Maria, Mord und Mandelplätzchen
Weihnachtskrimis von Sylt bis zur Zugspitze. Originalausgabe
Erst 1, dann 2, dann 3, dann 4, dann steht der Mörder vor der Tür! Und das nicht nur in der Nachbarschaft: Gemeuchelt, vergiftet und die Waffe gezückt wird innerhalb ganz Deutschlands - und das zur Weihnachtszeit!
Besinnlichkeit war...
Besinnlichkeit war...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
10.30 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Maria, Mord und Mandelplätzchen “
Erst 1, dann 2, dann 3, dann 4, dann steht der Mörder vor der Tür! Und das nicht nur in der Nachbarschaft: Gemeuchelt, vergiftet und die Waffe gezückt wird innerhalb ganz Deutschlands - und das zur Weihnachtszeit!
Besinnlichkeit war gestern, denn jetzt lehren uns die besten Regiokrimi-Autoren das Fürchten. Sehen Sie sich also vor, wenn es an Heiligabend bei Ihnen an der Haustür klingelt!
Besinnlichkeit war gestern, denn jetzt lehren uns die besten Regiokrimi-Autoren das Fürchten. Sehen Sie sich also vor, wenn es an Heiligabend bei Ihnen an der Haustür klingelt!
Klappentext zu „Maria, Mord und Mandelplätzchen “
Erst 1, dann 2, dann 3, dann 4, dann steht der Mörder vor der Tür! Und das nicht nur in der Nachbarschaft: Gemeuchelt, vergiftet und die Waffe gezückt wird innerhalb ganz Deutschlands - und das zur Weihnachtszeit! Besinnlichkeit war gestern, denn jetzt lehren uns die besten Regiokrimi-Autoren das Fürchten. Sehen Sie sich also vor, wenn es an Heiligabend bei Ihnen an der Haustür klingelt...
Lese-Probe zu „Maria, Mord und Mandelplätzchen “
Maria, Mord und Mandelplätzchen von Michelle Stöger (Hrsgb.)GISA PAULY
Her mit dem Zimtstern - oder ich beiße!
SYLT
Sylter Rundschau, 15. 12.
... mehr
Urlauber von Möwen angegriffen! Touristen mussten in der Nordsee-Klinik behandelt werden! - Sylter Naturschützer warnen immer eindringlicher davor, Möwen zu füttern. Dadurch verlieren die Tiere die Angst vor den Menschen und holen sich Fischbrötchen, Eiskugeln, Zimtwaffeln und Crêpes aus den Händen fl anierender Feriengäste. Die Gemeinde Westerland, so fordern die Naturschützer, soll endlich das Füttern der Möwen verbieten, damit sich die Vögel wieder art gemäß verhalten. Kümmerliche Verhältnisse waren das damals auf der Hallig Jordsand, in der großen Brutkolonie im Watt. Ein paar Fische, um die man sich balgen musste, Muscheln, Krebstiere, Insekten, Würmer und Schnecken. Gelegentlich ein paar Eier aus fremden Gelegen oder mal ein Küken, das sich nicht wehren konnte. Alles sehr mühsam. Haben Sie sich mal überlegt, wie man als Silbermöwe klarkommt? Ja, das dachte ich mir. Aber dann meckern, wenn man nach einfachen Wegen sucht! Abfälle von einer Mülldeponie? Igitt! Wer nur eine einzige Saison über der Friedrichstraße und der Kurpromenade kreist, wird unweigerlich zum Feinschmecker. Jedenfalls in der Hauptsaison. Während der Nach- und Nebensaison darf man nicht wählerisch sein, da muss man sehen, wo man bleibt. Aber zum Glück gibt es die Zwischensaison, in der Sylt so voll ist wie im Sommer, weil die Touristen über den Hindenburgdamm kommen, sobald ein hoher Feiertag in Sicht ist. Egal, wie das Wetter ist. Nach dem langen entbehrungsreichen November, in dem bei Gosch nicht mal die Abfallbehälter was hergeben, geht es Anfang Dezember schon los mit den Holzhäuschen, die die Lokale vor ihren Eingängen errichten, damit sich die Touristen einbilden können, sie säßen im Freien, weil sie unter ihren Füßen das Pflaster der Friedrichstraße haben und trotz der Heizstrahler ihre Mäntel anbehalten müssen. Ab dem Nikolaustag sind alle Touristen auf Sylt in Weihnachtsstimmung. Wie zufrieden die dann aussehen! Als hätten sie dem Christkind ein Schnippchen geschlagen! Und uns Möwen auch. Dabei merkt jede Silbermöwe spätestens am ersten Advent, dass ein paar bequeme Sitzgarnituren direkt an die Flaniermeile gerückt worden sind, über deren Rückenlehnen warme Decken hängen. Da kuscheln sich die Touristen so fest hinein, dass sie ihre Hände erst befreit haben, wenn ich mit ihrer Ofenkartoffel schon auf und davon bin. Einmal habe ich sogar ein paar Krabben in der Sour Cream erwischt. Bereits gepult! Sensationell! Allerdings durfte ich mich danach eine Weile nicht mehr in Westerland City blicken lassen.
Sylter Rundschau, 17. 12.
Schwerer Zwischenfall auf der Friedrichstraße! Ein Ehepaar, das gestern vor dem Café Orth einen Imbiss einnahm, wurde von einer rabiaten Silbermöwe angegriffen. Das Tier ging äußerst aggressiv vor. Nachdem es mit einem einzigen Flügelschlag die beleuchteten Rentiere vom Eingang gefegt hatte, stürzte es sich auf ein Tellergericht, das soeben serviert worden war. Dabei fügte die Möwe dem Kellner, der die Gäste schützen wollte, eine nicht unerhebliche Wunde zu und griff den Gast, der sich auf seine Ofenkartoffel warf, derart brutal an, dass ein Krankenwagen geholt werden musste. Die Möwe hinterließ eine Spur der Verwüstung. Das Café Orth musste für mehrere Tage wegen Renovierungsarbeiten geschlossen werden. Lieber Himmel, war das ein Theater! Ich kreiste noch eine Weile über der Friedrichstraße, um mir aus sicherer Höhe anzusehen, was unter mir passierte, aber unterhaltsam war das nicht. Dann kam ich jedoch auf die Idee, mir die Unaufmerksamkeit der Touristen zunutze zu machen. Einige hatten nämlich, als sich der Kellner mit einer Gabel bewaffnete, ihre Pharisäer und Toten Tanten - heißen Kakao mit Rum - im Stich gelassen und auch vergessen, dass sie sich Christstollen bestellt hatten. Sie hatten nur noch Augen und Ohren für den Gast, der seiner Ofenkartoffel hinterher schrie. Aber wie gesagt - danach durfte ich mich in der Friedrichstraße nicht mehr blicken lassen. Ich weiß, wann genug ist. Es gibt ja noch die vielen Ferienwohnungen, die in der Zwischensaison durchweg ausgebucht sind. Klar, die Balkontüren sind nicht so häufig geöffnet wie im Sommer, aber gelüftet wird immer mal. Und komischerweise wollen die meisten Touristen auch im Urlaub einen Weihnachtsbaum haben, um das Fest zu feiern, vor dem sie nach Sylt geflüchtet sind. Während das Bäumchen aus dem Auto gehoben, vors Haus getragen, begutachtet, in den Garten geschleppt, noch einmal begutachtet und schließlich auf den Balkon gehievt wird, bleiben die Türen offen stehen. Alles Weitere ist nur eine Sache des Mutes. Das ältere Ehepaar, das in ein reetgedecktes Haus in der Nähe der Dorfkirche St. Niels gezogen war, kannte ich übrigens schon. Die machten bereits auf Sylt Urlaub, als ich gerade der Brutkolonie den Rücken gekehrt hatte, um mein Leben in und über Westerland zu genießen. Ich kann mich noch gut an das Gekreische der Frau erinnern, als ich ihr zum ersten Mal einen Besuch in ihrer Küche abstattete, wo ein Fisch in der Pfanne schmurgelte. Fuhr mir der Schreck ins Gefieder, als sie zu schreien anfing! Kein Wunder, dass mein Magen-Darm-Trakt außer Kontrolle geriet. Und war es vielleicht meine Schuld, dass ich vorher stundenlang im Blaubeerfeld geschwelgt hatte? Auch dass ich erst im zweiten Anlauf die Terrassentür traf, lag nicht an meiner Orientierungslosigkeit, sondern an der schrillen Stimme der Frau, die schon im Zustand der Friedfertigkeit schwer zu ertragen war. Auf dem Gartenzaun musste ich mich erst mal von dem Gezeter erholen. Von dort konnte ich auch beobachten, wie sie die Bilder wieder gerade hängte, an dem Teppichboden herumschrubbte und sich so laut über die violetten Flecken aufregte, dass der Pfarrer von St. Niels erschien, um seelischen Beistand anzubieten. Allerdings zog er sich schnell wieder zurück, nachdem er aufgefordert worden war, die Möwenscheiße zu entfernen, statt darauf zu warten, dass sie durchs Vaterunser von selbst verschwand. Ihr Mann stellte sich sogar auf meine Seite. »Wärst du nicht auf die Möwe losgegangen, hätte sie nicht die Nerven verloren.« Doch das kam gar nicht gut an. »Hilf mir lieber, statt Sprüche zu klopfen! Aber du bist ja zu faul, deinen Hintern zu heben.« Das war eine ihrer harmlosesten Antworten. Die anderen habe ich nicht verstanden, sie schienen aber direkt ins Zentrum der männlichen Ehre gezielt und auch getroffen zu haben. Trottel, Weihnachtsmann, Schnarchzapfen, Niete ... solche hässlichen Wörter fielen. Eine wirklich unangenehme Person! Dass der Mann es immer noch mit ihr aushält, ist mir unbegreiflich. Wie gesagt, seit Jahren kommen die beiden nach Sylt und gönnen sich während ihres Urlaubs kein freundliches Wort. Weihnachten ist es besonders schlimm. Schon im letzten Jahr waren die beiden von Heiligabend bis Silvester so schlecht gelaunt, dass es kaum auszuhalten war. Er hatte angeblich ein Weihnachtsgeschenk für sie gekauft, das es im Sonderangebot gegeben hatte, während sie das Teuerste ausgesucht hatte, was die Sansibar- Boutique zu bieten hatte. »Von meinem Geld«, hatte der Mann erwidert. »Da lässt sich gut großzügig sein.« Hätte er bloß seinen Mund gehalten! Zwar konnte ich mich, während sie ihm lang und breit von den Mühen des Hausfrauenlebens erzählte, in aller Ruhe über das Weihnachtsgebäck hermachen, das in der Nähe der geöffneten Balkontür stand, aber bei dem Gekeife ging es mir quer runter. Und als der arme Mann kurz darauf unter den Verdacht geriet, das Gebäck heimlich gegessen zu haben, das sie sogar noch in der heimischen Küche hergestellt hatte, tat er mir leid. Ich wünschte ihm ein Paar Flügel, so dass er einfach abheben und seiner Frau auf den Kopf ... na, Sie wissen schon.
Sylter Rundschau, 18. 12.
Die Touristen, die die Weihnachtsfeiertage und den Jahreswechsel auf Sylt verleben, werden dringend gebeten, geöffnete Fenster und Türen zu beaufsichtigen, um Möwen das Eindringen zu verwehren, besonders wenn kleine Kinder im Haus sind. Die Möwen stürzen sich auf alles, was essbar ist. Es kommt immer häufiger vor, dass die Tiere in Wohnhäuser eindringen. Sollte das geschehen sein, wird geraten, den Möwen in der Nähe der Tür etwas Essbares vorzuwerfen, damit sie die Wohnung wieder verlassen. Und bitte schreien oder verfolgen Sie das Tier nicht. Eine Möwe, die sich bedrängt fühlt, wird äußerst aggressiv,
erst recht, wenn sie die Orientierung verliert und den Ausgang nicht auf Anhieb findet. Und wieder fragen die Sylter Naturschützer: Wann wird die Verwaltung endlich aktiv und verbietet das Füttern der Möwen? Ein paar Tage vor Weihnachten, und die Terrassentür stand weit offen. Wie eine Einladung zum vorgezogenen Heiligabend! Die Frau war gerade mit einer Einkaufstasche losgezogen, natürlich nicht, ohne ihrem Mann vorher zuzurufen, er könne auch mal die Lebensmittel besorgen, immer müsse sie sich abschleppen, aber er meinte, es reiche ja schon, wenn er das Geld verdiene. Ich ließ mich am Rande der Blumenbeete nieder und stellte erfreut fest, dass der Mann auf die Terrasse trat. Wahrscheinlich wollte er heimlich eine Zigarette rauchen, weil er die fünf, die ihm seine Frau täglich zubilligte, bereits inhaliert hatte. Das war schade, denn er blieb dann immer in der Nähe der Tür stehen und würde mir den Weg in die Küche versperren.
Doch was war das? Diesmal schien er nicht ans Rauchen zu denken. Er zog sich sogar seine dicke Jacke über, während er sonst immer mit der Zigarette in der Hand frierend von einem Bein aufs andere trat und die Ermahnungen seiner Frau, er würde sich den Tod holen, in den Wind pustete. Nun aber kam er in den Garten und sah sich aufmerksam um. Er schien mich gar nicht wahrzunehmen. In seinem Gesicht stand ein Ausdruck, den ich sonst nur bei Menschen gesehen habe, ehe sie die Flinte auf eine zutrauliche Möwe anlegten. Im November waren am Strand von Westerland tatsächlich einige Jäger aufgetaucht und hatten versucht, der Möwenplage, wie sie es nannten, auf ihre Weise Herr zu werden. Aber zum Glück war das strengstens untersagt worden. Die Sylter Weihnachtsurlauber sollten nicht durch Gewehrsalven und erst recht nicht durch Möwenkadaver erschreckt werden, die ihnen auf der Kurpromenade vor die Füße fielen. Der Mann sah sich erneut prüfend um, blickte zu den Balkons und Fenstern der Nachbarhäuser, als wollte er sicher gehen, dass er unbeobachtet blieb, und näherte sich dabei unauffällig dem Blumenbeet am Ende des kleinen Gartens. Derart unauffällig, dass es sogar mir auffiel, obwohl Silbermöwen eigentlich
nur darauf aus sind, sich möglichst schnell, bequem und umfangreich zu ernähren. Sensibilität, Umsicht, Uneigennützigkeit ... so was macht einen nicht satt. Ich flatterte Richtung Terrassentür, ohne den Mann aus den Augen zu lassen. Das war dumm von mir, ich wusste es. Vernünftiger wäre es gewesen, mich schnurstracks in die Küche zu begeben, mir zu schnappen, was auf dem Küchentisch stand, und schleunigst zu verschwinden. Aber ich konnte den Blick einfach nicht von dem Mann und seinem merkwürdigen Verhalten abwenden. Noch einmal sah er sich vorsichtig um, dann holte er ein Paar Handschuhe aus der Jackentasche und zog sie an. Bedächtig neigte er sich zu einer Pflanze herab und betrachtete sie eingehend. So, als überlegte er, ob es Sinn mache, sie zu beschneiden, damit sie im Frühjahr besonders kräftig ausschlug. Nun wurde mir die Sache langweilig. Ich hüpfte auf die Terrassentür zu und spähte in die Wohnung. Auf dem Küchentisch sah ich nichts Essbares, auf der Anrichte auch nicht, und sämtliche Schranktüren waren geschlossen. Sehr ärgerlich! Aber so leicht gab eine Silbermöwe nicht auf! Ich hüpfte zurück und wunderte mich ein wenig, dass der Mann mich noch immer nicht zur Kenntnis nahm. Er konzentrierte sich derart auf diese Pflanze, dass er alles um sich herum zu vergessen schien. Vielleicht ging er gleich zurück in die Küche und kümmerte sich um eine kleine Zwischenmahlzeit, um seiner Frau ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern? Darauf wollte ich noch warten. Geöffnete Terrassentüren waren in der Zwischensaison ohnehin selten genug, so dass man sie unbedingt im Auge behalten musste. Vorsichtig grub der Mann nun die Pflanze aus, streckte die Wurzeln weit von sich und betrachtete sie, obwohl er sie sicherlich genauer hätte in Augenschein nehmen können, wenn er sie dichter vors Gesicht gehalten hätte. Man konnte meinen, diese Pflanze sei etwas sehr Kostbares, so vorsichtig und respektvoll ging er mit ihr um. Er ließ sie nicht aus dem Blick, während er zur Mülltonne ging und den Deckel aufklappte, schloss dann aber ängstlich die Augen, während er die Stiele abbrach und den Deckel der Mülltonne herabfallen ließ, als sollte niemand sehen, was er dort entsorgt hatte. Dann nahm er die Wurzeln in beide Hände und trug sie feierlich in die Küche. Er hatte mich noch immer nicht bemerkt, obwohl er nur wenige Meter an mir vorbeigegangen war. Er hatte nur Augen für diese komische Wurzeln, die keinerlei Geruch ausströmten und mich deshalb kein bisschen interessierten. Gelangweilt schlug ich mit den Flügeln und wollte mich gerade in die Lüfte erheben, da sah ich, dass der Mann eine Schranktür öffnete und eine Dose herausnahm. Mir lief das Wasser im Schnabel zusammen. Das war die Dose mit dem Weihnachtsgebäck! Die Frau hatte wirklich nicht viele gute Eigenschaften, aber backen konnte sie, das musste man ihr lassen. Ihre Lebkuchen waren sensationell. Gleich nach ihrer Ankunft auf Sylt hatte ich ein Stück klauen können, als die Dose offen in der Nähe der Terrassentür stand. Ich legte die Flügel wieder an und hüpfte unauffällig über die Terrasse. Vielleicht hatte ich Glück, und das Telefon läutete. So wie neulich ein Haus weiter, als ich auf diese Weise zu einer Marzipankartoffel gekommen war.
Doch leider verlief die ganze Angelegenheit sehr unbefriedigend für mich. Das Telefon blieb stumm, ständig hielt sich der Mann in der Nähe des Weihnachtsgebäcks auf und ließ es nicht aus den Augen, während er die Wurzeln der Pflanze wusch, schälte und schließlich in winzige Würfel zerschnitt. Dann mischte er Puderzucker mit Zitronensaft und rührte so lange in dem Zuckerguss herum, dass mir schon wieder ganz fad wurde. Hätte ich nicht gewusst, dass in der Dose köstliche Zimtsterne waren, wäre ich längst zur Kurpromenade geflogen, um mich in der Nähe des Imbiss-Standes umzuschauen, der heiße Crêpes verkaufte. Dann aber traute ich meinen Augen nicht. Der Mann mischte ein paar Würfel der zerkleinerten Wurzeln in den Zuckerguss. Dann holte er einen Backpinsel, suchte den schönsten und größten Zimtstern aus der Gebäckdose und verpasste ihm eine zweite Glasur. Die feinen Würfel der Blumenwurzeln sahen aus wie gehackte Mandeln. Hm, lecker! Der Zimtstern hätte bei Leysieffer nicht köstlicher aussehen können! Aber was half's? Wenn der Mann noch lange dastand und den Zimtstern betrachtete, als hätte er die englischen Kronjuwelen vor sich, würde ich wohl versuchen müssen, vor dem Café Wien ein paar Weihnachtsurlauber zu erschrecken, damit sie ihren Apfelstrudel im Stich ließen. Oder schräg gegenüber, vor dem Black & White, wo sie unter dem Heizpilz saßen und versuchten, den warmen Kirschkuchen mit ihren dicken Fäustlingen zu essen. Ein gefundenes Fressen für eine Silbermöwe! Obwohl ich sagen muss, dass für mich nichts über selbstgebackene Weihnachtsplätzchen geht. Das Cappuccinotörtchen, das ich neulich einer Frau aus der Hand stibitzt habe, kaum dass die Tür vom Café Luzifer hinter ihr zugefallen war, schmeckte auch nicht schlecht, aber wie gesagt ... Zimtsterne sind für mich das Höchste. Erst recht mit ganz viel Zuckerguss. Deswegen zog es mich auch eine Stunde später noch einmal in die Nähe von St. Niels, um zu sehen, ob die Terrassentür noch immer geöffnet war. Nein, sie war geschlossen. Leider! Die Frau stand auf der Terrasse, und ich hörte, wie sie durch die geschlossene Scheibe rief: »Das könnte dir so passen! Immer willst du den Zimtstern mit der dicksten Glasur! Dabei bin ich es, die stundenlang in der Küche steht und bäckt!« Die Antwort des Mannes war nicht zu hören. Wahrscheinlich hatte er sich hinter einer Zeitung verschanzt, wie ich es schon im Sommer beobachtet hatte, und versuchte zu vergessen, dass er verheiratet war. Die Frau trug eine Winterjacke, schlammfarben, wie sie gut zu ihrem Teint passte. So dick wattiert war sie, dass ihr Körper die Ausmaße eines Sumo-Ringers angenommen hatte. Sie verzichtete darauf, die Kapuze über den Kopf zu ziehen, vermutlich, weil sie am Morgen beim Friseur gewesen war und die Innenrolle schützen wollte, die man ihr dort geföhnt hatte. Sie zog die Augenbrauen so hoch, dass sie unter dem ebenso sorgfältig geföhnten Pony verschwanden, und sah mich misstrauisch an. »Runter von unserem Gartenzaun! Wehe, du vergreifst dich an meinem Zimtstern!«
Tatsächlich hätte ich am liebsten etwas geschrien, was sich anhörte wie: »Her mit dem Zimtstern - oder ich beiße!« Aber mir blieb das Krächzen im Halse stecken. Denn kaum hatte die Frau ein Stück von dem Zimtstern abgebissen und genießerisch gekaut, war auch schon Schluss mit dem Genuss. Als sie den Zimtstern ein zweites Mal zwischen die Vorderzähne nahm, griff sie sich plötzlich an den Hals, wechselte die Gesichtsfarbe von fahl zu purpur und schließlich sogar zu violett. Dann fiel sie wortlos vornüber ins Gras, den Zimtstern noch zwischen den Lippen. Ihr Kopf federte auf der fleischigen Nase ein-, zweimal,
und sie gab einen Laut von sich, als wollte sie ihrem Mann eine letzte Gemeinheit an den Kopf werfen. Doch dazu kam es nicht mehr. Ihr dicker Hintern vibrierte noch ein Weilchen, ihre Vorderzähne verkeilten sich in dem Zimtstern, die frisch geföhnte Innenrolle wippte, dann entspannte sich ihr Körper. Ich machte zwei, drei entschlossene Flügelschläge und ließ mich neben ihr nieder. Auf dem Balkon in der ersten Etage des Nachbarhauses schrie jemand: »Die Möwe! Die Möwe!« Aber das ließ mich kalt. Ich wollte den Zimtstern! Und zwar sofort! Ehe die Frau wieder aufwachte und ehe der Mann kam, um ihr zu helfen. Doch beides blieb aus. Die Frau rührte sich nicht, und hinter der Terrassentür war alles ruhig. Nur im Nachbarhaus wurde noch immer gerufen: »Die Möwe! Die Möwe!« Ich hatte Mühe, der Frau den Zimtstern abzunehmen, der immer noch zwischen ihren verkrampften Schneidezähnen steckte. Eilig hackte ich auf ihre Jacketkronen ein, pickte in ihre Mundwinkel, schlug meinen Schnabel in ihre Lippen, bis ich endlich den dicken Zimtstern mit der doppelten Glasur ergattert hatte. Die Stimmen aus dem Nachbarhaus waren noch immer weit entfernt, ich konnte es mir also sparen, meine Beute in Sicherheit zu bringen, bevor ich sie verschlang.
Sylter Rundschau, 20. 12.
Die Forderung, das Füttern von Möwen nicht nur zu verbieten, sondern sogar unter Strafe zu stellen, hat neue Nahrung erhalten. Gestern geschah in der Nähe der alten Dorfkirche St. Niels ein schreckliches Unglück: Ein weiblicher Feriengast wurde von einer Möwe angegriffen, die ihr böse Gesichtsverletzungen beibrachte. Zeugen haben beobachtet, wie das Tier auf die Frau einhackte, die bereits am Boden lag. Warum diese Attacke zum Tod der Frau führte, konnte bisher nicht geklärt werden. Möglicherweise erlitt sie aufgrund des Schreckens einen Herzstillstand. Ebenfalls ist unklar, warum auch die Möwe ihren Angriff
mit dem Leben bezahlte. Der leblose Tierkörper wurde kurz nach dem Auffinden der weiblichen Leiche in einem Blumenbeet entdeckt. Sylter Rundschau, Weihnachtsausgabe. Die Obduktion sowohl der weiblichen Leiche als auch der Silbermöwe hat nun ergeben, dass die Frau nicht an den Verletzungen gestorben ist, die ihr von der Möwe zugefügt wurden. Beide, die Frau und die Möwe, starben eindeutig an dem Gift des Blauen Eisenhuts. Offenbar hat das Tier das Gift irgendwo aufgenommen und es bei seiner Attacke auf die Frau übertragen. Es sieht so aus, als hätte die Gemeinde Westerland zu lange gezögert,
das Füttern der Möwen unter Strafe zu stellen und die Tiere wieder zu artgerechtem Verhalten zu führen. Um dem Ehemann der Verstorbenen ihre Anteilnahme auszudrücken, hat die Stadtverwaltung ihm angeboten, die Weihnachtsfeiertage auf Kosten der Insel Sylt im Hotel Stadt Hamburg zu verleben, um sich dort von dem schweren Schicksalsschlag zu erholen. Wie man hört, hat der Witwer daraufhin verlauten lassen, er wolle auf eine Klage gegen die Stadt Westerland verzichten.
AUTORENVITA
Gisa Pauly war Lehrerin an einer kaufmännischen Berufsschule, bevor sie 1994 »ausstieg«. Seitdem arbeitet sie als freie Schriftstellerin, Journalistin und Drehbuchautorin. Sie veröffentlichte sechzehn Bücher, am bekanntesten sind ihre Sylt-Krimis um Mamma Carlotta. Der fünfte Band Inselzirkus stürmte sogar die Spiegel-Bestsellerliste. Neben ihrer Arbeit als Schriftstellerin schreibt sie regelmäßig mit an der ARD-Serie Sturm der Liebe.
HELGA BEYERSDÀRFER
Die Spur des Bussards
OSTSEEBAD SCHARBEUTZ
Wir feiern Weihnachten alleine. Jede für sich. Jahr für Jahr. Wir - das sind Ella und ich. Wie sie wirklich heißt, weiß ich nicht. Ich habe noch nie ein Wort mit ihr gewechselt. Den Namen habe ich für sie ausgesucht, weil ich finde, dass er zu meinem Namen Emily gut passt. Das gefällt mir, denn schließlich begleitet Ella meine Tage und ich die ihren, sie sieht mir beim Alleinsein zu und ich ihr. Jahr für Jahr. Das schweißt zusammen. Über unsere kleine Straße hinweg beobachten wir uns gegenseitig jeden Morgen dabei, wie wir die Gardinen zur Seite schieben, das Fenster öffnen, anschließend in die Küche gehen, Kaffee kochen und das Frühstück zubereiten. Ich bevorzuge ein weichgekochtes Ei, Ella zieht es vor, sich ein Spiegelei zu braten. Das weiß ich, weil jede von uns bei warmem Wetter an einem kleinen Klapptisch auf einem winzigen Balkon frühstückt. Unsere Balkone sind sich so nahe, dass wir uns über unser schmales Gässchen hinweg beinahe die Hände reichen könnten. Versucht haben wir das allerdings noch nie. Immerhin sind wir inzwischen schon vertraut genug, uns zuzunicken. Von Balkon zu Balkon oder, wie zurzeit, von Fenster zu Fenster. Ella hat die liebenswürdige Angewohnheit, jede Jahreszeit und jeden Feiertag mit einem entsprechenden Tischschmuck zu würdigen.
Copyright © 2011 bei Knaur Taschenbuch
Urlauber von Möwen angegriffen! Touristen mussten in der Nordsee-Klinik behandelt werden! - Sylter Naturschützer warnen immer eindringlicher davor, Möwen zu füttern. Dadurch verlieren die Tiere die Angst vor den Menschen und holen sich Fischbrötchen, Eiskugeln, Zimtwaffeln und Crêpes aus den Händen fl anierender Feriengäste. Die Gemeinde Westerland, so fordern die Naturschützer, soll endlich das Füttern der Möwen verbieten, damit sich die Vögel wieder art gemäß verhalten. Kümmerliche Verhältnisse waren das damals auf der Hallig Jordsand, in der großen Brutkolonie im Watt. Ein paar Fische, um die man sich balgen musste, Muscheln, Krebstiere, Insekten, Würmer und Schnecken. Gelegentlich ein paar Eier aus fremden Gelegen oder mal ein Küken, das sich nicht wehren konnte. Alles sehr mühsam. Haben Sie sich mal überlegt, wie man als Silbermöwe klarkommt? Ja, das dachte ich mir. Aber dann meckern, wenn man nach einfachen Wegen sucht! Abfälle von einer Mülldeponie? Igitt! Wer nur eine einzige Saison über der Friedrichstraße und der Kurpromenade kreist, wird unweigerlich zum Feinschmecker. Jedenfalls in der Hauptsaison. Während der Nach- und Nebensaison darf man nicht wählerisch sein, da muss man sehen, wo man bleibt. Aber zum Glück gibt es die Zwischensaison, in der Sylt so voll ist wie im Sommer, weil die Touristen über den Hindenburgdamm kommen, sobald ein hoher Feiertag in Sicht ist. Egal, wie das Wetter ist. Nach dem langen entbehrungsreichen November, in dem bei Gosch nicht mal die Abfallbehälter was hergeben, geht es Anfang Dezember schon los mit den Holzhäuschen, die die Lokale vor ihren Eingängen errichten, damit sich die Touristen einbilden können, sie säßen im Freien, weil sie unter ihren Füßen das Pflaster der Friedrichstraße haben und trotz der Heizstrahler ihre Mäntel anbehalten müssen. Ab dem Nikolaustag sind alle Touristen auf Sylt in Weihnachtsstimmung. Wie zufrieden die dann aussehen! Als hätten sie dem Christkind ein Schnippchen geschlagen! Und uns Möwen auch. Dabei merkt jede Silbermöwe spätestens am ersten Advent, dass ein paar bequeme Sitzgarnituren direkt an die Flaniermeile gerückt worden sind, über deren Rückenlehnen warme Decken hängen. Da kuscheln sich die Touristen so fest hinein, dass sie ihre Hände erst befreit haben, wenn ich mit ihrer Ofenkartoffel schon auf und davon bin. Einmal habe ich sogar ein paar Krabben in der Sour Cream erwischt. Bereits gepult! Sensationell! Allerdings durfte ich mich danach eine Weile nicht mehr in Westerland City blicken lassen.
Sylter Rundschau, 17. 12.
Schwerer Zwischenfall auf der Friedrichstraße! Ein Ehepaar, das gestern vor dem Café Orth einen Imbiss einnahm, wurde von einer rabiaten Silbermöwe angegriffen. Das Tier ging äußerst aggressiv vor. Nachdem es mit einem einzigen Flügelschlag die beleuchteten Rentiere vom Eingang gefegt hatte, stürzte es sich auf ein Tellergericht, das soeben serviert worden war. Dabei fügte die Möwe dem Kellner, der die Gäste schützen wollte, eine nicht unerhebliche Wunde zu und griff den Gast, der sich auf seine Ofenkartoffel warf, derart brutal an, dass ein Krankenwagen geholt werden musste. Die Möwe hinterließ eine Spur der Verwüstung. Das Café Orth musste für mehrere Tage wegen Renovierungsarbeiten geschlossen werden. Lieber Himmel, war das ein Theater! Ich kreiste noch eine Weile über der Friedrichstraße, um mir aus sicherer Höhe anzusehen, was unter mir passierte, aber unterhaltsam war das nicht. Dann kam ich jedoch auf die Idee, mir die Unaufmerksamkeit der Touristen zunutze zu machen. Einige hatten nämlich, als sich der Kellner mit einer Gabel bewaffnete, ihre Pharisäer und Toten Tanten - heißen Kakao mit Rum - im Stich gelassen und auch vergessen, dass sie sich Christstollen bestellt hatten. Sie hatten nur noch Augen und Ohren für den Gast, der seiner Ofenkartoffel hinterher schrie. Aber wie gesagt - danach durfte ich mich in der Friedrichstraße nicht mehr blicken lassen. Ich weiß, wann genug ist. Es gibt ja noch die vielen Ferienwohnungen, die in der Zwischensaison durchweg ausgebucht sind. Klar, die Balkontüren sind nicht so häufig geöffnet wie im Sommer, aber gelüftet wird immer mal. Und komischerweise wollen die meisten Touristen auch im Urlaub einen Weihnachtsbaum haben, um das Fest zu feiern, vor dem sie nach Sylt geflüchtet sind. Während das Bäumchen aus dem Auto gehoben, vors Haus getragen, begutachtet, in den Garten geschleppt, noch einmal begutachtet und schließlich auf den Balkon gehievt wird, bleiben die Türen offen stehen. Alles Weitere ist nur eine Sache des Mutes. Das ältere Ehepaar, das in ein reetgedecktes Haus in der Nähe der Dorfkirche St. Niels gezogen war, kannte ich übrigens schon. Die machten bereits auf Sylt Urlaub, als ich gerade der Brutkolonie den Rücken gekehrt hatte, um mein Leben in und über Westerland zu genießen. Ich kann mich noch gut an das Gekreische der Frau erinnern, als ich ihr zum ersten Mal einen Besuch in ihrer Küche abstattete, wo ein Fisch in der Pfanne schmurgelte. Fuhr mir der Schreck ins Gefieder, als sie zu schreien anfing! Kein Wunder, dass mein Magen-Darm-Trakt außer Kontrolle geriet. Und war es vielleicht meine Schuld, dass ich vorher stundenlang im Blaubeerfeld geschwelgt hatte? Auch dass ich erst im zweiten Anlauf die Terrassentür traf, lag nicht an meiner Orientierungslosigkeit, sondern an der schrillen Stimme der Frau, die schon im Zustand der Friedfertigkeit schwer zu ertragen war. Auf dem Gartenzaun musste ich mich erst mal von dem Gezeter erholen. Von dort konnte ich auch beobachten, wie sie die Bilder wieder gerade hängte, an dem Teppichboden herumschrubbte und sich so laut über die violetten Flecken aufregte, dass der Pfarrer von St. Niels erschien, um seelischen Beistand anzubieten. Allerdings zog er sich schnell wieder zurück, nachdem er aufgefordert worden war, die Möwenscheiße zu entfernen, statt darauf zu warten, dass sie durchs Vaterunser von selbst verschwand. Ihr Mann stellte sich sogar auf meine Seite. »Wärst du nicht auf die Möwe losgegangen, hätte sie nicht die Nerven verloren.« Doch das kam gar nicht gut an. »Hilf mir lieber, statt Sprüche zu klopfen! Aber du bist ja zu faul, deinen Hintern zu heben.« Das war eine ihrer harmlosesten Antworten. Die anderen habe ich nicht verstanden, sie schienen aber direkt ins Zentrum der männlichen Ehre gezielt und auch getroffen zu haben. Trottel, Weihnachtsmann, Schnarchzapfen, Niete ... solche hässlichen Wörter fielen. Eine wirklich unangenehme Person! Dass der Mann es immer noch mit ihr aushält, ist mir unbegreiflich. Wie gesagt, seit Jahren kommen die beiden nach Sylt und gönnen sich während ihres Urlaubs kein freundliches Wort. Weihnachten ist es besonders schlimm. Schon im letzten Jahr waren die beiden von Heiligabend bis Silvester so schlecht gelaunt, dass es kaum auszuhalten war. Er hatte angeblich ein Weihnachtsgeschenk für sie gekauft, das es im Sonderangebot gegeben hatte, während sie das Teuerste ausgesucht hatte, was die Sansibar- Boutique zu bieten hatte. »Von meinem Geld«, hatte der Mann erwidert. »Da lässt sich gut großzügig sein.« Hätte er bloß seinen Mund gehalten! Zwar konnte ich mich, während sie ihm lang und breit von den Mühen des Hausfrauenlebens erzählte, in aller Ruhe über das Weihnachtsgebäck hermachen, das in der Nähe der geöffneten Balkontür stand, aber bei dem Gekeife ging es mir quer runter. Und als der arme Mann kurz darauf unter den Verdacht geriet, das Gebäck heimlich gegessen zu haben, das sie sogar noch in der heimischen Küche hergestellt hatte, tat er mir leid. Ich wünschte ihm ein Paar Flügel, so dass er einfach abheben und seiner Frau auf den Kopf ... na, Sie wissen schon.
Sylter Rundschau, 18. 12.
Die Touristen, die die Weihnachtsfeiertage und den Jahreswechsel auf Sylt verleben, werden dringend gebeten, geöffnete Fenster und Türen zu beaufsichtigen, um Möwen das Eindringen zu verwehren, besonders wenn kleine Kinder im Haus sind. Die Möwen stürzen sich auf alles, was essbar ist. Es kommt immer häufiger vor, dass die Tiere in Wohnhäuser eindringen. Sollte das geschehen sein, wird geraten, den Möwen in der Nähe der Tür etwas Essbares vorzuwerfen, damit sie die Wohnung wieder verlassen. Und bitte schreien oder verfolgen Sie das Tier nicht. Eine Möwe, die sich bedrängt fühlt, wird äußerst aggressiv,
erst recht, wenn sie die Orientierung verliert und den Ausgang nicht auf Anhieb findet. Und wieder fragen die Sylter Naturschützer: Wann wird die Verwaltung endlich aktiv und verbietet das Füttern der Möwen? Ein paar Tage vor Weihnachten, und die Terrassentür stand weit offen. Wie eine Einladung zum vorgezogenen Heiligabend! Die Frau war gerade mit einer Einkaufstasche losgezogen, natürlich nicht, ohne ihrem Mann vorher zuzurufen, er könne auch mal die Lebensmittel besorgen, immer müsse sie sich abschleppen, aber er meinte, es reiche ja schon, wenn er das Geld verdiene. Ich ließ mich am Rande der Blumenbeete nieder und stellte erfreut fest, dass der Mann auf die Terrasse trat. Wahrscheinlich wollte er heimlich eine Zigarette rauchen, weil er die fünf, die ihm seine Frau täglich zubilligte, bereits inhaliert hatte. Das war schade, denn er blieb dann immer in der Nähe der Tür stehen und würde mir den Weg in die Küche versperren.
Doch was war das? Diesmal schien er nicht ans Rauchen zu denken. Er zog sich sogar seine dicke Jacke über, während er sonst immer mit der Zigarette in der Hand frierend von einem Bein aufs andere trat und die Ermahnungen seiner Frau, er würde sich den Tod holen, in den Wind pustete. Nun aber kam er in den Garten und sah sich aufmerksam um. Er schien mich gar nicht wahrzunehmen. In seinem Gesicht stand ein Ausdruck, den ich sonst nur bei Menschen gesehen habe, ehe sie die Flinte auf eine zutrauliche Möwe anlegten. Im November waren am Strand von Westerland tatsächlich einige Jäger aufgetaucht und hatten versucht, der Möwenplage, wie sie es nannten, auf ihre Weise Herr zu werden. Aber zum Glück war das strengstens untersagt worden. Die Sylter Weihnachtsurlauber sollten nicht durch Gewehrsalven und erst recht nicht durch Möwenkadaver erschreckt werden, die ihnen auf der Kurpromenade vor die Füße fielen. Der Mann sah sich erneut prüfend um, blickte zu den Balkons und Fenstern der Nachbarhäuser, als wollte er sicher gehen, dass er unbeobachtet blieb, und näherte sich dabei unauffällig dem Blumenbeet am Ende des kleinen Gartens. Derart unauffällig, dass es sogar mir auffiel, obwohl Silbermöwen eigentlich
nur darauf aus sind, sich möglichst schnell, bequem und umfangreich zu ernähren. Sensibilität, Umsicht, Uneigennützigkeit ... so was macht einen nicht satt. Ich flatterte Richtung Terrassentür, ohne den Mann aus den Augen zu lassen. Das war dumm von mir, ich wusste es. Vernünftiger wäre es gewesen, mich schnurstracks in die Küche zu begeben, mir zu schnappen, was auf dem Küchentisch stand, und schleunigst zu verschwinden. Aber ich konnte den Blick einfach nicht von dem Mann und seinem merkwürdigen Verhalten abwenden. Noch einmal sah er sich vorsichtig um, dann holte er ein Paar Handschuhe aus der Jackentasche und zog sie an. Bedächtig neigte er sich zu einer Pflanze herab und betrachtete sie eingehend. So, als überlegte er, ob es Sinn mache, sie zu beschneiden, damit sie im Frühjahr besonders kräftig ausschlug. Nun wurde mir die Sache langweilig. Ich hüpfte auf die Terrassentür zu und spähte in die Wohnung. Auf dem Küchentisch sah ich nichts Essbares, auf der Anrichte auch nicht, und sämtliche Schranktüren waren geschlossen. Sehr ärgerlich! Aber so leicht gab eine Silbermöwe nicht auf! Ich hüpfte zurück und wunderte mich ein wenig, dass der Mann mich noch immer nicht zur Kenntnis nahm. Er konzentrierte sich derart auf diese Pflanze, dass er alles um sich herum zu vergessen schien. Vielleicht ging er gleich zurück in die Küche und kümmerte sich um eine kleine Zwischenmahlzeit, um seiner Frau ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern? Darauf wollte ich noch warten. Geöffnete Terrassentüren waren in der Zwischensaison ohnehin selten genug, so dass man sie unbedingt im Auge behalten musste. Vorsichtig grub der Mann nun die Pflanze aus, streckte die Wurzeln weit von sich und betrachtete sie, obwohl er sie sicherlich genauer hätte in Augenschein nehmen können, wenn er sie dichter vors Gesicht gehalten hätte. Man konnte meinen, diese Pflanze sei etwas sehr Kostbares, so vorsichtig und respektvoll ging er mit ihr um. Er ließ sie nicht aus dem Blick, während er zur Mülltonne ging und den Deckel aufklappte, schloss dann aber ängstlich die Augen, während er die Stiele abbrach und den Deckel der Mülltonne herabfallen ließ, als sollte niemand sehen, was er dort entsorgt hatte. Dann nahm er die Wurzeln in beide Hände und trug sie feierlich in die Küche. Er hatte mich noch immer nicht bemerkt, obwohl er nur wenige Meter an mir vorbeigegangen war. Er hatte nur Augen für diese komische Wurzeln, die keinerlei Geruch ausströmten und mich deshalb kein bisschen interessierten. Gelangweilt schlug ich mit den Flügeln und wollte mich gerade in die Lüfte erheben, da sah ich, dass der Mann eine Schranktür öffnete und eine Dose herausnahm. Mir lief das Wasser im Schnabel zusammen. Das war die Dose mit dem Weihnachtsgebäck! Die Frau hatte wirklich nicht viele gute Eigenschaften, aber backen konnte sie, das musste man ihr lassen. Ihre Lebkuchen waren sensationell. Gleich nach ihrer Ankunft auf Sylt hatte ich ein Stück klauen können, als die Dose offen in der Nähe der Terrassentür stand. Ich legte die Flügel wieder an und hüpfte unauffällig über die Terrasse. Vielleicht hatte ich Glück, und das Telefon läutete. So wie neulich ein Haus weiter, als ich auf diese Weise zu einer Marzipankartoffel gekommen war.
Doch leider verlief die ganze Angelegenheit sehr unbefriedigend für mich. Das Telefon blieb stumm, ständig hielt sich der Mann in der Nähe des Weihnachtsgebäcks auf und ließ es nicht aus den Augen, während er die Wurzeln der Pflanze wusch, schälte und schließlich in winzige Würfel zerschnitt. Dann mischte er Puderzucker mit Zitronensaft und rührte so lange in dem Zuckerguss herum, dass mir schon wieder ganz fad wurde. Hätte ich nicht gewusst, dass in der Dose köstliche Zimtsterne waren, wäre ich längst zur Kurpromenade geflogen, um mich in der Nähe des Imbiss-Standes umzuschauen, der heiße Crêpes verkaufte. Dann aber traute ich meinen Augen nicht. Der Mann mischte ein paar Würfel der zerkleinerten Wurzeln in den Zuckerguss. Dann holte er einen Backpinsel, suchte den schönsten und größten Zimtstern aus der Gebäckdose und verpasste ihm eine zweite Glasur. Die feinen Würfel der Blumenwurzeln sahen aus wie gehackte Mandeln. Hm, lecker! Der Zimtstern hätte bei Leysieffer nicht köstlicher aussehen können! Aber was half's? Wenn der Mann noch lange dastand und den Zimtstern betrachtete, als hätte er die englischen Kronjuwelen vor sich, würde ich wohl versuchen müssen, vor dem Café Wien ein paar Weihnachtsurlauber zu erschrecken, damit sie ihren Apfelstrudel im Stich ließen. Oder schräg gegenüber, vor dem Black & White, wo sie unter dem Heizpilz saßen und versuchten, den warmen Kirschkuchen mit ihren dicken Fäustlingen zu essen. Ein gefundenes Fressen für eine Silbermöwe! Obwohl ich sagen muss, dass für mich nichts über selbstgebackene Weihnachtsplätzchen geht. Das Cappuccinotörtchen, das ich neulich einer Frau aus der Hand stibitzt habe, kaum dass die Tür vom Café Luzifer hinter ihr zugefallen war, schmeckte auch nicht schlecht, aber wie gesagt ... Zimtsterne sind für mich das Höchste. Erst recht mit ganz viel Zuckerguss. Deswegen zog es mich auch eine Stunde später noch einmal in die Nähe von St. Niels, um zu sehen, ob die Terrassentür noch immer geöffnet war. Nein, sie war geschlossen. Leider! Die Frau stand auf der Terrasse, und ich hörte, wie sie durch die geschlossene Scheibe rief: »Das könnte dir so passen! Immer willst du den Zimtstern mit der dicksten Glasur! Dabei bin ich es, die stundenlang in der Küche steht und bäckt!« Die Antwort des Mannes war nicht zu hören. Wahrscheinlich hatte er sich hinter einer Zeitung verschanzt, wie ich es schon im Sommer beobachtet hatte, und versuchte zu vergessen, dass er verheiratet war. Die Frau trug eine Winterjacke, schlammfarben, wie sie gut zu ihrem Teint passte. So dick wattiert war sie, dass ihr Körper die Ausmaße eines Sumo-Ringers angenommen hatte. Sie verzichtete darauf, die Kapuze über den Kopf zu ziehen, vermutlich, weil sie am Morgen beim Friseur gewesen war und die Innenrolle schützen wollte, die man ihr dort geföhnt hatte. Sie zog die Augenbrauen so hoch, dass sie unter dem ebenso sorgfältig geföhnten Pony verschwanden, und sah mich misstrauisch an. »Runter von unserem Gartenzaun! Wehe, du vergreifst dich an meinem Zimtstern!«
Tatsächlich hätte ich am liebsten etwas geschrien, was sich anhörte wie: »Her mit dem Zimtstern - oder ich beiße!« Aber mir blieb das Krächzen im Halse stecken. Denn kaum hatte die Frau ein Stück von dem Zimtstern abgebissen und genießerisch gekaut, war auch schon Schluss mit dem Genuss. Als sie den Zimtstern ein zweites Mal zwischen die Vorderzähne nahm, griff sie sich plötzlich an den Hals, wechselte die Gesichtsfarbe von fahl zu purpur und schließlich sogar zu violett. Dann fiel sie wortlos vornüber ins Gras, den Zimtstern noch zwischen den Lippen. Ihr Kopf federte auf der fleischigen Nase ein-, zweimal,
und sie gab einen Laut von sich, als wollte sie ihrem Mann eine letzte Gemeinheit an den Kopf werfen. Doch dazu kam es nicht mehr. Ihr dicker Hintern vibrierte noch ein Weilchen, ihre Vorderzähne verkeilten sich in dem Zimtstern, die frisch geföhnte Innenrolle wippte, dann entspannte sich ihr Körper. Ich machte zwei, drei entschlossene Flügelschläge und ließ mich neben ihr nieder. Auf dem Balkon in der ersten Etage des Nachbarhauses schrie jemand: »Die Möwe! Die Möwe!« Aber das ließ mich kalt. Ich wollte den Zimtstern! Und zwar sofort! Ehe die Frau wieder aufwachte und ehe der Mann kam, um ihr zu helfen. Doch beides blieb aus. Die Frau rührte sich nicht, und hinter der Terrassentür war alles ruhig. Nur im Nachbarhaus wurde noch immer gerufen: »Die Möwe! Die Möwe!« Ich hatte Mühe, der Frau den Zimtstern abzunehmen, der immer noch zwischen ihren verkrampften Schneidezähnen steckte. Eilig hackte ich auf ihre Jacketkronen ein, pickte in ihre Mundwinkel, schlug meinen Schnabel in ihre Lippen, bis ich endlich den dicken Zimtstern mit der doppelten Glasur ergattert hatte. Die Stimmen aus dem Nachbarhaus waren noch immer weit entfernt, ich konnte es mir also sparen, meine Beute in Sicherheit zu bringen, bevor ich sie verschlang.
Sylter Rundschau, 20. 12.
Die Forderung, das Füttern von Möwen nicht nur zu verbieten, sondern sogar unter Strafe zu stellen, hat neue Nahrung erhalten. Gestern geschah in der Nähe der alten Dorfkirche St. Niels ein schreckliches Unglück: Ein weiblicher Feriengast wurde von einer Möwe angegriffen, die ihr böse Gesichtsverletzungen beibrachte. Zeugen haben beobachtet, wie das Tier auf die Frau einhackte, die bereits am Boden lag. Warum diese Attacke zum Tod der Frau führte, konnte bisher nicht geklärt werden. Möglicherweise erlitt sie aufgrund des Schreckens einen Herzstillstand. Ebenfalls ist unklar, warum auch die Möwe ihren Angriff
mit dem Leben bezahlte. Der leblose Tierkörper wurde kurz nach dem Auffinden der weiblichen Leiche in einem Blumenbeet entdeckt. Sylter Rundschau, Weihnachtsausgabe. Die Obduktion sowohl der weiblichen Leiche als auch der Silbermöwe hat nun ergeben, dass die Frau nicht an den Verletzungen gestorben ist, die ihr von der Möwe zugefügt wurden. Beide, die Frau und die Möwe, starben eindeutig an dem Gift des Blauen Eisenhuts. Offenbar hat das Tier das Gift irgendwo aufgenommen und es bei seiner Attacke auf die Frau übertragen. Es sieht so aus, als hätte die Gemeinde Westerland zu lange gezögert,
das Füttern der Möwen unter Strafe zu stellen und die Tiere wieder zu artgerechtem Verhalten zu führen. Um dem Ehemann der Verstorbenen ihre Anteilnahme auszudrücken, hat die Stadtverwaltung ihm angeboten, die Weihnachtsfeiertage auf Kosten der Insel Sylt im Hotel Stadt Hamburg zu verleben, um sich dort von dem schweren Schicksalsschlag zu erholen. Wie man hört, hat der Witwer daraufhin verlauten lassen, er wolle auf eine Klage gegen die Stadt Westerland verzichten.
AUTORENVITA
Gisa Pauly war Lehrerin an einer kaufmännischen Berufsschule, bevor sie 1994 »ausstieg«. Seitdem arbeitet sie als freie Schriftstellerin, Journalistin und Drehbuchautorin. Sie veröffentlichte sechzehn Bücher, am bekanntesten sind ihre Sylt-Krimis um Mamma Carlotta. Der fünfte Band Inselzirkus stürmte sogar die Spiegel-Bestsellerliste. Neben ihrer Arbeit als Schriftstellerin schreibt sie regelmäßig mit an der ARD-Serie Sturm der Liebe.
HELGA BEYERSDÀRFER
Die Spur des Bussards
OSTSEEBAD SCHARBEUTZ
Wir feiern Weihnachten alleine. Jede für sich. Jahr für Jahr. Wir - das sind Ella und ich. Wie sie wirklich heißt, weiß ich nicht. Ich habe noch nie ein Wort mit ihr gewechselt. Den Namen habe ich für sie ausgesucht, weil ich finde, dass er zu meinem Namen Emily gut passt. Das gefällt mir, denn schließlich begleitet Ella meine Tage und ich die ihren, sie sieht mir beim Alleinsein zu und ich ihr. Jahr für Jahr. Das schweißt zusammen. Über unsere kleine Straße hinweg beobachten wir uns gegenseitig jeden Morgen dabei, wie wir die Gardinen zur Seite schieben, das Fenster öffnen, anschließend in die Küche gehen, Kaffee kochen und das Frühstück zubereiten. Ich bevorzuge ein weichgekochtes Ei, Ella zieht es vor, sich ein Spiegelei zu braten. Das weiß ich, weil jede von uns bei warmem Wetter an einem kleinen Klapptisch auf einem winzigen Balkon frühstückt. Unsere Balkone sind sich so nahe, dass wir uns über unser schmales Gässchen hinweg beinahe die Hände reichen könnten. Versucht haben wir das allerdings noch nie. Immerhin sind wir inzwischen schon vertraut genug, uns zuzunicken. Von Balkon zu Balkon oder, wie zurzeit, von Fenster zu Fenster. Ella hat die liebenswürdige Angewohnheit, jede Jahreszeit und jeden Feiertag mit einem entsprechenden Tischschmuck zu würdigen.
Copyright © 2011 bei Knaur Taschenbuch
... weniger
Autoren-Porträt von Susanne Mischke, Ingrid Noll, Tatjana Kruse, Sabine Thomas, Volker Klüpfel, Helga Beyersdörfer, Gisa Klönne, Nicola Förg, Richard Birkefeld, Sandra Lüpkes
Volker Klüpfel teilt mit Kluftinger den Heimatort Altusried. Doch den ehemaligen Journalisten hat es beruflich nach Augsburg verschlagen. Dort lebt er nach wie vor mit seiner Familie, auch wenn ihn sein Beruf nun nicht mehr in die Kulturredaktion der Augsburger Allgemeinen, sondern an seinen Autoren-Schreibtisch führt. Studiert hat Klüpfel, Jahrgang 1971, Politik und Geschichte in Bamberg, arbeitete dann bei einer Zeitung in den USA und vertreibt sich seine Zeit mit Sport und Theater - entweder als Zuschauer oder als Mitspieler bei den Freilichtspielen in Altusried. Wie Kommissar Kluftinger.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Susanne Mischke , Ingrid Noll , Tatjana Kruse , Sabine Thomas , Volker Klüpfel , Helga Beyersdörfer , Gisa Klönne , Nicola Förg , Richard Birkefeld , Sandra Lüpkes
- 2011, Nachdr., 317 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Herausgegeben von Stöger, Michelle
- Herausgegeben: Michelle Stöger
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426510138
- ISBN-13: 9783426510131
Kommentare zu "Maria, Mord und Mandelplätzchen"
4 von 5 Sternen
5 Sterne 1Schreiben Sie einen Kommentar zu "Maria, Mord und Mandelplätzchen".
Kommentar verfassen