Mutti steigt aus
Wenn drei Rentnerinnen noch mal so richtig loslegen. "Eine lustige und abwechslungsreiche Geschichte, die man nicht nur am Strand lesen kann."
DIE NEUE
Altersheim? Das ist für die Rentnerinnen Maria, Elke und Sigrun so tabu wie...
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Produktinformationen zu „Mutti steigt aus “
Wenn drei Rentnerinnen noch mal so richtig loslegen. "Eine lustige und abwechslungsreiche Geschichte, die man nicht nur am Strand lesen kann."
DIE NEUE
Altersheim? Das ist für die Rentnerinnen Maria, Elke und Sigrun so tabu wie das männliche Geschlecht. Sie zieht es viel mehr dorthin, wo ihrer Meinung nach Pensionierte hingehören: ins Rentnerparadies Gran Canaria. Einzige Voraussetzung für sie ist: Keine Männer. Denn davon haben Elke und Sigrun schon genug. Und Maria will ohnehin ihrem verstorbenen Mann für imme treu bleiben. Doch dann kommt auf der Insel alles anders, als sich die Damen das so vorgestellt haben.
Lese-Probe zu „Mutti steigt aus “
Mutti steigt aus von Tessa HennigKapitel 1
... mehr
»Wer einmal Rosinen gegessen hat, dem schmecken keine Trauben mehr.«
Edgar pflegte dies immer zu sagen, um Maria in Gesellschaft gleichaltriger Frauen ein Kompliment zu machen, obgleich ihr natürlich klar war, dass er sich damit nur selbst in ein gutes Licht rücken wollte. Ein Mann, der so etwas sagt, erweckt den Eindruck, dass er bei jüngeren Frauen noch ganz gute Karten hat. Als Maria ihn eines Abends auf dem Bäckerball in der Nürnberger Meistersingerhalle - für beide ein alljährliches Highlight - offen darauf ansprach, lächelte er nur. Ein hinreißendes Lächeln, dem Maria selbst über Edgars Tod hinaus treu geblieben war.
»Ich liebe nur dich, und das war schon immer so.« Nicht mehr und nicht weniger hatte dieses Lächeln zu sagen. Einfach entwaffnend.
»Eine wohlschmeckende Rosine«, konstatierte Maria mit bittersüßem Blick, als sie an diesem Morgen ihr Antlitz im Spiegel sah und überlegte, ob sie trotz Edgars Abneigung gegen Kosmetika etwas Make-up auflegen sollte.
»Das Zeug verklebt die natürliche Schönheit einer Frau.« Oft genug hatte ihr verstorbener Mann Werbung für Gesichtscremes in dieser Weise kommentiert. Maria musste schmunzeln. Ob sie wirklich von innen strahlte, wie er immer behauptet hatte, ein Strahlen der Zufriedenheit, das Menschen schön macht, ein Strahlen, um das man jeden beneidet?
Das unbarmherzige Licht ihres Spiegelschrankes sprach allerdings eine andere Sprache. Als sie sich näher betrachtete und ihr lockiges brünettes Haar, das wie jeden Morgen kaum zu bändigen war, zurechtzupfte, bereute sie den lebenslangen Verzicht auf diverse Cremes und Öle nun doch. Sie trat einen Schritt vor und tastete ihre Problemstellen mit kritischem Blick ab. Kleine Fältchen um die Augen und eine von den Sorgen eines harten Berufslebens gezeichnete Stirn ergaben das Porträt einer Frau, die ihre beste Zeit hinter sich gelassen hatte. Die vielen Jahre in der Bäckerei, jeden Tag um halb fünf aus den Federn und bis sechs Uhr abends am Tresen stehen. Maria begann spontan, ihre Gesichtshaut bis zu den Ohren nach hinten zu liften.
Ein straffes, aber skurril verzogenes Gesicht und unnatürlich breite Lippen machten sie im Nu zu einer zwar faltenfreien, aber urkomischen Karikatur ihrer selbst. Genug, um sich aus der zäh an ihrer Seele klebenden Melancholie zu befreien. Maria setzte sogleich ein zufriedenes Lächeln auf. Das Lächeln einer Verkäuferin, entlarvte sie sich selbst. Sie hatte es zeit ihres Lebens hinter dem Tresen bestens einstudiert. »Haben Sie sonst noch einen Wunsch?« Es wurde allerhöchste Zeit, neu anzufangen und das unsichtbare Trauergewand, das längst zu einer zweiten Haut geworden war, endlich abzustreifen. Leichter gesagt als getan, wenn einen einfach alles an Edgar erinnerte. Sein alter Nassrasierer, ein antik anmutendes Artefakt in einer Porzellanschale, die er von seinem Vater geerbt hatte, stand immer noch an seinem Platz, einer kleinen Anrichte neben dem Waschbecken, auf der Edgar immer seine Sachen abgelegt hatte. Dauermelancholie war ein äußerst beunruhigender Umstand. Da drängte sich die Frage nach Therapiebedürftigkeit auf. War es etwa normal, wenn man sich Monate nach dem Tod des Gatten immer noch nicht von seinen Sachen trennen konnte? Sicher, sie konnte sich auch einreden, dass er in diesen Dingen weiterlebte. Kein Wunder, denn Edgars Eigengeruch, der wie ein erlesenes Parfum ihre Sinne benebelt und ihr das Gefühl gegeben hatte, noch einen letzten Hauch von ihm bei sich zu haben, ließ sich nicht leugnen.
»Wirf das alte Zeug doch endlich weg.« Wenn der eigene Sohn so etwas sagt, tut das verdammt weh. Es war respektlos, auch gegenüber dem Vater, der Robert über alles geliebt hatte, zumindest so lange, bis ihm klargeworden war, dass Robert die Bäckerei nicht übernehmen würde. Maria fuhr etwas wehmütig ein letztes Mal über das weiche Haar des Rasierpinsels und legte das Utensil aus vergangenen Tagen schließlich zur Seite. Es war allerhöchste Zeit, in die Gänge zu kommen. Der Flieger würde nicht auf sie warten.
»Hilfst du mir mit dem Kleid?«
Robert, selbst noch in Unterhosen und Socken, hatte nicht die Absicht, sich von Marion aus der Ruhe bringen zu lassen. Er kramte stoisch weiter in einer Schublade. Vielleicht würde sie dann ja kapieren, dass es tierisch nervte, alle fünf Minuten für sie strammstehen zu müssen. Drei Hemden lagen bereits auf dem Boden, was den legeren Ikea-Stil des kunterbunten Billig-Wohnen-mit-SchickSchlafzimmers noch unterstrich.
»Kommst du jetzt?«
Robert verdrehte demonstrativ die Augen, wie immer, wenn seine Frau ihm auf den Zeiger ging, und schlüpfte eilig in das nächstbeste Hemd, das sich in einem desolat zerknitterten Zustand befand.
»Hast du die Hemden nicht gebügelt?«, fragte er. »Keine Zeit.«
Marion, eine nicht mehr ganz fabrikneue, wenngleich äußerst attraktive Barbie-Puppe, tänzelte mit Unschuldslächeln herein und stellte sich demonstrativ mit dem Rücken zu ihm. »Ich war gestern mit Steffi und Sabine beim Einkaufen. Das weißt du doch.«
Richtig. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Die Einkaufstrips mit Steffi waren in letzter Zeit ja zur Routine geworden. Er musste es wohl verdrängt haben. Wer erinnert sich schon gern daran, wie viel Geld die Ehefrau im wöchentlichen Kaufrausch vernichtet? Robert fummelte am Reißverschluss ihres Kleides herum. »Und du weißt, dass ich nicht bügeln kann.«
»Da sind doch noch genug gebügelte Hemden«, erwiderte sie trotzig.
»Kurzärmlige!«
Robert zog konsequenterweise den Reißverschluss ihres Kleides mit so viel Schwung nach oben, dass Marion leicht vom Boden abhob.
»Schlechte Laune?« Sie war anscheinend nicht aus der Ruhe zu bringen.
Robert resignierte. Seine Restenergie reichte gerade noch für ein schwaches Kopfschütteln.
»Ich möchte nur wissen, wer ihr den Floh ins Ohr gesetzt hat.«
Marion war wohl immer noch fassungslos darüber, dass seine Mutter, die so gut wie nie in Urlaub fuhr, schon gar nicht allein, eine Flugreise nach Gran Canaria gebucht hatte.
»Ihr wird die Decke auf den Kopf fallen.«
»Mir fällt sie auch bald auf den Kopf.«
»Wir waren doch erst im Urlaub«, widersprach er.
»Das ist drei Monate her ... und der ganze Stress in der Agentur«, säuselte sie.
»Halbtags? Stress?« Wie konnte ausgerechnet Marion es wagen, dieses Wort überhaupt in den Mund zu nehmen?
»Ein halber Tag in einer Werbeagentur strengt mehr an als ...« Marion suchte nach Argumenten, während sie das Kleid vor einem Garderobenspiegel in die rechte Form zupfte. Sie würde keine finden, jedenfalls keine plausiblen.
»Klar. Du hast auf alle Fälle mehr Stress als ich«, kam er ihr zuvor.
Robert stellte zufrieden fest, dass sein vorwurfsvoller Tonfall sie traf. In Sachen Stress hatte er in den letzten Wochen auf seinen beruflichen Streifzügen durch ganz Bayern wahrlich genug erlebt. Das war sein wunder Punkt, und Marion wusste immer, wann sie zu weit ging. Sofort wanderte ihre Hand versöhnlich in seinen Nacken.
»Du Armer. Jeden Tag unterwegs«, schnurrte sie.
Robert sah nur noch ihre katzengleichen Smaragdaugen,
ihr entwaffnendes Lächeln und spürte ihre Hand, die sich
schlangengleich an seinem Rücken entlangräkelte.
»Lass uns heute Abend schön essen gehen, ja?«
»Wird aber spät. Ich muss noch ins Allgäu«, antwortete
er ausweichend.
»Ins Allgäu?«, fragte sie.
»Ein neues Internetreisebüro. Stell dir vor, die haben überhaupt noch keine Buchhaltungssoftware.«
»Das schaffst du schon. Ich muss los.«
So viel Anteilnahme konnte einem wirklich Mut machen. Marion löste sich abrupt von ihm und schnappte sich eine schicke kurze Jacke, die vor ihr auf einem Korbsessel lag.
»Und vergiss nicht, deine Mutter nach der Hypothek zu fragen.«
Dies war eines der Dinge, die ihm bleischwer im Magen lagen.
»Die braucht das Haus doch eh nicht. Aber wir brauchen das Geld!«, fügte sie hinzu und zog die Jacke an.
Drei prall gefüllte Mülltüten warteten darauf, in der Tonne vor Marias Einfamilienhaus entsorgt zu werden. Wenn nur der Deckel nicht wieder klemmen würde. Der tägliche Kampf mit den Tücken des Objekts.
»Na, schon im Reisefieber?«, tönte es wie aus dem Nichts. Maria bemerkte erst jetzt ihre Nachbarin, deren Kopf
über die Hecke ragte, die die beiden Grundstücke optisch
trennte. »Hilde. Ich wollt eh zu dir. Der Hausschlüssel.« »Wie lange bleibst du denn?«, wollte die Nachbarin wissen. »Weiß ich noch nicht.«
Hilde in ihrem flauschigen Hausanzug aus Flanell, einem unsäglich schlabberigen Billigteil, das sie vermutlich aus der hintersten Ecke eines Schlussverkaufwühltisches hervorgezogen hatte, nahm einen von Marias Schlüsseln in Empfang. »Hast du schon von der Gruber gehört?«
»Die Gruber? Was soll denn mit der sein?«
»Autounfall. War nichts mehr zu machen.«
»Das ist ja tragisch. Gehst du zur Beerdigung?« Eigentlich war es Maria völlig egal, wer zu Angelika Grubers Beerdigung gehen würde, aber über was außer dem Wetter könnte sie sich mit Hilde um der guten Nachbarschaft willen sonst unterhalten? Immerhin würde die Frau sich in ihrer Abwesenheit um ihre Pflanzen kümmern, was ein Gespräch auf alle Fälle rechtfertigte.
Hilde zuckte mit den Schultern. »Ob überhaupt jemand hingeht?«
Im Nu wurden wieder Erinnerungen an die dicke Gruber wach, eine impertinente Frau, die am Ende ihrer Straße in einer kleinen Boutique arbeitete und ihr nimmermüde altbackene Kleidung in Grau- und Beigetönen andrehen wollte. »So eine Ironie«, sinnierte Maria vor sich hin.
»Wie meinst'n das?« Hilde war wie immer etwas schwer von Begriff.
»Erinnerst du dich noch? Letztes Jahr? Ich möchte nicht wissen, wie viele Leute die Gruber noch in dieses Wohnstift geschleppt hat.«
»Wahrscheinlich die halbe Straße«, erinnerte sich Hilde.
»Sie müssen sich rechtzeitig auf eine Warteliste setzen lassen ... Jetzt, wo Ihr Mann tot ist«, äffte Maria die Gruber nach. Unglaublich, dass sie sich von ihr tatsächlich hatte überreden lassen, einem Altersheim einen Besuch abzustatten. Ganz unverbindlich, hatte es geheißen. Aus dem geplanten »kurzen Ausflug« bei Kaffee und Kuchen war an einem sonnigen Tag, den Maria viel lieber mit einem Spaziergang im Park verbracht hätte, ein zweistündiger Aufenthalt bei einer geschäftstüchtigen Direktorin geworden, gefangen im Bürokäfig einer leidenschaftlichen Verkäuferin, die Maria gar nicht mehr gehen lassen wollte. Der Eigengeruch des Gebäudes hatte ihr an jenem Tag ein Schaudern über den Rücken gejagt. Die Luft hatte abgestanden und fahl geschmeckt, nach Krankheit und dem Duft des Sensenmannes, der, was in der Natur der Dinge lag, zu einem Stammgast geworden war. Nein, ein Altersheim kam nicht in Frage! Sie hatte nun wirklich keine Lust, sich den ganzen Tag bedienen zu lassen, um bei Brei und Pudding auf den letzten Atemzug zu warten.
»Die hat uns doch nur wegen der Provision mitgeschleppt«, platzte es empört aus Hilde heraus.
»Provision?«, fragte Maria. Was alles post mortem so herauskam. Einfach unglaublich!
»Wusstest du das denn nicht? Für jeden Interessenten gab's zehn Euro und einen höheren Rang auf der Warteliste. Ich bin mir sicher, dass sie schon ganz oben war.«
Immerhin war die Gruber jetzt im wahrsten Sinne des Wortes »ganz oben«, nämlich im Himmel. Die Vorstellung, dass sie nun als fette Putte auf einer Wolke sitzen und sich darüber ärgern würde, das Altersheim knapp verpasst zu haben, hatte etwas Erheiterndes. Ob die Wolke sie bei ihrem Gewicht überhaupt tragen würde?
»Tragisch, wirklich tragisch«, rang sich Maria mit aufgesetzter Trauermine ab, denn noch immer ging ihr das Bild der Putte nicht aus dem Kopf.
Hilde stimmte voll und ganz zu, wenngleich aus ganz anderen Gründen. »Andererseits, wer kümmert sich mal um uns? Na ja, du hast ja wenigstens noch Robert.«
»Robert? Der gießt ja noch nicht mal meine Blumen.«
»Wenn mein Mann mal nicht mehr ist ... ich weiß nicht ... «
Maria konnte Hildes Ängste gut nachvollziehen. Dennoch störte sie ihr mitleidiger Blick. »Damit muss man fertig werden, aber ins Altersheim kriegt mich niemand.«
Was für ein wunderschöner Morgen. Vor Sigrun lag die schier unendliche Weite des Meeres. Zug um Zug näherte sie sich dem verführerischen, tiefen Blau des Atlantiks, der sich nahtlos an den Pool anzuschließen schien. Am Beckenrand vor ihr tummelten sich zwei junge Mädchen in knappen Bikinis - wahre Schönheiten, die in jedem Modelwettbewerb bestehen würden und sie an ihre Jugend erinnerten, in der sie sich nebenbei auf dem Laufsteg Geld verdient hatte. Dennoch kein Grund, neidisch zu werden, denn Sigrun wusste, dass sie trotz ihrer achtundfünfzig Lebensjahre immer noch eine gute Figur abgab und sich rank und schlank, wie sie nun mal war, überhaupt nicht zu verstecken brauchte.
Ein Blick über den Rand des Pools lohnte sich. Erst jetzt konnte man eine äußerst gepflegte Uferpromenade erkennen, die sich vom Leuchtturm zu ihrer Linken bis hin nach Meloneras zu ihrer Rechten erstreckte - ein Gebiet, in dem es vor neuen Hotel- und Bungalowanlagen nur so wimmelte. Wie herrlich, sich im Wasser zu räkeln und dabei die spazierenden Touristen zu beobachten. Und erst diese gemütlichen Cafés, deren leinenfarbene Sonnenschirme nahtlos ineinander übergingen und den Spazierweg am Meer auf der Landseite kontrastreich zum satten Blau und dem Grün des Palmensaums flankierten. Wie gemalt!
»Hier könnte ich es noch eine Weile aushalten«, kommentierte Elke, die mit ihrer gelben Badekappe neben ihr wie ein übermütiger Delphin aus dem Wasser schoss.
»Auf Dauer im Hotel? Das wäre nichts für mich«, gab Sigrun ihr mit Nachdruck zu verstehen.
Elke rieb sich die Augen trocken. »Och, ich könnte mich daran gewöhnen, aber wer weiß, wenn wir Glück haben, schwimmen wir ja bald im eigenen Pool.«
Elke entdeckte eine Gruppe älterer Spaziergänger an der Uferpromenade. Eine der gebrechlich wirkenden Frauen war auf eine Gehhilfe angewiesen und kam nur im Schneckentempo voran. »Ob wir in ein paar Jahren auch mit so einem Ding daherkommen?«
»Du meinst mit einem Rollator?« So abwegig war Elkes Gedanke gar nicht. Wer wusste schon, was in ein paar Jahren sein würde. Man musste den Dingen realistisch ins Auge sehen. »Sagen wir mal so. Wir sind jetzt in einem Alter, in dem wir uns langsam rechts einordnen dürfen, und die beiden da unten, na ja, so weit sind die von der letzten Ausfahrt nicht mehr entfernt.«
Elke feixte. »Ausgerechnet du sprichst vom Altwerden. Sei ehrlich, hat dich schon jemals ein Mann auf über fünfzig geschätzt?«
Sigrun freute sich über Elkes Kompliment, auch wenn sie genau wusste, dass sie offenbar mit einem eingebauten Jungbrunnen in den Genen zur Welt gekommen war. »Wenn dich ein Mann schätzt, musst du sowieso immer zehn Jahre draufrechnen«, entgegnete sie bewusst trocken.
Elkes Miene verfinsterte sich. »Dann hat mich der Casanova da drüben wohl für noch älter gehalten, als ich bin.«
»Vielleicht hat er nur zu viel getrunken«, tröstete Sigrun ihre Freundin. »Außerdem hast du dich doch auch sehr gut gehalten.«
»Äußerlich schon, aber mein Rücken und meine Beine...«
»Mein Gott, da muss man sich eben zusammenreißen.« »Vielleicht fahr ich ja auch schon ganz rechts, auf der Standspur«, bemerkte Elke leicht resigniert.
»Wer sagt denn, dass man auf der rechten Spur langsam fahren muss? Ein bisschen Gas zu geben, könnte dir nicht schaden - gelegentlich.«
Sigrun war davon überzeugt, Elke ab und an etwas wachrütteln zu müssen. Ihre Freundin war schon immer viel zu kopflastig, zu vernünftig, und so etwas machte nun mal alt und träge. Elkes Blick verharrte verdächtig lange auf jenem Alt-Casanova an der Poolbar, der sie angesprochen hatte. So jemanden musste Sigrun sich näher ansehen. »Dem würde ich erst gar nicht die Gelegenheit geben, mein Alter zu schätzen«, konstatierte sie mit abfälligem Unterton.
»Er hat mich doch nur zu einem Kaffee eingeladen.«
Sigrun war fassungslos und ließ sich dies auch anmerken.
Elke zappelte wie ein Fisch im Wasser.
»Was hätt ich denn tun sollen, etwa lügen?«
»Natürlich. Du hättest ihm sagen sollen, dass du schon weit über siebzig bist.«
Elke lachte befreit auf. Zuckerbrot und Peitsche. Damit ließ sie sich gut handhaben, außerdem wusste Sigrun, dass ihre Freundin sie für ihren trockenen Humor schätzte, vor allem, wenn es um Männer ging.
»Wir sollten uns langsam umziehen.«
Elke reagierte überhaupt nicht, stierte stattdessen mit glasigem Blick aufs offene Meer.
»Bleibst du etwa noch?«
Sigrun wunderte sich über Elkes Abwesenheit. War sie vorhin vielleicht doch einen Schritt zu weit gegangen? »Was machen wir, wenn Maria abspringt?«
Aha, es ging also um ihre Zukunftspläne, die natürlich von Maria abhingen. Abwarten! Rumgrübeln bringt gar nichts. So etwas macht nur alt und grau. Sigrun beschloss, angesichts des zuvor Geschehenen nun doch lieber darauf zu verzichten, Elke diese Lebensweisheit auch noch rein-zudrücken.
»Jemand, der noch nicht aufgesprungen ist, kann gar nicht abspringen.«
Elkes starr auf die Weite des Meeres gerichteter Blick verriet, dass es in ihr ordentlich rumorte.
»Wir sollten es ihr so schnell wie möglich sagen«, spuckte sie endlich aus.
»Noch ist nichts unterschrieben, beruhige dich. Außerdem bekommt man so ein Angebot nicht alle Tage.« »Aber sie einfach so überrumpeln?«
»Wir zeigen ihr ein paar Alternativen«, antwortete Sigrun locker.
»Welche?«
»Eben. Es gibt keine.«
»Das ist Manipulation«, protestierte Elke vehement. »Positive und zielgerichtete externe Entscheidungsfindung und nur zu ihrem Besten.«
Elke wirkte nicht gerade überzeugt.
»Du willst das Haus doch auch?«
Na endlich! Ein Nicken, wenngleich etwas zögerlich. Um ein Haar hätte Elke es geschafft, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen.
»Es wird alles gut!« Elke nickte ein zweites Mal, und dennoch stellte sich Sigrun gerade die Frage, ob sie dieses Versprechen auch wirklich würde halten können.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
»Wer einmal Rosinen gegessen hat, dem schmecken keine Trauben mehr.«
Edgar pflegte dies immer zu sagen, um Maria in Gesellschaft gleichaltriger Frauen ein Kompliment zu machen, obgleich ihr natürlich klar war, dass er sich damit nur selbst in ein gutes Licht rücken wollte. Ein Mann, der so etwas sagt, erweckt den Eindruck, dass er bei jüngeren Frauen noch ganz gute Karten hat. Als Maria ihn eines Abends auf dem Bäckerball in der Nürnberger Meistersingerhalle - für beide ein alljährliches Highlight - offen darauf ansprach, lächelte er nur. Ein hinreißendes Lächeln, dem Maria selbst über Edgars Tod hinaus treu geblieben war.
»Ich liebe nur dich, und das war schon immer so.« Nicht mehr und nicht weniger hatte dieses Lächeln zu sagen. Einfach entwaffnend.
»Eine wohlschmeckende Rosine«, konstatierte Maria mit bittersüßem Blick, als sie an diesem Morgen ihr Antlitz im Spiegel sah und überlegte, ob sie trotz Edgars Abneigung gegen Kosmetika etwas Make-up auflegen sollte.
»Das Zeug verklebt die natürliche Schönheit einer Frau.« Oft genug hatte ihr verstorbener Mann Werbung für Gesichtscremes in dieser Weise kommentiert. Maria musste schmunzeln. Ob sie wirklich von innen strahlte, wie er immer behauptet hatte, ein Strahlen der Zufriedenheit, das Menschen schön macht, ein Strahlen, um das man jeden beneidet?
Das unbarmherzige Licht ihres Spiegelschrankes sprach allerdings eine andere Sprache. Als sie sich näher betrachtete und ihr lockiges brünettes Haar, das wie jeden Morgen kaum zu bändigen war, zurechtzupfte, bereute sie den lebenslangen Verzicht auf diverse Cremes und Öle nun doch. Sie trat einen Schritt vor und tastete ihre Problemstellen mit kritischem Blick ab. Kleine Fältchen um die Augen und eine von den Sorgen eines harten Berufslebens gezeichnete Stirn ergaben das Porträt einer Frau, die ihre beste Zeit hinter sich gelassen hatte. Die vielen Jahre in der Bäckerei, jeden Tag um halb fünf aus den Federn und bis sechs Uhr abends am Tresen stehen. Maria begann spontan, ihre Gesichtshaut bis zu den Ohren nach hinten zu liften.
Ein straffes, aber skurril verzogenes Gesicht und unnatürlich breite Lippen machten sie im Nu zu einer zwar faltenfreien, aber urkomischen Karikatur ihrer selbst. Genug, um sich aus der zäh an ihrer Seele klebenden Melancholie zu befreien. Maria setzte sogleich ein zufriedenes Lächeln auf. Das Lächeln einer Verkäuferin, entlarvte sie sich selbst. Sie hatte es zeit ihres Lebens hinter dem Tresen bestens einstudiert. »Haben Sie sonst noch einen Wunsch?« Es wurde allerhöchste Zeit, neu anzufangen und das unsichtbare Trauergewand, das längst zu einer zweiten Haut geworden war, endlich abzustreifen. Leichter gesagt als getan, wenn einen einfach alles an Edgar erinnerte. Sein alter Nassrasierer, ein antik anmutendes Artefakt in einer Porzellanschale, die er von seinem Vater geerbt hatte, stand immer noch an seinem Platz, einer kleinen Anrichte neben dem Waschbecken, auf der Edgar immer seine Sachen abgelegt hatte. Dauermelancholie war ein äußerst beunruhigender Umstand. Da drängte sich die Frage nach Therapiebedürftigkeit auf. War es etwa normal, wenn man sich Monate nach dem Tod des Gatten immer noch nicht von seinen Sachen trennen konnte? Sicher, sie konnte sich auch einreden, dass er in diesen Dingen weiterlebte. Kein Wunder, denn Edgars Eigengeruch, der wie ein erlesenes Parfum ihre Sinne benebelt und ihr das Gefühl gegeben hatte, noch einen letzten Hauch von ihm bei sich zu haben, ließ sich nicht leugnen.
»Wirf das alte Zeug doch endlich weg.« Wenn der eigene Sohn so etwas sagt, tut das verdammt weh. Es war respektlos, auch gegenüber dem Vater, der Robert über alles geliebt hatte, zumindest so lange, bis ihm klargeworden war, dass Robert die Bäckerei nicht übernehmen würde. Maria fuhr etwas wehmütig ein letztes Mal über das weiche Haar des Rasierpinsels und legte das Utensil aus vergangenen Tagen schließlich zur Seite. Es war allerhöchste Zeit, in die Gänge zu kommen. Der Flieger würde nicht auf sie warten.
»Hilfst du mir mit dem Kleid?«
Robert, selbst noch in Unterhosen und Socken, hatte nicht die Absicht, sich von Marion aus der Ruhe bringen zu lassen. Er kramte stoisch weiter in einer Schublade. Vielleicht würde sie dann ja kapieren, dass es tierisch nervte, alle fünf Minuten für sie strammstehen zu müssen. Drei Hemden lagen bereits auf dem Boden, was den legeren Ikea-Stil des kunterbunten Billig-Wohnen-mit-SchickSchlafzimmers noch unterstrich.
»Kommst du jetzt?«
Robert verdrehte demonstrativ die Augen, wie immer, wenn seine Frau ihm auf den Zeiger ging, und schlüpfte eilig in das nächstbeste Hemd, das sich in einem desolat zerknitterten Zustand befand.
»Hast du die Hemden nicht gebügelt?«, fragte er. »Keine Zeit.«
Marion, eine nicht mehr ganz fabrikneue, wenngleich äußerst attraktive Barbie-Puppe, tänzelte mit Unschuldslächeln herein und stellte sich demonstrativ mit dem Rücken zu ihm. »Ich war gestern mit Steffi und Sabine beim Einkaufen. Das weißt du doch.«
Richtig. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Die Einkaufstrips mit Steffi waren in letzter Zeit ja zur Routine geworden. Er musste es wohl verdrängt haben. Wer erinnert sich schon gern daran, wie viel Geld die Ehefrau im wöchentlichen Kaufrausch vernichtet? Robert fummelte am Reißverschluss ihres Kleides herum. »Und du weißt, dass ich nicht bügeln kann.«
»Da sind doch noch genug gebügelte Hemden«, erwiderte sie trotzig.
»Kurzärmlige!«
Robert zog konsequenterweise den Reißverschluss ihres Kleides mit so viel Schwung nach oben, dass Marion leicht vom Boden abhob.
»Schlechte Laune?« Sie war anscheinend nicht aus der Ruhe zu bringen.
Robert resignierte. Seine Restenergie reichte gerade noch für ein schwaches Kopfschütteln.
»Ich möchte nur wissen, wer ihr den Floh ins Ohr gesetzt hat.«
Marion war wohl immer noch fassungslos darüber, dass seine Mutter, die so gut wie nie in Urlaub fuhr, schon gar nicht allein, eine Flugreise nach Gran Canaria gebucht hatte.
»Ihr wird die Decke auf den Kopf fallen.«
»Mir fällt sie auch bald auf den Kopf.«
»Wir waren doch erst im Urlaub«, widersprach er.
»Das ist drei Monate her ... und der ganze Stress in der Agentur«, säuselte sie.
»Halbtags? Stress?« Wie konnte ausgerechnet Marion es wagen, dieses Wort überhaupt in den Mund zu nehmen?
»Ein halber Tag in einer Werbeagentur strengt mehr an als ...« Marion suchte nach Argumenten, während sie das Kleid vor einem Garderobenspiegel in die rechte Form zupfte. Sie würde keine finden, jedenfalls keine plausiblen.
»Klar. Du hast auf alle Fälle mehr Stress als ich«, kam er ihr zuvor.
Robert stellte zufrieden fest, dass sein vorwurfsvoller Tonfall sie traf. In Sachen Stress hatte er in den letzten Wochen auf seinen beruflichen Streifzügen durch ganz Bayern wahrlich genug erlebt. Das war sein wunder Punkt, und Marion wusste immer, wann sie zu weit ging. Sofort wanderte ihre Hand versöhnlich in seinen Nacken.
»Du Armer. Jeden Tag unterwegs«, schnurrte sie.
Robert sah nur noch ihre katzengleichen Smaragdaugen,
ihr entwaffnendes Lächeln und spürte ihre Hand, die sich
schlangengleich an seinem Rücken entlangräkelte.
»Lass uns heute Abend schön essen gehen, ja?«
»Wird aber spät. Ich muss noch ins Allgäu«, antwortete
er ausweichend.
»Ins Allgäu?«, fragte sie.
»Ein neues Internetreisebüro. Stell dir vor, die haben überhaupt noch keine Buchhaltungssoftware.«
»Das schaffst du schon. Ich muss los.«
So viel Anteilnahme konnte einem wirklich Mut machen. Marion löste sich abrupt von ihm und schnappte sich eine schicke kurze Jacke, die vor ihr auf einem Korbsessel lag.
»Und vergiss nicht, deine Mutter nach der Hypothek zu fragen.«
Dies war eines der Dinge, die ihm bleischwer im Magen lagen.
»Die braucht das Haus doch eh nicht. Aber wir brauchen das Geld!«, fügte sie hinzu und zog die Jacke an.
Drei prall gefüllte Mülltüten warteten darauf, in der Tonne vor Marias Einfamilienhaus entsorgt zu werden. Wenn nur der Deckel nicht wieder klemmen würde. Der tägliche Kampf mit den Tücken des Objekts.
»Na, schon im Reisefieber?«, tönte es wie aus dem Nichts. Maria bemerkte erst jetzt ihre Nachbarin, deren Kopf
über die Hecke ragte, die die beiden Grundstücke optisch
trennte. »Hilde. Ich wollt eh zu dir. Der Hausschlüssel.« »Wie lange bleibst du denn?«, wollte die Nachbarin wissen. »Weiß ich noch nicht.«
Hilde in ihrem flauschigen Hausanzug aus Flanell, einem unsäglich schlabberigen Billigteil, das sie vermutlich aus der hintersten Ecke eines Schlussverkaufwühltisches hervorgezogen hatte, nahm einen von Marias Schlüsseln in Empfang. »Hast du schon von der Gruber gehört?«
»Die Gruber? Was soll denn mit der sein?«
»Autounfall. War nichts mehr zu machen.«
»Das ist ja tragisch. Gehst du zur Beerdigung?« Eigentlich war es Maria völlig egal, wer zu Angelika Grubers Beerdigung gehen würde, aber über was außer dem Wetter könnte sie sich mit Hilde um der guten Nachbarschaft willen sonst unterhalten? Immerhin würde die Frau sich in ihrer Abwesenheit um ihre Pflanzen kümmern, was ein Gespräch auf alle Fälle rechtfertigte.
Hilde zuckte mit den Schultern. »Ob überhaupt jemand hingeht?«
Im Nu wurden wieder Erinnerungen an die dicke Gruber wach, eine impertinente Frau, die am Ende ihrer Straße in einer kleinen Boutique arbeitete und ihr nimmermüde altbackene Kleidung in Grau- und Beigetönen andrehen wollte. »So eine Ironie«, sinnierte Maria vor sich hin.
»Wie meinst'n das?« Hilde war wie immer etwas schwer von Begriff.
»Erinnerst du dich noch? Letztes Jahr? Ich möchte nicht wissen, wie viele Leute die Gruber noch in dieses Wohnstift geschleppt hat.«
»Wahrscheinlich die halbe Straße«, erinnerte sich Hilde.
»Sie müssen sich rechtzeitig auf eine Warteliste setzen lassen ... Jetzt, wo Ihr Mann tot ist«, äffte Maria die Gruber nach. Unglaublich, dass sie sich von ihr tatsächlich hatte überreden lassen, einem Altersheim einen Besuch abzustatten. Ganz unverbindlich, hatte es geheißen. Aus dem geplanten »kurzen Ausflug« bei Kaffee und Kuchen war an einem sonnigen Tag, den Maria viel lieber mit einem Spaziergang im Park verbracht hätte, ein zweistündiger Aufenthalt bei einer geschäftstüchtigen Direktorin geworden, gefangen im Bürokäfig einer leidenschaftlichen Verkäuferin, die Maria gar nicht mehr gehen lassen wollte. Der Eigengeruch des Gebäudes hatte ihr an jenem Tag ein Schaudern über den Rücken gejagt. Die Luft hatte abgestanden und fahl geschmeckt, nach Krankheit und dem Duft des Sensenmannes, der, was in der Natur der Dinge lag, zu einem Stammgast geworden war. Nein, ein Altersheim kam nicht in Frage! Sie hatte nun wirklich keine Lust, sich den ganzen Tag bedienen zu lassen, um bei Brei und Pudding auf den letzten Atemzug zu warten.
»Die hat uns doch nur wegen der Provision mitgeschleppt«, platzte es empört aus Hilde heraus.
»Provision?«, fragte Maria. Was alles post mortem so herauskam. Einfach unglaublich!
»Wusstest du das denn nicht? Für jeden Interessenten gab's zehn Euro und einen höheren Rang auf der Warteliste. Ich bin mir sicher, dass sie schon ganz oben war.«
Immerhin war die Gruber jetzt im wahrsten Sinne des Wortes »ganz oben«, nämlich im Himmel. Die Vorstellung, dass sie nun als fette Putte auf einer Wolke sitzen und sich darüber ärgern würde, das Altersheim knapp verpasst zu haben, hatte etwas Erheiterndes. Ob die Wolke sie bei ihrem Gewicht überhaupt tragen würde?
»Tragisch, wirklich tragisch«, rang sich Maria mit aufgesetzter Trauermine ab, denn noch immer ging ihr das Bild der Putte nicht aus dem Kopf.
Hilde stimmte voll und ganz zu, wenngleich aus ganz anderen Gründen. »Andererseits, wer kümmert sich mal um uns? Na ja, du hast ja wenigstens noch Robert.«
»Robert? Der gießt ja noch nicht mal meine Blumen.«
»Wenn mein Mann mal nicht mehr ist ... ich weiß nicht ... «
Maria konnte Hildes Ängste gut nachvollziehen. Dennoch störte sie ihr mitleidiger Blick. »Damit muss man fertig werden, aber ins Altersheim kriegt mich niemand.«
Was für ein wunderschöner Morgen. Vor Sigrun lag die schier unendliche Weite des Meeres. Zug um Zug näherte sie sich dem verführerischen, tiefen Blau des Atlantiks, der sich nahtlos an den Pool anzuschließen schien. Am Beckenrand vor ihr tummelten sich zwei junge Mädchen in knappen Bikinis - wahre Schönheiten, die in jedem Modelwettbewerb bestehen würden und sie an ihre Jugend erinnerten, in der sie sich nebenbei auf dem Laufsteg Geld verdient hatte. Dennoch kein Grund, neidisch zu werden, denn Sigrun wusste, dass sie trotz ihrer achtundfünfzig Lebensjahre immer noch eine gute Figur abgab und sich rank und schlank, wie sie nun mal war, überhaupt nicht zu verstecken brauchte.
Ein Blick über den Rand des Pools lohnte sich. Erst jetzt konnte man eine äußerst gepflegte Uferpromenade erkennen, die sich vom Leuchtturm zu ihrer Linken bis hin nach Meloneras zu ihrer Rechten erstreckte - ein Gebiet, in dem es vor neuen Hotel- und Bungalowanlagen nur so wimmelte. Wie herrlich, sich im Wasser zu räkeln und dabei die spazierenden Touristen zu beobachten. Und erst diese gemütlichen Cafés, deren leinenfarbene Sonnenschirme nahtlos ineinander übergingen und den Spazierweg am Meer auf der Landseite kontrastreich zum satten Blau und dem Grün des Palmensaums flankierten. Wie gemalt!
»Hier könnte ich es noch eine Weile aushalten«, kommentierte Elke, die mit ihrer gelben Badekappe neben ihr wie ein übermütiger Delphin aus dem Wasser schoss.
»Auf Dauer im Hotel? Das wäre nichts für mich«, gab Sigrun ihr mit Nachdruck zu verstehen.
Elke rieb sich die Augen trocken. »Och, ich könnte mich daran gewöhnen, aber wer weiß, wenn wir Glück haben, schwimmen wir ja bald im eigenen Pool.«
Elke entdeckte eine Gruppe älterer Spaziergänger an der Uferpromenade. Eine der gebrechlich wirkenden Frauen war auf eine Gehhilfe angewiesen und kam nur im Schneckentempo voran. »Ob wir in ein paar Jahren auch mit so einem Ding daherkommen?«
»Du meinst mit einem Rollator?« So abwegig war Elkes Gedanke gar nicht. Wer wusste schon, was in ein paar Jahren sein würde. Man musste den Dingen realistisch ins Auge sehen. »Sagen wir mal so. Wir sind jetzt in einem Alter, in dem wir uns langsam rechts einordnen dürfen, und die beiden da unten, na ja, so weit sind die von der letzten Ausfahrt nicht mehr entfernt.«
Elke feixte. »Ausgerechnet du sprichst vom Altwerden. Sei ehrlich, hat dich schon jemals ein Mann auf über fünfzig geschätzt?«
Sigrun freute sich über Elkes Kompliment, auch wenn sie genau wusste, dass sie offenbar mit einem eingebauten Jungbrunnen in den Genen zur Welt gekommen war. »Wenn dich ein Mann schätzt, musst du sowieso immer zehn Jahre draufrechnen«, entgegnete sie bewusst trocken.
Elkes Miene verfinsterte sich. »Dann hat mich der Casanova da drüben wohl für noch älter gehalten, als ich bin.«
»Vielleicht hat er nur zu viel getrunken«, tröstete Sigrun ihre Freundin. »Außerdem hast du dich doch auch sehr gut gehalten.«
»Äußerlich schon, aber mein Rücken und meine Beine...«
»Mein Gott, da muss man sich eben zusammenreißen.« »Vielleicht fahr ich ja auch schon ganz rechts, auf der Standspur«, bemerkte Elke leicht resigniert.
»Wer sagt denn, dass man auf der rechten Spur langsam fahren muss? Ein bisschen Gas zu geben, könnte dir nicht schaden - gelegentlich.«
Sigrun war davon überzeugt, Elke ab und an etwas wachrütteln zu müssen. Ihre Freundin war schon immer viel zu kopflastig, zu vernünftig, und so etwas machte nun mal alt und träge. Elkes Blick verharrte verdächtig lange auf jenem Alt-Casanova an der Poolbar, der sie angesprochen hatte. So jemanden musste Sigrun sich näher ansehen. »Dem würde ich erst gar nicht die Gelegenheit geben, mein Alter zu schätzen«, konstatierte sie mit abfälligem Unterton.
»Er hat mich doch nur zu einem Kaffee eingeladen.«
Sigrun war fassungslos und ließ sich dies auch anmerken.
Elke zappelte wie ein Fisch im Wasser.
»Was hätt ich denn tun sollen, etwa lügen?«
»Natürlich. Du hättest ihm sagen sollen, dass du schon weit über siebzig bist.«
Elke lachte befreit auf. Zuckerbrot und Peitsche. Damit ließ sie sich gut handhaben, außerdem wusste Sigrun, dass ihre Freundin sie für ihren trockenen Humor schätzte, vor allem, wenn es um Männer ging.
»Wir sollten uns langsam umziehen.«
Elke reagierte überhaupt nicht, stierte stattdessen mit glasigem Blick aufs offene Meer.
»Bleibst du etwa noch?«
Sigrun wunderte sich über Elkes Abwesenheit. War sie vorhin vielleicht doch einen Schritt zu weit gegangen? »Was machen wir, wenn Maria abspringt?«
Aha, es ging also um ihre Zukunftspläne, die natürlich von Maria abhingen. Abwarten! Rumgrübeln bringt gar nichts. So etwas macht nur alt und grau. Sigrun beschloss, angesichts des zuvor Geschehenen nun doch lieber darauf zu verzichten, Elke diese Lebensweisheit auch noch rein-zudrücken.
»Jemand, der noch nicht aufgesprungen ist, kann gar nicht abspringen.«
Elkes starr auf die Weite des Meeres gerichteter Blick verriet, dass es in ihr ordentlich rumorte.
»Wir sollten es ihr so schnell wie möglich sagen«, spuckte sie endlich aus.
»Noch ist nichts unterschrieben, beruhige dich. Außerdem bekommt man so ein Angebot nicht alle Tage.« »Aber sie einfach so überrumpeln?«
»Wir zeigen ihr ein paar Alternativen«, antwortete Sigrun locker.
»Welche?«
»Eben. Es gibt keine.«
»Das ist Manipulation«, protestierte Elke vehement. »Positive und zielgerichtete externe Entscheidungsfindung und nur zu ihrem Besten.«
Elke wirkte nicht gerade überzeugt.
»Du willst das Haus doch auch?«
Na endlich! Ein Nicken, wenngleich etwas zögerlich. Um ein Haar hätte Elke es geschafft, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen.
»Es wird alles gut!« Elke nickte ein zweites Mal, und dennoch stellte sich Sigrun gerade die Frage, ob sie dieses Versprechen auch wirklich würde halten können.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Tessa Hennig
Tessa Hennig ist seit vielen Jahren als freie Journalistin, Regisseurin und Autorin tätig. Sie ist vielbeschäftigte Drehbuchautorin, unter anderem für die große Prime-Time-Frauenunterhaltung. Wenn sie vom Schreiben und ihrem Wohnort München eine Auszeit benötigt, reist sie gern in den Süden.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tessa Hennig
- 352 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868008039
- ISBN-13: 9783868008036
Rezension zu „Mutti steigt aus “
»Witzige Urlaubslektüre« TV Familia, 11/2010»Ein großartig unterhaltsamer Roman über wunderbare Frauenfreundschaften und die Chancen im Alter. Außerdem Ferienstimmung pur, mit tiefblauem Himmel, goldenen Dünen und glitzerndem Meer.« WDR 4, Sibylle Haseke, 13.07.2010
»Eine lustige und abwechslungsreiche Geschichte, die man nicht nur am Strand von Maspalomas lesen kann.« das neue, 2010/33
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