Erwählte der Ewigkeit / Midnight Breed Bd.10
Roman. Deutsche Erstausgabe
Der Orden der Vampire wird von einem finsteren Widersacher bedroht, der immer mehr an Macht gewinnt. Der Vampir Sterling Chase, der mit den dunklen Abgründen seines Wesens ringt, beschließt, sich zu opfern, um dem gefährlichen Gegner ein für allemal das...
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Produktinformationen zu „Erwählte der Ewigkeit / Midnight Breed Bd.10 “
Klappentext zu „Erwählte der Ewigkeit / Midnight Breed Bd.10 “
Der Orden der Vampire wird von einem finsteren Widersacher bedroht, der immer mehr an Macht gewinnt. Der Vampir Sterling Chase, der mit den dunklen Abgründen seines Wesens ringt, beschließt, sich zu opfern, um dem gefährlichen Gegner ein für allemal das Handwerk zu legen. Doch seine Pläne werden durchkreuzt, als eine junge Sterbliche zwischen die Fronten des wachsenden Konfliktes gerät. Eine Frau, die ein ungeahntes Geheimnis verbirgt ...Der zehnte Band der erfolgreichen Vampirsaga "Midnight Breed" von Bestseller-Autorin Lara Adrian!
Lese-Probe zu „Erwählte der Ewigkeit / Midnight Breed Bd.10 “
Erwählte der Ewigkeit von Lara Adrian3
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»Bitte treten Sie ein, Ms Fairchild. Das dürfte nicht lange dauern.« Der Detective, der sie im Revier empfangen hatte, öffnete die Tür zu dem Raum für die Gegenüberstellung der Zeugen und ließ ihr den Vortritt. Drinnen warteten bereits mehrere grimmig blickende Männer in dunklen Anzügen und ein paar uniformierte Polizeibeamte auf sie.
Tavia erkannte die FBi-Agenten, die man ihr in den Stunden nach der Schießerei auf der Weihnachtsfeier des Senators vorgestellt hatte. Sie nickte der Gruppe grüßend zu und trat in den Raum ein.
Es war dunkel wie in einem Kino, die einzige Lichtquelle war die große Glasscheibe mit Blick in den leeren Gegenüberstellungsraum auf der anderen Seite. Neonröhren an der Decke tauchten den Raum in einen grellen weißen Schein, was ihn nicht gerade einladender machte. Über die Rückwand zog sich in zwei Metern Höhe eine Markierungslinie, darüber in regelmäßigen Abständen die Zahlen eins bis fünf.
Der Detective zeigte auf einen von mehreren vinylgepolsterten Stühlen vor dem großen Sichtfenster. »Wir fangen gleich an, Ms Fairchild. Bitte nehmen Sie Platz.«
»Danke, ich stehe lieber«, antwortete sie. »Und bitte, Detective Avery, nennen Sie mich Tavia.«
Er nickte, dann stapfte er in die hintere Ecke hinüber, wo ein Wasserspender und eine Kaffeemaschine standen. »ich würde ihnen ja Kaffee anbieten, aber der ist sogar grässlich, wenn er frisch ist, und so spät am Tag ist er schlimmer als Rohöl.« Er stellte einen Papierbecher unter den Wasserspender und zog am Hebel. in dem durchsichtigen Behälter sprudelten einige große Blasen, als der Becher sich füllte. »Spezialität des Hauses«, sagte er, drehte sich zu ihr um und hielt ihr den Becher hin. »Möchten Sie?«
»Nein danke.« Obwohl sie seine Bemühungen, eine entspannte Atmosphäre für sie zu schaffen, zu schätzen wusste, hatte sie kein Interesse an höflichem Geplänkel oder weiteren Verzögerungen. Sie hatte hier einen Job zu erledigen - und einen Laptop voller Termine, Excel-Tabellen und Präsentationen, die sie noch überarbeiten musste, sobald sie nach Hause kam. Normalerweise machte es ihr nichts aus, wenn aus Überstunden eine Nachtschicht wurde. Um ihr Privatleben hatte sie sich ja weiß Gott nicht zu sorgen.
Aber heute Nacht war sie angespannt, spürte die seltsame Mischung aus geistiger Überreizung und physischer Erschöpfung, wie immer nach einer der ausgedehnten Untersuchungen und Behandlungen in der Privatklinik ihres Hausarztes. Sie hatte den größten Teil des Tages bei ihrem Spezialisten verbracht, und obwohl sie nicht begeistert gewesen war, am Abend auch noch einen Zwischenstopp auf dem Polizeirevier einzulegen, wollte sich ein Teil von ihr persönlich davon überzeugen, dass der Mann, der vor einigen Tagen das Feuer auf einen Saal voller Menschen eröffnet hatte und für den heutigen Bombenanschlag in der Innenstadt verantwortlich war, tatsächlich hinter Schloss und Riegel saß, wo er hingehörte.
Tavia ging näher auf das Sichtfenster zu und tippte prüfend mit dem Fingernagel dagegen. »Die muss ziemlich dick sein.«
»ist sie. Sechs Millimeter dickes Sicherheitsglas.« Avery kam zu ihr herüber und nahm einen Schluck Wasser. »Es ist ein Einwegspiegel. Wir können die auf der anderen Seite sehen, aber die uns nicht, für sie ist es ein Spiegel. Dasselbe gilt für den Ton. Unser Raum hier ist schalldicht, aber wir bekommen den Ton von der anderen Seite über Lautsprecher. Wenn also gleich die bösen Jungs da drüben an der Wand stehen, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, dass sie Sie identifizieren oder sie hören können, was Sie sagen.«
»ich mache mir keine Sorgen.« Tavia spürte nichts als Entschlossenheit, als sie dem Mann über dem Rand seines Papierbechers in die Augen sah. Dann sah sie sich zu den anderen Beamten und Agenten um. »Könnten wir dann anfangen? ich wäre so weit.«
»Okay. Gleich werden zwei Beamte eine Gruppe von vier oder fünf Männern nach drüben bringen. Sehen Sie sich die gut an und sagen Sie mir, ob einer von ihnen der Mann sein könnte, den Sie auf der Weihnachtsfeier des Senators gesehen haben.« Der Detective lachte leise und zwinkerte seinen Kollegen zu. »Nach der detaillierten Personenbeschreibung, die Sie uns nach dem Anschlag gegeben haben, dürfte das ein Kinderspiel für Sie sein.«
»ich tue mein Bestes«, antwortete sie.
Er trank seinen Becher aus und zerdrückte ihn in der Faust. »Normalerweise geben wir keine Informationen über unsere Ermittlungen weiter, aber da der Kerl alles gestanden und sein Recht auf einen Anwalt abgelehnt hat, handelt es sich bei dieser Gegenüberstellung um eine reine Formalität.«
»Er hat gestanden?«
Avery nickte. »Er weiß, dass wir ihn wegen widerrechtlichen Betretens eines Grundstücks und versuchten Mordes drankriegen. Da kann er sich nicht rausreden, das Phantombild nach ihren Angaben ist absolut eindeutig, und von seiner Flucht hat er noch frische Schussverletzungen.«
»Und das Bombenattentat heute?«, drängte Tavia und sah sich zu den Agenten der Bundespolizei um. »Er hat zugegeben, auch dafür verantwortlich zu sein?«
Einer der FBi-Agenten nickte zustimmend. »Hat nicht einmal versucht, es zu leugnen. Sagt, er hätte das ganze Ding inszeniert.«
»Aber ich dachte, daran waren noch andere beteiligt. Die Verfolgungsjagd mit der Polizei lief den ganzen Tag auf allen Kanälen. ich habe gehört, alle drei Attentäter wurden auf einem privaten Anwesen von der Polizei erschossen.«
»Das ist korrekt«, bemerkte Avery. »Er hat ausgesagt, die drei Extremisten aus Maine für die praktische Ausführung des Bombenanschlags auf das UN-Gebäude rekrutiert zu haben. Die Hellsten hat er offenbar nicht erwischt, sie haben uns ja direkt zu ihm geführt. Aber er hat keine Gegenwehr geleistet, kam unbewaffnet aus dem Haus und hat sich der Polizei ergeben, sobald sie auf dem Grundstück eintraf.«
»Sie meinen also, er wohnt dort?«, fragte Tavia. Sie hatte Bilder von dem Anwesen mit seinem ausgedehnten Grundstück in den Nachrichten gesehen. Es war fast ein Palast. Der helle dreistöckige Kalksteinbau mit seinen hoch aufragenden Mauern, schwarz lackierten Türen und hohen Spitzbogenfenstern schien eher zum alten Geldadel Neuenglands zu passen als zu einem gewalttätigen Wahnsinnigen mit terroristischen Neigungen.
»Wir konnten den Eigentümer der Immobilie noch nicht ermitteln«, sagte der Detective zu ihr. »Das Anwesen wird seit über hundert Jahren treuhänderisch verwaltet; um an den Grundbucheintrag zu kommen, haben wir mit mindestens zehn Anwaltsfirmen zu tun. Unser Täter behauptet, er wohnt dort seit ein paar Monaten zur Miete, weiß aber nichts über den Eigentümer. Er sagt, es wäre möbliert vermietet worden, ohne Vertrag, und er zahlt die Miete in bar an eine der renommiertesten Anwaltskanzleien in der City.«
»Hat er gesagt, warum er das alles getan hat?«, fragte Tavia.
»Wenn er den Anschlag auf den Senator und den Bombenanschlag gestanden hat, hat er ihnen auch eine Begründung angegeben?«
Detective Avery zuckte mit den Schultern. »Warum tun Verrückte so etwas? Er hatte keine konkrete Begründung dafür. Tatsächlich ist dieser Typ uns fast genauso ein Rätsel wie das Haus, in dem er wohnt.«
»inwiefern?«
»Wir wissen nicht einmal seinen richtigen Namen. Zu dem, den er uns angegeben hat, existiert keine Sozialversicherungsnummer, auch keine nachweisbaren Beschäftigungsverhältnisse. Kein Führerschein, keine Wagenzulassung, keine Kreditkarten, kein Wählerausweis, gar nichts. Als wäre der Typ ein Geist. Alles, was wir finden konnten, war eine Spende an eine Ehemaligen-organisation der Harvard-Universität unter seinem Namen. Und damit endet die Spur.«
»Nun, das ist immerhin ein Anfang«, antwortete Tavia.
Der Detective stieß ein grunzendes Lachen aus. »Wäre es wohl, wenn diese Information nicht aus den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts wäre. Das ist nicht unser Mann. Beim Schätzen liege ich oft daneben, aber der ist garantiert noch keine neunzig Jahre alt.«
»Nein«, murmelte Tavia und dachte an Senator Clarences Weihnachtsparty zurück, an den Mann, den sie dabei beobachtet hatte, wie er aus der Galerie im ersten Stock des Hauses geschossen hatte. Sie hätte ihn etwa gleich alt geschätzt wie sie, maximal Mitte dreißig. »Vielleicht ein Verwandter von ihm?«
»Vielleicht«, sagte der Detective. Er sah auf, als sich die Tür des anderen Raums öffnete und ein uniformierter Beamter eintrat, der die Verdächtigen anführte. »Okay, es geht los, Tavia. Showtime.«
Sie nickte und trat unwillkürlich einen Schritt von der Scheibe zurück, als der erste Tatverdächtige den Gegenüberstellungsraum betrat.
Er war es - den sie hier auf dem Revier identifizieren sollte.
Sie erkannte ihn sofort, die wie gemeißelt wirkenden Wangenknochen, den angespannten Kiefer und das unversöhnlich gereckte, eckige Kinn. Sein kurzes goldbraunes Haar hing ihm zerzaust in die Stirn, aber nicht tief genug, um seine durchdringenden stahlblauen Augen zu verbergen. Und er war riesig - genauso groß und muskulös wie in ihrer Erinnerung. Unter den kurzen Ärmeln seines weißen T-Shirts wölbten sich seine Bizepsmuskeln, weite, fleckige graue Trainingshosen hingen ihm von den schmalen Hüften und ließen mächtige Oberschenkelmuskeln erahnen.
Wie ein Raubtier kam er in den Raum, und der Trotz, die ungerührte Arroganz, die er ausstrahlte, ließen die Tatsache, dass er ein Häftling mit auf den Rücken gefesselten Händen war, bedeutungslos wirken. Er kam als Erster in den Raum, mit langen Gliedern und einem geschmeidigen Gang, der definitiv etwas Animalisches an sich hatte. ihr fiel auf, dass er leicht hinkte. Auf seinem rechten Oberschenkel war ein Blutfleck, ein dunkelroter Klecks sickerte in den helleren Stoff seiner Trainingshose. Tavia beobachtete, wie er bei jedem seiner langen Schritte ein wenig größer wurde, als er zum Ende des Gegenüberstellungsraumes durchging.
Sie fröstelte ein wenig in ihrem warmen Wintermantel, und ihr wurde leicht übel. Gott, den Anblick von Blut hatte sie noch nie ertragen können.
Über die Lautsprecher wies einer der Polizeibeamten den Mann an, auf Position vier stehen zu bleiben und sich mit dem Gesicht zum Fenster zu stellen. Er tat es, und als er so dastand, sah er ihr in die Augen. Und zwar direkt.
Erschrecken durchzuckte sie. »Sind Sie sicher, dass sie mich nicht - «
»ich verspreche ihnen, Sie sind hier absolut sicher«, versicherte ihr Avery.
Und doch blieben diese sengenden blauen Augen unablässig auf sie gerichtet, sogar nachdem auch der letzte der drei anderen Männer in den Raum geführt worden war und angewiesen wurde, sich mit dem Gesicht zur Scheibe aufzustellen. Diese anderen Männer standen zusammengesunken da und sahen zu Boden oder sie bewegten sich nervös und ihre Blicke irrten ziellos herum, ohne in der riesigen verspiegelten Scheibe etwas anderes zu sehen als ihr eigenes Spiegelbild.
»Sind Sie so weit?«, drängte der Detective neben ihr.
Sie nickte, ließ ihre Augen über die Reihe der übrigen drei Männer wandern, obwohl es gar nicht mehr nötig war. Die anderen sahen ihm überhaupt nicht ähnlich. Sie waren eine wilde Mischung, unterschiedlich gebaut, unterschiedlich groß und auch unterschiedlich alt. Einer war strichdünn, sein strähniges braunes Haar hing ihm schlaff auf die Schultern. Ein anderer war gebaut wie ein Ochse, mit breiten Schultern und einem riesigen Bauch. Er hatte dicke, dunkle Locken, ein bösartiges Gesicht und wütende kleine Augen über seiner roten, geschwollenen Hakennase. Der Dritte war ein unförmiger Mann mit Halbglatze, wohl um die fünfzig, der unter dem hellen Schein des Deckenstrahlers heftig schwitzte.
Und dann war da er ... dieser intensive, fast grausam gut aussehende Attentäter, der sie nach wie vor nicht aus den Augen ließ. Tavia war sonst nicht so leicht zu erschüttern, aber diesen Blick konnte sie kaum ertragen - nicht einmal hier, sicher verborgen im abgedunkelten Beobachtungsraum hinter sechs Millimeter dickem Sicherheitsglas und umgeben von einem halben Dutzend bewaffneter Polizeibeamten.
»Das ist er«, stieß sie hervor und zeigte auf Position vier, und obwohl es eigentlich unmöglich war, hätte sie schwören können, dass sein Mundwinkel sich zur Andeutung eines Lächelns kräuselte. »Das ist er, Detective Avery. Das ist der Mann, den ich auf der Weihnachtsfeier gesehen habe.«
Avery tätschelte ihr leicht die Schulter, als die Cops im anderen Raum die Männer jetzt aufforderten, einzeln hervorzutreten. »ich weiß, ich habe gesagt, dass das eine reine Formalität ist, aber wir müssen sichergehen, dass Sie sich ganz sicher sind, Tavia - «
»ich bin mir absolut sicher«, antwortete sie knapp, als das Blut in ihren Adern wie eine innere Alarmsirene zu summen begann. Sie sah zurück in den anderen Raum, gerade als Nummer vier seine zwei Schritte nach vorne trat. »Wir können die Gegenüberstellung beenden. Dieser Mann ist der Schütze. ich würde sein Gesicht überall erkennen.«
»Na gut, in Ordnung, Tavia.« Er lachte leise. »Was habe ich ihnen gesagt? Wir sind im Handumdrehen fertig. Das haben Sie hervorragend gemacht.«
Sie tat das Lob als unnötig ab und schüttelte milde den Kopf. »Kann ich ihnen sonst noch behilflich sein, Detective?«
»Äh, nein. Wir brauchen nur noch ein paar Minuten, um hier alles fertig zu machen, und dann können Sie gehen. Wenn Sie möchten, bringe ich Sie gern nach Hause - «
»Vielen Dank, aber das ist nicht nötig.« Als sie das sagte, sah sie plötzlich wieder dem Mann in die Augen, der auf Senator Clarences Weihnachtsfeier beinahe jemanden getötet hätte. Wenn er wirklich auch der Kopf hinter dem Bombenanschlag heute Morgen gewesen war, hatte er auch den Tod von mehreren unschuldigen Menschen zu verantworten. Tavia hielt dem durchdringenden Blick stand und hoffte, dass er durch das Glas das ganze Ausmaß ihrer Verachtung sehen konnte. Nach einem langen Augenblick wandte sie sich abrupt von dem Sichtfenster ab. »Wenn das alles ist, Detective, der Senator hat morgen früh einen wichtigen öffentlichen Auftritt, und ich habe heute Abend noch eine Menge Logistik und andere Arbeit zu erledigen.« »Tavia Fairchild. «
Als sie das tiefe Knurren hörte, ihren Namen so unerwartet aus dem Mund eines Fremden, blieb sie auf der Stelle wie angewurzelt stehen. Sie brauchte sich nicht zu fragen, wer gesprochen hatte. Seine tiefe Stimme fuhr ihr mit derselben kalten Zielsicherheit durch den Körper wie die Kugeln, die er neulich auf die Menge der Partygäste abgefeuert hatte.
Trotzdem sah Tavia sich schockiert zu dem Detective und den anderen Agenten und Beamten um. »Dieser Raum ... Sie hatten doch eben gesagt - «
Avery murmelte hektisch eine Entschuldigung und griff nach einem Wandtelefon neben dem Sichtfenster. Während er in den Hörer sprach, redete der Mann auf Position vier weiter mit ihr und sah sie unverwandt an, als wäre da nichts zwischen ihr und seinem tödlichen Blick.
Er trat einen Schritt vor. »ihr Boss ist in Gefahr, Tavia. Und auch Sie könnten es sein.«
»Verdammt, kriegt den Bastard sofort unter Kontrolle«, rief einer der Bundesagenten dem Detective am Telefon zu.
Die Beamten im Gegenüberstellungsraum traten hektisch in Aktion. »Nummer vier, schweigen Sie und treten Sie wieder in die Reihe!«
Er ignorierte den Befehl. Trat noch einen weiteren Schritt vor, sogar als der zweite Cop sich ihm von der anderen Raumseite her näherte. »ich muss ihn finden, Tavia. Er muss wissen, dass Dragos ihn töten wird - oder noch schlimmer. Vielleicht ist es schon zu spät.«
Stumm schüttelte sie den Kopf. Was er sagte, ergab keinen Sinn. Senator Clarence war gesund und munter; sie hatte ihn am Vormittag im Büro gesehen, bevor er zu einem langen Tag voller Besprechungen und Geschäftstermine in die Innenstadt aufgebrochen war.
»ich weiß nicht, wovon Sie reden«, murmelte sie, obwohl er sie doch eigentlich gar nicht hören konnte. Er sollte sie auch nicht sehen können und tat es trotzdem. »ich kenne niemanden namens Dragos.«
Jetzt näherten sich ihm die Cops von beiden Seiten, packten ihn je an einem gefesselten Arm und versuchten, ihn zur Wand zurückzuzerren. Er schüttelte sie mühelos ab, seine ganze Aufmerksamkeit völlig auf Tavia gerichtet. »Hören Sie mir zu. Er war auf der Weihnachtsfeier. Einer von den Gästen.«
»Nein«, sagte sie, jetzt ganz sicher, dass er sich irrte. Sie hatte jede einzelne der 148 Einladungen persönlich von Hand geschrieben und adressiert, und solche Einzelheiten vergaß sie nie. Wenn es sein musste, konnte sie jeden Namen aufsagen und sich an jedes Gesicht auf der Gästeliste erinnern. Und unter diesem Namen war keiner da gewesen.
»Dragos war dort, Tavia.« Die Cops im Gegenüberstellungsraum versuchten wieder, ihn zu packen. »Er war dort, ich habe auf ihn geschossen. ich wünschte nur, ich hätte den Bastard getötet.«
Sie spürte, wie sie langsam den Kopf schüttelte und die Brauen runzelte, als sie den Wahnsinn dessen erfasste, was er sagte. Es hatte nur einen einzigen Verletzten bei der Weihnachtsfeier gegeben, einen von Senator Clarences großzügigsten Wahlkampfsponsoren, ein erfolgreicher Bostoner Geschäftsmann und Wohltäter namens Drake Masters.
»Sie sind verrückt«, flüsterte sie. Doch noch während sie die Worte aussprach, glaubte sie sie selbst nicht ganz. Der Mann, der ihr durch die Scheibe in die Augen sah, obwohl das gar nicht möglich war, wirkte nicht verrückt. Er wirkte gefährlich und intensiv und schien sich dessen, was er sagte, absolut sicher. Er wirkte tödlich, selbst mit hinter dem Rücken gefesselten Händen.
Er sah ihr weiter unverwandt in die Augen. ihn als Geisteskranken abzutun, wäre einfacher zu akzeptieren gewesen als das eisige Angstgefühl, das sich unter seinem Blick in ihrem Magen ausbreitete. Nein, was immer seine Absichten auf der Weihnachtsfeier des Senators gewesen waren, Wahnsinn steckte nicht dahinter.
Und doch ergab das, was er sagte, keinen Sinn.
»Der Typ ist gestört«, sagte einer der Bundesagenten. »Machen wir hier Schluss und lassen die Zeugin gehen.«
Detective Avery nickte. »ich möchte mich bei ihnen dafür entschuldigen, Tavia. Wir wollen Sie nicht länger aufhalten.« Er ging um sie herum zur Tür, sein angespanntes Gesicht zeigte eine Mischung aus Bestürzung und Verärgerung, als er den Arm ausstreckte und sie zur Tür winkte. Die anderen Beamten und Bundesagenten standen ebenfalls langsam auf und machten Anstalten, ihnen zu folgen.
Aus dem Gegenüberstellungsraum hörte Tavia Kampfgeräusche. Sie versuchte, um den Detective herumzuspähen, aber er führte sie bereits vom Sichtfenster fort.
Als sie hinausgehen wollten, wurde draußen kurz angeklopft, und die Tür öffnete sich vor ihnen. Senator Clarence stand in der Halle, Schneeflocken auf dem adrett frisierten Haar und dem dunkelblauen Wollmantel. »Tut mir leid, ich konnte nicht früher. Meine Besprechung mit dem Bürgermeister hat länger gedauert.« Er warf Tavia einen Blick zu, und sei ne freundliche Miene verdüsterte sich ein wenig. »Gibt es ein Problem? Tavia, ich habe Sie noch nie so blass gesehen. Was ist hier los?«
Bevor sie seine Besorgnis abtun konnte, trat der Senator in den Zeugenraum. »Meine Herren«, murmelte er den anderen Polizeibeamten zur Begrüßung zu.
Als er sich dem Sichtfenster näherte, ertönte dahinter ein tiefes Knurren.
Das Geräusch hatte nichts Menschliches mehr. Es war ein gespenstisches Fauchen, das Tavia das Blut in den Adern gefrieren ließ. Schlagartig war sie in heller Alarmbereitschaft, alle ihre Instinkte riefen ihr eine Warnung zu, dass gleich etwas Schreckliches passieren würde. Sie wirbelte herum. »Senator Clarence, seien Sie vorsich- «
Zu spät.
Das Sichtfenster explodierte.
Glassplitter regneten in alle Richtungen, als etwas Riesiges durch die Öffnung brach und mitten im Beobachtungsraum auf dem Boden landete.
Es war einer der Häftlinge - der dunkelhaarige Schlägertyp im Patriots-Sweatshirt. Er heulte vor Schmerzen, seine Extremitäten waren unnatürlich verdreht, die Haut von Gesicht und Hals vom Aufprall aufgerissen und blutig.
Tavia sah sich erschrocken um.
Wo eben noch das einfach verspiegelte Sicherheitsglas gewesen war, war nur noch Luft.
Und dahinter der riesige, muskulöse Mann, Mordlust in den Augen.
Seine Handschellen hingen ihm nutzlos von den Handgelenken, er hatte sich irgendwie von ihnen befreit. Herr im Himmel, wie stark musste er sein, wenn er nicht nur das schaffte, sondern auch einen ausgewachsenen Mann durch eine Scheibe Sicherheitsglas werfen konnte? Und wie schnell musste er sich bewegen, um das zu tun, bevor die Polizeibeamten im Gegenüberstellungsraum ihn aufhalten konnten?
Kalte blaue Augen sahen an ihr vorbei und fielen wie Laserstrahlen auf Senator Clarence. »Gottverdammter Dragos«, fauchte der Mann voller Wut. »Er hat es schon geschafft, nicht wahr? Sie gehören ihm schon.«
Sein rechter Arm schoss nach vorne wie eine Kobra. Er griff durch die leere Fensteröffnung, packte Senator Clarence am Arm und riss ihn mit einem Ruck nach hinten, sodass der Senator das Gleichgewicht verlor. Er zerrte den liegenden Mann mit einer Hand zu sich heran, schleifte ihn im Handumdrehen durch die Scherben und Trümmer.
Oh Gott. Dieser Mann würde Senator Clarence töten.
»Aufhören!« Tavia bewegte sich, bevor es ihr selbst bewusst wurde. Sie packte die Stahlhandschellen an seinem Handgelenk und zog mit aller Kraft daran. »Nicht!«
ihr schwacher Versuch, ihn aufzuhalten, brachte ihn kaum aus dem Takt. Aber in diesem Sekundenbruchteil sah er ihr wieder in die Augen. Da war etwas Gespenstisches in diesen Augen ... Funken tanzten in ihnen, ein unheiliges Feuer schien in ihnen zu brennen. Etwas, das wie eine scharfe Messerklinge direkt in ihr innerstes fuhr und gleichzeitig eine dunkle Neugier in ihr weckte, die sie näherlockte.
ihr Herz raste in ihrer Brust. ihr Puls hämmerte so laut wie Trommelschläge in ihren Ohren. Zum ersten Mal in ihrem Leben spürte Tavia Fairchild echtes Entsetzen. Sie starrte in diese seltsam hypnotischen Augen und schrie.
...
© 2012 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
»Bitte treten Sie ein, Ms Fairchild. Das dürfte nicht lange dauern.« Der Detective, der sie im Revier empfangen hatte, öffnete die Tür zu dem Raum für die Gegenüberstellung der Zeugen und ließ ihr den Vortritt. Drinnen warteten bereits mehrere grimmig blickende Männer in dunklen Anzügen und ein paar uniformierte Polizeibeamte auf sie.
Tavia erkannte die FBi-Agenten, die man ihr in den Stunden nach der Schießerei auf der Weihnachtsfeier des Senators vorgestellt hatte. Sie nickte der Gruppe grüßend zu und trat in den Raum ein.
Es war dunkel wie in einem Kino, die einzige Lichtquelle war die große Glasscheibe mit Blick in den leeren Gegenüberstellungsraum auf der anderen Seite. Neonröhren an der Decke tauchten den Raum in einen grellen weißen Schein, was ihn nicht gerade einladender machte. Über die Rückwand zog sich in zwei Metern Höhe eine Markierungslinie, darüber in regelmäßigen Abständen die Zahlen eins bis fünf.
Der Detective zeigte auf einen von mehreren vinylgepolsterten Stühlen vor dem großen Sichtfenster. »Wir fangen gleich an, Ms Fairchild. Bitte nehmen Sie Platz.«
»Danke, ich stehe lieber«, antwortete sie. »Und bitte, Detective Avery, nennen Sie mich Tavia.«
Er nickte, dann stapfte er in die hintere Ecke hinüber, wo ein Wasserspender und eine Kaffeemaschine standen. »ich würde ihnen ja Kaffee anbieten, aber der ist sogar grässlich, wenn er frisch ist, und so spät am Tag ist er schlimmer als Rohöl.« Er stellte einen Papierbecher unter den Wasserspender und zog am Hebel. in dem durchsichtigen Behälter sprudelten einige große Blasen, als der Becher sich füllte. »Spezialität des Hauses«, sagte er, drehte sich zu ihr um und hielt ihr den Becher hin. »Möchten Sie?«
»Nein danke.« Obwohl sie seine Bemühungen, eine entspannte Atmosphäre für sie zu schaffen, zu schätzen wusste, hatte sie kein Interesse an höflichem Geplänkel oder weiteren Verzögerungen. Sie hatte hier einen Job zu erledigen - und einen Laptop voller Termine, Excel-Tabellen und Präsentationen, die sie noch überarbeiten musste, sobald sie nach Hause kam. Normalerweise machte es ihr nichts aus, wenn aus Überstunden eine Nachtschicht wurde. Um ihr Privatleben hatte sie sich ja weiß Gott nicht zu sorgen.
Aber heute Nacht war sie angespannt, spürte die seltsame Mischung aus geistiger Überreizung und physischer Erschöpfung, wie immer nach einer der ausgedehnten Untersuchungen und Behandlungen in der Privatklinik ihres Hausarztes. Sie hatte den größten Teil des Tages bei ihrem Spezialisten verbracht, und obwohl sie nicht begeistert gewesen war, am Abend auch noch einen Zwischenstopp auf dem Polizeirevier einzulegen, wollte sich ein Teil von ihr persönlich davon überzeugen, dass der Mann, der vor einigen Tagen das Feuer auf einen Saal voller Menschen eröffnet hatte und für den heutigen Bombenanschlag in der Innenstadt verantwortlich war, tatsächlich hinter Schloss und Riegel saß, wo er hingehörte.
Tavia ging näher auf das Sichtfenster zu und tippte prüfend mit dem Fingernagel dagegen. »Die muss ziemlich dick sein.«
»ist sie. Sechs Millimeter dickes Sicherheitsglas.« Avery kam zu ihr herüber und nahm einen Schluck Wasser. »Es ist ein Einwegspiegel. Wir können die auf der anderen Seite sehen, aber die uns nicht, für sie ist es ein Spiegel. Dasselbe gilt für den Ton. Unser Raum hier ist schalldicht, aber wir bekommen den Ton von der anderen Seite über Lautsprecher. Wenn also gleich die bösen Jungs da drüben an der Wand stehen, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, dass sie Sie identifizieren oder sie hören können, was Sie sagen.«
»ich mache mir keine Sorgen.« Tavia spürte nichts als Entschlossenheit, als sie dem Mann über dem Rand seines Papierbechers in die Augen sah. Dann sah sie sich zu den anderen Beamten und Agenten um. »Könnten wir dann anfangen? ich wäre so weit.«
»Okay. Gleich werden zwei Beamte eine Gruppe von vier oder fünf Männern nach drüben bringen. Sehen Sie sich die gut an und sagen Sie mir, ob einer von ihnen der Mann sein könnte, den Sie auf der Weihnachtsfeier des Senators gesehen haben.« Der Detective lachte leise und zwinkerte seinen Kollegen zu. »Nach der detaillierten Personenbeschreibung, die Sie uns nach dem Anschlag gegeben haben, dürfte das ein Kinderspiel für Sie sein.«
»ich tue mein Bestes«, antwortete sie.
Er trank seinen Becher aus und zerdrückte ihn in der Faust. »Normalerweise geben wir keine Informationen über unsere Ermittlungen weiter, aber da der Kerl alles gestanden und sein Recht auf einen Anwalt abgelehnt hat, handelt es sich bei dieser Gegenüberstellung um eine reine Formalität.«
»Er hat gestanden?«
Avery nickte. »Er weiß, dass wir ihn wegen widerrechtlichen Betretens eines Grundstücks und versuchten Mordes drankriegen. Da kann er sich nicht rausreden, das Phantombild nach ihren Angaben ist absolut eindeutig, und von seiner Flucht hat er noch frische Schussverletzungen.«
»Und das Bombenattentat heute?«, drängte Tavia und sah sich zu den Agenten der Bundespolizei um. »Er hat zugegeben, auch dafür verantwortlich zu sein?«
Einer der FBi-Agenten nickte zustimmend. »Hat nicht einmal versucht, es zu leugnen. Sagt, er hätte das ganze Ding inszeniert.«
»Aber ich dachte, daran waren noch andere beteiligt. Die Verfolgungsjagd mit der Polizei lief den ganzen Tag auf allen Kanälen. ich habe gehört, alle drei Attentäter wurden auf einem privaten Anwesen von der Polizei erschossen.«
»Das ist korrekt«, bemerkte Avery. »Er hat ausgesagt, die drei Extremisten aus Maine für die praktische Ausführung des Bombenanschlags auf das UN-Gebäude rekrutiert zu haben. Die Hellsten hat er offenbar nicht erwischt, sie haben uns ja direkt zu ihm geführt. Aber er hat keine Gegenwehr geleistet, kam unbewaffnet aus dem Haus und hat sich der Polizei ergeben, sobald sie auf dem Grundstück eintraf.«
»Sie meinen also, er wohnt dort?«, fragte Tavia. Sie hatte Bilder von dem Anwesen mit seinem ausgedehnten Grundstück in den Nachrichten gesehen. Es war fast ein Palast. Der helle dreistöckige Kalksteinbau mit seinen hoch aufragenden Mauern, schwarz lackierten Türen und hohen Spitzbogenfenstern schien eher zum alten Geldadel Neuenglands zu passen als zu einem gewalttätigen Wahnsinnigen mit terroristischen Neigungen.
»Wir konnten den Eigentümer der Immobilie noch nicht ermitteln«, sagte der Detective zu ihr. »Das Anwesen wird seit über hundert Jahren treuhänderisch verwaltet; um an den Grundbucheintrag zu kommen, haben wir mit mindestens zehn Anwaltsfirmen zu tun. Unser Täter behauptet, er wohnt dort seit ein paar Monaten zur Miete, weiß aber nichts über den Eigentümer. Er sagt, es wäre möbliert vermietet worden, ohne Vertrag, und er zahlt die Miete in bar an eine der renommiertesten Anwaltskanzleien in der City.«
»Hat er gesagt, warum er das alles getan hat?«, fragte Tavia.
»Wenn er den Anschlag auf den Senator und den Bombenanschlag gestanden hat, hat er ihnen auch eine Begründung angegeben?«
Detective Avery zuckte mit den Schultern. »Warum tun Verrückte so etwas? Er hatte keine konkrete Begründung dafür. Tatsächlich ist dieser Typ uns fast genauso ein Rätsel wie das Haus, in dem er wohnt.«
»inwiefern?«
»Wir wissen nicht einmal seinen richtigen Namen. Zu dem, den er uns angegeben hat, existiert keine Sozialversicherungsnummer, auch keine nachweisbaren Beschäftigungsverhältnisse. Kein Führerschein, keine Wagenzulassung, keine Kreditkarten, kein Wählerausweis, gar nichts. Als wäre der Typ ein Geist. Alles, was wir finden konnten, war eine Spende an eine Ehemaligen-organisation der Harvard-Universität unter seinem Namen. Und damit endet die Spur.«
»Nun, das ist immerhin ein Anfang«, antwortete Tavia.
Der Detective stieß ein grunzendes Lachen aus. »Wäre es wohl, wenn diese Information nicht aus den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts wäre. Das ist nicht unser Mann. Beim Schätzen liege ich oft daneben, aber der ist garantiert noch keine neunzig Jahre alt.«
»Nein«, murmelte Tavia und dachte an Senator Clarences Weihnachtsparty zurück, an den Mann, den sie dabei beobachtet hatte, wie er aus der Galerie im ersten Stock des Hauses geschossen hatte. Sie hätte ihn etwa gleich alt geschätzt wie sie, maximal Mitte dreißig. »Vielleicht ein Verwandter von ihm?«
»Vielleicht«, sagte der Detective. Er sah auf, als sich die Tür des anderen Raums öffnete und ein uniformierter Beamter eintrat, der die Verdächtigen anführte. »Okay, es geht los, Tavia. Showtime.«
Sie nickte und trat unwillkürlich einen Schritt von der Scheibe zurück, als der erste Tatverdächtige den Gegenüberstellungsraum betrat.
Er war es - den sie hier auf dem Revier identifizieren sollte.
Sie erkannte ihn sofort, die wie gemeißelt wirkenden Wangenknochen, den angespannten Kiefer und das unversöhnlich gereckte, eckige Kinn. Sein kurzes goldbraunes Haar hing ihm zerzaust in die Stirn, aber nicht tief genug, um seine durchdringenden stahlblauen Augen zu verbergen. Und er war riesig - genauso groß und muskulös wie in ihrer Erinnerung. Unter den kurzen Ärmeln seines weißen T-Shirts wölbten sich seine Bizepsmuskeln, weite, fleckige graue Trainingshosen hingen ihm von den schmalen Hüften und ließen mächtige Oberschenkelmuskeln erahnen.
Wie ein Raubtier kam er in den Raum, und der Trotz, die ungerührte Arroganz, die er ausstrahlte, ließen die Tatsache, dass er ein Häftling mit auf den Rücken gefesselten Händen war, bedeutungslos wirken. Er kam als Erster in den Raum, mit langen Gliedern und einem geschmeidigen Gang, der definitiv etwas Animalisches an sich hatte. ihr fiel auf, dass er leicht hinkte. Auf seinem rechten Oberschenkel war ein Blutfleck, ein dunkelroter Klecks sickerte in den helleren Stoff seiner Trainingshose. Tavia beobachtete, wie er bei jedem seiner langen Schritte ein wenig größer wurde, als er zum Ende des Gegenüberstellungsraumes durchging.
Sie fröstelte ein wenig in ihrem warmen Wintermantel, und ihr wurde leicht übel. Gott, den Anblick von Blut hatte sie noch nie ertragen können.
Über die Lautsprecher wies einer der Polizeibeamten den Mann an, auf Position vier stehen zu bleiben und sich mit dem Gesicht zum Fenster zu stellen. Er tat es, und als er so dastand, sah er ihr in die Augen. Und zwar direkt.
Erschrecken durchzuckte sie. »Sind Sie sicher, dass sie mich nicht - «
»ich verspreche ihnen, Sie sind hier absolut sicher«, versicherte ihr Avery.
Und doch blieben diese sengenden blauen Augen unablässig auf sie gerichtet, sogar nachdem auch der letzte der drei anderen Männer in den Raum geführt worden war und angewiesen wurde, sich mit dem Gesicht zur Scheibe aufzustellen. Diese anderen Männer standen zusammengesunken da und sahen zu Boden oder sie bewegten sich nervös und ihre Blicke irrten ziellos herum, ohne in der riesigen verspiegelten Scheibe etwas anderes zu sehen als ihr eigenes Spiegelbild.
»Sind Sie so weit?«, drängte der Detective neben ihr.
Sie nickte, ließ ihre Augen über die Reihe der übrigen drei Männer wandern, obwohl es gar nicht mehr nötig war. Die anderen sahen ihm überhaupt nicht ähnlich. Sie waren eine wilde Mischung, unterschiedlich gebaut, unterschiedlich groß und auch unterschiedlich alt. Einer war strichdünn, sein strähniges braunes Haar hing ihm schlaff auf die Schultern. Ein anderer war gebaut wie ein Ochse, mit breiten Schultern und einem riesigen Bauch. Er hatte dicke, dunkle Locken, ein bösartiges Gesicht und wütende kleine Augen über seiner roten, geschwollenen Hakennase. Der Dritte war ein unförmiger Mann mit Halbglatze, wohl um die fünfzig, der unter dem hellen Schein des Deckenstrahlers heftig schwitzte.
Und dann war da er ... dieser intensive, fast grausam gut aussehende Attentäter, der sie nach wie vor nicht aus den Augen ließ. Tavia war sonst nicht so leicht zu erschüttern, aber diesen Blick konnte sie kaum ertragen - nicht einmal hier, sicher verborgen im abgedunkelten Beobachtungsraum hinter sechs Millimeter dickem Sicherheitsglas und umgeben von einem halben Dutzend bewaffneter Polizeibeamten.
»Das ist er«, stieß sie hervor und zeigte auf Position vier, und obwohl es eigentlich unmöglich war, hätte sie schwören können, dass sein Mundwinkel sich zur Andeutung eines Lächelns kräuselte. »Das ist er, Detective Avery. Das ist der Mann, den ich auf der Weihnachtsfeier gesehen habe.«
Avery tätschelte ihr leicht die Schulter, als die Cops im anderen Raum die Männer jetzt aufforderten, einzeln hervorzutreten. »ich weiß, ich habe gesagt, dass das eine reine Formalität ist, aber wir müssen sichergehen, dass Sie sich ganz sicher sind, Tavia - «
»ich bin mir absolut sicher«, antwortete sie knapp, als das Blut in ihren Adern wie eine innere Alarmsirene zu summen begann. Sie sah zurück in den anderen Raum, gerade als Nummer vier seine zwei Schritte nach vorne trat. »Wir können die Gegenüberstellung beenden. Dieser Mann ist der Schütze. ich würde sein Gesicht überall erkennen.«
»Na gut, in Ordnung, Tavia.« Er lachte leise. »Was habe ich ihnen gesagt? Wir sind im Handumdrehen fertig. Das haben Sie hervorragend gemacht.«
Sie tat das Lob als unnötig ab und schüttelte milde den Kopf. »Kann ich ihnen sonst noch behilflich sein, Detective?«
»Äh, nein. Wir brauchen nur noch ein paar Minuten, um hier alles fertig zu machen, und dann können Sie gehen. Wenn Sie möchten, bringe ich Sie gern nach Hause - «
»Vielen Dank, aber das ist nicht nötig.« Als sie das sagte, sah sie plötzlich wieder dem Mann in die Augen, der auf Senator Clarences Weihnachtsfeier beinahe jemanden getötet hätte. Wenn er wirklich auch der Kopf hinter dem Bombenanschlag heute Morgen gewesen war, hatte er auch den Tod von mehreren unschuldigen Menschen zu verantworten. Tavia hielt dem durchdringenden Blick stand und hoffte, dass er durch das Glas das ganze Ausmaß ihrer Verachtung sehen konnte. Nach einem langen Augenblick wandte sie sich abrupt von dem Sichtfenster ab. »Wenn das alles ist, Detective, der Senator hat morgen früh einen wichtigen öffentlichen Auftritt, und ich habe heute Abend noch eine Menge Logistik und andere Arbeit zu erledigen.« »Tavia Fairchild. «
Als sie das tiefe Knurren hörte, ihren Namen so unerwartet aus dem Mund eines Fremden, blieb sie auf der Stelle wie angewurzelt stehen. Sie brauchte sich nicht zu fragen, wer gesprochen hatte. Seine tiefe Stimme fuhr ihr mit derselben kalten Zielsicherheit durch den Körper wie die Kugeln, die er neulich auf die Menge der Partygäste abgefeuert hatte.
Trotzdem sah Tavia sich schockiert zu dem Detective und den anderen Agenten und Beamten um. »Dieser Raum ... Sie hatten doch eben gesagt - «
Avery murmelte hektisch eine Entschuldigung und griff nach einem Wandtelefon neben dem Sichtfenster. Während er in den Hörer sprach, redete der Mann auf Position vier weiter mit ihr und sah sie unverwandt an, als wäre da nichts zwischen ihr und seinem tödlichen Blick.
Er trat einen Schritt vor. »ihr Boss ist in Gefahr, Tavia. Und auch Sie könnten es sein.«
»Verdammt, kriegt den Bastard sofort unter Kontrolle«, rief einer der Bundesagenten dem Detective am Telefon zu.
Die Beamten im Gegenüberstellungsraum traten hektisch in Aktion. »Nummer vier, schweigen Sie und treten Sie wieder in die Reihe!«
Er ignorierte den Befehl. Trat noch einen weiteren Schritt vor, sogar als der zweite Cop sich ihm von der anderen Raumseite her näherte. »ich muss ihn finden, Tavia. Er muss wissen, dass Dragos ihn töten wird - oder noch schlimmer. Vielleicht ist es schon zu spät.«
Stumm schüttelte sie den Kopf. Was er sagte, ergab keinen Sinn. Senator Clarence war gesund und munter; sie hatte ihn am Vormittag im Büro gesehen, bevor er zu einem langen Tag voller Besprechungen und Geschäftstermine in die Innenstadt aufgebrochen war.
»ich weiß nicht, wovon Sie reden«, murmelte sie, obwohl er sie doch eigentlich gar nicht hören konnte. Er sollte sie auch nicht sehen können und tat es trotzdem. »ich kenne niemanden namens Dragos.«
Jetzt näherten sich ihm die Cops von beiden Seiten, packten ihn je an einem gefesselten Arm und versuchten, ihn zur Wand zurückzuzerren. Er schüttelte sie mühelos ab, seine ganze Aufmerksamkeit völlig auf Tavia gerichtet. »Hören Sie mir zu. Er war auf der Weihnachtsfeier. Einer von den Gästen.«
»Nein«, sagte sie, jetzt ganz sicher, dass er sich irrte. Sie hatte jede einzelne der 148 Einladungen persönlich von Hand geschrieben und adressiert, und solche Einzelheiten vergaß sie nie. Wenn es sein musste, konnte sie jeden Namen aufsagen und sich an jedes Gesicht auf der Gästeliste erinnern. Und unter diesem Namen war keiner da gewesen.
»Dragos war dort, Tavia.« Die Cops im Gegenüberstellungsraum versuchten wieder, ihn zu packen. »Er war dort, ich habe auf ihn geschossen. ich wünschte nur, ich hätte den Bastard getötet.«
Sie spürte, wie sie langsam den Kopf schüttelte und die Brauen runzelte, als sie den Wahnsinn dessen erfasste, was er sagte. Es hatte nur einen einzigen Verletzten bei der Weihnachtsfeier gegeben, einen von Senator Clarences großzügigsten Wahlkampfsponsoren, ein erfolgreicher Bostoner Geschäftsmann und Wohltäter namens Drake Masters.
»Sie sind verrückt«, flüsterte sie. Doch noch während sie die Worte aussprach, glaubte sie sie selbst nicht ganz. Der Mann, der ihr durch die Scheibe in die Augen sah, obwohl das gar nicht möglich war, wirkte nicht verrückt. Er wirkte gefährlich und intensiv und schien sich dessen, was er sagte, absolut sicher. Er wirkte tödlich, selbst mit hinter dem Rücken gefesselten Händen.
Er sah ihr weiter unverwandt in die Augen. ihn als Geisteskranken abzutun, wäre einfacher zu akzeptieren gewesen als das eisige Angstgefühl, das sich unter seinem Blick in ihrem Magen ausbreitete. Nein, was immer seine Absichten auf der Weihnachtsfeier des Senators gewesen waren, Wahnsinn steckte nicht dahinter.
Und doch ergab das, was er sagte, keinen Sinn.
»Der Typ ist gestört«, sagte einer der Bundesagenten. »Machen wir hier Schluss und lassen die Zeugin gehen.«
Detective Avery nickte. »ich möchte mich bei ihnen dafür entschuldigen, Tavia. Wir wollen Sie nicht länger aufhalten.« Er ging um sie herum zur Tür, sein angespanntes Gesicht zeigte eine Mischung aus Bestürzung und Verärgerung, als er den Arm ausstreckte und sie zur Tür winkte. Die anderen Beamten und Bundesagenten standen ebenfalls langsam auf und machten Anstalten, ihnen zu folgen.
Aus dem Gegenüberstellungsraum hörte Tavia Kampfgeräusche. Sie versuchte, um den Detective herumzuspähen, aber er führte sie bereits vom Sichtfenster fort.
Als sie hinausgehen wollten, wurde draußen kurz angeklopft, und die Tür öffnete sich vor ihnen. Senator Clarence stand in der Halle, Schneeflocken auf dem adrett frisierten Haar und dem dunkelblauen Wollmantel. »Tut mir leid, ich konnte nicht früher. Meine Besprechung mit dem Bürgermeister hat länger gedauert.« Er warf Tavia einen Blick zu, und sei ne freundliche Miene verdüsterte sich ein wenig. »Gibt es ein Problem? Tavia, ich habe Sie noch nie so blass gesehen. Was ist hier los?«
Bevor sie seine Besorgnis abtun konnte, trat der Senator in den Zeugenraum. »Meine Herren«, murmelte er den anderen Polizeibeamten zur Begrüßung zu.
Als er sich dem Sichtfenster näherte, ertönte dahinter ein tiefes Knurren.
Das Geräusch hatte nichts Menschliches mehr. Es war ein gespenstisches Fauchen, das Tavia das Blut in den Adern gefrieren ließ. Schlagartig war sie in heller Alarmbereitschaft, alle ihre Instinkte riefen ihr eine Warnung zu, dass gleich etwas Schreckliches passieren würde. Sie wirbelte herum. »Senator Clarence, seien Sie vorsich- «
Zu spät.
Das Sichtfenster explodierte.
Glassplitter regneten in alle Richtungen, als etwas Riesiges durch die Öffnung brach und mitten im Beobachtungsraum auf dem Boden landete.
Es war einer der Häftlinge - der dunkelhaarige Schlägertyp im Patriots-Sweatshirt. Er heulte vor Schmerzen, seine Extremitäten waren unnatürlich verdreht, die Haut von Gesicht und Hals vom Aufprall aufgerissen und blutig.
Tavia sah sich erschrocken um.
Wo eben noch das einfach verspiegelte Sicherheitsglas gewesen war, war nur noch Luft.
Und dahinter der riesige, muskulöse Mann, Mordlust in den Augen.
Seine Handschellen hingen ihm nutzlos von den Handgelenken, er hatte sich irgendwie von ihnen befreit. Herr im Himmel, wie stark musste er sein, wenn er nicht nur das schaffte, sondern auch einen ausgewachsenen Mann durch eine Scheibe Sicherheitsglas werfen konnte? Und wie schnell musste er sich bewegen, um das zu tun, bevor die Polizeibeamten im Gegenüberstellungsraum ihn aufhalten konnten?
Kalte blaue Augen sahen an ihr vorbei und fielen wie Laserstrahlen auf Senator Clarence. »Gottverdammter Dragos«, fauchte der Mann voller Wut. »Er hat es schon geschafft, nicht wahr? Sie gehören ihm schon.«
Sein rechter Arm schoss nach vorne wie eine Kobra. Er griff durch die leere Fensteröffnung, packte Senator Clarence am Arm und riss ihn mit einem Ruck nach hinten, sodass der Senator das Gleichgewicht verlor. Er zerrte den liegenden Mann mit einer Hand zu sich heran, schleifte ihn im Handumdrehen durch die Scherben und Trümmer.
Oh Gott. Dieser Mann würde Senator Clarence töten.
»Aufhören!« Tavia bewegte sich, bevor es ihr selbst bewusst wurde. Sie packte die Stahlhandschellen an seinem Handgelenk und zog mit aller Kraft daran. »Nicht!«
ihr schwacher Versuch, ihn aufzuhalten, brachte ihn kaum aus dem Takt. Aber in diesem Sekundenbruchteil sah er ihr wieder in die Augen. Da war etwas Gespenstisches in diesen Augen ... Funken tanzten in ihnen, ein unheiliges Feuer schien in ihnen zu brennen. Etwas, das wie eine scharfe Messerklinge direkt in ihr innerstes fuhr und gleichzeitig eine dunkle Neugier in ihr weckte, die sie näherlockte.
ihr Herz raste in ihrer Brust. ihr Puls hämmerte so laut wie Trommelschläge in ihren Ohren. Zum ersten Mal in ihrem Leben spürte Tavia Fairchild echtes Entsetzen. Sie starrte in diese seltsam hypnotischen Augen und schrie.
...
© 2012 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
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Autoren-Porträt von Lara Adrian
Lara Adrian lebt mit ihrem Mann in Neuengland. Seit ihrer Kindheit hegt sie eine besondere Vorliebe für Vampirromane. Zu ihren Lieblingsautoren zählen Bram Stoker und Anne Rice.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lara Adrian
- Altersempfehlung: Ab 16 Jahre
- 2012, 1. Aufl. 2012, 464 Seiten, Maße: 12,4 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Katrin Kremmler
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 380258385X
- ISBN-13: 9783802583858
- Erscheinungsdatum: 06.08.2012
Pressezitat
"Eine Vampirserie der Extraklasse." Buchbote
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