Maroni, Mord und Hallelujah
Kriminelle Weihnachten
Weihnachten hat sich Kommissar Merana anders vorgestellt. Dass er mitten auf dem berühmten Salzburger Christkindlmarkt plötzlich dem Christkind gegenübersteht, passt ja noch ganz gut zur weihnachtlichen Idylle. Aber dass dieses Christkind mit einer Pistole...
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Klappentext zu „Maroni, Mord und Hallelujah “
Weihnachten hat sich Kommissar Merana anders vorgestellt. Dass er mitten auf dem berühmten Salzburger Christkindlmarkt plötzlich dem Christkind gegenübersteht, passt ja noch ganz gut zur weihnachtlichen Idylle. Aber dass dieses Christkind mit einer Pistole auf ihn zielt, stört den Weihnachtsfrieden doch erheblich. Und schon ist der Kommissar unfreiwilliger Hauptdarsteller einer aberwitzigen Rallye durch das weihnachtliche Salzburg, mit grimmigen Schiachperchten und verschwundenen Erzengeldarstellern.
Lese-Probe zu „Maroni, Mord und Hallelujah “
Maroni, Mord und Hallelujah von Manfred Baumann... mehr
Er nahm vorsichtig einen Schluck, verbrannte sich dennoch leicht die Zunge. Und noch einmal
vermeinte er, dieses seltsame Lächeln in Carolas Augen wahrzunehmen. Doch er kam nicht dazu,
sich weiter Gedanken darüber zu machen, denn er spürte plötzlich einen heftigen Stoß
im Rücken. Er drehte sich um, und konnte mit der freien Hand gerade noch verhindern, dass
ein Mann mit dunkler Jacke und Umhängetasche zu Boden stürzte.
»Hallo, was ist mit Ihnen los? Ist Ihnen schlecht?«
Der Mann stöhnte. Seine Beine gaben nach, und er sackte in den Schnee. Merana vermochte ihn
nicht zu halten. Ein paar der Umstehenden hatten die Szene mitbekommen. Rufe des Erschreckens
wurden laut.
»Was ist denn mit dem los? Hat der zu viel gesoffen?«, kreischte eine Frau im orangefarbenen
Anorak. Merana reichte Otmar seinen Becher und ging in die Hocke. Carola hatte sich
ebenfalls hinuntergebeugt und versuchte, den Mann an der Jacke zu fassen, um ihm aufzuhelfen.
Das Stöhnen wurde lauter. Die Chefinspektorin zog erschrocken die Hand zurück. Rote
Flecken zeigten sich auf ihren Fingern.
»Blut. Der Mann ist schwer verletzt.« Nun war kein Lächeln mehr in ihrem Gesicht, nur
Verwirrung. Merana richtete sich auf. Ist ein Arzt hier?, wollte er rufen, doch was er in
diesem Augenblick sah, ließ ihn innehalten. Vor ihm stand das Christkind. Das wäre an sich
noch nicht verwunderlich gewesen auf dem Salzburger Christkindlmarkt. Aber das Christkind
hatte eine Pistole in der Hand. Und diese Pistole zielte auf den Kommissar.
»Gehen Sie von dem Mann weg!«, rief das Christkind. Die dunkle, fast rauchige Mezzosopranstimme
passte so gar nicht zum goldenen Gewand, dem blondgelockten Haar und den
weißen Engelsflügeln der Person. Merana hätte eine glockenhelle Stimme erwartet, mehr
kindlich oder mädchenhaft.
»Zurück, oder ich schieße!« Die Mezzosopranstimme wechselte in eine höhere Lage.
Bin ich in einer total durchgeknallten Traumsequenz?, hallte es in Meranas vom Glühwein leicht
diffusem Kopf. Sitze ich gleich schweißgebadet in meinem Bett, froh, dass alles nur ein
Traum ist? Aber die Pistole in der Hand des Christkindes war echt. Daran bestand kein
Zweifel. Eine Glock 20, Kaliber 10 Millimeter. Und die Waffe war auf ihn gerichtet. Das machte
ihm Angst. Er spürte, wie sich in seinem Magen etwas zusammenschnürte wie ein
schweres, nasses Bündel von Tannenzweigen.
»Komm, Martin, die meint es ernst.« Carola packte ihn am Arm und zog ihn zurück, weg von dem
Mann, der immer noch röchelnd vor ihnen im Schnee kauerte. Merana konnte nicht fassen, was
sich hier seinen Augen bot, mitten auf dem Salzburger Christkindlmarkt, über dessen
lichterhell geschmückten Ständen weiterhin der Klang der Posaunen schwebte. Vom Himmel hoch,
da komm ich her. Von dort kam diese merkwürdige Gestalt mit den großen Engelsflügeln
sicher nicht. Die Frau im Christkindkostüm, die mit einem Revolver auf ihn zielte, wirkte
total irdisch. Was machte sie hier? Was hatte sie mit dem verwundeten Mann auf dem Boden
zu tun? Hatte sie ihn angeschossen? Die Gedanken in Meranas Kopf begannen sich zu drehen
wie ein Engelskarussel, angetrieben von der aufsteigenden Hitze, entflammt durch Kerzen.
Inzwischen waren auch die meisten der Umstehenden auf die absonderliche Szene aufmerksam
geworden. Das aufgekratzte Geplauder erstarb allmählich. Alles starrte auf die Erscheinung
im goldenen Gewand mit den Engelsflügeln, auf das Christkind, das mit weit
nach vor gestreckten Armen eine Pistole in den Händen hielt.
»Is des iatzt a neuer Brauch da in Salzburg, von dem mia no nix wissen?«, rief ein dicklicher
Mann in Trachtenjoppe, dem Akzent nach unzweifelhaft ein Bayer. Er machte einen
entschlossenen Schritt auf das Christkind zu. »He du, Dirndl, willst uns du da für bled
verkafa …?« Weiter kam der Bayer nicht, denn in diesem Augenblick erschallte ein vielstimmiges
Halleee! Halleee! Hallehelluuujah! Eine Schar kleiner Gestalten stürmte aus
der Gasse zwischen Glühweinhütte und Duftkerzenstand, gekleidet in bunte Joppen und
Schaffelljacken, mit Hirtenstöcken und Musikinstrumenten. Es hat sich halt eröffnet das
himmlische Tor!, sangen die Hirtenkinder und drückten den Leuten vor den Ständen kleine
Päckchen in die Hände. Die Engalan, die kugalan ganz haufenweis hervor …! Gleich hinter den
Hirtenkindern tauchten weitere Gestalten auf, riesig, zottelig, furchteinflößend, als
wären sie einem Fantasyfilm entsprungen. Die Perchten aus dem Gasteinertal. Sie machten mit
ihren umgeschnallten riesigen Kuhglocken einen Höllenlärm. Merana hatte gelesen, dass die
finsteren Gestalten aus Gastein heute ihren Auftritt am Salzburger Christkindlmarkt
hätten. Aber er hätte sich nicht träumen lassen, dass er plötzlich mitten unter ihnen war.
Schellengeläute und wildes Rufen erfüllten den Platz, dazwischen gellte das
Gekreische erschrockener Besucher, und die Kinder hüpften weiterhin fröhlich zwischen den
Leuten herum und sangen Halleee! Halleee! Hallehelluuujahn!
Hoffentlich dreht die Frau mit der Pistole jetzt nicht durch. Wenn die ihre Nerven wegschmeißt
und in diesem undurchsichtigen Tumult zu schießen anfängt, dann gibt das ein Massaker.
Meranas Angst wuchs. Das Bündel nasser sticheliger Tannenzweige in seinem Magen schwoll an,
blähte sich auf. Er spürte seinen Herzschlag im Hals. Die Hirtenkinder und die
Zottelperchten drängten die Menschen auf dem Platz auseinander, schoben sich weiterhin mit
Gesang und Gebrüll zwischen die Leute. Auch Merana und Carola wurden von einem Zweimeterwesen
mit weiß-braunem Fell und beeindruckend mächtigen gedrehten Hörnern auf dem Kopf gegen die
Frontwand der Glühweinhütte gedrückt. Der gesamte Auftritt dauerte keine halbe Minute,
dann war die wilde Schar schon an ihnen vorbei und stapfte weiter in Richtung
Franziskanerkirche. Die Besucher an der Glühweinhütte waren ganz benommen vom eben erlebten
Spektaktel. Die Italienerinnen hatten sich erschrocken beim breitschultrigen Bayern
untergehakt. Sie zitterten am ganzen Leib.
»Wo ist die Frau mit der Waffe?«
Merana sah sich um. Das Christkind war weg! Keine Spur von der Blondgelockten mit der Glock 20.
Und zu seiner totalen Verwunderung musste der Kommissar feststellen: Auch der
verletzte Mann war verschwunden!
»Habt ihr etwas gesehen?« Merana musste schreien, um den Lärmpegel rings um sie zu übertönen.
Alle riefen durcheinander. Carola und Otmar schüttelten die Köpfe, blickten hektisch nach
allen Seiten. »Das darf es doch nicht geben. Wo ist die Frau hin? Und was ist mit dem
Verletzten?«
Im zertrampelten Schnee lag nur mehr die Umhängetasche, die der Verwundete bei sich gehabt
hatte. Merana bückte sich danach. Neben der Tasche entdeckte er eine kleine Papiertüte. Er hob
die Tasche auf. Sie war aus schwarzem Stoff. Auf der Vorderseite prangte ein großes Peace-
Zeichen in schrillem Rot. In der Tasche fand er einige Folder mit der Ankündigung zu
einem Adventsingen und fünf kleine Kugeln in Silberpapier.
»Mozartkugeln.«
»Das sind dieselben wie in den Päckchen der Hirtenkinder.« Carola deutete auf das kleine
Präsent, das ihr eines der vorbeistürmenden Kinder in die Hand gedrückt hatte. Eine Einladung
zum Adventsingen, samt Tannenzweig und Original Salzburger Mozartkugel.
»Und da sind Maroni drin.« Otmar Braunberger hatte die Papiertüte, die neben der Tasche gelegen
war, geöffnet. Merana starrte in die Gesichter seiner Mitarbeiter. Sie waren ähnlich
verwirrt wie er selbst. Was war hier eben passiert? Ein Mann war gegen ihn gestürzt,
zusammengebrochen, offenbar schwer verletzt. Keine zwei Sekunden später stand plötzlich eine
Frau im Christkindkostüm vor ihnen, bewaffnet mit einer Glock 20 Halbautomatik. Und wer
weiß, was die Kostümierte mit dem einschreitenden Mann aus Bayern angerichtet hätte, wären
nicht gleich darauf wild gewordene Hirtenkinder und Perchten über den Platz gestürmt. Und
nun waren alle verschwunden: Zottelperchten, Kinder und vor allem der Verwundete und das
bewaffnete Christkind.
»Ich kümmere mich um Verstärkung. Wir müssen die Verrückte einfangen.« Otmar hatte schon sein
Handy gezückt. Merana nickte. Sie mussten die Frau finden, die Waffe sicherstellen. Aber
die Frage, die ihn mindestens genauso beschäftigte: Wer war der schwer verletzte Mann, und
wo war er hingekommen?
»Komm, Carola. Wir suchen den Maronistand auf. Vielleicht kann sich jemand an den Mann mit der
Umhängetasche erinnern.« Er rannte los, die Chefinspektorin folgte ihm. Sich am
Maronistand zu erkundigen, war nur ein schwacher Versuch, Licht in diesen rätselhaften Vorfall
zu bekommen, aber sie mussten etwas unternehmen. Die Tüte mit den gebratenen Kastanien
konnte auch jemand anderer verloren haben. Es war schwierig, sich einen Weg durch die Massen
der Besucher zu bahnen. Allerlei Gerüche erreichten Meranas Nase: Punscharomen, der Duft
von Würsten und gebrannten Mandeln. Eine Frau im Pelzmantel versperrte dem Kommissar den
Weg. Sie hielt mit leuchtendem Gesicht zwei große mundgeblasene Glaskugeln hoch,
Christbaumschmuck von besonders feiner Ausführung, die sie eben an einem der
Kunsthandwerksstände erworben hatte. Sie kreischte auf, als Merana keine fünf Zentimeter vor
ihr abbremste. Vor Schreck öffnete sie die linke Hand, ließ das rote Band los. Merana
tauchte ab in die Hocke und konnte die Glaskugel gerade noch auffangen, bevor sie auf dem
Boden zerbarst. Die Frau war völlig verdattert, stotterte ein »Thank you, Sir« mit britischem
Akzent heraus, als der Kommissar ihr die Kugel samt Band wieder in die Hand legte. Dann
stürmte er weiter. Carola war ihm bereits einige Meter voraus. Sie erreichten die
Dombögen, umkurvten einen Mann mit Trachtenhut, der einen zusammengeschnürten Christbaum durch
die Menge balancierte, wandten ihre Schritte nach links und drängten sich durch eine
Gruppe kichernder Asiaten. Was soll das bedeuten? intonierten nun die Posaunen vor der
Kathedrale, die Melodie eines alten Weihnachtsliedes aus Schlesien. Ja, was soll das alles
bedeuten?, fragte sich auch Merana, als sie endlich beim Maronibrater ankamen. Doch zu dem
schaufelbewehrten Mann durchzukommen, der mit routinierten Bewegungen Papiertüten mit
gerösteten Kastanien füllte, war nicht einfach. An die 20 Personen standen dichtgedrängt vor
dem heißen Ofen. Die Unmutsäußerungen, die Merana und der Chefinspektorin entgegen
schlugen, waren vielsprachig: salzburgisch, wienerisch, sächsisch, tschechisch, japanisch.
Doch die beiden Ermittler hatten keine Zeit, sich um Völkerverständigung zu kümmern.
»Herr Kommissar!«, rief der Mann mit der Maronischaufel aufgeregt, als Merana es bis zu ihm
geschafft hatte. Trotz der Hitze, die der Maroniofen ausstrahlte, trug der Maronibrater eine
rote Zipfelmütze. »Guat, dass Sie daherkommen, schauen S’ amoi!« Der Mann fasste in die
große Tasche seiner blauen Schürze und hielt dem Kommissar einen länglichen dunklen
Gegenstand vors Gesicht, in der Größe eines Handy. Aber das war kein Handy. Das war eindeutig
das Stangenmagazin einer Glock-Pistole, passend für 15 Patronen. Merana war verwirrt.
»Woher kennen Sie mich?«, fragte er den Mann hinter dem Maroniofen überrascht. Der starrte ihn
kurz an, dann schaute er auf die Chefinspektorin, die sich eben an einer Frau im gelben
Anorak vorbeigedrängt hatte. »Woher ich Sie kenne …?« Carola wurde unwirsch. »Das spielt
doch jetzt keine Rolle. Wahrscheinlich aus der Zeitung. Wo haben Sie dieses Magazin her?«
Der Zipfelmützenträger griff sich an den Kopf. »Genau, aus der Zeitung kenn i Eahna. Von irgend
so einem Mord …« Dann rief er laut: »Dieses Glumpert da hat die Gundi verloren, als sie
vor drei Minuten an meinem Stand vorbeig’rauscht ist wia a Raketenengel.«
»Welche Gundi?« Merana spähte schnell nach allen Seiten. Ringsum nur Leute, dichtgedrängt, mit
neugierigen Gesichtern. Das vielsprachige Fluchen hatte aufgehört, die Verwunderung über
die überraschend dargebotene Szene am Maronistand war ringsum gewachsen. »Ja die
Silberberger Gundi, unser Christkindlmarkt-Christkindl. Die hat doch heuer des Casting
gwonnen. Des war ein super Finale, sag i Eahna. Die Gundi und zwei andere, die eine aus St.
Gilgen, die andere direkt aus der Stadt …«
Merana machte eine energische Handbewegung. Was ihn jetzt garantiert nicht interessierte, waren
Klatschgeschichten über Castingausscheidungen am Christkindlmarkt.
»In welche Richtung ist diese Gundi gelaufen?«
Der Mann fuchtelte mit der Hand. »I woaß net genau. Da umi, Richtung Residenzplatz. Aber ob sie
dann zum Mozartplatz weiter is oder nach links zum Alten Markt hab i nimmer gsehn.« Merana
wandte sich an die Leute hinter ihm. »Hat von Ihnen jemand etwas gesehen? Haben Sie die
Frau bemerkt, die in einem Christkindkostüm hier vorbeigerannt ist?« Er blickte in
verdutzte japanische Gesichter, registrierte geschüttelte einheimische Köpfe. Carola fischte
ihr Handy aus der Tasche. »Ich verständige Otmar, der soll die Kollegen informieren. Sie
sollen die Suche ausdehnen: Alter Markt Richtung Getreidegasse, und Mozartplatz Richtung
Kaigasse und Salzachufer.«
Merana zückte ein Taschentuch, nahm dem Maronibrater das Magazin ab und wickelte es ein. Dann
hielt er ihm die mitgebrachte Umhängetasche unter die Nase. »War vorhin ein Mann an Ihrem
Stand, der diese Tasche bei sich trug?«
Der Angesprochene nickte, ein Leuchten schlich über sein stoppelbärtiges Gesicht.
»Klar! Die g’hört dem Raphael vom Adventsingen. Der kauft immer bei mir Maroni. Vor einer halben
Stunde war er da. Mia ham noch a bissl diskutiert, ob es heuer bei die
Besucherzahlen auch wieder einen neuen Rekord …«
»Sie meinen den Raphael Weiser?« Carola hatte ihr Telefonat beendet und mischte sich ins
Gespräch. »Der beim Echten Salzburger Adventsingen den Erzengel Gabriel spielt?«
»Aber nein!« Der Mann schüttelte heftig den Kopf, die Zipfelmütze wackelte bedrohlich. »Sie ham
ja keine Ahnung nicht! Dort ist der Raphael ja heuer gar nicht mehr. Der hat doch die
Seite gewechselt. Der ist jetzt bei der Konkurrenz, beim Ganz Echten Salzburger Adventsingen.
Darum streiten die Adventsinger heuer noch mehr als sonst, weil der Raphael sozusagen ein
Abtrünniger geworden ist.«
Dieser Zwist war Merana bekannt. Jedes Jahr im Advent das selbe Theater. Zwei einander
befetzende Veranstalter beim weihnachtlichen Spiel um Frieden und Harmonie.
»Haben Sie den Raphael Weiser danach noch einmal gesehen?«
»Naa, der war ja schon auf dem Weg zur Vorstellung, der hat doch glei Auftritt.«
Nein, dachte Merana, der wird heute wohl nicht mehr auftreten. Der läuft mit einer blutenden
Wunde durch das sich immer wilder gebärdende Schneetreiben. Falls er überhaupt noch laufen
konnte. Carola Salmann blickte ihren Chef an.
»Otmar hat 20 Kollegen angefordert, die treffen gleich ein. Er koordinert die Suche. Was machen
wir, Martin? Was schlägst du vor?«
»Wir suchen den angeschossenen Erzengel.«
»Was?« Der Aufschrei wurde begleitet von einem Scheppern. Dem erschrockenen Maronibrater war die
Metallschaufel aus der Hand gefallen. Seine Augen waren weit aufgerissen. »Angeschossen? …
Aber doch net der Raphael, oder?« Merana hatte keine Zeit für Erklärungen. »Komm, Carola.«
Er drängte sich durch die Umstehenden, die verblüfft, aber nicht mehr
unfreundlich, rasch eine Gasse bildeten.
»Auf, zum Echten Salzburger Adventsingen!« Abrupt bremste er ab. Der schmale, aber voll
durchtrainierte Körper seiner Stellvertreterin knallte gegen seinen Rücken.
»Entschuldige, Carola! Jetzt hätte ich es fast durcheinander gebracht. Wir müssen nicht zum
Echten sondern zum Ganz Echten Salzburger Adventsingen.« Er setzte sich wieder in Bewegung.
Echtes, Ganz Echtes … wer konnte das schon auseinander halten. Aber im Grund war es egal,
beide Veranstaltungen lagen von hier aus gesehen in derselben Richtung. Wieder war
es nicht so einfach, vorwärts zu kommen. Es war Freitagabend, und die Altstadt war
gerammelt voll mit Menschen. Keiner wollte sich diesen winterlich verschneiten Glitzerabend
samt Christkindlmarktambiente entgehen lassen. Erneut drehte sich der Gedankenkreisel in
Meranas Kopf. Das darf doch alles nicht wahr sein!, hämmerte es in seinem Schädel. Er
hatte sich einen geruhsamen Adventabend erwartet, ein paar nette Stunden mit den beiden von
ihm geschätzten Kollegen. Eine lockere Plauderei am Glühweinstand, ein wenig die
Atmosphäre genießen. Vor zwei Wochen hatten sie, wie immer vor Weihnachten, ihre Wichtel-
Geschenke-Adressaten gezogen. Er hatte dieses Mal Carola erwischt. Im vergangenen Jahr war es
der Chef gewesen. Und er hatte beim Wichtelziehen mit seinen Mitarbeitern noch gescherzt,
dass nun wieder die für Kriminalisten langweiligen Tage anfingen. Wo allenfalls
Taschendiebe und Christbaumstehler auf Beutetour waren. Aber erfahrungsgemäß kein Verbrechen
passierte, das eine Ermittlertruppe ihres Kalibers brauchte. Und jetzt rannte er mit
seiner Kollegin durchs nächtliche Schneegestöber und suchte einen angeschossenen Erzengel! Und
irgendwo unter den vielen Menschen, die zwischen Lichterketten, Punsch und Glühwein ihren
Spaß hatten, irrte auch noch ein Christkind herum. In der Hand eine Knarre. Einfach
absurd.
»Herr Kommissar! Warten Sie!«
Der Ruf ereilte sie knapp vor dem Ausgang in Richtung Franziskanerkirche. Merana und Carola
drehten sich um. Aus dem Flockenvorhang des Schneetreibens schälten sich die Umrisse von zwei
uniformierten Beamten. Das Licht, das von den Girlanden über ihnen und von den
Verkaufsbuden der Christkindlmarkthütten auf sie fiel, tauchte die beiden Gestalten in einen
nahezu überirdischen Schein. Der ältere von beiden tippte sich mit der Hand an die
verschneite Dienstkappe, als sie den Kommissar und die Chefinspektorin erreicht hatten. Merana
kannte die beiden Kollegen vom Sehen. Sie waren von der Polizeiinspektion Rathaus, die
gleich in der Nähe lag. Aus dem Funkgerät des Jüngeren ertönten abgehackte Kommandos. Merana
erkannte zwischendurch Otmars Stimme, der offenbar mit den einzelnen Suchtrupps in
Verbindung stand.
»Herr Kommissar, wir waren zufällig in der Nähe, Kontrollrundgang am Kapitelplatz, als uns die
Anweisung unseres Dienststellenleiters erreichte.« Gartlberger heißt der ältere Kollege,
fiel Merana plötzlich ein. Der Mann war etwas mehr außer Atem als der jüngere. Der
streckte ihnen die geöffnete Hand hin. Mit der anderen deutete er nach hinten zu einer der
Verkaufshütten, die handgeschnitzte Krippenfiguren aus Lindenholz anbot. »Dort hat eben ein
Mädchen das hier vom Boden aus dem Schnee aufgehoben.« Auf der ausgestreckten Hand des
Beamten lag ein kleines unförmiges Gebilde in Silber und Blau. Merana nahm den Gegenstand in
die Hand. Das Objekt war allem Anschein nach eine Mozartkugel, ziemlich flach gedrückt.
Offenbar war jemand auf die Schokoladensüßigkeit getreten. Das leicht deformierte
Konterfei des Komponisten auf der silbrigen Hülle war von einem dicken roten Fleck überzogen.
Merana tupfte mit dem Zeigefinger dagegen, nahm etwas von der Farbe auf und
steckte die Fingerkuppe in den Mund. Kein Zweifel, das war Blut.
»Hat das Mädchen beobachtet, wer die Kugel verloren hat?« Die beiden Beamten schüttelten den
Kopf. Der jüngere so heftig, dass ihm eine kleine Schneelawine vom Kappenrand ins Gesicht
rutschte. »Nein, hat sie nicht. Wir wollten noch die Standler befragen, aber da haben wir Sie
und die Chefinspektorin gesehen.« Es knackte im Funkgerät. Eine Stimme, die Merana nicht
kannte, beorderte alle Einsatzkräfte zum Mozartplatz. »Das ist unser Dienststellenleiter,
wir müssen weiter.« Merana nickte und bedankte sich bei den Kollegen. Vielleicht hatten
Otmar und die übrigen Einsatzkräfte eine Spur vom pistolenschwingenden Christkind. Sie
würden sich wieder auf die Suche nach dem verletzten Erzengel machen. Die blutverschmierte
Mozartkugel bestärkte die Zuversicht, dass der Mann hier mit großer Wahrscheinlichkeit
vorbeigekommen war. Merana wollte die plattgedrückte Süßigkeit in ein weiteres Taschentuch
wickeln, als ihm auf der Rückseite etwas auffiel.
»Wofür würdest du das halten, Carola?« Er rückte näher an eine der Laternen, damit sie mehr
Licht hatten. Die Chefinspektorin wischte behutsam die Schneeflocken ab, die sich auf die
zerdrückte Kugel in Meranas Hand gelegt hatten.
»Schaut aus wie aufgemalte Buchstaben …«
»Ja, das könnte ein A sein … und das eventuell ein L …« Er rückte noch näher an die Laterne,
versuchte mit der anderen Hand, die Silberfolie der zerquetschten Schokoladenkugel halbwegs in
die ursprüngliche Form zu bringen.
»Nein, Carola, das ist kein L. Das schaut eher aus wie ein C.« Er blickte sie an. Die
Chefinspektorin zuckte mit den Schultern. Sie konnte sich offenbar keinen Reim darauf machen.
Merana auch nicht. »Wieso schreibt jemand ein A und ein C auf eine Mozartkugel?« Die
Ratlosigkeit in Carola Salmans Gesicht glich jener in seinem eigenen. »Und warum trägt
ausgerechnet ein Erzengel-Darsteller diese Kugel bei sich?«
© Gmeiner Verlag
Er nahm vorsichtig einen Schluck, verbrannte sich dennoch leicht die Zunge. Und noch einmal
vermeinte er, dieses seltsame Lächeln in Carolas Augen wahrzunehmen. Doch er kam nicht dazu,
sich weiter Gedanken darüber zu machen, denn er spürte plötzlich einen heftigen Stoß
im Rücken. Er drehte sich um, und konnte mit der freien Hand gerade noch verhindern, dass
ein Mann mit dunkler Jacke und Umhängetasche zu Boden stürzte.
»Hallo, was ist mit Ihnen los? Ist Ihnen schlecht?«
Der Mann stöhnte. Seine Beine gaben nach, und er sackte in den Schnee. Merana vermochte ihn
nicht zu halten. Ein paar der Umstehenden hatten die Szene mitbekommen. Rufe des Erschreckens
wurden laut.
»Was ist denn mit dem los? Hat der zu viel gesoffen?«, kreischte eine Frau im orangefarbenen
Anorak. Merana reichte Otmar seinen Becher und ging in die Hocke. Carola hatte sich
ebenfalls hinuntergebeugt und versuchte, den Mann an der Jacke zu fassen, um ihm aufzuhelfen.
Das Stöhnen wurde lauter. Die Chefinspektorin zog erschrocken die Hand zurück. Rote
Flecken zeigten sich auf ihren Fingern.
»Blut. Der Mann ist schwer verletzt.« Nun war kein Lächeln mehr in ihrem Gesicht, nur
Verwirrung. Merana richtete sich auf. Ist ein Arzt hier?, wollte er rufen, doch was er in
diesem Augenblick sah, ließ ihn innehalten. Vor ihm stand das Christkind. Das wäre an sich
noch nicht verwunderlich gewesen auf dem Salzburger Christkindlmarkt. Aber das Christkind
hatte eine Pistole in der Hand. Und diese Pistole zielte auf den Kommissar.
»Gehen Sie von dem Mann weg!«, rief das Christkind. Die dunkle, fast rauchige Mezzosopranstimme
passte so gar nicht zum goldenen Gewand, dem blondgelockten Haar und den
weißen Engelsflügeln der Person. Merana hätte eine glockenhelle Stimme erwartet, mehr
kindlich oder mädchenhaft.
»Zurück, oder ich schieße!« Die Mezzosopranstimme wechselte in eine höhere Lage.
Bin ich in einer total durchgeknallten Traumsequenz?, hallte es in Meranas vom Glühwein leicht
diffusem Kopf. Sitze ich gleich schweißgebadet in meinem Bett, froh, dass alles nur ein
Traum ist? Aber die Pistole in der Hand des Christkindes war echt. Daran bestand kein
Zweifel. Eine Glock 20, Kaliber 10 Millimeter. Und die Waffe war auf ihn gerichtet. Das machte
ihm Angst. Er spürte, wie sich in seinem Magen etwas zusammenschnürte wie ein
schweres, nasses Bündel von Tannenzweigen.
»Komm, Martin, die meint es ernst.« Carola packte ihn am Arm und zog ihn zurück, weg von dem
Mann, der immer noch röchelnd vor ihnen im Schnee kauerte. Merana konnte nicht fassen, was
sich hier seinen Augen bot, mitten auf dem Salzburger Christkindlmarkt, über dessen
lichterhell geschmückten Ständen weiterhin der Klang der Posaunen schwebte. Vom Himmel hoch,
da komm ich her. Von dort kam diese merkwürdige Gestalt mit den großen Engelsflügeln
sicher nicht. Die Frau im Christkindkostüm, die mit einem Revolver auf ihn zielte, wirkte
total irdisch. Was machte sie hier? Was hatte sie mit dem verwundeten Mann auf dem Boden
zu tun? Hatte sie ihn angeschossen? Die Gedanken in Meranas Kopf begannen sich zu drehen
wie ein Engelskarussel, angetrieben von der aufsteigenden Hitze, entflammt durch Kerzen.
Inzwischen waren auch die meisten der Umstehenden auf die absonderliche Szene aufmerksam
geworden. Das aufgekratzte Geplauder erstarb allmählich. Alles starrte auf die Erscheinung
im goldenen Gewand mit den Engelsflügeln, auf das Christkind, das mit weit
nach vor gestreckten Armen eine Pistole in den Händen hielt.
»Is des iatzt a neuer Brauch da in Salzburg, von dem mia no nix wissen?«, rief ein dicklicher
Mann in Trachtenjoppe, dem Akzent nach unzweifelhaft ein Bayer. Er machte einen
entschlossenen Schritt auf das Christkind zu. »He du, Dirndl, willst uns du da für bled
verkafa …?« Weiter kam der Bayer nicht, denn in diesem Augenblick erschallte ein vielstimmiges
Halleee! Halleee! Hallehelluuujah! Eine Schar kleiner Gestalten stürmte aus
der Gasse zwischen Glühweinhütte und Duftkerzenstand, gekleidet in bunte Joppen und
Schaffelljacken, mit Hirtenstöcken und Musikinstrumenten. Es hat sich halt eröffnet das
himmlische Tor!, sangen die Hirtenkinder und drückten den Leuten vor den Ständen kleine
Päckchen in die Hände. Die Engalan, die kugalan ganz haufenweis hervor …! Gleich hinter den
Hirtenkindern tauchten weitere Gestalten auf, riesig, zottelig, furchteinflößend, als
wären sie einem Fantasyfilm entsprungen. Die Perchten aus dem Gasteinertal. Sie machten mit
ihren umgeschnallten riesigen Kuhglocken einen Höllenlärm. Merana hatte gelesen, dass die
finsteren Gestalten aus Gastein heute ihren Auftritt am Salzburger Christkindlmarkt
hätten. Aber er hätte sich nicht träumen lassen, dass er plötzlich mitten unter ihnen war.
Schellengeläute und wildes Rufen erfüllten den Platz, dazwischen gellte das
Gekreische erschrockener Besucher, und die Kinder hüpften weiterhin fröhlich zwischen den
Leuten herum und sangen Halleee! Halleee! Hallehelluuujahn!
Hoffentlich dreht die Frau mit der Pistole jetzt nicht durch. Wenn die ihre Nerven wegschmeißt
und in diesem undurchsichtigen Tumult zu schießen anfängt, dann gibt das ein Massaker.
Meranas Angst wuchs. Das Bündel nasser sticheliger Tannenzweige in seinem Magen schwoll an,
blähte sich auf. Er spürte seinen Herzschlag im Hals. Die Hirtenkinder und die
Zottelperchten drängten die Menschen auf dem Platz auseinander, schoben sich weiterhin mit
Gesang und Gebrüll zwischen die Leute. Auch Merana und Carola wurden von einem Zweimeterwesen
mit weiß-braunem Fell und beeindruckend mächtigen gedrehten Hörnern auf dem Kopf gegen die
Frontwand der Glühweinhütte gedrückt. Der gesamte Auftritt dauerte keine halbe Minute,
dann war die wilde Schar schon an ihnen vorbei und stapfte weiter in Richtung
Franziskanerkirche. Die Besucher an der Glühweinhütte waren ganz benommen vom eben erlebten
Spektaktel. Die Italienerinnen hatten sich erschrocken beim breitschultrigen Bayern
untergehakt. Sie zitterten am ganzen Leib.
»Wo ist die Frau mit der Waffe?«
Merana sah sich um. Das Christkind war weg! Keine Spur von der Blondgelockten mit der Glock 20.
Und zu seiner totalen Verwunderung musste der Kommissar feststellen: Auch der
verletzte Mann war verschwunden!
»Habt ihr etwas gesehen?« Merana musste schreien, um den Lärmpegel rings um sie zu übertönen.
Alle riefen durcheinander. Carola und Otmar schüttelten die Köpfe, blickten hektisch nach
allen Seiten. »Das darf es doch nicht geben. Wo ist die Frau hin? Und was ist mit dem
Verletzten?«
Im zertrampelten Schnee lag nur mehr die Umhängetasche, die der Verwundete bei sich gehabt
hatte. Merana bückte sich danach. Neben der Tasche entdeckte er eine kleine Papiertüte. Er hob
die Tasche auf. Sie war aus schwarzem Stoff. Auf der Vorderseite prangte ein großes Peace-
Zeichen in schrillem Rot. In der Tasche fand er einige Folder mit der Ankündigung zu
einem Adventsingen und fünf kleine Kugeln in Silberpapier.
»Mozartkugeln.«
»Das sind dieselben wie in den Päckchen der Hirtenkinder.« Carola deutete auf das kleine
Präsent, das ihr eines der vorbeistürmenden Kinder in die Hand gedrückt hatte. Eine Einladung
zum Adventsingen, samt Tannenzweig und Original Salzburger Mozartkugel.
»Und da sind Maroni drin.« Otmar Braunberger hatte die Papiertüte, die neben der Tasche gelegen
war, geöffnet. Merana starrte in die Gesichter seiner Mitarbeiter. Sie waren ähnlich
verwirrt wie er selbst. Was war hier eben passiert? Ein Mann war gegen ihn gestürzt,
zusammengebrochen, offenbar schwer verletzt. Keine zwei Sekunden später stand plötzlich eine
Frau im Christkindkostüm vor ihnen, bewaffnet mit einer Glock 20 Halbautomatik. Und wer
weiß, was die Kostümierte mit dem einschreitenden Mann aus Bayern angerichtet hätte, wären
nicht gleich darauf wild gewordene Hirtenkinder und Perchten über den Platz gestürmt. Und
nun waren alle verschwunden: Zottelperchten, Kinder und vor allem der Verwundete und das
bewaffnete Christkind.
»Ich kümmere mich um Verstärkung. Wir müssen die Verrückte einfangen.« Otmar hatte schon sein
Handy gezückt. Merana nickte. Sie mussten die Frau finden, die Waffe sicherstellen. Aber
die Frage, die ihn mindestens genauso beschäftigte: Wer war der schwer verletzte Mann, und
wo war er hingekommen?
»Komm, Carola. Wir suchen den Maronistand auf. Vielleicht kann sich jemand an den Mann mit der
Umhängetasche erinnern.« Er rannte los, die Chefinspektorin folgte ihm. Sich am
Maronistand zu erkundigen, war nur ein schwacher Versuch, Licht in diesen rätselhaften Vorfall
zu bekommen, aber sie mussten etwas unternehmen. Die Tüte mit den gebratenen Kastanien
konnte auch jemand anderer verloren haben. Es war schwierig, sich einen Weg durch die Massen
der Besucher zu bahnen. Allerlei Gerüche erreichten Meranas Nase: Punscharomen, der Duft
von Würsten und gebrannten Mandeln. Eine Frau im Pelzmantel versperrte dem Kommissar den
Weg. Sie hielt mit leuchtendem Gesicht zwei große mundgeblasene Glaskugeln hoch,
Christbaumschmuck von besonders feiner Ausführung, die sie eben an einem der
Kunsthandwerksstände erworben hatte. Sie kreischte auf, als Merana keine fünf Zentimeter vor
ihr abbremste. Vor Schreck öffnete sie die linke Hand, ließ das rote Band los. Merana
tauchte ab in die Hocke und konnte die Glaskugel gerade noch auffangen, bevor sie auf dem
Boden zerbarst. Die Frau war völlig verdattert, stotterte ein »Thank you, Sir« mit britischem
Akzent heraus, als der Kommissar ihr die Kugel samt Band wieder in die Hand legte. Dann
stürmte er weiter. Carola war ihm bereits einige Meter voraus. Sie erreichten die
Dombögen, umkurvten einen Mann mit Trachtenhut, der einen zusammengeschnürten Christbaum durch
die Menge balancierte, wandten ihre Schritte nach links und drängten sich durch eine
Gruppe kichernder Asiaten. Was soll das bedeuten? intonierten nun die Posaunen vor der
Kathedrale, die Melodie eines alten Weihnachtsliedes aus Schlesien. Ja, was soll das alles
bedeuten?, fragte sich auch Merana, als sie endlich beim Maronibrater ankamen. Doch zu dem
schaufelbewehrten Mann durchzukommen, der mit routinierten Bewegungen Papiertüten mit
gerösteten Kastanien füllte, war nicht einfach. An die 20 Personen standen dichtgedrängt vor
dem heißen Ofen. Die Unmutsäußerungen, die Merana und der Chefinspektorin entgegen
schlugen, waren vielsprachig: salzburgisch, wienerisch, sächsisch, tschechisch, japanisch.
Doch die beiden Ermittler hatten keine Zeit, sich um Völkerverständigung zu kümmern.
»Herr Kommissar!«, rief der Mann mit der Maronischaufel aufgeregt, als Merana es bis zu ihm
geschafft hatte. Trotz der Hitze, die der Maroniofen ausstrahlte, trug der Maronibrater eine
rote Zipfelmütze. »Guat, dass Sie daherkommen, schauen S’ amoi!« Der Mann fasste in die
große Tasche seiner blauen Schürze und hielt dem Kommissar einen länglichen dunklen
Gegenstand vors Gesicht, in der Größe eines Handy. Aber das war kein Handy. Das war eindeutig
das Stangenmagazin einer Glock-Pistole, passend für 15 Patronen. Merana war verwirrt.
»Woher kennen Sie mich?«, fragte er den Mann hinter dem Maroniofen überrascht. Der starrte ihn
kurz an, dann schaute er auf die Chefinspektorin, die sich eben an einer Frau im gelben
Anorak vorbeigedrängt hatte. »Woher ich Sie kenne …?« Carola wurde unwirsch. »Das spielt
doch jetzt keine Rolle. Wahrscheinlich aus der Zeitung. Wo haben Sie dieses Magazin her?«
Der Zipfelmützenträger griff sich an den Kopf. »Genau, aus der Zeitung kenn i Eahna. Von irgend
so einem Mord …« Dann rief er laut: »Dieses Glumpert da hat die Gundi verloren, als sie
vor drei Minuten an meinem Stand vorbeig’rauscht ist wia a Raketenengel.«
»Welche Gundi?« Merana spähte schnell nach allen Seiten. Ringsum nur Leute, dichtgedrängt, mit
neugierigen Gesichtern. Das vielsprachige Fluchen hatte aufgehört, die Verwunderung über
die überraschend dargebotene Szene am Maronistand war ringsum gewachsen. »Ja die
Silberberger Gundi, unser Christkindlmarkt-Christkindl. Die hat doch heuer des Casting
gwonnen. Des war ein super Finale, sag i Eahna. Die Gundi und zwei andere, die eine aus St.
Gilgen, die andere direkt aus der Stadt …«
Merana machte eine energische Handbewegung. Was ihn jetzt garantiert nicht interessierte, waren
Klatschgeschichten über Castingausscheidungen am Christkindlmarkt.
»In welche Richtung ist diese Gundi gelaufen?«
Der Mann fuchtelte mit der Hand. »I woaß net genau. Da umi, Richtung Residenzplatz. Aber ob sie
dann zum Mozartplatz weiter is oder nach links zum Alten Markt hab i nimmer gsehn.« Merana
wandte sich an die Leute hinter ihm. »Hat von Ihnen jemand etwas gesehen? Haben Sie die
Frau bemerkt, die in einem Christkindkostüm hier vorbeigerannt ist?« Er blickte in
verdutzte japanische Gesichter, registrierte geschüttelte einheimische Köpfe. Carola fischte
ihr Handy aus der Tasche. »Ich verständige Otmar, der soll die Kollegen informieren. Sie
sollen die Suche ausdehnen: Alter Markt Richtung Getreidegasse, und Mozartplatz Richtung
Kaigasse und Salzachufer.«
Merana zückte ein Taschentuch, nahm dem Maronibrater das Magazin ab und wickelte es ein. Dann
hielt er ihm die mitgebrachte Umhängetasche unter die Nase. »War vorhin ein Mann an Ihrem
Stand, der diese Tasche bei sich trug?«
Der Angesprochene nickte, ein Leuchten schlich über sein stoppelbärtiges Gesicht.
»Klar! Die g’hört dem Raphael vom Adventsingen. Der kauft immer bei mir Maroni. Vor einer halben
Stunde war er da. Mia ham noch a bissl diskutiert, ob es heuer bei die
Besucherzahlen auch wieder einen neuen Rekord …«
»Sie meinen den Raphael Weiser?« Carola hatte ihr Telefonat beendet und mischte sich ins
Gespräch. »Der beim Echten Salzburger Adventsingen den Erzengel Gabriel spielt?«
»Aber nein!« Der Mann schüttelte heftig den Kopf, die Zipfelmütze wackelte bedrohlich. »Sie ham
ja keine Ahnung nicht! Dort ist der Raphael ja heuer gar nicht mehr. Der hat doch die
Seite gewechselt. Der ist jetzt bei der Konkurrenz, beim Ganz Echten Salzburger Adventsingen.
Darum streiten die Adventsinger heuer noch mehr als sonst, weil der Raphael sozusagen ein
Abtrünniger geworden ist.«
Dieser Zwist war Merana bekannt. Jedes Jahr im Advent das selbe Theater. Zwei einander
befetzende Veranstalter beim weihnachtlichen Spiel um Frieden und Harmonie.
»Haben Sie den Raphael Weiser danach noch einmal gesehen?«
»Naa, der war ja schon auf dem Weg zur Vorstellung, der hat doch glei Auftritt.«
Nein, dachte Merana, der wird heute wohl nicht mehr auftreten. Der läuft mit einer blutenden
Wunde durch das sich immer wilder gebärdende Schneetreiben. Falls er überhaupt noch laufen
konnte. Carola Salmann blickte ihren Chef an.
»Otmar hat 20 Kollegen angefordert, die treffen gleich ein. Er koordinert die Suche. Was machen
wir, Martin? Was schlägst du vor?«
»Wir suchen den angeschossenen Erzengel.«
»Was?« Der Aufschrei wurde begleitet von einem Scheppern. Dem erschrockenen Maronibrater war die
Metallschaufel aus der Hand gefallen. Seine Augen waren weit aufgerissen. »Angeschossen? …
Aber doch net der Raphael, oder?« Merana hatte keine Zeit für Erklärungen. »Komm, Carola.«
Er drängte sich durch die Umstehenden, die verblüfft, aber nicht mehr
unfreundlich, rasch eine Gasse bildeten.
»Auf, zum Echten Salzburger Adventsingen!« Abrupt bremste er ab. Der schmale, aber voll
durchtrainierte Körper seiner Stellvertreterin knallte gegen seinen Rücken.
»Entschuldige, Carola! Jetzt hätte ich es fast durcheinander gebracht. Wir müssen nicht zum
Echten sondern zum Ganz Echten Salzburger Adventsingen.« Er setzte sich wieder in Bewegung.
Echtes, Ganz Echtes … wer konnte das schon auseinander halten. Aber im Grund war es egal,
beide Veranstaltungen lagen von hier aus gesehen in derselben Richtung. Wieder war
es nicht so einfach, vorwärts zu kommen. Es war Freitagabend, und die Altstadt war
gerammelt voll mit Menschen. Keiner wollte sich diesen winterlich verschneiten Glitzerabend
samt Christkindlmarktambiente entgehen lassen. Erneut drehte sich der Gedankenkreisel in
Meranas Kopf. Das darf doch alles nicht wahr sein!, hämmerte es in seinem Schädel. Er
hatte sich einen geruhsamen Adventabend erwartet, ein paar nette Stunden mit den beiden von
ihm geschätzten Kollegen. Eine lockere Plauderei am Glühweinstand, ein wenig die
Atmosphäre genießen. Vor zwei Wochen hatten sie, wie immer vor Weihnachten, ihre Wichtel-
Geschenke-Adressaten gezogen. Er hatte dieses Mal Carola erwischt. Im vergangenen Jahr war es
der Chef gewesen. Und er hatte beim Wichtelziehen mit seinen Mitarbeitern noch gescherzt,
dass nun wieder die für Kriminalisten langweiligen Tage anfingen. Wo allenfalls
Taschendiebe und Christbaumstehler auf Beutetour waren. Aber erfahrungsgemäß kein Verbrechen
passierte, das eine Ermittlertruppe ihres Kalibers brauchte. Und jetzt rannte er mit
seiner Kollegin durchs nächtliche Schneegestöber und suchte einen angeschossenen Erzengel! Und
irgendwo unter den vielen Menschen, die zwischen Lichterketten, Punsch und Glühwein ihren
Spaß hatten, irrte auch noch ein Christkind herum. In der Hand eine Knarre. Einfach
absurd.
»Herr Kommissar! Warten Sie!«
Der Ruf ereilte sie knapp vor dem Ausgang in Richtung Franziskanerkirche. Merana und Carola
drehten sich um. Aus dem Flockenvorhang des Schneetreibens schälten sich die Umrisse von zwei
uniformierten Beamten. Das Licht, das von den Girlanden über ihnen und von den
Verkaufsbuden der Christkindlmarkthütten auf sie fiel, tauchte die beiden Gestalten in einen
nahezu überirdischen Schein. Der ältere von beiden tippte sich mit der Hand an die
verschneite Dienstkappe, als sie den Kommissar und die Chefinspektorin erreicht hatten. Merana
kannte die beiden Kollegen vom Sehen. Sie waren von der Polizeiinspektion Rathaus, die
gleich in der Nähe lag. Aus dem Funkgerät des Jüngeren ertönten abgehackte Kommandos. Merana
erkannte zwischendurch Otmars Stimme, der offenbar mit den einzelnen Suchtrupps in
Verbindung stand.
»Herr Kommissar, wir waren zufällig in der Nähe, Kontrollrundgang am Kapitelplatz, als uns die
Anweisung unseres Dienststellenleiters erreichte.« Gartlberger heißt der ältere Kollege,
fiel Merana plötzlich ein. Der Mann war etwas mehr außer Atem als der jüngere. Der
streckte ihnen die geöffnete Hand hin. Mit der anderen deutete er nach hinten zu einer der
Verkaufshütten, die handgeschnitzte Krippenfiguren aus Lindenholz anbot. »Dort hat eben ein
Mädchen das hier vom Boden aus dem Schnee aufgehoben.« Auf der ausgestreckten Hand des
Beamten lag ein kleines unförmiges Gebilde in Silber und Blau. Merana nahm den Gegenstand in
die Hand. Das Objekt war allem Anschein nach eine Mozartkugel, ziemlich flach gedrückt.
Offenbar war jemand auf die Schokoladensüßigkeit getreten. Das leicht deformierte
Konterfei des Komponisten auf der silbrigen Hülle war von einem dicken roten Fleck überzogen.
Merana tupfte mit dem Zeigefinger dagegen, nahm etwas von der Farbe auf und
steckte die Fingerkuppe in den Mund. Kein Zweifel, das war Blut.
»Hat das Mädchen beobachtet, wer die Kugel verloren hat?« Die beiden Beamten schüttelten den
Kopf. Der jüngere so heftig, dass ihm eine kleine Schneelawine vom Kappenrand ins Gesicht
rutschte. »Nein, hat sie nicht. Wir wollten noch die Standler befragen, aber da haben wir Sie
und die Chefinspektorin gesehen.« Es knackte im Funkgerät. Eine Stimme, die Merana nicht
kannte, beorderte alle Einsatzkräfte zum Mozartplatz. »Das ist unser Dienststellenleiter,
wir müssen weiter.« Merana nickte und bedankte sich bei den Kollegen. Vielleicht hatten
Otmar und die übrigen Einsatzkräfte eine Spur vom pistolenschwingenden Christkind. Sie
würden sich wieder auf die Suche nach dem verletzten Erzengel machen. Die blutverschmierte
Mozartkugel bestärkte die Zuversicht, dass der Mann hier mit großer Wahrscheinlichkeit
vorbeigekommen war. Merana wollte die plattgedrückte Süßigkeit in ein weiteres Taschentuch
wickeln, als ihm auf der Rückseite etwas auffiel.
»Wofür würdest du das halten, Carola?« Er rückte näher an eine der Laternen, damit sie mehr
Licht hatten. Die Chefinspektorin wischte behutsam die Schneeflocken ab, die sich auf die
zerdrückte Kugel in Meranas Hand gelegt hatten.
»Schaut aus wie aufgemalte Buchstaben …«
»Ja, das könnte ein A sein … und das eventuell ein L …« Er rückte noch näher an die Laterne,
versuchte mit der anderen Hand, die Silberfolie der zerquetschten Schokoladenkugel halbwegs in
die ursprüngliche Form zu bringen.
»Nein, Carola, das ist kein L. Das schaut eher aus wie ein C.« Er blickte sie an. Die
Chefinspektorin zuckte mit den Schultern. Sie konnte sich offenbar keinen Reim darauf machen.
Merana auch nicht. »Wieso schreibt jemand ein A und ein C auf eine Mozartkugel?« Die
Ratlosigkeit in Carola Salmans Gesicht glich jener in seinem eigenen. »Und warum trägt
ausgerechnet ein Erzengel-Darsteller diese Kugel bei sich?«
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Autoren-Porträt von Manfred Baumann
Manfred Baumann, geboren 1956 in Hallein/Salzburg, war 35 Jahre lang Autor, Redakteur und Abteilungsleiter beim ORF (Österreichischer Rundfunk). Heute lebt er als freier Schriftsteller, Kabarettist, Regisseur und Moderator in der Nähe von Salzburg. Der Krimi »Drachenjungfrau« wurde vom ORF für die Reihe »Landkrimi« verfilmt. Manfred Baumann ist auch bei facebook.www.m-baumann.at
Bibliographische Angaben
- Autor: Manfred Baumann
- 2014, 5. Aufl., 246 Seiten, Maße: 12 x 20 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Gmeiner-Verlag
- ISBN-10: 3839215889
- ISBN-13: 9783839215883
- Erscheinungsdatum: 29.09.2014
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