Die Bücher mit dem blauen Band / Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen
Erzählungen über den Ersten Weltkrieg
100 Jahre Erster Weltkrieg 1914-2014
2014 jährt sich zum hundersten Mal der Erste Weltkrieg. Hochkarätige Autorinnen und Autoren machen durch ihre Texte diesen Krieg für Jugendliche erfahrbar. Die Geschichten reichen von den Schrecken des Krieges gleich...
2014 jährt sich zum hundersten Mal der Erste Weltkrieg. Hochkarätige Autorinnen und Autoren machen durch ihre Texte diesen Krieg für Jugendliche erfahrbar. Die Geschichten reichen von den Schrecken des Krieges gleich...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Bücher mit dem blauen Band / Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen “
Klappentext zu „Die Bücher mit dem blauen Band / Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen “
100 Jahre Erster Weltkrieg 1914-20142014 jährt sich zum hundersten Mal der Erste Weltkrieg. Hochkarätige Autorinnen und Autoren machen durch ihre Texte diesen Krieg für Jugendliche erfahrbar. Die Geschichten reichen von den Schrecken des Krieges gleich in den ersten Tagen in Kafkas Prag bis zu einem Mädchen auf einem österreichischen Bauernhof, das auf einmal die Aufgabe der verschwundenen Männer übernehmen muss. Sie erzählen vom kurzen Innehalten beim Weihnachtsfrieden, von einem Kindererholungsheim in der Schweiz, in dem ein Jugendlicher an der Neutralität seines Landes verzweifelt, dem Untergang des Kreuzers Cöln vor Helgoland, der Begegnung zweier Soldaten in einem Feldlazarett in Lothringen und vielem mehr. Und immer stehen die Einzelschicksale im Vordergrund, die zeigen, wie der Krieg in das Leben einbricht oder zum grausamen Alltag wird, in dem es irgendwie zu überleben gilt.
Mit Erzählungen von Kirsten Boie, Paul Maar, Alois Prinz, Gudrun Pausewang, Hermann Schulz u.v.a., mit Fotos, Dokumenten und einer Chronik.
Lese-Probe zu „Die Bücher mit dem blauen Band / Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen “
Mitten im Leben sind wir im Tod gefangen von Alexandra RakDer alte Schuh
Nun steht er da, der alte Schuh.
Von der Erde verdeckt.
Von der Zeit zerfressen.
Die Sohle verwittert, die Nägel lose.
Fassen ich ihn an, zerfällt er zu Staub.
Wer von beiden hat ihn getragen?
Welche Hand diesen Schnürsenkel gebunden?
Ein Wunder, dass er überlebte. Der lehmige Boden Flanderns ist ein guter Hüter. Und wäre nicht dieser Pflug gewesen, der die Erde aufwühlte, so hätte er vielleicht für immer dort geruht.
Begraben. Vergessen.
Ein Schuh - und im Familienbaum, eng nebeneinander, zwei Bilder.
Links Émile, zierlich, mit schüchternem Blick.
Rechts, Oskar, ein Schnurrbart wie ein Dompteur, Frau und Kinder an der Seite.
Ein Franzose. Ein Deutscher.
Jeder in seiner Uniform, die eine blau, die andere grau. Jeder in seinem Schützengraben, den Helm auf dem Kopf, die Waffe in der Hand, gegen den anderen gerichtet. So sehe ich euch. Denn ihr seid Feinde. Dass euch so viel verbinden wird, wisst ihr nicht. Noch nicht. Dabei hatte alles wie ein ganz normaler Sommer angefangen ...
... mehr
1914
Émile ist neunzehn in jenem Sommer. Die Sonne scheint. Der Wind spielt im Weizenfeld. Ein schöner Tag für die Ernte. Wie jedes Jahr hilft er, so gut er kann. Heute bei Jeanne und Norbert, einem Cousin in Belgien, morgen bei seinem Vater in Nordfrankreich. In diesem Grenzgebiet ist man überall zu Hause, und überall ist die Arbeit gleich hart. Aber Émile möchte diese Zeit nicht missen. Er mag es, mitten in den hohen Wellen von Ähren zu stehen, die Sense in der Hand. Möwen kreischen am Himmel - ein Gefühl wie am Meer. Er mag den Geruch vom frischen Stroh, das Hin und Her der Pferde, das Erntefest am letzten Tag, und vor allem den goldenen Staub auf Maries Haut.
Hand in Hand springen beide abends von einem Balken der Scheune in einen riesigen Berg von Körnern.
»Noch drei Monate, dann heiraten wir!«, flüstert er ihr ins Ohr. Marie lacht. In ihrem Haar glänzen die Körner wie die Perlen einer Krone.
Gott, ist sie schön! So schön wie Notre-Dame de Thuyne, die als goldene Statue in der Kathedrale von Ypern steht. Am liebsten würde er Marie dort zum Altar führen, neben ihr knien auf dem roten Samt unter dem hohen Gewölbe, wenn die Sonne durch die uralten Glasfenster ein bläuliches Licht in den Raum wirft. Aber da wo die Braut wohnt, da wird geheiratet, so will es die Tradition. Er wird sich also mit der kleinen Dorfkirche von Houthem begnügen müssen. Nicht groß, aber hübsch mit ihrem Turm aus Klinkern, der über den Friedhof wacht wie ein Schäfer über seine Herde.
Drei lange Monate warten ... denn zuerst muss er zwanzig werden. Das hat er seiner Mutter versprochen. So lange will er noch auf dem Hof helfen. Sein Vater ist nicht mehr jung. Die Arbeit fällt ihm zunehmend schwer. Émiles Arme sind willkommen.
Mit zwanzig aber wird er fortgehen, in der Stadt arbeiten. Nordfrankreich ist reich an Textilindustrien. In Comines, wo er wohnt, steht eine Weberei neben der anderen. Und sollte ihm die Stelle nicht gefallen, ständen noch die Nachbarstädte zur Auswahl. Roubaix, Tourcoing oder Lille. Dort werden beide ein gutes Leben führen können. Und ein glückliches.
Er sammelt die Körner einzeln aus Maries Haar - da läuten in der Abendsonne alle Glocken von Ypern. Acht Uhr. Er muss heim! Schnell steckt er den Weizen in die Hosentasche. Eine kleine Mohnblume, am Wegrand gepflückt, ein letzter Kuss, und er springt aufs Rad.
Lange winkt sie ihm zu, die Blume in der Hand, und immer wieder dreht er sich um und winkt zurück, bis der kleine rote Punkt in der Ferne verschwindet.
Tausend Kilometer entfernt läuten ebenfalls die Abendglocken in der Dämmerung. Im Tal schallen sie, da wo die Stadt liegt, groß und prächtig entlang des Flusses, und Oskar genießt die Aussicht über die vielen verzierten Türme vom Berg aus: Dresden, die Schöne, das Elbflorenz, seine Stadt.
Hier ist sein Lieblingsplatz, auf der Wiese von Coschütz, neben der Kirche. Hier kann er alles vergessen, auch die Ängste und Bedrohungen der Zeit. Seit dem Attentat von Sarajevo sind die Zeitungen voll erschreckender Nachrichten. Viele jubeln, wollen den Krieg. Oskar nicht. Hoffentlich, hoffentlich kommt es nicht dazu ... Der Abend wirkt umso schöner, umso kostbarer, je bewusster ihm die Gefahr ist.
Die Kinder spielen in der Nähe, Elsa und Lisbeth unter den Obstbäumen, Gerhard im Laub. Die Äste sind schwer von Früchten, die Ernte wird gut. Gleich wird Hulda kommen, den Korb gefüllt mit Brot und Schinken, und sie werden in Ruhe picknicken nach diesen schönen Stunden in der Stadt.
Zur Feier des Tages - heute hat er Geburtstag - waren sie mit den Kindern in der Semperoper. Der Freischütz von Weber. Schön romantisch! Wilde Tiere, Gewitter und Geister der Nacht: Lisbeth hat mit gezittert in der dunklen Wolfsschlucht. Gerhard dagegen war von den magischen Freikugeln des Schützen fasziniert. Alles Treffer, die ihr Ziel sicher erreichen...
»Muss doch toll sein, Vater, oder?«
»Der Teufel spielt aber mit ...«, erwiderte Oskar, bevor Hulda das Gespräch mit einem »Psst!« unterbrach, das keinen Widerspruch duldete. Danach flanierten sie lange auf den Elbterrassen, am Grünen Gewölbe vorbei, und im Café machten sich die Kinder über die exzentrischen Hüte lustig, die auf den Köpfen der Damen um die Wette tanzten. Hulda lachte mit und versuchte so zu laufen, als hätte sie eine Torte mit drei Etagen Sahne auf dem Kopf. Festlich gekleidet wie sie heute war, fielen ihre schwarzen Locken doch frei auf die Schultern - welch ein Glück!
Jetzt in der Dämmerung, wunderbar beleuchtet, ist die Stadt schöner denn je. Jedes Fenster der Oper kann man erkennen, jede Straßenlaterne. Wie die Kerzen einer Lichterkette, die sich durch die Gassen zieht. Das Quietschen der letzten Straßenbahn hört man bis hier - ein metallisches Geräusch, das Oskars Ohren verletzt. Zum Glück sind da die Schwalben, die es mit ihrem fröhlichen Gezwischer überdecken. Er drückt Lisbeth an sich, die auf seinem Schoß eingeschlafen ist. Es wird schon gutgehen ...
Aber es geht nicht gut.
Abends noch erreicht beide die Nachricht: Es ist so weit. Deutschland hat Russland den Krieg erklärt - und dadurch auch dem verbündeten Frankreich. Und dass Belgien neutral bleiben will, wird dem kleinen Nachbarn nicht helfen. Am 4. August marschieren deutsche Truppen in Richtung Lüttich. Ein paar Wochen nur, und sie werden Ypern erreichen.
Nichts wie weg!
Schon bei der ersten Flandernschlacht wird Houthem von Granaten getroffen. Die Zivilbevölkerung muss die Gegend verlassen, so schnell wie möglich. In Panik wird die Reise organisiert, irgendwohin Richtung Süden, wo die Flüchtlinge bei Verwandten, Freunden oder von Städten aufgenommen werden. Bis in die Pyrenäen wird die Reise sie führen.
Marie packt mit ihrer Schwester das Wichtigste ein. Für sie nur eine Tasche. Jeanne braucht den Platz für die Kinder. Während die Frauen alles in große Bettlaken werfen, holt Norbert die alte Karre aus der Scheune. Der Weizen liegt da, bergehoch, unberührt.
»Marie!«
Ganz außer Atem, springt Émile vom Rad. Er dachte schon, er käme zu spät. Aber nein! Sie ist noch da. An eine Trauung in der Klinkerkirche ist jetzt nicht mehr zu denken, der Glockenturm ist schon eingestürzt. Bei jedem Urlaub aber wird er sie besuchen in Südfrankreich, auch wenn es weit ist, auch wenn Soldaten nur wenige freie Tage bekommen. Dort werden sie heiraten. Dort werden auch ihre Kinder auf die Welt kommen. Zuerst Albert, dann Suzanne. Und nach dem Krieg ...
Ein letzter Kuss. Dieses Mal steht er am Wegrand und winkt. Und immer wieder dreht sich Marie um und winkt zurück, bis ihr Traum in der Ferne verschwindet.
Mobilisation générale!
Émile wird schon bald als Wehrpflichtiger eingezogen. Kaum zwanzig Jahre alt, bekommt er die nagelneue Uniform der Poilus- anfangs noch mit der roten Wollhose der Infanteristen, in Roubaix mit Krapp pflanzengefärbt. Da, wo er arbeiten wollte!
Oskar wird noch warten dürfen. Erst gehen die Jüngeren - noch freiwillig und begeistert. Nur ein paar Monate soll ja der Kampf dauern. Aber schon in den ersten Wochen sind die Verluste hoch. Nach und nach muss jeder an die Front.
Oskars Kompanie wird nach Flandern geschickt. Genau dorthin, wo Émiles Regiment seine Schützengräben schon ausgehoben hat. Beide in der gleichen Gegend - so will es der Zufall.
Lille, le 22 novembre 1914
Ma petite Marie,
nach drei Monaten und einundzwanzig Tagen Ausbildung in einem großen Lager südwestlich von Paris sind wir angekommen, 30 Kilometer von den Boches2 entfernt. Diese zwei Tage Fahrt mit dem Zug waren fröhlich, denn entlang der Strecke, überall auf dem Lande, jubelten Bauern, Frauen und Kinder uns zu. Die Sonne schien, die Landschaft wirkte lebendig durch die winkenden Arme und die vielen Taschentücher, die in der Luft wirbelten.
Heute um 5 Uhr ein unvergessliches Spektakel: Hundert Pariser Stadtbusse fahren in einer riesigen Staubwolke an uns vorbei, alle in Krankenwagen oder Schießstände für Maschinengewehre umgewandelt. Diese Kolonne zog in Richtung Front, wo die Kanonen tosen, während ich dir schreibe.
Morgen Feuertaufe! Es wird knallen, garantiert. Dann wird mitten im lodernden Feuer ein kleiner hellblauer Soldat stehen, der ständig an dich denkt ...
Tourcoing, den 2. Dezember 1914
Liebe Hulda,
111 Stunden in einem Sächsischen Eisenbahnwagen! Aber nun ist es so weit: Wir sind in Frankreich. Teile des Regiments sind in Tourcoing eingetroffen und einquartiert. Die Pferde sind in Fabriken untergebracht. Die Unterkunft ist vorzüglich, jeder hat ein Bett!
Morgen um 9 Uhr geht es weiter nach Belgien. Ein 30 Kilometer langer Marsch, 30 Kilo auf dem Rücken. Volle Ausrüstung muss sein. Es riecht herbstlich. Eine wunderbare Sternennacht. Aber in der Ferne hört man schon die Kanonen. Das trommelt, kracht und zischt und pfeift ... Tag und Nacht, ein Höllenspektakel!
© 2014 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
1914
Émile ist neunzehn in jenem Sommer. Die Sonne scheint. Der Wind spielt im Weizenfeld. Ein schöner Tag für die Ernte. Wie jedes Jahr hilft er, so gut er kann. Heute bei Jeanne und Norbert, einem Cousin in Belgien, morgen bei seinem Vater in Nordfrankreich. In diesem Grenzgebiet ist man überall zu Hause, und überall ist die Arbeit gleich hart. Aber Émile möchte diese Zeit nicht missen. Er mag es, mitten in den hohen Wellen von Ähren zu stehen, die Sense in der Hand. Möwen kreischen am Himmel - ein Gefühl wie am Meer. Er mag den Geruch vom frischen Stroh, das Hin und Her der Pferde, das Erntefest am letzten Tag, und vor allem den goldenen Staub auf Maries Haut.
Hand in Hand springen beide abends von einem Balken der Scheune in einen riesigen Berg von Körnern.
»Noch drei Monate, dann heiraten wir!«, flüstert er ihr ins Ohr. Marie lacht. In ihrem Haar glänzen die Körner wie die Perlen einer Krone.
Gott, ist sie schön! So schön wie Notre-Dame de Thuyne, die als goldene Statue in der Kathedrale von Ypern steht. Am liebsten würde er Marie dort zum Altar führen, neben ihr knien auf dem roten Samt unter dem hohen Gewölbe, wenn die Sonne durch die uralten Glasfenster ein bläuliches Licht in den Raum wirft. Aber da wo die Braut wohnt, da wird geheiratet, so will es die Tradition. Er wird sich also mit der kleinen Dorfkirche von Houthem begnügen müssen. Nicht groß, aber hübsch mit ihrem Turm aus Klinkern, der über den Friedhof wacht wie ein Schäfer über seine Herde.
Drei lange Monate warten ... denn zuerst muss er zwanzig werden. Das hat er seiner Mutter versprochen. So lange will er noch auf dem Hof helfen. Sein Vater ist nicht mehr jung. Die Arbeit fällt ihm zunehmend schwer. Émiles Arme sind willkommen.
Mit zwanzig aber wird er fortgehen, in der Stadt arbeiten. Nordfrankreich ist reich an Textilindustrien. In Comines, wo er wohnt, steht eine Weberei neben der anderen. Und sollte ihm die Stelle nicht gefallen, ständen noch die Nachbarstädte zur Auswahl. Roubaix, Tourcoing oder Lille. Dort werden beide ein gutes Leben führen können. Und ein glückliches.
Er sammelt die Körner einzeln aus Maries Haar - da läuten in der Abendsonne alle Glocken von Ypern. Acht Uhr. Er muss heim! Schnell steckt er den Weizen in die Hosentasche. Eine kleine Mohnblume, am Wegrand gepflückt, ein letzter Kuss, und er springt aufs Rad.
Lange winkt sie ihm zu, die Blume in der Hand, und immer wieder dreht er sich um und winkt zurück, bis der kleine rote Punkt in der Ferne verschwindet.
Tausend Kilometer entfernt läuten ebenfalls die Abendglocken in der Dämmerung. Im Tal schallen sie, da wo die Stadt liegt, groß und prächtig entlang des Flusses, und Oskar genießt die Aussicht über die vielen verzierten Türme vom Berg aus: Dresden, die Schöne, das Elbflorenz, seine Stadt.
Hier ist sein Lieblingsplatz, auf der Wiese von Coschütz, neben der Kirche. Hier kann er alles vergessen, auch die Ängste und Bedrohungen der Zeit. Seit dem Attentat von Sarajevo sind die Zeitungen voll erschreckender Nachrichten. Viele jubeln, wollen den Krieg. Oskar nicht. Hoffentlich, hoffentlich kommt es nicht dazu ... Der Abend wirkt umso schöner, umso kostbarer, je bewusster ihm die Gefahr ist.
Die Kinder spielen in der Nähe, Elsa und Lisbeth unter den Obstbäumen, Gerhard im Laub. Die Äste sind schwer von Früchten, die Ernte wird gut. Gleich wird Hulda kommen, den Korb gefüllt mit Brot und Schinken, und sie werden in Ruhe picknicken nach diesen schönen Stunden in der Stadt.
Zur Feier des Tages - heute hat er Geburtstag - waren sie mit den Kindern in der Semperoper. Der Freischütz von Weber. Schön romantisch! Wilde Tiere, Gewitter und Geister der Nacht: Lisbeth hat mit gezittert in der dunklen Wolfsschlucht. Gerhard dagegen war von den magischen Freikugeln des Schützen fasziniert. Alles Treffer, die ihr Ziel sicher erreichen...
»Muss doch toll sein, Vater, oder?«
»Der Teufel spielt aber mit ...«, erwiderte Oskar, bevor Hulda das Gespräch mit einem »Psst!« unterbrach, das keinen Widerspruch duldete. Danach flanierten sie lange auf den Elbterrassen, am Grünen Gewölbe vorbei, und im Café machten sich die Kinder über die exzentrischen Hüte lustig, die auf den Köpfen der Damen um die Wette tanzten. Hulda lachte mit und versuchte so zu laufen, als hätte sie eine Torte mit drei Etagen Sahne auf dem Kopf. Festlich gekleidet wie sie heute war, fielen ihre schwarzen Locken doch frei auf die Schultern - welch ein Glück!
Jetzt in der Dämmerung, wunderbar beleuchtet, ist die Stadt schöner denn je. Jedes Fenster der Oper kann man erkennen, jede Straßenlaterne. Wie die Kerzen einer Lichterkette, die sich durch die Gassen zieht. Das Quietschen der letzten Straßenbahn hört man bis hier - ein metallisches Geräusch, das Oskars Ohren verletzt. Zum Glück sind da die Schwalben, die es mit ihrem fröhlichen Gezwischer überdecken. Er drückt Lisbeth an sich, die auf seinem Schoß eingeschlafen ist. Es wird schon gutgehen ...
Aber es geht nicht gut.
Abends noch erreicht beide die Nachricht: Es ist so weit. Deutschland hat Russland den Krieg erklärt - und dadurch auch dem verbündeten Frankreich. Und dass Belgien neutral bleiben will, wird dem kleinen Nachbarn nicht helfen. Am 4. August marschieren deutsche Truppen in Richtung Lüttich. Ein paar Wochen nur, und sie werden Ypern erreichen.
Nichts wie weg!
Schon bei der ersten Flandernschlacht wird Houthem von Granaten getroffen. Die Zivilbevölkerung muss die Gegend verlassen, so schnell wie möglich. In Panik wird die Reise organisiert, irgendwohin Richtung Süden, wo die Flüchtlinge bei Verwandten, Freunden oder von Städten aufgenommen werden. Bis in die Pyrenäen wird die Reise sie führen.
Marie packt mit ihrer Schwester das Wichtigste ein. Für sie nur eine Tasche. Jeanne braucht den Platz für die Kinder. Während die Frauen alles in große Bettlaken werfen, holt Norbert die alte Karre aus der Scheune. Der Weizen liegt da, bergehoch, unberührt.
»Marie!«
Ganz außer Atem, springt Émile vom Rad. Er dachte schon, er käme zu spät. Aber nein! Sie ist noch da. An eine Trauung in der Klinkerkirche ist jetzt nicht mehr zu denken, der Glockenturm ist schon eingestürzt. Bei jedem Urlaub aber wird er sie besuchen in Südfrankreich, auch wenn es weit ist, auch wenn Soldaten nur wenige freie Tage bekommen. Dort werden sie heiraten. Dort werden auch ihre Kinder auf die Welt kommen. Zuerst Albert, dann Suzanne. Und nach dem Krieg ...
Ein letzter Kuss. Dieses Mal steht er am Wegrand und winkt. Und immer wieder dreht sich Marie um und winkt zurück, bis ihr Traum in der Ferne verschwindet.
Mobilisation générale!
Émile wird schon bald als Wehrpflichtiger eingezogen. Kaum zwanzig Jahre alt, bekommt er die nagelneue Uniform der Poilus- anfangs noch mit der roten Wollhose der Infanteristen, in Roubaix mit Krapp pflanzengefärbt. Da, wo er arbeiten wollte!
Oskar wird noch warten dürfen. Erst gehen die Jüngeren - noch freiwillig und begeistert. Nur ein paar Monate soll ja der Kampf dauern. Aber schon in den ersten Wochen sind die Verluste hoch. Nach und nach muss jeder an die Front.
Oskars Kompanie wird nach Flandern geschickt. Genau dorthin, wo Émiles Regiment seine Schützengräben schon ausgehoben hat. Beide in der gleichen Gegend - so will es der Zufall.
Lille, le 22 novembre 1914
Ma petite Marie,
nach drei Monaten und einundzwanzig Tagen Ausbildung in einem großen Lager südwestlich von Paris sind wir angekommen, 30 Kilometer von den Boches2 entfernt. Diese zwei Tage Fahrt mit dem Zug waren fröhlich, denn entlang der Strecke, überall auf dem Lande, jubelten Bauern, Frauen und Kinder uns zu. Die Sonne schien, die Landschaft wirkte lebendig durch die winkenden Arme und die vielen Taschentücher, die in der Luft wirbelten.
Heute um 5 Uhr ein unvergessliches Spektakel: Hundert Pariser Stadtbusse fahren in einer riesigen Staubwolke an uns vorbei, alle in Krankenwagen oder Schießstände für Maschinengewehre umgewandelt. Diese Kolonne zog in Richtung Front, wo die Kanonen tosen, während ich dir schreibe.
Morgen Feuertaufe! Es wird knallen, garantiert. Dann wird mitten im lodernden Feuer ein kleiner hellblauer Soldat stehen, der ständig an dich denkt ...
Tourcoing, den 2. Dezember 1914
Liebe Hulda,
111 Stunden in einem Sächsischen Eisenbahnwagen! Aber nun ist es so weit: Wir sind in Frankreich. Teile des Regiments sind in Tourcoing eingetroffen und einquartiert. Die Pferde sind in Fabriken untergebracht. Die Unterkunft ist vorzüglich, jeder hat ein Bett!
Morgen um 9 Uhr geht es weiter nach Belgien. Ein 30 Kilometer langer Marsch, 30 Kilo auf dem Rücken. Volle Ausrüstung muss sein. Es riecht herbstlich. Eine wunderbare Sternennacht. Aber in der Ferne hört man schon die Kanonen. Das trommelt, kracht und zischt und pfeift ... Tag und Nacht, ein Höllenspektakel!
© 2014 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt
Alexandra Rak, geboren 1968, studierte in Frankfurt am Main Germanistik mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur. Nach zehn Jahren als Lektorin bei einem großen Hamburger Verlagshaus, arbeitet sie heute als freie Lektorin, Übersetzerin und Referentin und begleitet Autoren bei der Verwirklichung ihrer Projekte. Sie lebt mit ihrer Familie in Hofheim am Taunus.
Bibliographische Angaben
- Altersempfehlung: Ab 12 Jahre
- 2014, 2. Aufl., 320 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 15 x 22,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben: Alexandra Rak
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596856442
- ISBN-13: 9783596856442
- Erscheinungsdatum: 16.04.2014
Rezension zu „Die Bücher mit dem blauen Band / Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen “
Es ist ein hervorragende, anschauliche Ergänzung für den Geschichtsunterricht. Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der GEW (ajum) Berlin 20150317
Pressezitat
Es ist ein hervorragende, anschauliche Ergänzung für den Geschichtsunterricht. Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der GEW (ajum) Berlin 20150317
Kommentar zu "Die Bücher mit dem blauen Band / Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen"
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