Martin Walser
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Martin Walser - Eine Biographie von Jörg Magenau
LESEPROBE
HEIMAT. 1927-1945
Von Wasserburg an. Es gibt keine Nebensachen.
Einer, der auf den Fortschritt setzt, ist immer zu früh geboren.Später wäre ihm lieber, weil er glaubt, daß die Dinge, historisch betrachtet,sich zuverlässig zum Besseren wenden. Mit Zukunftsgläubigkeit hat diesesGrundgefühl wenig zu tun. Sein Bedürfnis, wissen zu wollen, wie die Geschichteweitergeht, erwächst aus dem intimen Umgang mit der Vergangenheit. Darüberschreibt er dann. Das bedeutet, das jeweils bestmögliche Ende aus einerGeschichte herauszuwirtschaften - und sei es die deutscheKatastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts. Martin Walser ist so früh geboren,daß er Auschwitz und die Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld, diedeutsche Teilung und die unüberschreitbare Zugehörigkeit zur deutschenGeschichte zu seinem Lebensthema machen mußte. Und er ist spät genug geboren,um dem Schicksal des zwei Jahre älteren Bruders Josef zu entgehen, der 1944einen sinnlosen Soldatentod in Ungarn starb. - Also liegt der 24. März 1927wohl doch nicht so schlecht in der Zeit. In Genf war gerade die Abrüstungskonferenzdes Völkerbundes zusammengetreten. In Berlin übernahm Alfred Hugenberg für 15Millionen Reichsmark die Ufa. In den USA wurden die Anarchisten Nicola Saccound Bartolomeo Vanzetti zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt. InChina besetzten die Truppen Chiang Kai-sheks Nanking und Shanghai. In Münchenerschien der Roman «Amerika» von Franz Kafka, und die bayrische Landesregierungbeschloß, das Redeverbot für Adolf Hitler aufzuheben.
In Wasserburg am Bodensee, dem einzig denkbaren Geburtsort,merkte man von all dem nichts. Wasserburg ist sich selbst genug. Es ist dem,der hier geboren wird, die beste aller möglichen
Welten,besser als das benachbarte Nonnenhorn, besser als Kümmertsweiler, von wo dieMutter stammt, und als Hengnau, der Geburtsort des Vaters. Viel weiter kommtman als Kind sowieso nicht herum. Kümmertsweiler und Hengnau liegen nur einpaar Kilometer entfernt hangaufivärts, und doch waren die Eltern in Wasserburgfast schon Fremde, die sich hineinarbeiten mußten in die Dorftradition. DieMutter spricht reines Alemannisch, von ihr ist ein Leben lang kein einzigerhochdeutscher Satz zu vernehmen. Der Vater pflegt ein besseresRealschul-Bayrisch. An der Differenz zwischen Vater-, Mutter- und Hochspracheentwickelt der Junge sein Sprachgefühl und lernt, der Herkunft der Wortenachzuhorchen. Ein paar Kilometer Distanz machen in einer Welt, in der jedesDorf ein eigener Kosmos ist, einen großen Unterschied aus.
Nicht inWasserburg geboren zu sein bedeutet für die Eltern, nichts von selbst zuwissen. Sie sind auf Erzählungen angewiesen. Dafür allerdings ist dieGastwirtschaft, die sie gleich gegenüber vom Bahnhof betreiben, ein günstigerOrt. Hier ist ein Treffpunkt des Dorfes, eine Börse für Neuigkeiten und Gerüchte,Bühne für Auftritte und Abgänge. Hier kommt jeder Einwohner des700-Seelen-Dorfes vorbei, und einige trinken hier regelmäßig ihr Bier. Martinlernt in dieser Kinderstube, daß es darauf ankommt, reden zu können. Von kleinauf agiert er in Gesellschaft. Der Stammtisch ist ihm nicht fremd, und erweiß, daß auch dort nicht nur Parolen gebrüllt werden. Das Gespräch ist einWettbewerb: Wer die besten Geschichten erzählt, siegt. Brillanz setzt sichdurch. Manchmal aber auch bloß der Lauteste.
Der Großvater, Autodidakt im Architektur- und Gastronomiegewerbe,hat das stolze Gebäude mit der überdachten Terrasse selbst entworfen. Er warein Mann, der das Selbstbewußtsein der Kaiserzeit ausstrahlte und einen derweit ausschwingenden Schnauzbärte der Epoche trug. In den letzten Jahren des 19.Jahrhunderts, als die Bodenseegürtelbahn entstand, hatte er die Idee,Bahnhofswirtschaften zu errichten. Direkt da, wo die Menschenmengen der Zukunftankämen, würden sie auch einkehren: ein sicheres Geschäft. Er verkaufte denwinzigen Hof in Hengnau, baute in Nonnenhorn, verkaufte mit Gewinn, baute inWasserburg, als dort 1899 der Bahnhof entstand - und wurde Gastwirt. 1901eröffnete er seine Restauration. Doch die Feriengäste logierten lieber druntenauf der Halbinsel und mit Blick auf den See. Josef Walser umwarb sie mitkleinen Reklamezetteln, auf die er schrieb: «Bahn=Restauration in schöner,ruhiger Lage, empfiehlt ihre sehr schön eingerichteten Fremdenzimmer, gute,bürgerliche Küche, reelle Weine, gutes Bier vom Faß zu jeder Tageszeit.Elektrische Beleuchtung, mäßige Preise. J. Walser, Besitzer».
1924, seitsieben Jahren Witwer, übertrug Josef Walser den Betrieb an seinen 34 Jahrealten Sohn Martin. Der, ein sensibler Mann mit einem vergleichsweise geringenSchnauzbart und großen, erschrockenen Augen, war kränkelnd aus dem Ersten Weltkriegheimgekehrt. Er litt an Diabetes. Gerne wäre er Lehrer geworden; nun war erGastwirt wider Willen und mußte, weil die Restauration nicht genug abwarf,nebenher noch einen Holz- und Kohlehandel betreiben. Das heißt: eigentlichbetrieb er ihn gar nicht, sondern zog sich, so gut es ging, zurück und schmiedetePläne für den großen Durchbruch. Mal hoffte er, mit der Zucht vonAngora-Kaninchen reich zu werden, mal versuchte er sich in derSchuhwichse-Fabrikation, mal glaubte er an den Handel mit Schweizer Uhren.Doch zum Verkäufer taugte er mit seiner schüchternen, zurückhaltenden Artnicht. Wenn er jemandem die Hand gab, dann war das eine zögerliche, abwartendeGeste. Sein Gegenüber mußte auf ihn zukommen und zupacken. Die Arbeit und dieVerantwortung fürs Geschäftliche überließ er lieber seiner Frau. Auch die SöhneJosef und Martin Johannes mußten mithelfen. 1935 wurde als dritter der BruderAnselm Karl geboren, der als Kind Anselm, später Karl gerufen wurde. Dadurchwurde der Name Anselm frei für Walsers berühmtesten Romanhelden: AnselmKristlein. (...)
© 2005 byRowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Jörg Magenau lebt und arbeitet in Berlin, als Autor und Redakteur von "Das Magazin".
Interview mit Jörg Magenau
Kaum ein deutscher Schriftsteller wird so häufig missverstandenwie Martin Walser. Zuerst galt er als Kommunist, dann als deutschnationalerEinheitsphantast, zuletzt unterstellte man ihm sogar Antisemitismus. Jörg Magenau gelingt in seiner Walser-Biografie ein Blick in denHinterkopf des Autors. Er entlarvt ihn als heimatverbundenenFamilienvater, als Machtkritiker und Kleinbürger.
Was hat Sie dazu veranlasst, eine Walser-Biografie zuschreiben?
Biographien sind fürmich deshalb so anregend, weil man darin lernen kann, wie sich jemand in seinerEpoche zu den Herausforderungen der Geschichte verhält. Bei Schriftstellern istdas ganz besonders interessant, denn sie beantworten das, was ihnen widerfährt,mit Literatur: einem Gegenentwurf zum Erlebten. Meine Muse ist der Mangel",sagt Martin Walser, ein zentraler Satz, um sein Werk zu verstehen. Ich schriebzuvor eine Biographie über Christa Wolf, weil ich wissen wollte, welcheSpielräume es für Intellektuelle in der DDR gab. Mit dem Buch über MartinWalser versuchte ich etwas Ähnliches zur westdeutschen Geschichte. Walser istein exemplarischer Intellektueller der Bundesrepublik, der die Bühne als jungerReporter des SDR im Sommer 1949, mit der Gründung des Staates, betrat und sichseither immer wieder in entscheidende politische Kontroversen eingemischt hat:Auschwitz-Prozess und Vietnam-Krieg in den 60er Jahren, Gewerkschaftsbewegungund Sozialismus in den 70ern, die Frage der deutschen Teilung in den 80ern,Gedenken und Erinnerung in der Paulkirchenrede 1998, Medienkritik und dasProblem der Political Correctness"im Roman Tod eines Kritikers", der ihm den Vorwurf des Antisemitismuseinbrachte. Außerdem: Was für ein gewaltiges Werk. Welche Fülle an Begegnungenund Freundschaften - von Uwe Johnson und Siegfried Unseldbis zu Günter Grass. Wahrlich genug Stoff, für ein aufregendes Buch!
Wie verlief Ihre erste Begegnung mit dem Autor?
Das habe ich im Vorwortbeschrieben. Ich zitiere:
Wir trafen uns in Hallean der Saale in einem Hotel. Das ist der natürliche Treffpunkt mit einem, derständig unterwegs ist. Ich hatte ihm geschrieben, dass ich eine Biographie überihn verfassen möchte. Ihm erschien das zumindest nicht ganz und gar undenkbar.Ich fände es auch sinnvoll, zu überprüfen, ob meine Kurven nicht doch eineschwankende Gerade waren. Es müsste eine gelüftete Intimität sein", hatte ergeantwortet. Nun begrüßte er mich wie einen guten, alten Freund mit herzlichemHändeschütteln und dem Satz: Ich brauche erstmal ein großes Bier."
Es war ein sonniger,warmer Spätsommernachmittag, Anfang September 2002. Auf einer geranienbestückten Veranda oberhalb der Saale fanden wireinen freien Tisch. (...) Zu meinem Biographiebegehren sagte er nur: Was Sieda vorhaben, habe ich auch schon drei Mal gemacht. Nur habe ich es immerRoman genannt." Weiter schien er sich nicht dafür zu interessieren - es warwohl meine Sache. Ich nahm das als eine Art Einwilligungserklärung und alsBeweis souveräner Professionalität. Dieser Mann wusste, dass das Resultatbiographischen Schreibens etwas Fiktives sein würde, die Konstruktion einesLebens, mein Walser-Bild. Auf dieser Basis müsste sich doch arbeiten lassen.
Er begann dann auchgleich zu erzählen. Weil ich ihn nach seiner Freundschaft mit Uwe Johnsongefragt hatte, erklärte er mir, warum er über Uwe Johnson nicht sprechen könneund sprach aus diesem Grund lange über Johnson. In den folgenden Stunden, indenen wir einige Biere tranken und er es sich nicht nehmen ließ, erst Salat,dann Steaks zu ordern, kam ich nur selten zu Wort. Während er sprach,streichelte er immer wieder über meinen Handrücken, fasste mir zärtlich ansKinn, teilte freundschaftliche Tätschel-Watschen aus und fuchtelte mit seinenHänden unmittelbar vor meinem Gesicht herum. Es war ein buchstäbliches Betastenund Befühlen, eine aufwendige Näheproduktion, wie sie unabdingbar ist, wenn esum so Umfassendes gehen soll wie Leben & Werk und die Tätigkeit, die beidesverbindet: das Schreiben. Um 20.15 Uhr verabschiedete er sich ins Hotelzimmer.Er musste unbedingt das Kanzler-Kandidaten-Duell zwischen Gerhard Schröder undEdmund Stoiber verfolgen - vorausgesetzt es gelänge ihm, das Fernsehgerät mitdieser blöden Plastikkarte in Gang zu setzen, die man in Hotels neuerdings dazubenötigt.".
Inwiefern ist Walser für Sie ein unbequemer Mann"?
Ich würde ihn eher als Stimmungs-Avantgardisten"bezeichnen. Er war seiner Zeit oft nur um ein paar Jahre voraus. Das genügte,um immer wieder anzuecken. Im Frühjahr 1989 beispielsweise wurde er in der Talkshowvon Lea Rosh heftig dafür gescholten, dass er denZustand der deutschen Teilung und die Absurdität der Grenze nicht alsEndzustand der Geschichte hinnehmen wollte. Ein halbes Jahr später fiel dieMauer.
Können Sie Walsers Verhältnis zur Deutschen Geschichtekurz fassen?
Walser ist keinkonservativer Bewahrer, sondern einer, der erklärtermaßen auf den Fortschrittsetzt: durchaus zukunftsoptimistisch. Sein Bedürfnis, wissen zu wollen wie dieGeschichte weitergeht, erwächst jedoch aus dem intimen Umgang mit derVergangenheit. Sein Bedürfnis ist es, aus jeder (erzählten) Geschichte dasjeweils bestmögliche Ende herauszuwirtschaften. In der Literatur geht das. Inder realen Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Auschwitz im Zentrum geht dasnicht.
Walser ist - entgegen anderslautenden Gerüchten - kein Propagandist desSchlussstrichs. Sein Werk dokumentiert von Anfang an eine schmerzlicheAuseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als etwas Unüberwindlichem. 1964gehörte er zu den Besuchern des Frankfurter Auschwitz-Prozesses und schriebdarüber den Essay Unser Auschwitz". 1979 schrieb er zur Eröffnung einerAusstellung mit Zeichnungen von KZ-Häftlingen: Seit Auschwitz ist noch keinTag vergangen". Der Mangel, an dem er in diesem Zusammenhang leidet, ist dasAuseinanderfallen von Deutschen und Juden in Täter" und Opfer" - einunüberwindbarer Graben. In seiner Laudatio auf Victor Klemperer (1996) hatWalser sich 1996 nachdrücklich mit diesem Thema befasst. In Klemperer hatte ereinen, der erst von den Nazis zum Juden gemacht" wurde, der sich aber doch vorallem als Deutscher und Repräsentant deutscher Kultur sah.
In welcher seiner Romanfiguren spiegelt sich der Autorselbst wider?
In allen und in keiner.Die Figuren sind Möglichkeiten, Selbstentwürfe, Variationen des eigenenErlebens. Der Autor spiegelt sich nicht in den Figuren, die Figuren ankern inihm (und sind zugleich ja auch Projektionsflächen der Leser, die sich in ihnen wiedererkennen.)
Was hat Sie bei der Recherche zu diesem Buch am meistenüberrascht?
Dass Walser mit denKlischees links" oder rechts" nicht zu fassen ist. Wenn man schon bei diesenRichtungstäfelchen bleiben will, dann sehe ich ihn eher als Linken" - alsanarchistischen Geist, der auf seinem eigenen Kopf und vor allem: auf seinemEmpfinden beharrt.
Welches Kapitel haben Sie am liebsten verfasst?
Das erste, weil man danoch so viel vor sich hat, und das letzte, weil man dann endlich fertig ist.Schwer zu sagen, was schöner ist, anfangen oder aufhören.Die Fragen stellte Regina Buckreus /lorenzspringer medien
- Autor: Jörg Magenau
- 2005, 1, 624 Seiten, 32 Schwarz-Weiß-Abbildungen, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 15,3 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Hamburg
- ISBN-10: 3498044974
- ISBN-13: 9783498044978
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Martin Walser".
Kommentar verfassen