einmal getreten worden war. Dad scherzte über Feen und Kobolde in seiner alten Heimat. An diesem Tag waren sie alle noch glücklich gewesen. Aber schon am nächsten Abend hatte Mom begonnen, sich Sorgen zu machen. Schließlich rief Dad sonst praktisch täglich an, wenn er unterwegs war. Nun aber herrschte Funkstille und sogar sein Handy war ausgeschaltet. Während der ganzen Woche hatten Mom und Viola ihn nur einmal erreicht und da war er seltsam und einsilbig gewesen. Schließlich erhielten sie eine SMS, die verkündete, dass er drei Tage länger wegbleiben würde. Und dann folgte die schockierende Erklärung: Als er endlich wiederkam, hatte Dad noch auf dem Weg vom Flughafen nach Hause von Ainné erzählt, seiner Jugendliebe. Er hatte sie überraschend in Galway wiedergetroffen und nach seinen Angaben hatte es direkt »gefunkt«. Ainné hatte ihn verzaubert - »verhext«, wie Violas Mom es später ausdrückte -, er hatte sich verliebt wie niemals zuvor. Ainné O'Kelley und Alan McNamara, davon war Dad fest überzeugt, waren füreinander bestimmt!
Alan McNamara fand an diesem Abend viele schöne Worte für die einfache Tatsache, dass seine Familie ihm plötzlich im Weg stand. Viola und ihre Mutter sollten das bitte nicht persönlich nehmen, aber es gäbe eben mehr Dinge zwischen Himmel und Erde ...
Dad schwebte auf Wolken und Violas Hoffnung, er würde vielleicht vor der Scheidung wieder runterkommen, erfüllte sich nicht. Zumal Ainné auch noch schwanger war. Die beiden frisch Verliebten hatten die erste Woche ihres erneuten Zusammentreffens wirklich genutzt.
Violas Flug wurde jetzt aufgerufen und sie ließ sich im Strom der Reisenden - vor allem Erwachsene, Geschäftsreisende und Urlauber, die nicht auf die Ferienzeit angewiesen waren - mittreiben. In Hannover begann am Montag die Schule wieder, in Irland in einer Woche. Viola war gespannt auf die Highschool im ländlichen Roundwood. Sie würde die neunte Klasse besuchen, ein halbes Jahr lang - vielleicht ein ganzes, falls es ihr bei Dad und Ainné gefiel. Ihre Mutter jedenfalls würde ein halbes Jahr in Boston verbringen - am amerikanischen Hauptsitz der großen Computerfirma, für die sie arbeitete. Für sie bedeutete das einen erheblichen Karrieresprung, zumindest finanziell war sie nicht auf ihren Exmann angewiesen. Das war zwar nur ein kleiner Trost, aber es hatte sie nach der Trennung doch wieder aufgerichtet. Wenigstens in der Firma wusste man sie zu schätzen. Hier würde man ihr keine »irische Rose« vor die Nase setzen. Und in gewisser Weise erfüllte es sie bestimmt auch mit Schadenfreude, dem jungen Glück am Lough Dan jetzt erst mal ihre Tochter auf den Hals zu hetzen: Ainné war garantiert nicht erbaut davon, ihre »große Liebe« im Doppelpack mit einem Teenager zu bekommen. Viola lächelte grimmig. Viel Entgegenkommen hatte Dads neue Frau von ihr nicht zu erwarten.
Viola flog erst zum zweiten Mal in ihrem Leben und fand das Drumherum um Start und Landung, Kabinenservice und Duty-free-Einkäufe noch spannend genug, um die Reise als kurzweilig zu empfinden. Außerdem wuchs mit der Entfernung von ihrem alten Leben die Freude darauf, ihren Vater
wiederzusehen. Sosehr sie mit Mom über ihn geschimpft hatte - vermisst hatte sie ihn doch. Mit Dad war der Alltag einfach lustiger gewesen. Er nahm das Leben von jeher leicht und hatte es immer geschafft, Viola und ihre Mom aufzuheitern, egal wie viel Ärger es in der Schule oder in Moms Firma gegeben hatte. Seine Arbeit im Reisebüro hatte Alan McNamara Spaß gemacht. Es gab immer etwas zu erzählen über Kunden und ihre Sonderwünsche - Viola lächelte, wenn sie nur daran dachte, und verzog das Gesicht bei der Erinnerung an die freudlosen Monate nach der Trennung ihrer Eltern.
Als der Flieger schließlich gelandet war, trabte sie aufgeregt die schier endlose Strecke vom Flugzeug bis zur Gepäckausgabe. Ein eintöniger, verglaster Flur folgte hier auf den anderen, zum Teil mit Laufbändern versehen, um schneller vorwärtszukommen. Viola probierte eins aus und fand es lustig. Aber dann fiel ihr ein, dass sie sich vielleicht noch ein bisschen herrichten sollte, bevor sie ihrem Dad gegenübertrat. Viola suchte eine Toilette und überprüfte ihren Anblick im Spiegel. An sich nicht schlecht - nur den vorwitzigen Pickel über ihrem rechten Auge musste sie ein bisschen überschminken. Den verdankte sie bestimmt der Flugzeugluft. Gewöhnlich litt Viola nicht unter Akne. Aber ihre sehr helle Haut - Dads irisches Erbe! - war empfindlich und reagierte schnell auf Irritationen. Ein solcher Teint war meist mit rotem oder blondem Haar und blauen Augen gekoppelt, aber Violas dichtes, glattes Haar war kastanienfarben und ihre Augen waren dunkelgrün. Mit hellbraunen Lichtern darin, wenn sie sich aufregte oder angespannt war wie jetzt. Viola zupfte an ihrem hellgrünen Pulli herum und überprüfte den Sitz ihrer engen Jeans. In dem stressigen, letzten halben Jahr hatte sie etwas abgenommen, aber sie fand, das stand ihr gut. Sie stellte sich Dads Lächeln bei ihrem Anblick vor. Er war immer stolz auf sie gewesen und hatte sie seine »Prinzessin « genannt. Ob er diesen Namen nun für das neue Kind verwenden würde, falls es eine Tochter war? Violas gute Laune trübte sich - und näherte sich gefährlich dem Nullpunkt, als sie den Wagen mit ihren Koffern endlich in die Ankunftshalle schob, sich da aber vergeblich nach Dads von rotbraunem Wuschelhaar umrahmten Gesicht umsah. Er schien sich verspätet zu haben - oder hatte er die Ankunftszeit verwechselt? In Irland war es eine Stunde früher als in Braunschweig - und dann war da ja auch noch die Sache mit
a.m. und p.m. Ob Dad sie vielleicht erst am Abend erwartete? Aber er sollte sich mit der Zeit in seiner Heimat eigentlich auskennen! Unschlüssig sah sie sich um. Sie hatte eine Telefonnummer, aber Dad hatte gesagt, er sei tagsüber schwer zu erreichen, da meistens draußen, irgendwo auf dem Campingplatz. Heute traf das sicher zu, in Dublin herrschte strahlender Sonnenschein. Nichts von dem irischen Regen, vor dem ihre Freundin Katja sie gewarnt hatte. Katja war im letzten Jahr mit ihren Eltern in Irland gewesen und angeblich hatte es pausenlos geschüttet. Aber vielleicht wollte sie Viola das Land auch nur miesmachen. Die Freundinnen steckten von Kindheit an zusammen und konnten sich kaum vorstellen, sechs Monate lang getrennt zu sein.
Verdammt, warum hatte sie sich bloß Dads Handynummer nicht geben lassen!
Während Viola noch unglücklich in die Gegend starrte, kam ein junger Mann auf sie zu. Er war blond und schlaksig, der Typ, der nur aus Armen und Beinen zu bestehen schien, und er trug ein mit rotem Filzstift beschriftetes Schild gut sichtbar vor sich.
Verwundert las Viola ihren Namen: Viola McNamara. Und jetzt hatte der Junge sie auch erreicht.
»Sorry, aber bist du das vielleicht?« Der Typ sprach sie an und zeigte auf das Schild.
Viola nickte verwirrt. »Aber ... mein Dad ... Eigentlich warte ich auf meinen Vater.« Sie musste die englischen Worte fast suchen und schämte sich für ihre Unsicherheit.
Der Junge grinste. »Dein Dad konnte nicht kommen. Irgendwas mit seiner Lady ... Jedenfalls hat er mich geschickt, dich abzuholen. Ich bin Patrick, ich arbeite auf dem Campingplatz. Soll ich das Ding nehmen?« Er wies auf den Kofferwagen, der wirklich nicht leicht zu lavieren war. Wahrscheinlich hatte Viola ihn auch nicht gerade genial bepackt. Sie war ebenso unpraktisch wie ihr Dad.
Viola nickte wieder und überließ Patrick das Gefährt. Immer noch sprachlos, folgte sie ihm aus dem Flughafen zum Parkplatz, wo er einen Kleinbus mit der Aufschrift Lough Dan Camping ansteuerte.
»Reichlich Platz für dein Zeug«, grinste Patrick. »Mann, nach dem, was du mitschleppst, möchte man meinen, du würdest ein halbes Jahr bleiben ...«
»Will ich ja auch ...« Der Wechsel ins Englische wurde langsam wieder selbstverständlicher. Nachdem sie Patrick kurz erklärt hatte, dass sie während des Aufenthalts ihrer Mutter in Amerika in Irland bleiben würde, hatte sie sich ganz auf die Sprache eingestellt.
»Und du?«, fragte sie schließlich. »Bist du aus Roundwood? «
Patrick schüttelte den Kopf. »Ja und nein. Ich bin zwar da geboren, aber vor ein paar Jahren nach Dublin gezogen. Da studiere ich jetzt - Musik- und Literaturwissenschaft.«
»Und das in Roundwood ist ein Ferienjob?«, erkundigte sich Viola.
Patrick nickte. »Auch wieder ja und nein«, lachte er. »In Roundwood laufen Sommerkurse in ›Gaelic Studies‹ - alt irische Sprache und Musik. Zwei Lehrerinnen aus der High school da haben echt was drauf. Wirst du auch mitkriegen, das durchzieht bei denen den ganzen Unterricht. Na ja, und da ich nicht von Luft und Liebe leben kann und diese Kurse auch was kosten, hab ich mir den Job gesucht. Ich bleibe noch einen Monat in Wicklow, bis die Uni wieder anfängt. Und dann reicht's mir auch mit frischer Luft und Landschaft pur! Lough Dan ist schön, wird dir gefallen. Aber es gibt noch nicht mal Füchse, weil sich kein Artgenosse zum Gute- Nacht-Sagen findet.«
Viola kicherte. Das klang nicht nach dem typischen Umfeld ihres lebenslustigen Vaters. »Internet?«, fragte sie vorsichtig. Sie hatte ihren Laptop im Koffer und eigentlich gehofft, Katja heute schon die erste Mail schicken zu können.
Patrick runzelte die Stirn. »Ja, aber bei Regen oder Sturm kann's schon mal ausfallen ... Nun guck nicht so panisch!« Er grinste ihr zu. »Vor Erfindung des Internets hat man am Lough Dan auch überlebt. Uralte Kulturlandschaft. Ein paar Kilometer weiter liegt Glendalough, da hat schon der heilige Kevin gewirkt ...«
Viola verdrehte die Augen. Der heilige Kevin war ihr herzlich egal, sie wollte Katja!
Patrick steuerte den Bus aus den Vororten von Dublin heraus Richtung Wicklow County. Für die Fahrt würden sie kaum mehr als zwei Stunden brauchen, aber es war doch wie ein Eintauchen in eine andere Welt, als sie die Schnellstraße schließlich verließen und durch ländliche Gegenden und winzige Orte zuckelten. Die Straßen wurden dabei immer schmaler und kurviger, das flache Land um Dublin wich gebirgigen Abschnitten. Sie kamen dem Wander- und Erholungsgebiet deutlich näher, in dem Lough Dan und Roundwood lagen. Irlands höchstgelegenes Dorf, wie ihr Patrick jetzt verriet.
»Beliebter Urlaubsort. Du kannst fischen, wandern, reiten - reitest du übrigens? Der alte Bill ist schon ganz wild auf das Mädel aus Deutschland. Er ist überzeugt, da wären alle verrückt nach Pferden. Und er hofft natürlich auf kostenlose Hilfe bei den Ponys ...«
»Reiten? Ich?« Viola hatte nicht genau hingehört, sondern sich auf die faszinierende Gebirgslandschaft konzentriert, die sich jetzt vor ihr auftat. Außerdem war ihr etwas schlecht von all den Kurven. Aber der Gedanke an Pferde zerrte sie unsanft in die Wirklichkeit zurück. Nachdem Katja vor einem Jahr eine kurze Zeit in ein Pferd namens Blacky verliebt gewesen war, wirkte auf Viola schon die Erwähnung dieser Tiere wie blanker Horror. Drei Monate lang hatte Katja nur von Pferden gesprochen - aber dann war zum Glück ein Junge namens Toby in die Wohnung nebenan gezogen und Katja hatte sich anderweitig orientiert. Viola hielt Toby zwar auch für einen Langweiler, aber wenigstens roch er nicht so streng.
Patrick grinste. »Dein Dad hat ihm schon gesagt, dass du dir aus den Viechern nichts machst, aber das glaubt er nicht. Bill glaubt grundsätzlich nur, was er glauben will. Ich persönlich finde ihn etwas anstrengend ... aber du wirst schon mit ihm klarkommen ...«
Die letzte Bemerkung klang bemüht tröstlich. Anscheinend hatte Viola schon wieder etwas leidend ausgesehen.
»Bill ist Ainnés Vater, nicht?«, erkundigte sie sich.
Patrick nickte.
Viola seufzte. Noch ein Mitbewohner, mit dem sie sich arrangieren musste. Aber wenigstens Patrick war nett.
Nach fast endloser, kurvenreicher Fahrt erreichten sie Roundwood - wie erwartet ein Nest, aber einladend gestaltet mit bunt bemalten Fassaden und alten Ladenschildern. Patrick hielt vor einem Supermarkt und Viola taumelte aus dem Auto. Wenn sie tief durchatmete und sich etwas bewegte, musste sie sich vielleicht nicht übergeben ... Schließlich half sie Patrick, ein paar Kisten mit offensichtlich telefonisch bestellten Lebensmitteln einzuladen, und fühlte sich dann wirklich etwas besser.
»Da ist die alte Schule«, erklärte Patrick, als sie weiterfuhren, und wies auf ein hübsches altes Gebäude. »Und gleich dahinter das neue Schulzentrum. Nicht so schön, aber angeblich ganz modern ausgestattet. Ich kann's dir nicht sagen, als ich klein war, saßen wir noch im alten Haus. Da gab's keine Computer, aber dafür spukte es.«
»Und wie komm ich hier jeden Tag hin?«, fragte Viola mürrisch und starrte unglücklich auf ein Straßenschild: Lough Dan 3 Meilen. Dabei reichte es ihr jetzt wirklich mit dem Autofahren. Schon nach den ersten drei Kurven durchs Dorf hatte sie das Gefühl, sich erneut grünlich zu verfärben.
»Schulbus«, meinte Patrick. »Sie sammeln dich ein, keine Sorge. Und es ist die höchstgelegene Highschool Irlands.« Er grinste.
»Schau, da ist der See.«
Eine weitere Kurve gab den Blick auf den Lough Dan frei und Viola vergaß ihre Übelkeit fast. Der Anblick war sensationell, gerade jetzt im Sonnenschein. Der kleine See, eingeschlossen von Bergen, war glatt wie ein Spiegel und warf das Bild der Gipfel zurück. Es war, als blicke man in ein Zauber- land von Schluchten und verwunschenen Tälern unter dem Wasserspiegel. Die Ufer waren gelegentlich steil, meist aber flach und schilf- oder grasbewachsen. Der See wurde von vielen kleinen Bächen gespeist, die teilweise winzige Wasser fälle bildeten. Sie glänzten silbern in der Sonne und schienen ihre Strahlen einzufangen und dem See zum Geschenk zu machen. Häuser sah Viola zunächst gar nicht und tatsächlich erwies sich die Ansiedlung, zu der auch der Campingplatz der O'Kelleys/McNamaras gehörte, als so winzig, dass sie nicht mal einen Namen hatte. Es gab ein Andenkengeschäft und ein Restaurant an einem besonders schönen Aussichtspunkt. Dazu ein Landhotel weiter oben in den Bergen und ein paar verstreute Häuser. Kein Ort von Weltgeltung.
»Du siehst, überall Landschaft, nichts als Landschaft«, kommentierte Patrick. »Die aufregendste Betätigung hier ist Vogelbeobachtung.«
Er bog auf einen schmalen Weg Richtung See ab und durchfuhr gleich darauf eine geöffnete Schranke. Daneben stand ein Wärterhäuschen mit einem Schild Lough Dan Camping. Viola sah etwa dreißig Stellplätze, von denen jetzt aber nur einige wenige direkt am Wasser belegt waren.
»Im Hochsommer ist mehr los«, bemerkte Patrick und folgte einem Schild Platzverwaltung. Schließlich hielt er vor dem reetgedeckten kleinen Haus, das Viola schon aus Dads E-Mails kannte. Im Eingangsbereich gab es ein Büro und einen winzigen Shop, in dem die Camper das Nötigste zum Leben einkaufen konnten. Patrick und Viola trugen die Kisten aus Roundwood hinein, und Patrick machte sich gleich daran, sie auszupacken.
»Ich mach das lieber sofort«, erklärte er, »sonst vergesse ich es, und Ainné kriegt einen Tobsuchtsanfall, wenn die Butter schmilzt. Du kannst aber schon reingehen. Der Privateingang ist gleich nebenan, kannst du gar nicht verfehlen. Ich bring dir die Koffer dann nach. Aber ich weiß nicht, ob überhaupt schon jemand da ist. Das Auto ist jedenfalls nirgends zu sehen.«
»Wo steckt mein Dad denn überhaupt?«, fragte Viola enttäuscht und machte sich erst mal daran, Patrick zu helfen. Was sollte sie schließlich allein in dem verwaisten Haus? Bestenfalls konnte sie Ainnés Vater kennenlernen und dazu hatte sie wenig Lust.
»Hab ich doch gesagt. Er ist mit Ainné zur Ambulanz. Wenn's schlimm ist, muss sie nach Dublin. Aber bisher war's immer nur falscher Alarm. Das Baby hat ja wohl auch noch ein paar Wochen Zeit.« Patrick packte Milch und Butter ins Kühlfach. Viola sortierte Tütensuppen. Nach fünf Minuten waren sie fertig.
»Soll ich dich rumführen?«, fragte Patrick und grinste mal wieder. »Vielleicht sehen wir ja ein paar spannende Vögel.«
Viola nickte lustlos. Ihr Magen war nach der Autofahrt immer noch nicht ganz zur Ruhe gekommen. Sicher war es gut, frische Luft zu schnappen.
Sie bereute es nicht. Die Luft war warm und roch nach Harz und Kräutern. Der Campingplatz lag idyllisch direkt am Seeufer, es gab einen kleinen Bootssteg und einen Schuppen, der einen Kanu- und Ruderbootverleih beherbergte. Die Boote wirkten durchweg neu und gut gepflegt.
»Mein Job«, erläuterte Patrick und wies auf die sorgfältig aufgebockten Kanus. »Neben allem möglichen anderen Kram. Aber hauptsächlich kümmere ich mich um die Boote und weise die Leute ein, die sich zur Seefahrt berufen fühlen. Die Kajaks kippen schon mal um, wenn sich einer besonders blöd anstellt - aber ich zeig dir gern, wie's geht, wenn du Lust hast.«
Viola schüttelte den Kopf. Sie konnte auf jede Form von Sport sehr gut verzichten. Außer aufs Surfen im Internet.
»Und da hinten geht's zu den Ponys. Das macht Bill.«
Patrick führte Viola vom Ufer weg zu einem eingefriedeten Areal, zu dem auch Ställe und Anbindeplätze gehörten. Davor war ein vierschrötiger, rotgesichtiger Mann gerade damit beschäftigt, ein zierliches Mädchen in breitem Irisch zusammenzustauchen: »Ist mir ganz egal, was du gedacht hast. Gracie geht nicht im Betrieb, das weißt du!«
»Ich hab sie doch nicht verliehen!«, verteidigte sich das Mädchen. Sie war hellblond, sehr schlank und in Violas Alter. »Ich hab sie selbst geritten. Weil sie doch so unausstehlich wird, wenn sie nichts zu tun hat. Und Ainné wird sie in den nächsten Monaten sowieso nicht bewegen, da dachte ich ...«
»Das Denken überlässt du den Pferden, die haben die größeren Köpfe«, raunzte der Mann. »Und Ainnés Pferd ist Ainnés Pferd, egal ob sie es gerade reitet oder nicht.«
Das Mädchen wollte erneut widersprechen, aber dann sah sie Patrick und Viola und wurde sofort rot. Anscheinend war es ihr peinlich, vor Publikum zusammengefaltet zu werden - oder schämte sie sich nur vor Patrick? Viola meinte, ein verräterisches Aufblitzen in ihren blauen Augen zu erkennen, als sie den jungen Mann streiften. Es ließ ahnen, dass sie nicht nur in Pferde verliebt war.
Patrick selbst schaute eher missbilligend. »Das wäre dann also Bill«, bemerkte er. »Wie wir alle ihn kennen und lieben. Das Mädchen ist Shawna - das leidensfähigste Geschöpf dieser Insel ...«
Bevor er das weiter ausführen konnte, kam Shawna zu ihnen hinüber.
»Hi, Patrick!«, grüßte sie jetzt und die Sternchen in ihren Augen waren nicht mehr zu übersehen. »Du bist wieder da.«
Viola war selbst noch nie wirklich verliebt gewesen, aber sie hatte mehrmals beobachtet, dass dieser Zustand zum weitgehenden Verlust der Fähigkeit führte, ganze oder gar intelligente Sätze zu bilden.
»Wie du siehst«, grinste Patrick. »Und du warst auch bis jetzt unterwegs? Halbtagesritt mit drei Touris, ja? Womit du dem alten Mistkerl hundertfünfzig Euro verdient hast. Und zum Dank brüllt er dich an.«
Shawna errötete erneut. Anscheinend ein heikles Thema ...
»Ich hätte Gracie nicht nehmen sollen«, entschuldigte sie Bills Ausbruch. »Jedenfalls nicht, ohne Ainné zu fragen. Aber ich brauchte drei große Ponys für die Touristen, das waren alles Erwachsene. Da konnte ich doch nicht auf einem kleineren vorwegzuckeln. Und ...«
»Geschenkt, Shawna, mir brauchst du das nicht zu er klären. « Patrick machte eine wegwerfende Handbewegung. »Zeig lieber dem Alten mal, was 'ne Harke ist! Mensch, Shawna, ohne dich ist der doch aufgeschmissen! Du schuftest dich hier jeden Tag ab und siehst dafür keinen Euro. Lass ihn mal ein paar Tage hängen, danach ist er vielleicht wenigstens ein bisschen höflicher ...«
»Aber ich darf doch umsonst reiten«, verteidigte sich Shawna. »Und wenn nun dieses Mädchen aus Deutschland kommt ...« Sie schaute auf und schien Viola jetzt erst zu bemerken. »Oh ... bist du vielleicht ...?« Sie errötete schon wieder.
Viola versuchte, sie aufmunternd anzulächeln. »Ich bin Viola und tatsächlich aus Deutschland. Aber selbst wenn ich wollte, könnte ich mich keine drei Minuten auf deiner Gracie halten, oder wie das Vieh heißt. Und ich hab auch keine Lust dazu, irgendwelche Ställe auszumisten, Touristenkinder auf Ponys zu setzen oder was du hier sonst so machst.«
Über Shawnas Gesicht zog ein schüchternes Lächeln. Patrick grinste schon wieder.
»Na siehst du. Keiner macht dir den Traumjob streitig. Und jetzt komm bloß nicht auf die Idee, dem Kerl noch die Pferde einzutreiben und füttern zu helfen. Ich hab Cola im Bootshaus, kommt mit, ich geb einen aus.«
Shawna wirkte etwas schuldbewusst - sicher war sie fest entschlossen gewesen, mit der Arbeit fortzufahren. Aber letztlich siegte ihre Schwäche für Patrick. Sie strahlte ihn an und trottete brav neben ihm und Viola her. Ein kleiner schwarz-weißer Hund, der eben noch um den alten Bill herumgewuselt war, schloss sich ihnen an.
Viola streichelte ihn.
»Wer ist das denn?«, erkundigte sie sich, schon um das Schweigen zu brechen. Erfolgreich. Shawna taute augenblicklich auf, wenn es um Tiere ging.
»Das ist Guinness«, stellte sie vor. »Dein Vater hat ihn so getauft, weil er doch schwarz-weiß ist: wie das Bier mit dem hellen Schaum. Eigentlich gehört er auch Ainné, aber die kümmert sich nicht viel um ihn. Meistens ist er bei mir ...«
Der letzte Satz klang wieder etwas traurig und sehnsüchtig. Viola vermutete, dass Shawna zu Hause keinen Hund halten durfte. Und ein Pferd offensichtlich erst recht nicht. Aber vielleicht konnten ihre Eltern sich das auch nicht leisten.
»Du kommst übrigens in meine Klasse«, wechselte Shawna schließlich das Thema. »Wir haben uns schon alle gefragt, ob du Englisch sprichst. Und Gälisch!«
Patrick lotste die Mädchen zu einem idyllischen Plätzchen am See, wo aus dem Gras aufragende Felsen natürliche Sitzgelegenheiten boten. Vor allem war der Ort von den Ställen her nicht einzusehen und vom Haus aus erst recht nicht. Zwischen dem Ufer und den Wirtschaftsgebäuden lag das Bootshaus. Shawna würde vom alten Bill unbehelligt bleiben. So wirkte sie jetzt auch ziemlich gelöst und plauderte mit Viola, während sie es sich auf den sonnenwarmen Steinen gemütlich machten und Patrick die Cola holte.
Viola erfuhr, dass sie Gälisch hier nicht abwählen konnte, wie sie gehofft hatte, aber Shawna versicherte ihr, die Klasse sei klein und die Lehrerin nicht streng. »Bestimmt macht sie für dich ein Sonderprogramm. Sie kann nicht erwarten, dass du neun Schuljahre in sechs Monaten nachholst. Auf jeden Fall wird sie versuchen, es dir schmackhaft zu machen. Sie wirbt ständig um Teilnehmer für ihre Sommerkurse!«
Als Patrick mit der Cola zurückkam, wurde Shawna sofort wieder einsilbig. Sie himmelte den Jungen erkennbar an. Bei Patrick selbst konnte Viola dagegen noch keine Anzeichen größerer Verliebtheit ausmachen. Immerhin schien er Shawna zu mögen und sicher tat sie ihm auch etwas leid. Die Voraussetzungen waren also nicht allzu schlecht.
Schließlich machte sich Shawna widerstrebend auf den Heimweg.
»Wir kriegen noch zwei Busladungen heute Nachmittag«, erklärte sie Patrick mit unglücklichem Gesichtsausdruck und streichelte Guinness noch mal über den Kopf, während sie sich auf ihr Moped schwang. »Das geht garantiert zwei Stunden ... Bye, Viola, man sieht sich ...«
Shawna trat das Moped mit Schwung an und tuckerte davon, aufwärts, und sicher verbotenerweise über einen Wanderweg.
»Sie kriegen was?«, fragte Viola, nachdem Shawna außer Sicht war. Patrick und sie wandten sich wieder in Richtung Haus, vielleicht war ihr Dad ja inzwischen angekommen.
Patrick lachte. »Zwei Busladungen Touristen. Shawna gehört zum Lovely View, dem Ausflugsrestaurant. Erinnerst du dich? Wir haben das Schild gesehen. Von der Abzweigung aus geht es allerdings noch zwei Kilometer aufwärts. Der Laden ist eine Goldgrube! Die Reisegesellschaften karren ihre Leute nach Glendalough und anschließend gibt es da oben Tee. Oder Lunch. Jedenfalls fallen sie zu Dutzenden über die McLaughlins her und da wird jede Hand gebraucht. Aber überflüssig zu sagen, dass Shawna auch von ihren Eltern kein Geld kriegt. Sonst könnte sie sich ja endlich selbst einen Gaul kaufen und das Theater mit Bill hätte ein Ende. Aber wie gesagt: Sie ist zu gut für diese Welt. Und Engel hatten es schon zu Sankt Kevins Zeiten nicht leicht. Da, schau mal, das Auto ist zurück. Wenn's deinem Dad also nicht entlaufen ist, sollte der auch da sein.«
Viola lachte nervös. Jetzt hatte sich das Wiedersehen mit ihrem Vater so lange verzögert, dass sie fast schon befangen war. Das verflog allerdings sofort, als sie ihn endlich zu Gesicht bekam. Alan McNamara war gerade dabei, einer rothaarigen jungen Frau aus dem alten Geländewagen zu helfen, aber er ließ Ainné stehen, als er Viola auf sich zulaufen sah. Sie flog in seine Arme.
»Vio, endlich!« Alan wirbelte seine Tochter herum, wie er das schon getan hatte, als sie ein ganz kleines Mädchen war. »Tut mir so leid, dass ich nicht zum Flugplatz kommen konnte. Aber wer weiß, vielleicht hättest du mir Patrick ja sogar vorgezogen?« Er zwinkerte ihr zu. »Pass nur auf, der Junge ist ein Schürzenjäger. Die kleine Shawna ist ganz verrückt nach ihm!«
Viola versicherte ihm, ganz sicher nicht verrückt nach Patrick zu sein und auch sonst noch keinen Mann auf der Welt gefunden zu haben, den sie ihrem Daddy vorzog.
»Das ist meine brave Prinzessin!«, lachte Alan und küsste sie noch einmal. »Aber nun komm, ich muss dir Ainné vorstellen! « Es hörte sich an, als plane er, seiner Tochter ein lang ersehntes Weihnachtsgeschenk zu enthüllen. Viola versteifte sich, aber Alan bemerkte das gar nicht. Er nahm sie strahlend bei der Hand und führte sie zum Wagen, wo die junge Frau nach wie vor wartete. Sie bemühte sich, Guinness' stürmische Begrüßung abzuwehren und schenkte auch Viola und ihrem Vater eher ungnädige Blicke.
»Vielleicht können wir erst mal ins Haus gehen, Alan«, bemerkte sie kühl. »Ich fühle mich nach wie vor nicht gut ... Entschuldige, Viola, das hat nichts mit dir zu tun, aber das Baby ...« Sie fasste an ihren Bauch.
Viola murmelte etwas Unverständliches. Ihr Vater hatte sie sofort losgelassen, als Ainné sich beschwerte, und bot seiner neuen Frau jetzt fürsorglich den Arm. Sie stützte sich schwer auf ihn, aber Viola fand, das Ganze wirkte etwas aufgesetzt. Zweifellos hätte sie auch allein gehen können. Aber immerhin hatte Viola währenddessen Zeit, Ainné O'Kelley-Mc Namara einer unauffälligen Musterung zu unterziehen. Dad hatte sie stets eine irische Rose genannt und Viola hatte den Begriff gegoogelt. Anscheinend bezeichnete er Mädchen mit hellem, sommersprossigem Teint und rotem Haar - eine Beschreibung, der Ainné durchaus entsprach. Und obwohl dieser Typ Violas Schönheitsideal eigentlich nicht besonders nahe kam, musste sie zugeben, dass die neue Frau ihres Vaters hübsch war. Sie hatte dichtes, glattes rotes Haar, nicht die Kräusellöckchen, die Viola erwartet hatte, und auch nicht die karottenrote Färbung, die ihre Mom stets beschworen hatte, wenn sie sich ihre Rivalin vorstellte. Ainnés Haarfarbe spielte eher ins Kupferne oder Rotgoldene und ihre Augen waren leuchtend blau. Die Sommersprossen hielten sich in Grenzen, ihre Gesichtszüge waren ebenmäßig und ihre Lippen voll und schön geschwungen, wenn auch gerade etwas unwillig zusammengezogen. Ainné war sicher schlank gewesen, als Dad sie kennenlernte, aber jetzt in der Schwangerschaft wirkte ihre Figur etwas unförmig. Dennoch bewegte sie sich recht graziös. Viola erinnerte sich daran, dass Dad von ihrer Sportlichkeit geschwärmt hatte: »Eine schneidige Reiterin!« Es hatte bewundernd geklungen, war für Viola und ihre Mutter aber nur ein weiteres Indiz seiner geistigen Verwirrung gewesen. Alan McNamara hasste Pferde, und das Letzte, mit dem man ihm bisher hatte imponieren können, war »schneidiges« Reiten.
»Ich hol dann mal deine Koffer«, bemerkte Patrick zu Viola und zog sich zurück. Er hatte auf die Neckerei ihres Vaters mit seinem charakteristischen Grinsen reagiert, schien Ainné allerdings nicht sonderlich zu mögen. Vielleicht nahm er ihr aber auch nur übel, dass sie sich nicht mal den kleinsten Gruß für ihn abgerungen hatte. Allerdings war für Viola selbst bislang auch kein »Good Afternoon« abgefallen. Ainné schien es nicht für nötig zu halten, Freude über die Ankunft ihrer Stieftochter zu heucheln.
Viola folgte ihrem Dad und seiner Frau zunächst in einen Flur und dann in eine große Küche, die ins Wohnzimmer überging. Das Haus wirkte von innen nicht geräumiger als von außen. Abgesehen von Küche und Wohnraum, die sicher von Bill, Ainné und Dad gemeinsam genutzt wurden, gab es nur ein Bad und drei Schlafzimmer. Eins davon würde Viola jetzt beziehen, später sollte das Baby dort schlafen. Ainné hätte es sicher gern jetzt schon als Kinderzimmer eingerichtet.
Immerhin hieß sie ihre Stieftochter nun in ihrem Haus willkommen, nachdem sie in einem Sessel am Kamin Platz genommen hatte.
»Machst du uns einen Tee, Dear?«, fragte sie sanft in Richtung von Violas Vater, der daraufhin sofort aufsprang und in die Küche eilte. »Und vielleicht möchtest du dich auch nützlich machen, Viola ...« Es klang, als habe sich Viola bislang als aufsässig und arbeitsscheu erwiesen. »In dem Schrank da sind Tassen und sicher finden sich im Laden ein paar Scones ...«
Viola war froh, in den Laden entfliehen zu können, und gratulierte sich dazu, Patrick vorhin beim Einräumen geholfen zu haben. So fand sie die Teekuchen sofort und brachte auch Butter und Marmelade mit.
Dafür, dass es Ainné eben noch so schlecht gegangen war, griff sie jetzt ganz schön herzhaft zu. Viola dagegen nippte nur an ihrem Tee. In Ainnés Gegenwart fühlte sie sich befangen. Ihr Dad versuchte, das Eis zu brechen, indem er sie nach der Schule und Katja befragte. »Und du ziehst Computerspiele immer noch allen anderen Aktivitäten vor?«, erkundigte er sich augenzwinkernd. »Oder hast du dich jetzt doch in ein Pferd verliebt? Manchmal mache ich mir da Sorgen um dich, du scheinst diese Phase einfach zu überspringen.«
Viola verdrehte die Augen. Sie hatte von jeher ein Faible für Fantasyromane und Rollenspiele, während sie jede Form von Sport verabscheute. Erst recht, wenn daran Tiere beteiligt waren, die vorn bissen und hinten ausschlugen.
Immerhin war die Neckerei ein guter Aufhänger dafür, ihr wichtigstes Anliegen vorzubringen. »Ich würde nachher gern ins Internet gehen«, bemerkte sie.
Daddy und Ainné runzelten gleichermaßen die Stirn - Daddy augenzwinkernd, Ainné missbilligend.
»Computerspiele ...«, murmelte sie indigniert. »Mädchen, du lebst jetzt in einer der schönsten, märchenhaftesten Landschaften der Welt ... Du kannst reiten, Boot fahren, wandern ...«
»Und Vögel beobachten, ich hab's schon gehört.« Viola beschloss, dass sie lange genug höflich gewesen war. »Kann ich mir mein Zimmer wohl mal angucken, Daddy?«
Viola stand entschlossen auf, bevor Ainné sie auch noch zum Geschirrspülen verdonnerte. An sich machte es ihr nichts aus, im Haushalt zu helfen, aber sie hatte den Verdacht, dass Ainné sie bald genauso behandeln würde wie ihr Vater Shawna, wenn sie hier nicht gleich Grenzen zog.
Das Zimmer im ersten Stock war wie erwartet winzig, ging aber zum See hinaus. Die Aussicht war hinreißend, zumal hier gerade keine Wohnwagen den Blick versperrten.
»Wo schläft eigentlich Patrick?«, fragte sie beiläufig, weniger aus echtem Interesse, als um etwas zu sagen.
Alan lachte. »Doch ein bisschen geflirtet, ja? Gib's zu, es wäre nicht schlecht, wenn er unter deinem Fenster Gitarre spielte! Aber Spaß beiseite, die Helfer sind ziemlich primitiv untergebracht, da müsste man mal was dran ändern. Pat schläft in einem alten Wohnwagen hinter dem Bootshaus. Ziemlich jämmerlich, wenn du mich fragst. Und im Winter feucht. Aber dann ist er ja wieder in Dublin. Ich glaube, er kann's kaum erwarten.«
Alan McNamara half seiner Tochter, die Koffer heraufzuschleppen und den Laptop aufzubauen. Mit der Internetverbindung klappte es allerdings nicht gleich. Viola hoffte, dass ihr Vater es richten konnte - er war recht geschickt mit Computern, schüttelte jetzt aber bedauernd den Kopf. »Ich muss leider los, Süße, abendlicher Rundgang um die Scholle. Irgendwas mit den Klos an der Ostecke war nicht in Ordnung, meinte Patrick, mal gucken, ob ich das hinkriege ... und in der zweiten Reihe Wohnwagen haben sich welche über die Leute in einem der Zelte beschwert, die sollen wohl nachts kiffen ...«
Ihr Vater drückte Viola rasch ein Küsschen auf die Stirn, dann verschwand er nach unten. Guinness, der kleine Hund, schaute etwas verwirrt von ihm zu Viola, schloss sich dann aber seinem Herrn an. Viola hörte, wie Mann und Hund die Holztreppen hinunterliefen und von Ainné ein paar Anweisungen erhielten. Dabei hätte sie fast schadenfroh gelächelt.
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»Es macht mir wirklich und absolut nichts aus!«, erklärte sie also nochmals und gab ihrer Mutter einen Abschiedskuss auf die Wange. »Im Gegenteil, es wird mir Spaß machen. Also vergiss mich jetzt einfach mal und freu dich auf Boston. Du hast einen großartigen Job in einer coolen Firma, und wenn du erst wieder da bist, wirst du die größte Filiale in Deutschland leiten. Du machst Karriere, und das werde ich Paps jeden Tag aufs Butterbrot schmieren, wenn er die Klos auf dem Campingplatz von seiner Ainné sauber macht.«
Über das Gesicht von Violas Mom zog ein Lächeln. Ein bisschen wehmütig, aber auch etwas schadenfroh. Zu Hause in Braunschweig hatte Violas Dad in einem Reisebüro gearbeitet. Seine praktische Begabung hielt sich in Grenzen - eigentlich schlug er sich jedes Mal den Daumen blau, wenn er nur versuchte, einen Nagel in die Wand zu hämmern. Als Mädchen für alles auf einem Campingplatz im irischen Nirgendwo konnte ihn sich seine alte Familie insofern kaum vorstellen. Und natürlich hatte er seinen neuen Job auch nicht so beschrieben. Laut eigenen Angaben würde er als »Manager« arbeiten. Darüber konnten Viola und ihre Mom allerdings nur lächeln. Bislang hatten Dads neue Frau und deren Vater den Betrieb schließlich mühelos allein geführt, mit einem oder zwei Saisonhelfern. Viele Management ebenen gab es da sicher nicht.
Viola nutzte den seltenen Moment der gelösten Stimmung für einen tränenlosen Abschied. Sie drückte ihre Mutter noch kurz an sich, griff dann nach ihrem Handgepäck und verschwand durch die Sperre. Während der Sicherheitskontrollen winkte sie Mom noch einmal zu und dann war es glücklich überstanden. Ihre Mutter wandte sich ab und schien sich dabei recht tapfer zu halten.
Viola atmete auf. Eine Tränenflut hätte sie heute auch nicht gut verkraftet. Das hatte sie in den Wochen nach der Trennung von Dad schließlich oft genug durchgemacht. Mom heulte damals fast täglich, während Viola selbst in eine Art verständnislose Starre gefallen war. Das Ganze war einfach zu plötzlich gekommen, um schnell damit fertig zu werden.
Viola schlenderte durch die Auslagen im Duty-free-Shop und dachte noch einmal an diese schrecklichen Wochen vor einem halben Jahr.
Genau hier, am Flughafen Hannover, hatten sie Dad damals verabschiedet. Eine Woche wollte er wegbleiben - ein Kongress in Galway. Mom, Viola und Dad hatten gelacht, sich umarmt - und Dad hatte davon gesprochen, dass die nächste Irlandreise ganz sicher ein Familienurlaub sein sollte. Vielleicht auf einem Hausboot den Shannon hinaufschippern oder einfach mit einem Leihwagen rund um die Insel. Mom neckte ihren Mann damit, dass man auch einen Tinkerkarren mit Pferd mieten könnte - sie wusste, dass er die Vierbeiner fürchtete, seit er als Kind einmal getreten worden war. Dad scherzte über Feen und Kobolde in seiner alten Heimat. An diesem Tag waren sie alle noch glücklich gewesen. Aber schon am nächsten Abend hatte Mom begonnen, sich Sorgen zu machen. Schließlich rief Dad sonst praktisch täglich an, wenn er unterwegs war. Nun aber herrschte Funkstille und sogar sein Handy war ausgeschaltet. Während der ganzen Woche hatten Mom und Viola ihn nur einmal erreicht und da war er seltsam und einsilbig gewesen. Schließlich erhielten sie eine SMS, die verkündete, dass er drei Tage länger wegbleiben würde. Und dann folgte die schockierende Erklärung: Als er endlich wiederkam, hatte Dad noch auf dem Weg vom Flughafen nach Hause von Ainné erzählt, seiner Jugendliebe. Er hatte sie überraschend in Galway wiedergetroffen und nach seinen Angaben hatte es direkt »gefunkt«. Ainné hatte ihn verzaubert - »verhext«, wie Violas Mom es später ausdrückte -, er hatte sich verliebt wie niemals zuvor. Ainné O'Kelley und Alan McNamara, davon war Dad fest überzeugt, waren füreinander bestimmt!
Alan McNamara fand an diesem Abend viele schöne Worte für die einfache Tatsache, dass seine Familie ihm plötzlich im Weg stand. Viola und ihre Mutter sollten das bitte nicht persönlich nehmen, aber es gäbe eben mehr Dinge zwischen Himmel und Erde ...
Dad schwebte auf Wolken und Violas Hoffnung, er würde vielleicht vor der Scheidung wieder runterkommen, erfüllte sich nicht. Zumal Ainné auch noch schwanger war. Die beiden frisch Verliebten hatten die erste Woche ihres erneuten Zusammentreffens wirklich genutzt.
Violas Flug wurde jetzt aufgerufen und sie ließ sich im Strom der Reisenden - vor allem Erwachsene, Geschäftsreisende und Urlauber, die nicht auf die Ferienzeit angewiesen waren - mittreiben. In Hannover begann am Montag die Schule wieder, in Irland in einer Woche. Viola war gespannt auf die Highschool im ländlichen Roundwood. Sie würde die neunte Klasse besuchen, ein halbes Jahr lang - vielleicht ein ganzes, falls es ihr bei Dad und Ainné gefiel. Ihre Mutter jedenfalls würde ein halbes Jahr in Boston verbringen - am amerikanischen Hauptsitz der großen Computerfirma, für die sie arbeitete. Für sie bedeutete das einen erheblichen Karrieresprung, zumindest finanziell war sie nicht auf ihren Exmann angewiesen. Das war zwar nur ein kleiner Trost, aber es hatte sie nach der Trennung doch wieder aufgerichtet. Wenigstens in der Firma wusste man sie zu schätzen. Hier würde man ihr keine »irische Rose« vor die Nase setzen. Und in gewisser Weise erfüllte es sie bestimmt auch mit Schadenfreude, dem jungen Glück am Lough Dan jetzt erst mal ihre Tochter auf den Hals zu hetzen: Ainné war garantiert nicht erbaut davon, ihre »große Liebe« im Doppelpack mit einem Teenager zu bekommen. Viola lächelte grimmig. Viel Entgegenkommen hatte Dads neue Frau von ihr nicht zu erwarten.
Viola flog erst zum zweiten Mal in ihrem Leben und fand das Drumherum um Start und Landung, Kabinenservice und Duty-free-Einkäufe noch spannend genug, um die Reise als kurzweilig zu empfinden. Außerdem wuchs mit der Entfernung von ihrem alten Leben die Freude darauf, ihren Vater
wiederzusehen. Sosehr sie mit Mom über ihn geschimpft hatte - vermisst hatte sie ihn doch. Mit Dad war der Alltag einfach lustiger gewesen. Er nahm das Leben von jeher leicht und hatte es immer geschafft, Viola und ihre Mom aufzuheitern, egal wie viel Ärger es in der Schule oder in Moms Firma gegeben hatte. Seine Arbeit im Reisebüro hatte Alan McNamara Spaß gemacht. Es gab immer etwas zu erzählen über Kunden und ihre Sonderwünsche - Viola lächelte, wenn sie nur daran dachte, und verzog das Gesicht bei der Erinnerung an die freudlosen Monate nach der Trennung ihrer Eltern.
Als der Flieger schließlich gelandet war, trabte sie aufgeregt die schier endlose Strecke vom Flugzeug bis zur Gepäckausgabe. Ein eintöniger, verglaster Flur folgte hier auf den anderen, zum Teil mit Laufbändern versehen, um schneller vorwärtszukommen. Viola probierte eins aus und fand es lustig. Aber dann fiel ihr ein, dass sie sich vielleicht noch ein bisschen herrichten sollte, bevor sie ihrem Dad gegenübertrat. Viola suchte eine Toilette und überprüfte ihren Anblick im Spiegel. An sich nicht schlecht - nur den vorwitzigen Pickel über ihrem rechten Auge musste sie ein bisschen überschminken. Den verdankte sie bestimmt der Flugzeugluft. Gewöhnlich litt Viola nicht unter Akne. Aber ihre sehr helle Haut - Dads irisches Erbe! - war empfindlich und reagierte schnell auf Irritationen. Ein solcher Teint war meist mit rotem oder blondem Haar und blauen Augen gekoppelt, aber Violas dichtes, glattes Haar war kastanienfarben und ihre Augen waren dunkelgrün. Mit hellbraunen Lichtern darin, wenn sie sich aufregte oder angespannt war wie jetzt. Viola zupfte an ihrem hellgrünen Pulli herum und überprüfte den Sitz ihrer engen Jeans. In dem stressigen, letzten halben Jahr hatte sie etwas abgenommen, aber sie fand, das stand ihr gut. Sie stellte sich Dads Lächeln bei ihrem Anblick vor. Er war immer stolz auf sie gewesen und hatte sie seine »Prinzessin « genannt. Ob er diesen Namen nun für das neue Kind verwenden würde, falls es eine Tochter war? Violas gute Laune trübte sich - und näherte sich gefährlich dem Nullpunkt, als sie den Wagen mit ihren Koffern endlich in die Ankunftshalle schob, sich da aber vergeblich nach Dads von rotbraunem Wuschelhaar umrahmten Gesicht umsah. Er schien sich verspätet zu haben - oder hatte er die Ankunftszeit verwechselt? In Irland war es eine Stunde früher als in Braunschweig - und dann war da ja auch noch die Sache mit
a.m. und p.m. Ob Dad sie vielleicht erst am Abend erwartete? Aber er sollte sich mit der Zeit in seiner Heimat eigentlich auskennen! Unschlüssig sah sie sich um. Sie hatte eine Telefonnummer, aber Dad hatte gesagt, er sei tagsüber schwer zu erreichen, da meistens draußen, irgendwo auf dem Campingplatz. Heute traf das sicher zu, in Dublin herrschte strahlender Sonnenschein. Nichts von dem irischen Regen, vor dem ihre Freundin Katja sie gewarnt hatte. Katja war im letzten Jahr mit ihren Eltern in Irland gewesen und angeblich hatte es pausenlos geschüttet. Aber vielleicht wollte sie Viola das Land auch nur miesmachen. Die Freundinnen steckten von Kindheit an zusammen und konnten sich kaum vorstellen, sechs Monate lang getrennt zu sein.
Verdammt, warum hatte sie sich bloß Dads Handynummer nicht geben lassen!
Während Viola noch unglücklich in die Gegend starrte, kam ein junger Mann auf sie zu. Er war blond und schlaksig, der Typ, der nur aus Armen und Beinen zu bestehen schien, und er trug ein mit rotem Filzstift beschriftetes Schild gut sichtbar vor sich.
Verwundert las Viola ihren Namen: Viola McNamara. Und jetzt hatte der Junge sie auch erreicht.
»Sorry, aber bist du das vielleicht?« Der Typ sprach sie an und zeigte auf das Schild.
Viola nickte verwirrt. »Aber ... mein Dad ... Eigentlich warte ich auf meinen Vater.« Sie musste die englischen Worte fast suchen und schämte sich für ihre Unsicherheit.
Der Junge grinste. »Dein Dad konnte nicht kommen. Irgendwas mit seiner Lady ... Jedenfalls hat er mich geschickt, dich abzuholen. Ich bin Patrick, ich arbeite auf dem Campingplatz. Soll ich das Ding nehmen?« Er wies auf den Kofferwagen, der wirklich nicht leicht zu lavieren war. Wahrscheinlich hatte Viola ihn auch nicht gerade genial bepackt. Sie war ebenso unpraktisch wie ihr Dad.
Viola nickte wieder und überließ Patrick das Gefährt. Immer noch sprachlos, folgte sie ihm aus dem Flughafen zum Parkplatz, wo er einen Kleinbus mit der Aufschrift Lough Dan Camping ansteuerte.
»Reichlich Platz für dein Zeug«, grinste Patrick. »Mann, nach dem, was du mitschleppst, möchte man meinen, du würdest ein halbes Jahr bleiben ...«
»Will ich ja auch ...« Der Wechsel ins Englische wurde langsam wieder selbstverständlicher. Nachdem sie Patrick kurz erklärt hatte, dass sie während des Aufenthalts ihrer Mutter in Amerika in Irland bleiben würde, hatte sie sich ganz auf die Sprache eingestellt.
»Und du?«, fragte sie schließlich. »Bist du aus Roundwood? «
Patrick schüttelte den Kopf. »Ja und nein. Ich bin zwar da geboren, aber vor ein paar Jahren nach Dublin gezogen. Da studiere ich jetzt - Musik- und Literaturwissenschaft.«
»Und das in Roundwood ist ein Ferienjob?«, erkundigte sich Viola.
Patrick nickte. »Auch wieder ja und nein«, lachte er. »In Roundwood laufen Sommerkurse in ›Gaelic Studies‹ - alt irische Sprache und Musik. Zwei Lehrerinnen aus der High school da haben echt was drauf. Wirst du auch mitkriegen, das durchzieht bei denen den ganzen Unterricht. Na ja, und da ich nicht von Luft und Liebe leben kann und diese Kurse auch was kosten, hab ich mir den Job gesucht. Ich bleibe noch einen Monat in Wicklow, bis die Uni wieder anfängt. Und dann reicht's mir auch mit frischer Luft und Landschaft pur! Lough Dan ist schön, wird dir gefallen. Aber es gibt noch nicht mal Füchse, weil sich kein Artgenosse zum Gute- Nacht-Sagen findet.«
Viola kicherte. Das klang nicht nach dem typischen Umfeld ihres lebenslustigen Vaters. »Internet?«, fragte sie vorsichtig. Sie hatte ihren Laptop im Koffer und eigentlich gehofft, Katja heute schon die erste Mail schicken zu können.
Patrick runzelte die Stirn. »Ja, aber bei Regen oder Sturm kann's schon mal ausfallen ... Nun guck nicht so panisch!« Er grinste ihr zu. »Vor Erfindung des Internets hat man am Lough Dan auch überlebt. Uralte Kulturlandschaft. Ein paar Kilometer weiter liegt Glendalough, da hat schon der heilige Kevin gewirkt ...«
Viola verdrehte die Augen. Der heilige Kevin war ihr herzlich egal, sie wollte Katja!
Patrick steuerte den Bus aus den Vororten von Dublin heraus Richtung Wicklow County. Für die Fahrt würden sie kaum mehr als zwei Stunden brauchen, aber es war doch wie ein Eintauchen in eine andere Welt, als sie die Schnellstraße schließlich verließen und durch ländliche Gegenden und winzige Orte zuckelten. Die Straßen wurden dabei immer schmaler und kurviger, das flache Land um Dublin wich gebirgigen Abschnitten. Sie kamen dem Wander- und Erholungsgebiet deutlich näher, in dem Lough Dan und Roundwood lagen. Irlands höchstgelegenes Dorf, wie ihr Patrick jetzt verriet.
»Beliebter Urlaubsort. Du kannst fischen, wandern, reiten - reitest du übrigens? Der alte Bill ist schon ganz wild auf das Mädel aus Deutschland. Er ist überzeugt, da wären alle verrückt nach Pferden. Und er hofft natürlich auf kostenlose Hilfe bei den Ponys ...«
»Reiten? Ich?« Viola hatte nicht genau hingehört, sondern sich auf die faszinierende Gebirgslandschaft konzentriert, die sich jetzt vor ihr auftat. Außerdem war ihr etwas schlecht von all den Kurven. Aber der Gedanke an Pferde zerrte sie unsanft in die Wirklichkeit zurück. Nachdem Katja vor einem Jahr eine kurze Zeit in ein Pferd namens Blacky verliebt gewesen war, wirkte auf Viola schon die Erwähnung dieser Tiere wie blanker Horror. Drei Monate lang hatte Katja nur von Pferden gesprochen - aber dann war zum Glück ein Junge namens Toby in die Wohnung nebenan gezogen und Katja hatte sich anderweitig orientiert. Viola hielt Toby zwar auch für einen Langweiler, aber wenigstens roch er nicht so streng.
Patrick grinste. »Dein Dad hat ihm schon gesagt, dass du dir aus den Viechern nichts machst, aber das glaubt er nicht. Bill glaubt grundsätzlich nur, was er glauben will. Ich persönlich finde ihn etwas anstrengend ... aber du wirst schon mit ihm klarkommen ...«
Die letzte Bemerkung klang bemüht tröstlich. Anscheinend hatte Viola schon wieder etwas leidend ausgesehen.
»Bill ist Ainnés Vater, nicht?«, erkundigte sie sich.
Patrick nickte.
Viola seufzte. Noch ein Mitbewohner, mit dem sie sich arrangieren musste. Aber wenigstens Patrick war nett.
Nach fast endloser, kurvenreicher Fahrt erreichten sie Roundwood - wie erwartet ein Nest, aber einladend gestaltet mit bunt bemalten Fassaden und alten Ladenschildern. Patrick hielt vor einem Supermarkt und Viola taumelte aus dem Auto. Wenn sie tief durchatmete und sich etwas bewegte, musste sie sich vielleicht nicht übergeben ... Schließlich half sie Patrick, ein paar Kisten mit offensichtlich telefonisch bestellten Lebensmitteln einzuladen, und fühlte sich dann wirklich etwas besser.
»Da ist die alte Schule«, erklärte Patrick, als sie weiterfuhren, und wies auf ein hübsches altes Gebäude. »Und gleich dahinter das neue Schulzentrum. Nicht so schön, aber angeblich ganz modern ausgestattet. Ich kann's dir nicht sagen, als ich klein war, saßen wir noch im alten Haus. Da gab's keine Computer, aber dafür spukte es.«
»Und wie komm ich hier jeden Tag hin?«, fragte Viola mürrisch und starrte unglücklich auf ein Straßenschild: Lough Dan 3 Meilen. Dabei reichte es ihr jetzt wirklich mit dem Autofahren. Schon nach den ersten drei Kurven durchs Dorf hatte sie das Gefühl, sich erneut grünlich zu verfärben.
»Schulbus«, meinte Patrick. »Sie sammeln dich ein, keine Sorge. Und es ist die höchstgelegene Highschool Irlands.« Er grinste.
»Schau, da ist der See.«
Eine weitere Kurve gab den Blick auf den Lough Dan frei und Viola vergaß ihre Übelkeit fast. Der Anblick war sensationell, gerade jetzt im Sonnenschein. Der kleine See, eingeschlossen von Bergen, war glatt wie ein Spiegel und warf das Bild der Gipfel zurück. Es war, als blicke man in ein Zauber- land von Schluchten und verwunschenen Tälern unter dem Wasserspiegel. Die Ufer waren gelegentlich steil, meist aber flach und schilf- oder grasbewachsen. Der See wurde von vielen kleinen Bächen gespeist, die teilweise winzige Wasser fälle bildeten. Sie glänzten silbern in der Sonne und schienen ihre Strahlen einzufangen und dem See zum Geschenk zu machen. Häuser sah Viola zunächst gar nicht und tatsächlich erwies sich die Ansiedlung, zu der auch der Campingplatz der O'Kelleys/McNamaras gehörte, als so winzig, dass sie nicht mal einen Namen hatte. Es gab ein Andenkengeschäft und ein Restaurant an einem besonders schönen Aussichtspunkt. Dazu ein Landhotel weiter oben in den Bergen und ein paar verstreute Häuser. Kein Ort von Weltgeltung.
»Du siehst, überall Landschaft, nichts als Landschaft«, kommentierte Patrick. »Die aufregendste Betätigung hier ist Vogelbeobachtung.«
Er bog auf einen schmalen Weg Richtung See ab und durchfuhr gleich darauf eine geöffnete Schranke. Daneben stand ein Wärterhäuschen mit einem Schild Lough Dan Camping. Viola sah etwa dreißig Stellplätze, von denen jetzt aber nur einige wenige direkt am Wasser belegt waren.
»Im Hochsommer ist mehr los«, bemerkte Patrick und folgte einem Schild Platzverwaltung. Schließlich hielt er vor dem reetgedeckten kleinen Haus, das Viola schon aus Dads E-Mails kannte. Im Eingangsbereich gab es ein Büro und einen winzigen Shop, in dem die Camper das Nötigste zum Leben einkaufen konnten. Patrick und Viola trugen die Kisten aus Roundwood hinein, und Patrick machte sich gleich daran, sie auszupacken.
»Ich mach das lieber sofort«, erklärte er, »sonst vergesse ich es, und Ainné kriegt einen Tobsuchtsanfall, wenn die Butter schmilzt. Du kannst aber schon reingehen. Der Privateingang ist gleich nebenan, kannst du gar nicht verfehlen. Ich bring dir die Koffer dann nach. Aber ich weiß nicht, ob überhaupt schon jemand da ist. Das Auto ist jedenfalls nirgends zu sehen.«
»Wo steckt mein Dad denn überhaupt?«, fragte Viola enttäuscht und machte sich erst mal daran, Patrick zu helfen. Was sollte sie schließlich allein in dem verwaisten Haus? Bestenfalls konnte sie Ainnés Vater kennenlernen und dazu hatte sie wenig Lust.
»Hab ich doch gesagt. Er ist mit Ainné zur Ambulanz. Wenn's schlimm ist, muss sie nach Dublin. Aber bisher war's immer nur falscher Alarm. Das Baby hat ja wohl auch noch ein paar Wochen Zeit.« Patrick packte Milch und Butter ins Kühlfach. Viola sortierte Tütensuppen. Nach fünf Minuten waren sie fertig.
»Soll ich dich rumführen?«, fragte Patrick und grinste mal wieder. »Vielleicht sehen wir ja ein paar spannende Vögel.«
Viola nickte lustlos. Ihr Magen war nach der Autofahrt immer noch nicht ganz zur Ruhe gekommen. Sicher war es gut, frische Luft zu schnappen.
Sie bereute es nicht. Die Luft war warm und roch nach Harz und Kräutern. Der Campingplatz lag idyllisch direkt am Seeufer, es gab einen kleinen Bootssteg und einen Schuppen, der einen Kanu- und Ruderbootverleih beherbergte. Die Boote wirkten durchweg neu und gut gepflegt.
»Mein Job«, erläuterte Patrick und wies auf die sorgfältig aufgebockten Kanus. »Neben allem möglichen anderen Kram. Aber hauptsächlich kümmere ich mich um die Boote und weise die Leute ein, die sich zur Seefahrt berufen fühlen. Die Kajaks kippen schon mal um, wenn sich einer besonders blöd anstellt - aber ich zeig dir gern, wie's geht, wenn du Lust hast.«
Viola schüttelte den Kopf. Sie konnte auf jede Form von Sport sehr gut verzichten. Außer aufs Surfen im Internet.
»Und da hinten geht's zu den Ponys. Das macht Bill.«
Patrick führte Viola vom Ufer weg zu einem eingefriedeten Areal, zu dem auch Ställe und Anbindeplätze gehörten. Davor war ein vierschrötiger, rotgesichtiger Mann gerade damit beschäftigt, ein zierliches Mädchen in breitem Irisch zusammenzustauchen: »Ist mir ganz egal, was du gedacht hast. Gracie geht nicht im Betrieb, das weißt du!«
»Ich hab sie doch nicht verliehen!«, verteidigte sich das Mädchen. Sie war hellblond, sehr schlank und in Violas Alter. »Ich hab sie selbst geritten. Weil sie doch so unausstehlich wird, wenn sie nichts zu tun hat. Und Ainné wird sie in den nächsten Monaten sowieso nicht bewegen, da dachte ich ...«
»Das Denken überlässt du den Pferden, die haben die größeren Köpfe«, raunzte der Mann. »Und Ainnés Pferd ist Ainnés Pferd, egal ob sie es gerade reitet oder nicht.«
Das Mädchen wollte erneut widersprechen, aber dann sah sie Patrick und Viola und wurde sofort rot. Anscheinend war es ihr peinlich, vor Publikum zusammengefaltet zu werden - oder schämte sie sich nur vor Patrick? Viola meinte, ein verräterisches Aufblitzen in ihren blauen Augen zu erkennen, als sie den jungen Mann streiften. Es ließ ahnen, dass sie nicht nur in Pferde verliebt war.
Patrick selbst schaute eher missbilligend. »Das wäre dann also Bill«, bemerkte er. »Wie wir alle ihn kennen und lieben. Das Mädchen ist Shawna - das leidensfähigste Geschöpf dieser Insel ...«
Bevor er das weiter ausführen konnte, kam Shawna zu ihnen hinüber.
»Hi, Patrick!«, grüßte sie jetzt und die Sternchen in ihren Augen waren nicht mehr zu übersehen. »Du bist wieder da.«
Viola war selbst noch nie wirklich verliebt gewesen, aber sie hatte mehrmals beobachtet, dass dieser Zustand zum weitgehenden Verlust der Fähigkeit führte, ganze oder gar intelligente Sätze zu bilden.
»Wie du siehst«, grinste Patrick. »Und du warst auch bis jetzt unterwegs? Halbtagesritt mit drei Touris, ja? Womit du dem alten Mistkerl hundertfünfzig Euro verdient hast. Und zum Dank brüllt er dich an.«
Shawna errötete erneut. Anscheinend ein heikles Thema ...
»Ich hätte Gracie nicht nehmen sollen«, entschuldigte sie Bills Ausbruch. »Jedenfalls nicht, ohne Ainné zu fragen. Aber ich brauchte drei große Ponys für die Touristen, das waren alles Erwachsene. Da konnte ich doch nicht auf einem kleineren vorwegzuckeln. Und ...«
»Geschenkt, Shawna, mir brauchst du das nicht zu er klären. « Patrick machte eine wegwerfende Handbewegung. »Zeig lieber dem Alten mal, was 'ne Harke ist! Mensch, Shawna, ohne dich ist der doch aufgeschmissen! Du schuftest dich hier jeden Tag ab und siehst dafür keinen Euro. Lass ihn mal ein paar Tage hängen, danach ist er vielleicht wenigstens ein bisschen höflicher ...«
»Aber ich darf doch umsonst reiten«, verteidigte sich Shawna. »Und wenn nun dieses Mädchen aus Deutschland kommt ...« Sie schaute auf und schien Viola jetzt erst zu bemerken. »Oh ... bist du vielleicht ...?« Sie errötete schon wieder.
Viola versuchte, sie aufmunternd anzulächeln. »Ich bin Viola und tatsächlich aus Deutschland. Aber selbst wenn ich wollte, könnte ich mich keine drei Minuten auf deiner Gracie halten, oder wie das Vieh heißt. Und ich hab auch keine Lust dazu, irgendwelche Ställe auszumisten, Touristenkinder auf Ponys zu setzen oder was du hier sonst so machst.«
Über Shawnas Gesicht zog ein schüchternes Lächeln. Patrick grinste schon wieder.
»Na siehst du. Keiner macht dir den Traumjob streitig. Und jetzt komm bloß nicht auf die Idee, dem Kerl noch die Pferde einzutreiben und füttern zu helfen. Ich hab Cola im Bootshaus, kommt mit, ich geb einen aus.«
Shawna wirkte etwas schuldbewusst - sicher war sie fest entschlossen gewesen, mit der Arbeit fortzufahren. Aber letztlich siegte ihre Schwäche für Patrick. Sie strahlte ihn an und trottete brav neben ihm und Viola her. Ein kleiner schwarz-weißer Hund, der eben noch um den alten Bill herumgewuselt war, schloss sich ihnen an.
Viola streichelte ihn.
»Wer ist das denn?«, erkundigte sie sich, schon um das Schweigen zu brechen. Erfolgreich. Shawna taute augenblicklich auf, wenn es um Tiere ging.
»Das ist Guinness«, stellte sie vor. »Dein Vater hat ihn so getauft, weil er doch schwarz-weiß ist: wie das Bier mit dem hellen Schaum. Eigentlich gehört er auch Ainné, aber die kümmert sich nicht viel um ihn. Meistens ist er bei mir ...«
Der letzte Satz klang wieder etwas traurig und sehnsüchtig. Viola vermutete, dass Shawna zu Hause keinen Hund halten durfte. Und ein Pferd offensichtlich erst recht nicht. Aber vielleicht konnten ihre Eltern sich das auch nicht leisten.
»Du kommst übrigens in meine Klasse«, wechselte Shawna schließlich das Thema. »Wir haben uns schon alle gefragt, ob du Englisch sprichst. Und Gälisch!«
Patrick lotste die Mädchen zu einem idyllischen Plätzchen am See, wo aus dem Gras aufragende Felsen natürliche Sitzgelegenheiten boten. Vor allem war der Ort von den Ställen her nicht einzusehen und vom Haus aus erst recht nicht. Zwischen dem Ufer und den Wirtschaftsgebäuden lag das Bootshaus. Shawna würde vom alten Bill unbehelligt bleiben. So wirkte sie jetzt auch ziemlich gelöst und plauderte mit Viola, während sie es sich auf den sonnenwarmen Steinen gemütlich machten und Patrick die Cola holte.
Viola erfuhr, dass sie Gälisch hier nicht abwählen konnte, wie sie gehofft hatte, aber Shawna versicherte ihr, die Klasse sei klein und die Lehrerin nicht streng. »Bestimmt macht sie für dich ein Sonderprogramm. Sie kann nicht erwarten, dass du neun Schuljahre in sechs Monaten nachholst. Auf jeden Fall wird sie versuchen, es dir schmackhaft zu machen. Sie wirbt ständig um Teilnehmer für ihre Sommerkurse!«
Als Patrick mit der Cola zurückkam, wurde Shawna sofort wieder einsilbig. Sie himmelte den Jungen erkennbar an. Bei Patrick selbst konnte Viola dagegen noch keine Anzeichen größerer Verliebtheit ausmachen. Immerhin schien er Shawna zu mögen und sicher tat sie ihm auch etwas leid. Die Voraussetzungen waren also nicht allzu schlecht.
Schließlich machte sich Shawna widerstrebend auf den Heimweg.
»Wir kriegen noch zwei Busladungen heute Nachmittag«, erklärte sie Patrick mit unglücklichem Gesichtsausdruck und streichelte Guinness noch mal über den Kopf, während sie sich auf ihr Moped schwang. »Das geht garantiert zwei Stunden ... Bye, Viola, man sieht sich ...«
Shawna trat das Moped mit Schwung an und tuckerte davon, aufwärts, und sicher verbotenerweise über einen Wanderweg.
»Sie kriegen was?«, fragte Viola, nachdem Shawna außer Sicht war. Patrick und sie wandten sich wieder in Richtung Haus, vielleicht war ihr Dad ja inzwischen angekommen.
Patrick lachte. »Zwei Busladungen Touristen. Shawna gehört zum Lovely View, dem Ausflugsrestaurant. Erinnerst du dich? Wir haben das Schild gesehen. Von der Abzweigung aus geht es allerdings noch zwei Kilometer aufwärts. Der Laden ist eine Goldgrube! Die Reisegesellschaften karren ihre Leute nach Glendalough und anschließend gibt es da oben Tee. Oder Lunch. Jedenfalls fallen sie zu Dutzenden über die McLaughlins her und da wird jede Hand gebraucht. Aber überflüssig zu sagen, dass Shawna auch von ihren Eltern kein Geld kriegt. Sonst könnte sie sich ja endlich selbst einen Gaul kaufen und das Theater mit Bill hätte ein Ende. Aber wie gesagt: Sie ist zu gut für diese Welt. Und Engel hatten es schon zu Sankt Kevins Zeiten nicht leicht. Da, schau mal, das Auto ist zurück. Wenn's deinem Dad also nicht entlaufen ist, sollte der auch da sein.«
Viola lachte nervös. Jetzt hatte sich das Wiedersehen mit ihrem Vater so lange verzögert, dass sie fast schon befangen war. Das verflog allerdings sofort, als sie ihn endlich zu Gesicht bekam. Alan McNamara war gerade dabei, einer rothaarigen jungen Frau aus dem alten Geländewagen zu helfen, aber er ließ Ainné stehen, als er Viola auf sich zulaufen sah. Sie flog in seine Arme.
»Vio, endlich!« Alan wirbelte seine Tochter herum, wie er das schon getan hatte, als sie ein ganz kleines Mädchen war. »Tut mir so leid, dass ich nicht zum Flugplatz kommen konnte. Aber wer weiß, vielleicht hättest du mir Patrick ja sogar vorgezogen?« Er zwinkerte ihr zu. »Pass nur auf, der Junge ist ein Schürzenjäger. Die kleine Shawna ist ganz verrückt nach ihm!«
Viola versicherte ihm, ganz sicher nicht verrückt nach Patrick zu sein und auch sonst noch keinen Mann auf der Welt gefunden zu haben, den sie ihrem Daddy vorzog.
»Das ist meine brave Prinzessin!«, lachte Alan und küsste sie noch einmal. »Aber nun komm, ich muss dir Ainné vorstellen! « Es hörte sich an, als plane er, seiner Tochter ein lang ersehntes Weihnachtsgeschenk zu enthüllen. Viola versteifte sich, aber Alan bemerkte das gar nicht. Er nahm sie strahlend bei der Hand und führte sie zum Wagen, wo die junge Frau nach wie vor wartete. Sie bemühte sich, Guinness' stürmische Begrüßung abzuwehren und schenkte auch Viola und ihrem Vater eher ungnädige Blicke.
»Vielleicht können wir erst mal ins Haus gehen, Alan«, bemerkte sie kühl. »Ich fühle mich nach wie vor nicht gut ... Entschuldige, Viola, das hat nichts mit dir zu tun, aber das Baby ...« Sie fasste an ihren Bauch.
Viola murmelte etwas Unverständliches. Ihr Vater hatte sie sofort losgelassen, als Ainné sich beschwerte, und bot seiner neuen Frau jetzt fürsorglich den Arm. Sie stützte sich schwer auf ihn, aber Viola fand, das Ganze wirkte etwas aufgesetzt. Zweifellos hätte sie auch allein gehen können. Aber immerhin hatte Viola währenddessen Zeit, Ainné O'Kelley-Mc Namara einer unauffälligen Musterung zu unterziehen. Dad hatte sie stets eine irische Rose genannt und Viola hatte den Begriff gegoogelt. Anscheinend bezeichnete er Mädchen mit hellem, sommersprossigem Teint und rotem Haar - eine Beschreibung, der Ainné durchaus entsprach. Und obwohl dieser Typ Violas Schönheitsideal eigentlich nicht besonders nahe kam, musste sie zugeben, dass die neue Frau ihres Vaters hübsch war. Sie hatte dichtes, glattes rotes Haar, nicht die Kräusellöckchen, die Viola erwartet hatte, und auch nicht die karottenrote Färbung, die ihre Mom stets beschworen hatte, wenn sie sich ihre Rivalin vorstellte. Ainnés Haarfarbe spielte eher ins Kupferne oder Rotgoldene und ihre Augen waren leuchtend blau. Die Sommersprossen hielten sich in Grenzen, ihre Gesichtszüge waren ebenmäßig und ihre Lippen voll und schön geschwungen, wenn auch gerade etwas unwillig zusammengezogen. Ainné war sicher schlank gewesen, als Dad sie kennenlernte, aber jetzt in der Schwangerschaft wirkte ihre Figur etwas unförmig. Dennoch bewegte sie sich recht graziös. Viola erinnerte sich daran, dass Dad von ihrer Sportlichkeit geschwärmt hatte: »Eine schneidige Reiterin!« Es hatte bewundernd geklungen, war für Viola und ihre Mutter aber nur ein weiteres Indiz seiner geistigen Verwirrung gewesen. Alan McNamara hasste Pferde, und das Letzte, mit dem man ihm bisher hatte imponieren können, war »schneidiges« Reiten.
»Ich hol dann mal deine Koffer«, bemerkte Patrick zu Viola und zog sich zurück. Er hatte auf die Neckerei ihres Vaters mit seinem charakteristischen Grinsen reagiert, schien Ainné allerdings nicht sonderlich zu mögen. Vielleicht nahm er ihr aber auch nur übel, dass sie sich nicht mal den kleinsten Gruß für ihn abgerungen hatte. Allerdings war für Viola selbst bislang auch kein »Good Afternoon« abgefallen. Ainné schien es nicht für nötig zu halten, Freude über die Ankunft ihrer Stieftochter zu heucheln.
Viola folgte ihrem Dad und seiner Frau zunächst in einen Flur und dann in eine große Küche, die ins Wohnzimmer überging. Das Haus wirkte von innen nicht geräumiger als von außen. Abgesehen von Küche und Wohnraum, die sicher von Bill, Ainné und Dad gemeinsam genutzt wurden, gab es nur ein Bad und drei Schlafzimmer. Eins davon würde Viola jetzt beziehen, später sollte das Baby dort schlafen. Ainné hätte es sicher gern jetzt schon als Kinderzimmer eingerichtet.
Immerhin hieß sie ihre Stieftochter nun in ihrem Haus willkommen, nachdem sie in einem Sessel am Kamin Platz genommen hatte.
»Machst du uns einen Tee, Dear?«, fragte sie sanft in Richtung von Violas Vater, der daraufhin sofort aufsprang und in die Küche eilte. »Und vielleicht möchtest du dich auch nützlich machen, Viola ...« Es klang, als habe sich Viola bislang als aufsässig und arbeitsscheu erwiesen. »In dem Schrank da sind Tassen und sicher finden sich im Laden ein paar Scones ...«
Viola war froh, in den Laden entfliehen zu können, und gratulierte sich dazu, Patrick vorhin beim Einräumen geholfen zu haben. So fand sie die Teekuchen sofort und brachte auch Butter und Marmelade mit.
Dafür, dass es Ainné eben noch so schlecht gegangen war, griff sie jetzt ganz schön herzhaft zu. Viola dagegen nippte nur an ihrem Tee. In Ainnés Gegenwart fühlte sie sich befangen. Ihr Dad versuchte, das Eis zu brechen, indem er sie nach der Schule und Katja befragte. »Und du ziehst Computerspiele immer noch allen anderen Aktivitäten vor?«, erkundigte er sich augenzwinkernd. »Oder hast du dich jetzt doch in ein Pferd verliebt? Manchmal mache ich mir da Sorgen um dich, du scheinst diese Phase einfach zu überspringen.«
Viola verdrehte die Augen. Sie hatte von jeher ein Faible für Fantasyromane und Rollenspiele, während sie jede Form von Sport verabscheute. Erst recht, wenn daran Tiere beteiligt waren, die vorn bissen und hinten ausschlugen.
Immerhin war die Neckerei ein guter Aufhänger dafür, ihr wichtigstes Anliegen vorzubringen. »Ich würde nachher gern ins Internet gehen«, bemerkte sie.
Daddy und Ainné runzelten gleichermaßen die Stirn - Daddy augenzwinkernd, Ainné missbilligend.
»Computerspiele ...«, murmelte sie indigniert. »Mädchen, du lebst jetzt in einer der schönsten, märchenhaftesten Landschaften der Welt ... Du kannst reiten, Boot fahren, wandern ...«
»Und Vögel beobachten, ich hab's schon gehört.« Viola beschloss, dass sie lange genug höflich gewesen war. »Kann ich mir mein Zimmer wohl mal angucken, Daddy?«
Viola stand entschlossen auf, bevor Ainné sie auch noch zum Geschirrspülen verdonnerte. An sich machte es ihr nichts aus, im Haushalt zu helfen, aber sie hatte den Verdacht, dass Ainné sie bald genauso behandeln würde wie ihr Vater Shawna, wenn sie hier nicht gleich Grenzen zog.
Das Zimmer im ersten Stock war wie erwartet winzig, ging aber zum See hinaus. Die Aussicht war hinreißend, zumal hier gerade keine Wohnwagen den Blick versperrten.
»Wo schläft eigentlich Patrick?«, fragte sie beiläufig, weniger aus echtem Interesse, als um etwas zu sagen.
Alan lachte. »Doch ein bisschen geflirtet, ja? Gib's zu, es wäre nicht schlecht, wenn er unter deinem Fenster Gitarre spielte! Aber Spaß beiseite, die Helfer sind ziemlich primitiv untergebracht, da müsste man mal was dran ändern. Pat schläft in einem alten Wohnwagen hinter dem Bootshaus. Ziemlich jämmerlich, wenn du mich fragst. Und im Winter feucht. Aber dann ist er ja wieder in Dublin. Ich glaube, er kann's kaum erwarten.«
Alan McNamara half seiner Tochter, die Koffer heraufzuschleppen und den Laptop aufzubauen. Mit der Internetverbindung klappte es allerdings nicht gleich. Viola hoffte, dass ihr Vater es richten konnte - er war recht geschickt mit Computern, schüttelte jetzt aber bedauernd den Kopf. »Ich muss leider los, Süße, abendlicher Rundgang um die Scholle. Irgendwas mit den Klos an der Ostecke war nicht in Ordnung, meinte Patrick, mal gucken, ob ich das hinkriege ... und in der zweiten Reihe Wohnwagen haben sich welche über die Leute in einem der Zelte beschwert, die sollen wohl nachts kiffen ...«
Ihr Vater drückte Viola rasch ein Küsschen auf die Stirn, dann verschwand er nach unten. Guinness, der kleine Hund, schaute etwas verwirrt von ihm zu Viola, schloss sich dann aber seinem Herrn an. Viola hörte, wie Mann und Hund die Holztreppen hinunterliefen und von Ainné ein paar Anweisungen erhielten. Dabei hätte sie fast schadenfroh gelächelt.
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Autoren-Porträt von Sarah Lark
Sarah Lark, geb. 1958, studierte Psychologie und promovierte über das Thema 'agträume'. Nebenbei arbeitete sie lange Jahre als Reiseleiterin. Schon immer war sie fasziniert von den Sehnsuchtsorten dieser Erde. Ihre fesselnden Neuseelandromane fanden sofort ein großes Lesepublikum und sind Dauerbrenner auf der Bestsellerliste. Sarah Lark ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Schriftstellerin. Sie lebt in Spanien. Unter dem Autorennamen Ricarda Jordan entführt sie ihre Leser auch ins farbenprächtige Mittelalter.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sarah Lark
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2012, 2. Aufl., 416 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Baumhaus Medien
- ISBN-10: 3843200475
- ISBN-13: 9783843200479
- Erscheinungsdatum: 20.01.2012
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