Meines Vaters Land
1944 wird der Abwehroffizier Hans Georg Klamroth wegen Hochverrats hingerichtet. Jahrzehnte später sieht seine jüngste Tochter im Fernsehen Bilder ihres Vaters, aufgenommen während des Prozesses. Ein Anblick, der Wibke Bruhns nicht loslässt. Wer war...
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1944 wird der Abwehroffizier Hans Georg Klamroth wegen Hochverrats hingerichtet. Jahrzehnte später sieht seine jüngste Tochter im Fernsehen Bilder ihres Vaters, aufgenommen während des Prozesses. Ein Anblick, der Wibke Bruhns nicht loslässt. Wer war dieser Mann, den sie kaum kannte, der fremde Vater, der ihr plötzlich so nah ist? Sie beginnt zu recherchieren.
''Eine große Leistung''
SZ
Meines Vaters Land von Wibke Bruhns
LESEPROBE
Prolog
Ich habeein Foto von meinem Vater gefunden. Es gibt Hunderte - in Alben, in Umschlägen,verstreut zwischen Tagebüchern, Zeugnissen, Briefen. Hans Georg als Kind, als ernsthafterHalbwüchsiger, in Uniform im Ersten und im Zweiten Weltkrieg, als Ehemann, alsKaufmann, als Vater mit uns Kindern. Dies hier war weggesperrt in einer derMiniaturen, die auf dem Nachttisch meiner Mutter standen.
Nach ihremTod hatte ich die drei Bildchen mitgenommen: meine dänische Großmutter Dagmarmit dem unvermeidlichen Blumenhut, Hans Georg in Jagdmontur sitzend auf derTerrassentreppe in Halberstadt, vor sich den erlegten Bock, und meine MutterElse als kleines Mädchen im weißen Spitzenkleidchen, mit Lackschuhen undschiefen Strümpfen. Alle
drei - diezauberhafte alte Dame, der zufriedene Jäger, das skeptische Kind - lächeln michan seit 15 Jahren auf meinem Schreibtisch, verhalten eher, distanziert aus denkostbaren kleinen Rahmen, derentwegen ich sie da hingestellt habe, und weil siezu Elses Schlafzimmer gehörten.
Jetzt warsie verrutscht, die Kleinkind-Else, und als ich den Rahmen öffnete, um siezurück an ihren Platz zu bringen, kam mir Hans Georg entgegen. Verborgen hinterihrem Kinderportrait hatte Else ihn, einen todtraurigen Mann um die 30 - soverloren guckt er auf keinem Foto außer auf den letzten vor demVolksgerichtshof. Ich habe das Else-Kind erst mal hinter ihm versteckt, aberlange halte ich das nicht aus, dieses hoffnungslose Gesicht. Vielleicht hatteauch Else ihn deshalb zugedeckt mit ihrer Erinnerung an die ganz früheKindheit. Ihr Foto muß um 1900 aufgenommen worden sein, da ist sie kaum
zwei -behütet, umsorgt, geliebt. Alles schien möglich damals, nichts war vorhersehbarvon dem, was dann wirklich kam.
Warumüberhaupt hat sie dieses verlorene Gesicht ihres damals noch jungen Manneszurechtgeschnitten für das Oval in dem kleinen, festlichen Rahmen? Die beidenhaben viel gelacht zu der Zeit, als dieses Bild von Hans Georg entstand. Siewaren berühmt im Freundeskreis für Schlagfertigkeit und Witz. Und wann hat siedie Fotos gewechselt - nach seinem Tod in Plötzensee? Oder schon vorher, alsdie jahrelange Trennung im Krieg sie einander entfremdete, als jeder an seinemPlatz funktionierte, aber die Gemeinsamkeit verschlissen war? Als Hans GeorgElse betrog?
Ich leseseit Monaten in fremden Leben herum, in Briefen, Tagebüchern, in Schriftlichemaus mehr als 100 Jahren, das ich zusammengetragen habe aus den Katakomben derweitverzweigten Sippe. Es gibt sie schon so lange, die Klamroths, und immerhaben sie sich als Klan verstanden, auch heute noch, obwohl das Zentrum ihresBürgerstolzes - Halberstadt - im Krieg für sie verlorengegangen ist. Es istnicht wirklich fremd, was ich da lese. Ich weiß, wer die Leute sind. Aber ichkenne sie nicht. Hans Georg hatte schon in den 30er Jahren eine 16mm-Kamera undnahm die Feste der Sippe auf: Reitjagden durch den Harz, Boccia im Garten unddie großen, damals noch kleinen Kinder auf der Schaukel. Als ich neulich diedigitalisierte Fassung der Filme bekam, habe ich jeden erkannt, der dort zusehen ist, obwohl ich vielen nie oder höchstens als Kleinkind begegnet bin.
Ich sehe Fräcke- mein Gott, was trug man Frack! - und die aufwendig gestylten Damen und fragemich, warum Else so geschmacklos angezogen war, wo sie doch Suli Woolnoughhatte, die Schneiderin, deren Eleganz in Halberstadt ein Exotikum war. Prächtigkostümierte Aufführungen bei Polterabenden und zu Großmutter Gertruds 60.Geburtstag haben sie veranstaltet, es tritt auf »Benno Nachtigall«, diefamilieneigene Balladen- und Moritaten-Band, in meinem Schrank lagern dieBänkellieder und Schüttelverse. Fremde Leben.
Ich findeBilder von Hans Georg am Klavier - er hat immer gesungen, alle haben siegesungen in dieser Familie, mehrstimmig, dauernd, und sie haben Instrumentegespielt, der ganze Klan. Er singt also, der Vater - Kantaten, Gassenhauer, denganzen Zupfgeigenhansl rauf und runter, nicht zu vergessen die vielenFamilienlieder. Aber ich kenne seine Stimme nicht. Nie gehört, behaupte ich,obwohl das nicht sein kann, er wird schon mal was gesagt haben zu mir, demkleinen Mädchen. Er hat mir bestimmt auch was vorgesungen, wenn er - mal - nachHause kam aus dem Krieg.
Ich weißauch nicht, wie der Mann, der mein Vater war, geredet hat. Das wäre wichtigjetzt, wo ich versuche, ihn mir zurechtzulegen. Zappelt er mit den Händen, wieich, ist er laut, impulsiv? Wenn er schreibt, und er schreibt viel, klingt erüberlegt. Er verschreibt sich nie, auch mit der Maschine nicht. Er muß sichnicht korrigieren, weder im Satzbau, noch in der Orthographie, schon gar nichtin seinen Gedanken. Sehr aufgeräumt, das Ganze. Und die Schrift erst - kleingestochen leserlich sowohl in Sütterlin als auch in Latein. Er schreibt wiesein Vater - überhaupt mein Großvater, ob es sonst noch jemand gibt, vor dem erso viel Respekt hatte? Allein wie sie Fotoalben anlegen, alle beide - weißeTinte, akkurate Randlinien um jedes Bild gezogen, minutiös beschriftet.
Und dannElse: Chaos im Kopf und in der Schrift, überbordend, ausladend, durcheinander.Riesige Buchstaben, auf- und absteigende Zeilen, durchgestrichen,drübergeschrieben. Wenn sie Formulare mit der Hand ausfüllt, tobt ihre Schriftwie ein gefangener Hund im Käfig. Es gibt ein großes Haushaltsheft -Etatplanung und Kostenübersichten für die Jahre 1938 bis 1943. Da haben siebeide abwechselnd Buch ge-
führt -Hans Georg in schnurgeraden Zahlenkolonnen, kein Rechenfehler, nie ein Zweifel.Else trabt durch die Spalten, setzt zügig Fragezeichen, Fußnoten - lange Jahrenach dem Krieg hat sie noch mit solchen Abrechnungen gekämpft. Sie haben niegestimmt, Else war immer verzweifelt, sie wäre so gern ordentlich gewesen.
In ihrenBriefen - auch sie hat viel geschrieben - wirbelt sie von einem Thema insnächste, beutelt die Grammatik und die Interpunktion, die Seiten sind übersätmit zweifelhaften Korrekturen. Sie lacht und weint ohne Übergang, moralische Aufrüstungfür die aushäusigen Töchter mischt sich mit Schilderungen ihrer vielfältigenBeschäftigung als Managerin des großen Hauses mit vielen Gästen. Der Kampf mit20 Zentnern Erbsen und widerspenstigen Weckgläsern führt sie direkt zu derFeststellung, daß Gottes Ratschluß selten überzeuge, irgend jemand »zumDonnerwetter« den Silberschrankschlüssel vermüllt habe und daß außerdem sie,Else, sich mit Hegel doch gern »über das eine und andere malauseinandergesetzt« hätte.
Sie habengelacht über diese scheinbare Unvereinbarkeit, jeder über den anderen und beidemiteinander. Dabei war Else später, als ich sie als Mensch wahrgenommen habeund nicht mehr als Mutter, eher pathetisch, hochgradig sentimental, vor allemtraurig. Sie wäre gern viel eher gestorben, fast 90 war sie 1987 und hatteschon 25 Jahre vorher, nachdem die Sorge um ihre fünf Kinder sich überlebthatte, keine Lust mehr. Früher, lange vor meiner Zeit oder vielleicht auch nochin meinen ersten Kindertagen, müssen beide - Else und Hans Georg - ein Genußgewesen sein. Freunde von damals haben mir vorgeschwärmt von beider Witz, ihrerZugewandtheit, ihrer Fähigkeit, Menschen um sich zu scharen und sie zu halten.
Kinder,behaupte ich, interessieren sich für ihre Eltern nur als Ressource. DasVerhältnis ist Ich-bezogen: Wie weit werde ich beschützt, versorgt, gefördert.Wer die Eltern sind, was sie fühlen, ob sie glücklich sind, geht an Kindernvorbei. Der Mensch, den Freunde erkannt, geliebt, begleitet haben - das Kindkennt ihn nicht. Bis nach dem Tod der Eltern - vielleicht-, wenn Nachfragenicht mehr Indiskretion und Grenzüberschreitung bedeutet. Kinder, auch meineKinder, werden bei aller Zärtlichkeit auf Distanz gehalten, suchen ihrerseitsdie Distanz. Die Verstörung der Eltern ist immer eine Bedrohung. Eltern mutensie ihren Kindern nicht zu, und was erwachsene Kinder dem Freund erlauben, dieBelastung mit dessen persönlichem Scheitern etwa, bei Eltern fürchten sie sichdavor.
In meinerPsychoanalyse, Anfang der 90er Jahre, kam ich an die Eltern nicht wirklichheran. Ich war und bin auch heute nicht bereit, meiner Mutter kindliche oderauch spätere Probleme anzulasten - sie war nervig, natürlich, sie warüberfordert und ich in Folge ziemlich allein. Hätte sie das ändern können? Fürden Vater hatte ich mir eine unverfängliche Position gesucht: Ich habe ihnnicht gekannt, folglich ging er mich nichts an. Er hat mir nie gefehlt -Millionen Töchter meiner Generation sind aufgewachsen ohne Väter. Ich hielt ihnmir vom Hals. Ich wollte nichts über ihn wissen. Er war eine offene Wunde imLeben meiner Mutter, und ich habe ihn erfahren als ihren Verlust. Sie hatdarüber geschwiegen. Heute weiß ich, daß viele der 20. Juli-Witwen gegenüberihren Kindern geschwiegen haben. Es war ein Schweigen, wo Fragen sich verbot.Die Zumutung wurde von beiden Seiten vermieden.
1979bereitete ich unseren Umzug nach Jerusalem vor. Ich fuhr mit dem Auto darunter, von Ancona nach Haifa mit dem Schiff, schon die Einfuhr-Formalitäten imHafen ließen keinen Zweifel offen: Hier bin ich in einem orientalischen Land.Ich fand ein Haus auf dem Mount Scopus in der Nähe der Hebräischen Universitätmit weitem Blick über die karstige Wüste, weit unten ein arabisches Dorf. Dieenglische Schule für die Kinder war vor 100 Jahren ein anglikanischesMissionskrankenhaus gewesen. Als ich zum ersten Mal durch den weitläufigenGarten ging, vorbei an Oleanderhecken und Feigenbäumen, stand für mich fest, esist ganz egal, ob die Töchter hier Mathematik und Satzbau lernen oder nicht.Die ausgetretenen Stufen und schiefen Sandsteinwände, die wuchernden Geranien,das Gewusel von Kindern aus 40 Nationen von tiefschwarz bis strohblond würdenspäter eine leuchtende Erinnerung an ihre Schulzeit abgeben - so war es dannauch.
Ichrecherchierte gleichzeitig eine Geschichte über eine palästinensische Familiein Hebron im Westjordanland, und hier erfuhr ich, was unser Alltag werdenwürde: abgrundtiefer Haß zwischen der arabischen Bevölkerung und denisraelischen Siedlern aus Kiryat Arba gleich nebenan. Ich stand einen »curfew«durch mit meinen Gastgebern, die tagelange Ausgangssperre, während der nur ichauf die Straße durfte, um für die vielköpfige Familie Lebensmittel einzukaufen.Die Geschäfte waren verrammelt, ich gelangte durch die Hintertür hinein, unddraußen führten die jungen Schnösel aus der Siedlung ihre Kalaschnikows undUzis spazieren. In Jerusalem, wo jeder Stein Geschichte ist, tauchte ich ein indas damals noch fast friedliche Nebeneinander von Nationalitäten undReligionen, in den aberwitzigen Krach auf den Märkten und die Besitzergreifende Zuwendung wildfremder Menschen. Ich schlug mich mit Behörden herumwegen unseres Zuzugs, kämpfte um meine Akkreditierung, brauchte Stunden auf derBank, um etwas so Simples wie zwei konvertierbare Konten einzurichten. Es warensechs prallvolle Wochen, während derer ständig die Sorge an mir nagte, wiemeine behüteten Kinder wohl den Wechsel aus dem ordentlichen Hamburg in diesesexotische Durcheinander verkraften würden. Sie waren damals 12 und elf, und siehaben sich erstaunlich schnell akklimatisiert.
Bei einemder zahlreichen Telefonate nach Hause erzählte mir die Kinderfrau, es liefenDokumentationen über den 20. Juli im Fernsehen, und eher beiläufig bat ich sie,beim nächsten Mal doch eine Video-Kassette einzulegen. Ich flog zurück,verspätet, auf dem Flughafen hatte es Bombenalarm gegeben, auch daran würde ichmich gewöhnen. In der Maschine hielt eine Gruppe orthodoxer Juden einelautstarke Betstunde ab, stehend im Gang und mit schwarzen Hüten über ihrenSchläfenlocken. Staunend betrachtete ich ihre dafür vorgeschriebeneAusstattung, den »Tallit«, den Gebetsmantel, und die »Tefillin«, die um Stirnund Arm gewickelten Gebetsriemen. Auch wunderte ich mich über die wippendenBewegungen ihrer Oberkörper - ich würde noch viel lernen müssen.
Tief in derNacht kam ich in Hamburg an, küßte die schlaftrunkenen Kinder, ließ mirerzählen, wie das Leben gewesen sei in der Zeit, als ich in der verwirrendenFremde war. Irgendwann morgens um drei, ich war hundemüde, goß ich mir einenWhisky ein und versuchte, mich zurechtzufinden in dem Kontrast zwischen meinemaufgeräumten Rothenbaum-Ambiente und dieser wilden, wirren, seit Tausenden vonJahren heiligen Stadt, die unser Zuhause werden sollte.
Auf demFernseher lag eine Kassette. Ich schob sie in den Recorder, ahnungslos. Dastand mein Vater vor dem Volksgerichtshof. Kerzengerade, elend in einem zugroßen Anzug, stumm steht er da in einer kurzen Sequenz, während die Stimme desVorsitzenden Roland Freisler keift und tobt. Ich sehe mich sitzen, fassungslos.35 Jahre war das her damals, ein Lidschlag in der Geschichte. Vor 35 Jahren -da war der Vater 45 Jahre alt, knapp fünf Jahre älter als ich auf diesem Sofain Hamburg. Sein Leben, seine Hoffnungen, alles war vorbei. Große Teile Deutschlandslagen in Trümmern. Der Krieg war verloren, auch wenn er sich noch ein quälendesJahr lang hinzog. Die Welt der Menschen dieser Zeit war zu Ende. Nie wiederwürden die Deutschen, so schien es, den Fluch, die Scham ihrer Jahre überwindenkönnen. Sie zahlten für ihre Hybris mit dem Verlust der Zukunft.
35 kurzeJahre. Und da komme ich, das jüngste Kind dieses todgeweihten Mannes dort imFernseher - tatsächlich im Fernseher! auf Video! -, da komme ich von einerprallbunten Reise aus dem Vorderen Orient zurück, aus einem jüdischen Land -ausgerechnet! Ich trinke Whisky - Whisky! - aus böhmischem Kristall, um michherum Bücher, Bilder, schöne Möbel. 35 Jahre. Ich starre auf diesen Mann mitdem erloschenen Gesicht - elf Tage nach diesen Bildern wird er tot sein,aufgehängt am Fleischerhaken in Plötzensee. Ich kenne ihn nicht, nicht denSchatten einer Erinnerung gibt es in mir. Ich war ein knappes Jahr alt, als derKrieg begann. Von da an war der Vater so gut wie nie zu Hause. Aber ich erkennemich in ihm - seine Augen sind meine Augen, ich weiß, daß ich ihm ähnlich sehe.Ich kneife mich in den Unterarm: Diese Haut gäbe es nicht ohne ihn. Ich wärenicht ich ohne ihn. Und was weiß ich über ihn? Nichts weiß ich.
Warum weißich nichts? Was bedeutet diese diffuse Familien-Übereinkunft des Nicht-Redensüber all die Jahre, wieso hat niemand dem Vater hinterhergespürt? Eltern werdenvon Kindern gemolken: Nahrung, Wärme, Spaß, Trost, Schutz, vor allem Liebewerden abgerufen, und da der Vater in dieser Hinsicht ausschied - war es das?Das mag für mich gelten, vielleicht. Doch wie war das für die älterenGeschwister, immerhin so gut wie erwachsen, als er starb - war er für die auchkein Thema? Doch. Als Legende. Sie haben sich gewappnet mit den immer gleichenAnekdoten über den Witz des Vaters, über seine Pedanterie. Es gab stets diesesfür den Vater reservierte liebevolle Gelächter.
Aber dieserMann da vor mir, nächtens im Fernseher, der ist keine Legende. Das ist einMensch aus Fleisch und Blut. Da steht er im großen Saal des BerlinerKammergerichts, um sich herum uniformierte Zuschauer, und er weiß, er wirdbinnen kurzem einen grauenhaften, jämmerlich einsamen Tod sterben. Haltung wardabei angesagt, Tapferkeit. Sie sind »männlich« gestorben, hieß es hinterher.Großer Gott! Das kann nicht sein. Jemand muß dich an die Hand nehmen, dichbegleiten nicht nur in die Hinrichtungsstätte in Plötzensee. Denn bis dahinhast du gelebt - und wer weiß das noch? Wie war denn dein Leben jenseits derGedenktafeln, die heute im Berliner Kammergericht oder imBundesverteidigungsministerium hängen, in Plötzensee oder in Halberstadt, wiewarst du jenseits der Bücher, in denen der Name auftaucht unter K wie Klamroth?Dein Tod hat mir die Wahrnehmung verstellt. Du warst nicht du - du warst immerdein Tod. Dabei bist du mehr als die sorgfältig umschiffte Schmerzzone in derPsyche meiner Mutter. Ich will dich nicht über Umwege. Ich will dich. Ich bindein Kind. In dieser Nacht der Rückkehr aus Jerusalem habe ich mir versprochen:Ich kümmere mich um dich.
Natürlichhabe ich sie gefragt - Else habe ich gefragt, andere, die ihn noch gekannthatten. Doch da war es schon viel zu spät, die Sprachregelung längst gefunden.Die hatte etwas zu tun mit den in staatlichen Gedenkreden apostrophierten Heldendes Widerstands; dazuzugehören, und sei es auch nur als Kind, war Ehre. Privatteilte Else ihr Leben ein in vorher und nachher: Vorher war Glanz, nachher warFron. Der Verlust des einen und die Mühsal der anderen wurden mit Haltungertragen, die Trauer über beides dem Kind gegenüber als Tabu manifestiert. ErstJahrzehnte später, als die Mutter längst der töchterlichen Fürsorge bedurfte,habe ich begriffen, daß sie ihr ganzes Elend abgeladen hatte bei meinerältesten Schwester, angefangen mit der Tatsache, daß Else 1944 der 21jährigenTochter, damals Chemie-Studentin, die Beschaffung von Gift für uns alleauftrug.
Wenn Elseerschöpft gewesen war ob meiner pubertären Renitenz, hat sie manchmal HansGeorg hervorgeholt als eine Art schwarzen Mann. »Das hättest du dich niegetraut, wenn dein Vater noch lebte«, hieß es dann, und ich habe geschnaubt vorVerachtung, wenn meine müde Mutter zu Argumenten griff, die mich nichterreichten. Süße, hinreißende, geschundene, zermürbte Mutter - hättest du mirdoch erzählt, was ich heute weiß: daß deine Ehe verschlissen war, daß der Vaterdich betrogen hat, daß ihr beide Hitler angebetet habt in den ersten Jahren, duvermutlich länger als er. Daß auch du, wenn schon nicht »männlich«, wie dasdamals hieß, deinerseits unendlich »tapfer« warst und in dieser allenthalbeneingeforderten Haltung dein Entsetzen über diesen Tod nie herausschreienkonntest, auch nicht deine Trauer über das Scheitern eures gemeinsamen Lebens.
Ich binElse dankbar, daß sie mir das nicht erzählt hat. Ich hätte damit nicht umgehenkönnen. Ich hätte mich nicht zurechtgefunden in den Trümmern ihrer Seele, wenneine Art Entscheidung nötig gewesen wäre zwischen dem Mann, dessen Tod ihnunangreifbar machte, und der Frau, die ich lieben wollte, mich meinetwegen anihr reiben. Bemitleiden wollte ich sie nicht. Damals nicht. In meinen jungenJahren war die Mutter die Meßlatte, an der ich wuchs, gegen die ich meineeigene Kraft erprobte. Ich hätte nicht ringen mögen mit den Schatten derVergangenheit und denke, ich war zufrieden mit der Tabuzone, die mir dasersparte.
Hans Georgwird hingerichtet am 26. August 1944, er geht den Weg vom »Todeshaus« inPlötzensee vermutlich wie alle anderen in Sträflingskleidung, die Hände auf demRücken gefesselt, die nackten Füße in Holzpantinen. Es ist ein strahlenderSommertag, 32 Grad, nahezu wolkenlos. Der Tod wird um 12.44 Uhr festgestellt,eingetragen beim Standesamt Berlin-Charlottenburg »auf mündliche Anzeige desHilfsaufsehers Paul Dürrhauer, wohnhaft Berlin, Manteuffelstraße 10«. DerAnzeigende, so wird vermerkt, sei »bekannt und erklärte, er sei vom Tode auseigener Wissenschaft unterrichtet«. Ich habe Paul Dürrhauer nicht fragenkönnen. Er ist 1976 gestorben. Ich muß ihn auch nicht fragen. Der StandesbeamteGluck hat am 28. August 1944 »in Vertretung« unterschrieben: »Todesursache:Erhängen«.
Ein Irrtum?Und wenn ja, wessen Irrtum? Hans Georg und Else waren beide Parteigenossen, ereingetreten 1933, sie 1937, er war Mitglied der SS, sie war Ortsgruppenführerinder NS-Frauenschaft. Im Aufnahmeantrag hat sie bestätigt, sie sei»deutsch-arischer Abstammung und frei von jüdischem oder farbigemRasseeinschlag«, und ihre Unterschrift auf dem Formular ist ausladend undselbstbewußt wie immer.
Wer sich inGefahr begibt, kommt darin um. So steht es im Alten Testament. Neben den Elternmußten Millionen Deutsche das bitter erfahren. Haben sie begriffen, daß dieGefahr nicht in erster Linie die Kriegsgegner waren, sondern sie selber? Elseerst mal nicht. 1947 noch schreibt sie in die Tagebücher, die sie für jedesKind führt von der Geburt bis zur Konfirmation: »Ich sah voll Grauen auf diesinnlose Zerstörung und das Hinopfern des Volkes, nur weil ein Mann zu feigewar einzugestehen, daß er gescheitert war.« Ein Mann? Gescheitert? War nichtschon der Beginn ein Höllentanz?
Nicht fürElse. Jubelnd schreibt sie 1942 einem Freund an der Ostfront: »Es geht jawunderbar vorwärts - 80 km von Stalingrad entfernt! Sind wir dort, ist dieZange doch zu!« Im selben Jahr in einem ihrer Sonntagsbriefe: »Wenn wirwirklich nach Alexandria kommen, wo bleibt dann England mit der Flotte? Wennsie raus müssen, gehört uns das Mittelmeer!!!« Gehört uns? So war das. Es gingum Lebensraum. Hans Georg schreibt zwar von der Front in Rußland 1942, manmüsse die unterworfenen Völker gewinnen: »Wer ein Volk führen will, muß seineSprache beherrschen, da er sonst nicht bis zu seiner Seele vordringt, und diegilt es zu erobern - mit der Knechtung des Leibes ist es nicht getan!« An derLegitimität der »Knechtung« aber und an dem Führungsanspruch besteht keinZweifel.
Wann hat erverstanden, in welchem Strudel er sich befand? Wann ist Hans Georgs Bewußtseinfür das entsetzliche Unrecht dieses Dritten Reiches entstanden, wenn überhaupt?Wann hast du erkannt, daß du betrogen wurdest? Im Urteil des Volksgerichtshofsheißt es, Hans Georg habe am 10. Juli 1944 von der Verschwörung erfahren unddie Beteiligten nicht angezeigt. Dafür mußte er hängen. Das Urteil sagt aberauch, er und sein Schwiegersohn Bernhard Klamroth seien unter den sechsAngeklagten diejenigen, die »dem Mordanschlag unmittelbar selbst am nächsten«gestanden hätten - wie paßt das zusammen?
Ich weißdie Wahrheit nicht. Es spricht vieles dafür, daß Hans Georg als erfahrenerAbwehrmann die Vernehmer in Ernst Kaltenbrunners Reichssicherheitshauptamtgetäuscht, daß er, wie einige andere Männer des 20. Juli auch, bis unmittelbarvor seiner Hinrichtung hoch gepokert und verloren hat. Er kannte zu viele ausdem Verschwörerkreis, als daß er bis zehn Tage vor dem Attentat ahnungslosgewesen sein kann. Zum Teil waren das Beziehungen noch aus derFahnenjunker-Ausbildung im Ersten Weltkrieg wie zu Wolf-Heinrich Graf Helldorfund Michael Graf Matuschka, Hans Georg nannte Ewald von Kleist seinen »Onkel«,für Axel von dem Bussche war er ein väterlicher Freund - und Hans Georg hatFreundschaften, Verbindungen, Netzwerke sein Leben lang gepflegt.
Mehr als 20der Verschwörer haben bei den Vernehmungen durch die Gestapo und vor Gerichtdie Judenverfolgung als Grund für ihre Beteiligung angegeben, die »Morde inPolen«, die Behandlung der Kriegsgefangenen sowie der Zivilbevölkerung in deneroberten Gebieten. Doch spielte auch bei ihnen militärische Empörung mit.Diese Offiziere wollten ein zweites Versailles vermeiden, sie opponierten gegenHitlers Inkompetenz als Oberster Kriegsherr, es ging ihnen um ein erträglichesKriegsende, nicht um Sühne für untilgbare Schuld. Die Größe Deutschlands, diedeutsche Ehre standen auf dem Spiel, diese gottverdammte Fahne, die siebesudelt sahen.
Die Schweinereien,das waren für die Militärs die der anderen. Die deutsche Wehrmacht war sauber,nicht wahr? Noch Helmut Kohl schwadronierte von dem Unrecht, »das in deutschemNamen begangen worden« sei, als wären die Gremlins gekommen, schwarzweißroteBanner vorne weg, und hätten gemordet, geplündert, vergast, enteignet,verwüstet, als hätten Außerirdische deutsches Blut und deutschen Bodenerfunden, »minderwertige« Rassen kurzerhand ausgerottet, hätten »ein Volk, einReich, ein Führer« gegrölt und »heute gehört uns Deutschland und morgen dieganze Welt«.
Also gut.Hans Georg nicht. Der grölte nicht. Der sang. Aber er machte alles, was ermachte, für »eine bessere Zukunft unserer Kinder«. Wo denn? In diesem»Lauselande«, wie er Rußland nennt? Und wieso überhaupt? Es ging den Kindernblendend, ihm auch. Was wollte er denn noch? Es gab eine anständige Familie,eine anständige Firma, anständige Freunde, er selbst ist als ein anständigerDeutscher um die halbe Welt gereist. Ob er zugesehen hat auf seiner Wolke, als ichmit elf in meiner Schule in Stockholm geschnitten wurde von den anderen, diemit einem deutschen Kind nicht spielen durften? Hat er meinen Kummerverstanden, wenn an unserem Weihnachtsbaum keine Nationalfähnchen hängenkonnten wie üblich in Dänemark oder Schweden, wo Fahne und Staat kein Grund zumSchämen sind? Ist er bei mir gewesen, als ich Korrespondentin in Israel wurdeund mich mühsam gegen mein Land behaupten lernte?
»Komm, Wibke,jetzt gehen wir zu Vater, uns die Gnade zu holen«, hat meine älteste Schwestermit letzter Entschlossenheit von mir verlangt. Das war unmittelbar vor ihremTod 1990. Vier Jahrzehnte lang hatte sie den toten Hans Georg bei Elsevertreten, hatte sie geordnet, geglättet, die Sturmschäden im Leben unsererMutter geflickt und die immer wieder aus dem Ruder laufenden Geschwister aufKurs gehalten. Sie selbst und was sie hätte werden können waren von denAnforderungen dieser Familie zugeschüttet worden. Jetzt wollte sie, daß derübermächtige Hans Georg, der gemordete Vater ihr die Absolution erteilt.
Wie bitte?!Um sicherzugehen, habe ich nachgefragt: ob sie den Herrgott meine odertatsächlich den Vater. Doch. Den wollte sie. Seine Gnade. Gütiger Gott, oderwer auch immer, ich danke dir, daß ich das nicht muß. Ich kann den Vaterbetrachten, ich kann versuchen, ihn zu verstehen, vielleicht kann ich ihnlieben, und ich würde ihn gern trösten. Ich habe Glück gehabt.
EinfachGlück war es schließlich, daß ich mich nie entscheiden mußte. Mir hat man keineJungmädel-Uniform angezogen. Das einzige, was ich aushalten mußte, waren diesegräßlichen Rotkäppchen-Kleider, die nach Kriegsende aus den Hakenkreuzfahnengenäht wurden. Ich habe mich nie etwas trauen müssen, wenn ich denn dagegengewesen wäre. Wäre ich? Eine ganze Generation hat mir etwas vorgelebt, was inmeinem Leben niemals stattfinden durfte. Das Erbe all dieser Väter warauszuschlagen. Ich bin der kollektiven Hörigkeit entkommen.
Die großeSchwester nicht. Empörtes Mitgefühl überfällt mich beim Lesen ihrer Tagebücher.Im November 1944 schreibt sie, da ist sie 21: »Ich kann nicht von ihm lassenund von meinem Glauben an ihn, dem ich gedient habe und dienen wollte meinLeben lang. So sehr gehöre ich dem an, der meinen Vater gemordet hat, daß nochkein klarer Gedanke gegen ihn aufzustehen gewagt hat.« Und wenig später: »MeinFührer, ich war eine der Treuesten. Noch bin ich nicht los von Dir, mein Führer- noch wünsche ich, vor Dir zu stehen, von Deinem Blick festgehalten, und dannbefiehl mir, was Du willst, ich werde sterben für Dich.« Und dann: »Ich habegeglaubt und bin betrogen. Ich habe gearbeitet für den Teufel - ich habegeliebt, mein Führer! Zum ersten Mal spüre ich, daß ich hassen könnte einwilder Haß, der wildere Liebe war. Haß und Vernichtung dem, der uns vernichtethat, und wenn ich sterben soll, so will ich sterben im Kampf gegen Dich! Mördermeines Vaters!«
Wenn ich dadas Pathos rausnehme und die hirnrissige Hingabe, mit der die Schwester nicht alleinstand,spüre ich dahinter nichts, was diese junge Frau hätte bewahren können vor demAnheimfallen. Da steht sie 11jährig mit Freunden und Geschwistern rund um denFlügel im Oktober 1933. Der Vater haut in die Tasten, die Kinder reckenstrahlend die Arme zum Hitlergruß in die Luft. Die Mutter auch. »Wir singenHitlerlieder mit Vater«, schreibt Else ins Kindertagebuch - sie konnte doch garnicht singen, verdammt noch mal. Sie war die Krähe unter all den Lerchen in derFamilie, die einzige, die nie den Ton traf.
Ständig istin diesen Tagebüchern die Rede von »hochpolitischen und erhebenden Zeiten«, vonHitlers »genialem Gespür« für den richtigen Zeitpunkt wofür auch immer. HansGeorg beschreibt mehrfach in seinen Sonntagsbriefen von der Ostfront, wie die Führer-Redenim Radio »Offiziere, Unteroffiziere und Männer« zusammenschweißen, auch wenn»in wirklich ekelhafter Nähe die schweren Brocken eines Feindfliegerangriffsniedergehen«. Draußen kracht die Welt in Trümmer, »aber alles übertönt dieStimme des Führers, der alle Männer unbeirrt und hingegeben lauschen«.
SolcheBriefe erreichen auch die Kinder - neun Durchschläge schafft dieSchreibmaschine, jeder kriegt seinen eigenen, wöchentliche Bestärkung, daßrundum alles richtig und gut sei. Selbst meine nächstältere Schwester - beiHans Georgs Tod gerade elf - ist einbezogen. Mitleid artikuliert sich noch1947, als Else die Zeit seit dem Attentat für sie beschreibt: »Für Dich war esam schwersten, Ihr seid mit der Erziehung zur Liebe und Bewunderung für Hitlergroß geworden, und Du liebtest Deinen Vater so sehr. Wie sollte daszusammenstimmen?« Ja, wie denn? Else erklärt es dem Kind mit einemvollbesetzten Zug, der auf einen Abgrund zurase. Die Männer des 20. Juli hättenin dem Anschlag ein Mittel gesehen, den Zug noch aufzuhalten. Für Außenstehendehabe es so ausgesehen, als wollten sie den Absturz beschleunigen, deshalbhätten sie unehrenhaft sterben müssen. Die wahre Ehre aber liege in demVersuch, die Katastrophe aufzuhalten, und die könne dem Vater keiner nehmen.Das Kind war getröstet - schreibt Else.
Ehre.Unehrenhaft sterben. Die Katastrophe. Erst wir Nachkommen haben uns mit derKatastrophe herumgeschlagen, die unser Land anderen zugefügt hat. Für dieEltern war die Katastrophe der verlorene Krieg, die Zerschlagung Deutschlandsund dessen, wofür es stand. Meine Schwester erzählte mir, wie Else nach demKrieg von den Vernichtungslagern erfahren hat. Weiß wie die Wand habe sie inder Tür gestanden und gesagt: »Das wird man uns Deutschen nie verzeihen.« UnsDeutschen. Auschwitz - eine Hypothek. Kein Wort, nie, in all den Jahren nicht,über die Opfer.
So kommeich nicht weiter. Wer bin ich denn, heute zu urteilen, wo es darum geht,Früheres zu begreifen? Hans Georg und Else haben bezahlt, jeder für sich. Ichhabe da keine Rechnungen aufzumachen und muß meinen Hochmut zügeln. »Ihr, dieihr auftauchen werdet aus der Flut, in der wir untergegangen sind, gedenkt,wenn ihr von unseren Schwächen sprecht, auch der finsteren Zeit, der ihrentronnen seid«, mahnt Bertolt Brecht die Nachgeborenen. 60 Jahre später kannich hier nicht sitzen ohne Erbarmen und »recht haben«. Mein Glück war dieZäsur. Ich habe angefangen, als alles aufgehört hatte. Was ist mit denen, diebeides gelebt haben? Sollten sie, wie von DDR-Bürgern oft verlangt, die ersten40 Jahre ihres Lebens für ungültig erklären? Immerzu Buße?
Das kann esnicht sein. Verstehen will ich, wie entstanden ist, was meine, die Generationder Nachgeborenen so beschädigt hat. Dazu muß ich zurück in die Geschichtederer, die meine Geschichte geschrieben haben, zurück also zu den Altvorderenin der Familie. Ich muß nach Halberstadt.
© EconVerlag
- Autor: Wibke Bruhns
- 2007, Neuauflage, 416 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 11,4 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548367488
- ISBN-13: 9783548367484
- Erscheinungsdatum: 16.08.2005
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