Nachrichtenzeit
Meine unfertigen Erinnerungen
Als Journalistin war Wibke Bruhns ganz nah am Zeitgeschehen – und an Persönlichkeiten, die die Geschichte prägten. Ob die Studentenproteste 1968, der Aufstieg und Fall Willy Brandts oder die Treffen zwischen Reagan und Gorbatschow: Wibke...
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Produktinformationen zu „Nachrichtenzeit “
Als Journalistin war Wibke Bruhns ganz nah am Zeitgeschehen – und an Persönlichkeiten, die die Geschichte prägten. Ob die Studentenproteste 1968, der Aufstieg und Fall Willy Brandts oder die Treffen zwischen Reagan und Gorbatschow: Wibke Bruhns Erinnerungen werfen einen frischen Blick auf die Zeitgeschichte.
Klappentext zu „Nachrichtenzeit “
Wibke Bruhns ist eine der bedeutendsten deutschen Journalistinnen. 1938 in Halberstadt geboren, machte sie schon früh Karriere beim Fernsehen und wurde 1971 beim ZDF die erste Nachrichtensprecherin der Bundesrepublik - damals eine Sensation und ein ungeheuerlicher Skandal. Doch ihre Leidenschaft war die politische Berichterstattung. Was auch immer passierte: Wibke Bruhns war mittendrin und ganz nahe am Zeitgeschehen - und an den Persönlichkeiten, die die Geschichte prägten. Ob die Studentenproteste 1968, der Aufstieg und Fall Willy Brandts, die Guillaume-Affäre, der Skandal um die vermeintlichen Hitlertagebücher, die Auseinandersetzungen im Nahen Osten, die Gipfeltreffen zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow oder der Mauerfall - Wibke Bruhns' Erinnerungen sind das Zeugnis eines ungewöhnlichen, illustren Lebens und ein bestechend frischer Blick auf die Geschichte unserer Zeit.
Lese-Probe zu „Nachrichtenzeit “
Nachrichtenzeit - meine unfertigen Erinnerungen von Wibke BruhnsEINS
Es gibt noch Menschen, die erinnern sich. Heute Neunzigjährige reden mit schmalen Lippen von den Entbehrungen der Nachkriegszeit. Die Währungsreform im Juni 1948 - einschneidendste Veränderung im Leben der Deutschen nach dem Krieg. Wo kamen plötzlich all die Waren her in den Läden? Wer sollte sie womit bezahlen - erste Apfelsinen, Kugelschreiber! Selbst der Volkswagen war plötzlich binnen acht Tagen lieferbar, für 5300 DM. Wer hatte die? Die Deutschen Ost und die Deutschen West wurden für lange Zeit getrennt. Die Sowjetunion blockierte Land- und Wasserwege nach Berlin. In einem Kraftakt sondergleichen versorgten die Alliierten 2,2 Millionen Westberliner elf Monate lang aus der Luft. Bürgermeister Ernst Reuter am 9. September 1948 vor dem zerbombten Reichstag: »Ihr Völker der Welt... schaut auf diese Stadt.« Was ist dagegen der Kosmos einer Zehnjährigen? Meine Welt. Die hatte andere Prioritäten.
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Heute kann ich Weihrauch schwer ertragen. Aber damals, ich war knapp zehn, habe ich mich daran berauscht. Immer wieder schlich ich in eine katholische Kirche in unserer Nähe - Feindesland! -, klaute Weihwasser für die obligatorische Bekreuzigung und kniete mich in eine harte Bank, das Geschehen um mich herum im gesenkten Blick. Da waren die Messbuben (ach, wenn sie doch auch Mädchen nähmen!), die Priester in ihren goldbetressten Gewändern huschten um den Altar, Backwerk wurde in die Luft gehoben zu lateinischem Singsang. Ab und zu klingelte ein Glöckchen, und Weihrauch. Weihrauch!
Feindesland? Für ein evangelisch-reformiertes Kind aus Halberstadt war dies hier vermintes Gelände. Katholiken waren schließlich mit dem Teufel im Bunde. Schwarze Gestalten flüsterten in Beichtstühlen, auf den Gemälden steckten halbnackten Männern Pfeile im Brustkorb, unschuldige blonde Jungfrauen wurden als Hexen im Moor versenkt, und die Inquisition verbrannte sie lichterloh auf Scheiterhaufen. Der Rosenkranz war Perle für Perle Zauberwerk - ich wusste alles. Meine Phantasie war sehr beschäftigt.
Mit dem Glauben an Gott hatte das wenig zu tun. Der war abgedeckt mit dem abendlichen »Müde bin ich, geh zur Ruh ...« und sonst nirgendwo präsent. Dies hier war eine Mutprobe eher, verknüpft mit dem wohligen Gruseln, das ich aus Geisterbahnen kannte. Niemand hatte mir beigebracht, dass Katholiken suspekt seien, aber schließlich bekam man was mit am Rande des kindlichen Kosmos: Da wurde die Absicht eines Vetters, eine Katholikin zu heiraten, in der Sippe mit Stirnrunzeln kommentiert. Da gab es Diskussionen um den Hochzeitsritus - katholisch oder protestantisch - und die Drohung, dass künftige Kinder, wenn nicht katholisch getauft, im Fegefeuer landen würden.
Eine meiner großen Schwestern bekam ein uneheliches Kind mit einem verheirateten Mann. Der war katholisch, was denn sonst, und seine Ehe wurde deswegen nicht geschieden - so waren sie halt -, und ein katholisches Flüchtlingsmädchen in meiner Klasse konnte ich auch nicht leiden. Aber der Weihrauch war unwiderstehlich, und die gerührten Blicke der Betschwestern auf das fromme Kind taten mir gut. Bis eine ältere Ordensfrau meine Maskerade durchschaute und in herrischem Ton nach meinen Eltern verlangte. Das war meine Vertreibung aus dem Paradies.
Vertrieben, entwurzelt fühlte ich mich sowieso in dieser Zeit. Wir waren umgezogen ins, wie ich fand, unwirtliche Braunschweig. Das war im Sommer 1948, und unwirtlich war damals alles. Trümmer überall, zu Hause in Halberstadt wie hier. Ich kannte es nicht anders. Aber Braunschweig barg eine zusätzliche Tristesse: Es war fremd. Wir waren ausgesetzt. Es fehlte die Geborgenheit des heimatlichen Chaos mit den vielen Vettern und Kusinen. Familie und Freunde waren zurückgeblieben. Dort kannte jeder jeden, hier kannte niemand irgendwen.
Else, meine Mutter, mühte sich, in einem winzigen deutschdeutschen Grenzort namens Mattierzoll eine kleine Dependance der Halberstädter Familienfirma neu zu beleben - Getreide, Düngemittel, Saatgut hier wie dort. Aber dies war Westen im Gegensatz zur »Zone« auf der anderen Seite, wo Halberstadt lag. Diesseits des Schlagbaums sollte es in eine bessere Zukunft gehen. Die Grenze übrigens war damals noch durchlässig und hieß die »grüne«.
Es gab zwar sowjetische Kontrollposten auf den Straßen und Militärstreifen im Wald. Da musste man Passierscheine vorweisen, sonst landete man im Arrest, von dem nichts Gutes gehört wurde. Daneben aber existierte ein reger Grenzverkehr, illegal über Felder und bäuerliche Sommerwege. Schleuser führten die Menschen gegen Geld von einem Deutschland ins andere, Lastwagen der Firma I.G.Klamroth, über den Krieg gerettet, schlichen mit abgedunkelten Scheinwerfern nächtens durch Forstschneisen im Harz. Sie brachten Elses Möbel und unsere Wintersachen unter Getreidesäcken verborgen von Halberstadt nach Braunschweig.
Braunschweig als Wohnort musste sein, weil es in Mattier-zoll keine Schule gab. Das trostlose Kaff war eher mühsam mit dem Zug erreichbar, und mit dem Auto bestand die Gefahr, aus Versehen in der »Zone« zu landen. Für Kunden, Geschäftsleute, Geldgeber ein Risiko, das mit Hilfe eines Büros in Braunschweig umgangen wurde. Dieses Büro: Es lag neben dem Windfang der Gründerzeitvilla, deren Gesellschaftsräume im Hochparterre Else als Wohnung für uns gemietet hatte. Klo auf halber Treppe, Bad im Keller, Küche im Treppenhaus jenseits einer Milchglastür für Dienstboten aus besseren Zeiten. Im Büro ein düsterer Schreibtisch, Besucherstühle, ein Aktenschrank und an der Wand das Klappbett, verborgen hinter einem Vorhang von undefinierbarer Farbe. Dort schlief ich.
Ob ich da immer schlief, weiß ich nicht. Aber in der Osternacht 1949 sollte ich dort schlafen, da bin ich mir sicher. Denn damals wurde meine bis heute andauernde Abneigung gegen Türknöpfe und den »Faust« geboren. Das ging so: Das Haus - die Wohnung eher - war mal wieder voll mit Gästen. Am Samstag vor Ostern war Goethes »Osterspaziergang« dran, mit verteilten Rollen wurde er gelesen seit Jahr und Tag. Früher in Halberstadt versammelten sich dafür viele Menschen in der großen Diele. Jetzt war es deutlich enger hier. Die Tradition aber sollte gepflegt sein, Umstände würden uns nicht hindern. Ich war zehn und durfte zum ersten Mal mitmachen, krähte Handwerksburschen und Bürgermädchen in die Runde und platzte vor Stolz.
Irgendwann muss es gekippt sein. Else schreibt ins Kindertagebuch: »Wibke empört sich lautstark über Gottes Willkür, die den armen Faust dem Teufel so mir nichts, dir nichts ausgeliefert hat.« Ist ja wahr! Aber ich sehe mir den Text an und denke, dass schlicht Langeweile mich da ausrasten ließ. Meine große Schwester Barbara - 25 war sie und ohnehin von mir nicht sehr geschätzt, weil immer sie es war, die an mir rumerzog - erzählte streng etwas von den heiligen Gütern der Nation und naseweisen kleinen Mädchen, und ich wurde ins Bett geschickt. Ins Klappbett im Büro.
Nachts kam der Pudel. Ich hatte immer eine Heidenangst vor Hunden, ob Dackel oder Dogge, und nun dieser Pudel, von dem ich wusste, dass er der Teufel war. Er winselte, heulte - »Knurre nicht, Pudel!« -, ich floh auf den Schreibtisch, das Tier machte Anstalten, mir nachzusetzen. Ich knallte die Tür zu, stand im Nachthemd im Windfang, wollte die Tür zur Geborgenheit der Wohnung öffnen: Da war der Türknopf. Ich konnte ihn nicht drehen. Meine Hände waren zu klein. Hier draußen gab es keine Klingel. Ich schrie, bummerte gegen die Tür. Niemand hörte.
Im Windfang war es dunkel und eiskalt. Keine zehn Pferde hätten mich zurückgebracht ins warme Bett, wo der Pudel lauerte. Wie »Sterntaler« stand ich da, barfuß im dünnen Hemd. Else fand mich am nächsten Morgen zusammengekauert und steif gefroren auf der Fußmatte. Nach einem heißen Bad brauchte sie all ihre Überzeugungskraft, mich ins Büro zu locken, wo unter Tisch und Bett kein Pudel sich verbarg. Trotzdem: Bis heute habe ich meine Vorbehalte gegen den »Faust«, und in allen meinen Wohnungen, wo ich sie vorfand, habe ich Türknöpfe durch Klinken ersetzt.
Die Hoffnung, dass westlich des Schlagbaums in Mattierzoll die bessere Zukunft wartete, entpuppte sich als fundamentaler Irrtum. Else zog am 12. Juni 1948 nach Braunschweig, am 1. Juli war der Neustart der Firmen-Dependance. Dazwischen, am 20. Juni 1948, passierte die Währungsreform. Else hatte 50 000 Reichsmark bei ihrem Grenzübertritt in der Tasche gehabt, und dieses Startkapital fürs Geschäft schmolz wie Butter in der Sonne.
Sie saß mit zwei Kindern in einer Wohnung, die sie vor Monaten für 250 Reichsmark gemietet und mühsam durch die Wohnungsbewirtschaftung durchgeboxt hatte. Die Währungsreform, die sonst fast überall das Geld 10:1 umwertete, beließ die Mieten bei 1:1, so dass sie jetzt 250 DM zu zahlen hatte. Ihre Aufzeichnungen sind voll von Schilderungen vergeblicher Versuche, den Hausbesitzer zum Einlenken zu bewegen. Warum sollte er auch, denke ich heute. Er war im Recht, und wer weiß, ob er noch eine andere Einnahmequelle hatte. Aber für Else, die eine Kriegsopfer-Rente von 170 DM bezog, war das der Beginn des Ruins.
Der hatte vielerlei Gesichter. Else verstand nichts, wirklich gar nichts vom Geschäft und war abhängig von Mitarbeitern, die sie letztlich betrogen. Nicht nur die Mieten, auch die Gehälter waren jetzt 1:1 in DM auszuzahlen, und die Firma warf nichts ab. Im Gegenteil: Else verlor einen Prozess gegen die Nachkommen jüdischer Vorbesitzer des Betriebes in Mattierzoll, die einen Anspruch auf Nachentrichtung des früheren Kaufpreises hatten.
Der Vorbesitzer, Dietrich Löwendorf, hatte den Laden verkaufen wollen, als der Druck auf jüdische Geschäftsleute immer stärker wurde. Mit dem Erlös wollte er die Auswanderung seiner Familie nach Palästina finanzieren, und sein bevorzugter Abnehmer war die Firma I.G.Klamroth in Halberstadt gewesen. Das waren langjährige Geschäftsfreunde, die sich auch privat mit den Löwendorfs häufiger getroffen hatten. Von denen versprach er sich, dass er seinen Besitz zurückbekäme, sollten die Zeiten einmal besser werden.
Der Firmen-Inhaber Hans Georg Klamroth, mein Vater und genannt HG, war zu diesem Gefälligkeitshandel bereit und wollte 1938 kaufen für 65 000 Mark. Der Landrat in Wolfenbüttel verhinderte das Geschäft, der Preis sei zu hoch. Erst 1942 akzeptierte die Behörde diese Summe, und HG kaufte. Für den Umzug nach Palästina war es jetzt zu spät. Außerdem bekam Löwendorf das Geld nicht in die Hand. Fast 20 000 Mark gingen für »Reichsflucht-Steuer« und Ähnliches drauf. Für den Rest kaufte sich der alte Herr (die Söhne waren schon in Palästina) eine »Heimstatt« in Theresienstadt, wo er im April 1943 starb.
Dies gehört zu den Geschichten, derentwegen mir immer noch schlecht wird. Einerseits die zertrümmerten Hoffnungen des Dietrich Löwendorf, andererseits Elses damit verwobenes Schicksal. Denn alle früheren jüdischen Liegenschaften in der britischen Besatzungszone, die während des Dritten Reichs von Nicht -Juden gekauft worden waren, mussten nach dem Krieg noch einmal bezahlt werden. Die Militärregierung hatte diese Ansprüche in ein Gesetz gegossen, auch wenn es sich wie hier nachweislich nicht um Arisierung gehandelt hatte. Else kostete dieses Gesetz 42 500 DM - neue, harte DM wohlgemerkt. Das Geld lieh sie sich von Freunden in Holland und hat es über Jahre zurückgezahlt. Ihre Firma in Mattierzoll ging darüber in Konkurs.
Ihre zwei jüngsten Kinder waren mit Else nach Braunschweig gekommen. Meine Schwester war damals knapp 15, ich wurde 1948 zehn. Hund und Katze waren ein Herz und eine Seele im Vergleich zu uns. Wir überboten uns von klein auf in Perfidie und Hinterhältigkeit, man konnte uns eigentlich nicht allein lassen. Aber Else ließ uns dauernd allein. Was sollte sie machen in ihrem Kampf gegen die wirtschaftlichen Widrigkeiten? Wir waren nicht die Einzigen, die im Strudel der bundesrepublikanischen Gründerjahre an den Rand gespült wurden. Aber die Schwester und ich gingen unterschiedlich damit um. Elses Aufzeichnungen quellen über vor Sorge wegen der Verzweiflungsausbrüche ihrer zweitjüngsten Tochter, die sich quälte mit Versagensängsten in der Schule, im Sportverein, im Freundeskreis. »Lebensuntüchtig« soll ich Dreikäsehoch sie genannt haben, schreibt Else im Kindertagebuch.
Ich sei da ganz anders, meinte sie: selbstbewusst, unbekümmert, neugierig, begabt mit einem Fell, dick wie Kreppsohlen. Keine Zurechtweisung, kein Scheitern mache mir etwas aus. In Windeseile sei ich zurück auf den Füßen und erneut auf dem Weg. Mag ja sein. Aber warum, wenn ich denn ein so optimistisches Kind war, sind diese drei Jahre Braunschweig in meiner Erinnerung gespickt mit Fehlschlägen und Vergeblichkeit? Die Geschichte mit dem Krippenspiel zum Beispiel.
In Halberstadt hatte meine Klasse eins aufgeführt. Jeder, vor allem die Lehrerin, wusste, dass ich immer Texte schrieb, und die Geschichte mit den Engeln und den Hirten und den Königen kannte ich in- und auswendig. Schließlich fanden bei uns zu Hause im großen Familienkreis stets aufwendige Weihnachtsfeiern statt. Kostüme gab es in der Aufführungskiste, Musik wurde sowieso ständig gespielt, und mehrstimmig sangen wir schon zum Frühstück. Also studierte ich das Stück - mein Stück! - mit der Klasse ein. Die Proben dazu fanden in unserer Diele statt, den musikalischen Rahmen besorgte ich bei Vettern und Kusinen, und dann führten wir das auf in der Aula der Schule schräg gegenüber. Großer Erfolg. Natürlich.
Ein Jahr später in der Braunschweiger Schule hielt ich mich beim Verteilen der Rollen für das hiesige Krippenspiel zurück. Ich wollte das Stück - mein Stück! - auch hier inszenieren. Als alle Rollen untergebracht waren, ging ich mit meinem Ansinnen zum Lehrer. Der verstand erst gar nicht, wovon ich redete, und als ich ihm das Stück - mein Stück! - zeigte, ihm erzählte, wie wir das gemacht hatten in Halberstadt, hat er das vollgeschriebene Schulheft nicht einmal angesehen. Er hat nur gesagt: »Und hier machen wir das anders.« Ich ging dann einen weiten Umweg nach Hause. Ich hatte keine Handschuhe, das weiß ich noch. Else hat die verfrorenen Hände im Kindertagebuch erwähnt, die Geschichte mit dem »Stück« nicht. Vermutlich habe ich sie nicht erzählt.
Objektiv gesehen war die letzte Zeit in Halberstadt ein Alptraum gewesen. Das riesige Elternhaus, lediglich leicht lädiert durch den Krieg, war bis unters Dach belegt mit Freunden, Familie, Flüchtlingen. Immer wieder blockierte sowjetische Einquartierung Zimmer und Bäder, die Heizung funktionierte nicht, in viele Räume waren Öfen gesetzt, für die keine Kohlen aufzutreiben gewesen waren. In den harten Wintern nach dem Krieg litten viele im Haus unter Frostbeulen und Furunkeln. Das Hauptnahrungsmittel war Weizenbrei - ich denke nicht gern daran zurück. Im Sommer wurde in Batterien von Weckgläsern eingemacht, Kinder mussten dafür zentnerweise Erbsen palen oder Johannisbeeren zupfen. Aber das war's ja: Es waren genügend Kinder da! Zwölf bis fünfzehn lebten ständig am Bismarckplatz, immer kamen noch welche von außen dazu. Das Miteinander verlief keineswegs nur friedlich, aber in Braunschweig sehnte ich mich danach wie nach einer warmen Mütze.
Ich erinnere mich an den Geburtstag der Schwester 1948. Sie wurde 15, und Else und ich, nur wir beide, sangen vor ihrer Tür das obligate Ständchen. In Halberstadt wäre das ein vielstimmiger Chor gewesen. Hier kam ich allein nicht an gegen eine Mutter, die keinen Ton traf. So verläpperte sich denn auch das Osterwasserholen, großes Ereignis jedes Jahr in Halberstadt. Vor Sonnenaufgang zogen alle Kinder durch den Frühnebel an den Goldbach oder die Holtemme - schweigend! Das war der Witz. Es wurde Wasser geschöpft, eiskalt, und damit das Gesicht gewaschen - stumm. Davon würde man schön werden, glaubten wir. Wenn sich der Horizont dann rot färbte, brach der Chor los: »Es tagt der Sonne Morgenstrahl« und »Geh aus, mein Herz, und suche Freud«. Für Else, die zu Hause ausschlief und sowieso nicht singen konnte, brachten wir Osterwasser in einer Milchkanne mit. Sie sollte auch schön werden dürfen.
Das war in Braunschweig nicht ihr Hauptproblem. Die Währungsreform hatte die Fronten zwischen der »Zone« und den drei westlichen Landesteilen verhärtet. In Berlin begann vier Tage danach, am 24. Juni 1948, die sowjetische Blockade. 322 Tage lang, bis Mai 1949, würden 277 728 Flüge der Luftbrücke mehr als 2,1 Millionen Tonnen Güter in die eingeschlossene Stadt gebracht haben. Das waren Kohlen, Milch und Kochtöpfe genauso wie Babycreme und Winterpullover. Für Else bedeutete das, außer dass sie mit ihren Berliner Freunden bangte, den deutlich komplizierteren Umgang
zwischen der Mutterfirma in Halberstadt und ihrer maroden Dependance in Mattierzoll. Verluste konnten nicht mehr ausgeglichen, Geschäfte nicht mehr aufgefangen werden. Else war mit ihren Existenzängsten allein.
Da war auch für mich nicht viel Platz. Ich war ein spindeldürres, hyperaktives Kind, eine Nervensäge. Else war froh, mich 1949 über das Hilfswerk 20. Juli vorübergehend in ein Kinderheim abgeben zu können. Das gehörte der evangelischen Kirche und lag in Gaienhofen am Bodensee. Sie schickte mich mit dem Nachtzug, Umsteigen um ein Uhr in Hannover. Ein zehnjähriges Kind nächtens allein quer durchs Land - das würden wir uns heute nicht trauen. Fremde Menschen, Freunde von Freunden der Eltern, holten mich in Stuttgart ab. Sie hatten einen großen Hund, oh Schreck, und ich verstand kein Wort von ihrem Schwäbisch. Aber ich aß zum ersten Mal Oblaten und war beeindruckt. Mit einem Kindertransport des Hilfswerks 20. Juli kam ich ans Ziel, und hier erst, so lese ich in einem Bericht der Leiterin, heulte ich mir die Augen aus dem Kopf vor Heimweh.
Ich war hart im Nehmen, immer schon, sonst hätte ich mich gegen die unfreundliche Schwester nicht behaupten können. Wir haben uns übrigens in unserem erwachsenen Leben stets weiträumig vermieden. Aber Heimweh überforderte meine Kräfte. Ich erinnere mich an eine Schlachtfest-Einladung bei einer Klassenkameradin irgendwo auf dem Land. Das war wohl im Winter 1948/49. Kaum war ich dort, beutelte mich das Heimweh. Ich musste - MUSSTE - nach Hause. Ich habe eine hanebüchene Geschichte erfunden von einer Blinddarmreizung, die immer mal wieder auftauche und mich zwinge, sofort, SOFORT, mit meiner Mutter zum Arzt zu gehen. Ob die Gastgeber mir diesen Quatsch geglaubt haben oder nicht, jedenfalls saß ich wenig später im Zug zurück nach Braunschweig. Ich sehe noch das Entsetzen meiner Mutter, als sie mir die Tür aufmachte. Sie hatte das Wochenende kinderfrei disponiert - die Schwester war sonstwo. Else hatte gehofft, ich würde mich bei dem Schlachtfest ordentlich durchfuttern, und es war folglich nichts zu essen im Haus.
Das war kein Einzelfall. Ich frage mich ohnehin, wie Else mit dem knappen Geld ausgekommen ist, vor allem, weil immer wieder durchreisende Freunde mitversorgt wurden. Die nahe Zonengrenze machte Elses Domizil zu einer Anlaufstelle für Pendler von Ost nach West und umgekehrt. Es wurde viel gelesen und diskutiert in diesen Jahren - woher nahm Else die Zeit?! Selbst ich erinnere mich an Wolfgang Borcherts »Draußen vor der Tür« und an die wütenden Diskussionen über die Radioansprachen Thomas Manns in der BBC während des Krieges. Verräter oder Held? Hatte »unser« Nobelpreisträger den Deutschen in den Rücken fallen dürfen, solange sie an allen Fronten kämpften? Wir erlebten doch heute, was es hieß, einen solchen Krieg zu verlieren. Die Wogen gingen hoch, aber eins war klar: Thomas Mann in Amerika hatte keine Ahnung!
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© 2012 Droemer Verlag
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Heute kann ich Weihrauch schwer ertragen. Aber damals, ich war knapp zehn, habe ich mich daran berauscht. Immer wieder schlich ich in eine katholische Kirche in unserer Nähe - Feindesland! -, klaute Weihwasser für die obligatorische Bekreuzigung und kniete mich in eine harte Bank, das Geschehen um mich herum im gesenkten Blick. Da waren die Messbuben (ach, wenn sie doch auch Mädchen nähmen!), die Priester in ihren goldbetressten Gewändern huschten um den Altar, Backwerk wurde in die Luft gehoben zu lateinischem Singsang. Ab und zu klingelte ein Glöckchen, und Weihrauch. Weihrauch!
Feindesland? Für ein evangelisch-reformiertes Kind aus Halberstadt war dies hier vermintes Gelände. Katholiken waren schließlich mit dem Teufel im Bunde. Schwarze Gestalten flüsterten in Beichtstühlen, auf den Gemälden steckten halbnackten Männern Pfeile im Brustkorb, unschuldige blonde Jungfrauen wurden als Hexen im Moor versenkt, und die Inquisition verbrannte sie lichterloh auf Scheiterhaufen. Der Rosenkranz war Perle für Perle Zauberwerk - ich wusste alles. Meine Phantasie war sehr beschäftigt.
Mit dem Glauben an Gott hatte das wenig zu tun. Der war abgedeckt mit dem abendlichen »Müde bin ich, geh zur Ruh ...« und sonst nirgendwo präsent. Dies hier war eine Mutprobe eher, verknüpft mit dem wohligen Gruseln, das ich aus Geisterbahnen kannte. Niemand hatte mir beigebracht, dass Katholiken suspekt seien, aber schließlich bekam man was mit am Rande des kindlichen Kosmos: Da wurde die Absicht eines Vetters, eine Katholikin zu heiraten, in der Sippe mit Stirnrunzeln kommentiert. Da gab es Diskussionen um den Hochzeitsritus - katholisch oder protestantisch - und die Drohung, dass künftige Kinder, wenn nicht katholisch getauft, im Fegefeuer landen würden.
Eine meiner großen Schwestern bekam ein uneheliches Kind mit einem verheirateten Mann. Der war katholisch, was denn sonst, und seine Ehe wurde deswegen nicht geschieden - so waren sie halt -, und ein katholisches Flüchtlingsmädchen in meiner Klasse konnte ich auch nicht leiden. Aber der Weihrauch war unwiderstehlich, und die gerührten Blicke der Betschwestern auf das fromme Kind taten mir gut. Bis eine ältere Ordensfrau meine Maskerade durchschaute und in herrischem Ton nach meinen Eltern verlangte. Das war meine Vertreibung aus dem Paradies.
Vertrieben, entwurzelt fühlte ich mich sowieso in dieser Zeit. Wir waren umgezogen ins, wie ich fand, unwirtliche Braunschweig. Das war im Sommer 1948, und unwirtlich war damals alles. Trümmer überall, zu Hause in Halberstadt wie hier. Ich kannte es nicht anders. Aber Braunschweig barg eine zusätzliche Tristesse: Es war fremd. Wir waren ausgesetzt. Es fehlte die Geborgenheit des heimatlichen Chaos mit den vielen Vettern und Kusinen. Familie und Freunde waren zurückgeblieben. Dort kannte jeder jeden, hier kannte niemand irgendwen.
Else, meine Mutter, mühte sich, in einem winzigen deutschdeutschen Grenzort namens Mattierzoll eine kleine Dependance der Halberstädter Familienfirma neu zu beleben - Getreide, Düngemittel, Saatgut hier wie dort. Aber dies war Westen im Gegensatz zur »Zone« auf der anderen Seite, wo Halberstadt lag. Diesseits des Schlagbaums sollte es in eine bessere Zukunft gehen. Die Grenze übrigens war damals noch durchlässig und hieß die »grüne«.
Es gab zwar sowjetische Kontrollposten auf den Straßen und Militärstreifen im Wald. Da musste man Passierscheine vorweisen, sonst landete man im Arrest, von dem nichts Gutes gehört wurde. Daneben aber existierte ein reger Grenzverkehr, illegal über Felder und bäuerliche Sommerwege. Schleuser führten die Menschen gegen Geld von einem Deutschland ins andere, Lastwagen der Firma I.G.Klamroth, über den Krieg gerettet, schlichen mit abgedunkelten Scheinwerfern nächtens durch Forstschneisen im Harz. Sie brachten Elses Möbel und unsere Wintersachen unter Getreidesäcken verborgen von Halberstadt nach Braunschweig.
Braunschweig als Wohnort musste sein, weil es in Mattier-zoll keine Schule gab. Das trostlose Kaff war eher mühsam mit dem Zug erreichbar, und mit dem Auto bestand die Gefahr, aus Versehen in der »Zone« zu landen. Für Kunden, Geschäftsleute, Geldgeber ein Risiko, das mit Hilfe eines Büros in Braunschweig umgangen wurde. Dieses Büro: Es lag neben dem Windfang der Gründerzeitvilla, deren Gesellschaftsräume im Hochparterre Else als Wohnung für uns gemietet hatte. Klo auf halber Treppe, Bad im Keller, Küche im Treppenhaus jenseits einer Milchglastür für Dienstboten aus besseren Zeiten. Im Büro ein düsterer Schreibtisch, Besucherstühle, ein Aktenschrank und an der Wand das Klappbett, verborgen hinter einem Vorhang von undefinierbarer Farbe. Dort schlief ich.
Ob ich da immer schlief, weiß ich nicht. Aber in der Osternacht 1949 sollte ich dort schlafen, da bin ich mir sicher. Denn damals wurde meine bis heute andauernde Abneigung gegen Türknöpfe und den »Faust« geboren. Das ging so: Das Haus - die Wohnung eher - war mal wieder voll mit Gästen. Am Samstag vor Ostern war Goethes »Osterspaziergang« dran, mit verteilten Rollen wurde er gelesen seit Jahr und Tag. Früher in Halberstadt versammelten sich dafür viele Menschen in der großen Diele. Jetzt war es deutlich enger hier. Die Tradition aber sollte gepflegt sein, Umstände würden uns nicht hindern. Ich war zehn und durfte zum ersten Mal mitmachen, krähte Handwerksburschen und Bürgermädchen in die Runde und platzte vor Stolz.
Irgendwann muss es gekippt sein. Else schreibt ins Kindertagebuch: »Wibke empört sich lautstark über Gottes Willkür, die den armen Faust dem Teufel so mir nichts, dir nichts ausgeliefert hat.« Ist ja wahr! Aber ich sehe mir den Text an und denke, dass schlicht Langeweile mich da ausrasten ließ. Meine große Schwester Barbara - 25 war sie und ohnehin von mir nicht sehr geschätzt, weil immer sie es war, die an mir rumerzog - erzählte streng etwas von den heiligen Gütern der Nation und naseweisen kleinen Mädchen, und ich wurde ins Bett geschickt. Ins Klappbett im Büro.
Nachts kam der Pudel. Ich hatte immer eine Heidenangst vor Hunden, ob Dackel oder Dogge, und nun dieser Pudel, von dem ich wusste, dass er der Teufel war. Er winselte, heulte - »Knurre nicht, Pudel!« -, ich floh auf den Schreibtisch, das Tier machte Anstalten, mir nachzusetzen. Ich knallte die Tür zu, stand im Nachthemd im Windfang, wollte die Tür zur Geborgenheit der Wohnung öffnen: Da war der Türknopf. Ich konnte ihn nicht drehen. Meine Hände waren zu klein. Hier draußen gab es keine Klingel. Ich schrie, bummerte gegen die Tür. Niemand hörte.
Im Windfang war es dunkel und eiskalt. Keine zehn Pferde hätten mich zurückgebracht ins warme Bett, wo der Pudel lauerte. Wie »Sterntaler« stand ich da, barfuß im dünnen Hemd. Else fand mich am nächsten Morgen zusammengekauert und steif gefroren auf der Fußmatte. Nach einem heißen Bad brauchte sie all ihre Überzeugungskraft, mich ins Büro zu locken, wo unter Tisch und Bett kein Pudel sich verbarg. Trotzdem: Bis heute habe ich meine Vorbehalte gegen den »Faust«, und in allen meinen Wohnungen, wo ich sie vorfand, habe ich Türknöpfe durch Klinken ersetzt.
Die Hoffnung, dass westlich des Schlagbaums in Mattierzoll die bessere Zukunft wartete, entpuppte sich als fundamentaler Irrtum. Else zog am 12. Juni 1948 nach Braunschweig, am 1. Juli war der Neustart der Firmen-Dependance. Dazwischen, am 20. Juni 1948, passierte die Währungsreform. Else hatte 50 000 Reichsmark bei ihrem Grenzübertritt in der Tasche gehabt, und dieses Startkapital fürs Geschäft schmolz wie Butter in der Sonne.
Sie saß mit zwei Kindern in einer Wohnung, die sie vor Monaten für 250 Reichsmark gemietet und mühsam durch die Wohnungsbewirtschaftung durchgeboxt hatte. Die Währungsreform, die sonst fast überall das Geld 10:1 umwertete, beließ die Mieten bei 1:1, so dass sie jetzt 250 DM zu zahlen hatte. Ihre Aufzeichnungen sind voll von Schilderungen vergeblicher Versuche, den Hausbesitzer zum Einlenken zu bewegen. Warum sollte er auch, denke ich heute. Er war im Recht, und wer weiß, ob er noch eine andere Einnahmequelle hatte. Aber für Else, die eine Kriegsopfer-Rente von 170 DM bezog, war das der Beginn des Ruins.
Der hatte vielerlei Gesichter. Else verstand nichts, wirklich gar nichts vom Geschäft und war abhängig von Mitarbeitern, die sie letztlich betrogen. Nicht nur die Mieten, auch die Gehälter waren jetzt 1:1 in DM auszuzahlen, und die Firma warf nichts ab. Im Gegenteil: Else verlor einen Prozess gegen die Nachkommen jüdischer Vorbesitzer des Betriebes in Mattierzoll, die einen Anspruch auf Nachentrichtung des früheren Kaufpreises hatten.
Der Vorbesitzer, Dietrich Löwendorf, hatte den Laden verkaufen wollen, als der Druck auf jüdische Geschäftsleute immer stärker wurde. Mit dem Erlös wollte er die Auswanderung seiner Familie nach Palästina finanzieren, und sein bevorzugter Abnehmer war die Firma I.G.Klamroth in Halberstadt gewesen. Das waren langjährige Geschäftsfreunde, die sich auch privat mit den Löwendorfs häufiger getroffen hatten. Von denen versprach er sich, dass er seinen Besitz zurückbekäme, sollten die Zeiten einmal besser werden.
Der Firmen-Inhaber Hans Georg Klamroth, mein Vater und genannt HG, war zu diesem Gefälligkeitshandel bereit und wollte 1938 kaufen für 65 000 Mark. Der Landrat in Wolfenbüttel verhinderte das Geschäft, der Preis sei zu hoch. Erst 1942 akzeptierte die Behörde diese Summe, und HG kaufte. Für den Umzug nach Palästina war es jetzt zu spät. Außerdem bekam Löwendorf das Geld nicht in die Hand. Fast 20 000 Mark gingen für »Reichsflucht-Steuer« und Ähnliches drauf. Für den Rest kaufte sich der alte Herr (die Söhne waren schon in Palästina) eine »Heimstatt« in Theresienstadt, wo er im April 1943 starb.
Dies gehört zu den Geschichten, derentwegen mir immer noch schlecht wird. Einerseits die zertrümmerten Hoffnungen des Dietrich Löwendorf, andererseits Elses damit verwobenes Schicksal. Denn alle früheren jüdischen Liegenschaften in der britischen Besatzungszone, die während des Dritten Reichs von Nicht -Juden gekauft worden waren, mussten nach dem Krieg noch einmal bezahlt werden. Die Militärregierung hatte diese Ansprüche in ein Gesetz gegossen, auch wenn es sich wie hier nachweislich nicht um Arisierung gehandelt hatte. Else kostete dieses Gesetz 42 500 DM - neue, harte DM wohlgemerkt. Das Geld lieh sie sich von Freunden in Holland und hat es über Jahre zurückgezahlt. Ihre Firma in Mattierzoll ging darüber in Konkurs.
Ihre zwei jüngsten Kinder waren mit Else nach Braunschweig gekommen. Meine Schwester war damals knapp 15, ich wurde 1948 zehn. Hund und Katze waren ein Herz und eine Seele im Vergleich zu uns. Wir überboten uns von klein auf in Perfidie und Hinterhältigkeit, man konnte uns eigentlich nicht allein lassen. Aber Else ließ uns dauernd allein. Was sollte sie machen in ihrem Kampf gegen die wirtschaftlichen Widrigkeiten? Wir waren nicht die Einzigen, die im Strudel der bundesrepublikanischen Gründerjahre an den Rand gespült wurden. Aber die Schwester und ich gingen unterschiedlich damit um. Elses Aufzeichnungen quellen über vor Sorge wegen der Verzweiflungsausbrüche ihrer zweitjüngsten Tochter, die sich quälte mit Versagensängsten in der Schule, im Sportverein, im Freundeskreis. »Lebensuntüchtig« soll ich Dreikäsehoch sie genannt haben, schreibt Else im Kindertagebuch.
Ich sei da ganz anders, meinte sie: selbstbewusst, unbekümmert, neugierig, begabt mit einem Fell, dick wie Kreppsohlen. Keine Zurechtweisung, kein Scheitern mache mir etwas aus. In Windeseile sei ich zurück auf den Füßen und erneut auf dem Weg. Mag ja sein. Aber warum, wenn ich denn ein so optimistisches Kind war, sind diese drei Jahre Braunschweig in meiner Erinnerung gespickt mit Fehlschlägen und Vergeblichkeit? Die Geschichte mit dem Krippenspiel zum Beispiel.
In Halberstadt hatte meine Klasse eins aufgeführt. Jeder, vor allem die Lehrerin, wusste, dass ich immer Texte schrieb, und die Geschichte mit den Engeln und den Hirten und den Königen kannte ich in- und auswendig. Schließlich fanden bei uns zu Hause im großen Familienkreis stets aufwendige Weihnachtsfeiern statt. Kostüme gab es in der Aufführungskiste, Musik wurde sowieso ständig gespielt, und mehrstimmig sangen wir schon zum Frühstück. Also studierte ich das Stück - mein Stück! - mit der Klasse ein. Die Proben dazu fanden in unserer Diele statt, den musikalischen Rahmen besorgte ich bei Vettern und Kusinen, und dann führten wir das auf in der Aula der Schule schräg gegenüber. Großer Erfolg. Natürlich.
Ein Jahr später in der Braunschweiger Schule hielt ich mich beim Verteilen der Rollen für das hiesige Krippenspiel zurück. Ich wollte das Stück - mein Stück! - auch hier inszenieren. Als alle Rollen untergebracht waren, ging ich mit meinem Ansinnen zum Lehrer. Der verstand erst gar nicht, wovon ich redete, und als ich ihm das Stück - mein Stück! - zeigte, ihm erzählte, wie wir das gemacht hatten in Halberstadt, hat er das vollgeschriebene Schulheft nicht einmal angesehen. Er hat nur gesagt: »Und hier machen wir das anders.« Ich ging dann einen weiten Umweg nach Hause. Ich hatte keine Handschuhe, das weiß ich noch. Else hat die verfrorenen Hände im Kindertagebuch erwähnt, die Geschichte mit dem »Stück« nicht. Vermutlich habe ich sie nicht erzählt.
Objektiv gesehen war die letzte Zeit in Halberstadt ein Alptraum gewesen. Das riesige Elternhaus, lediglich leicht lädiert durch den Krieg, war bis unters Dach belegt mit Freunden, Familie, Flüchtlingen. Immer wieder blockierte sowjetische Einquartierung Zimmer und Bäder, die Heizung funktionierte nicht, in viele Räume waren Öfen gesetzt, für die keine Kohlen aufzutreiben gewesen waren. In den harten Wintern nach dem Krieg litten viele im Haus unter Frostbeulen und Furunkeln. Das Hauptnahrungsmittel war Weizenbrei - ich denke nicht gern daran zurück. Im Sommer wurde in Batterien von Weckgläsern eingemacht, Kinder mussten dafür zentnerweise Erbsen palen oder Johannisbeeren zupfen. Aber das war's ja: Es waren genügend Kinder da! Zwölf bis fünfzehn lebten ständig am Bismarckplatz, immer kamen noch welche von außen dazu. Das Miteinander verlief keineswegs nur friedlich, aber in Braunschweig sehnte ich mich danach wie nach einer warmen Mütze.
Ich erinnere mich an den Geburtstag der Schwester 1948. Sie wurde 15, und Else und ich, nur wir beide, sangen vor ihrer Tür das obligate Ständchen. In Halberstadt wäre das ein vielstimmiger Chor gewesen. Hier kam ich allein nicht an gegen eine Mutter, die keinen Ton traf. So verläpperte sich denn auch das Osterwasserholen, großes Ereignis jedes Jahr in Halberstadt. Vor Sonnenaufgang zogen alle Kinder durch den Frühnebel an den Goldbach oder die Holtemme - schweigend! Das war der Witz. Es wurde Wasser geschöpft, eiskalt, und damit das Gesicht gewaschen - stumm. Davon würde man schön werden, glaubten wir. Wenn sich der Horizont dann rot färbte, brach der Chor los: »Es tagt der Sonne Morgenstrahl« und »Geh aus, mein Herz, und suche Freud«. Für Else, die zu Hause ausschlief und sowieso nicht singen konnte, brachten wir Osterwasser in einer Milchkanne mit. Sie sollte auch schön werden dürfen.
Das war in Braunschweig nicht ihr Hauptproblem. Die Währungsreform hatte die Fronten zwischen der »Zone« und den drei westlichen Landesteilen verhärtet. In Berlin begann vier Tage danach, am 24. Juni 1948, die sowjetische Blockade. 322 Tage lang, bis Mai 1949, würden 277 728 Flüge der Luftbrücke mehr als 2,1 Millionen Tonnen Güter in die eingeschlossene Stadt gebracht haben. Das waren Kohlen, Milch und Kochtöpfe genauso wie Babycreme und Winterpullover. Für Else bedeutete das, außer dass sie mit ihren Berliner Freunden bangte, den deutlich komplizierteren Umgang
zwischen der Mutterfirma in Halberstadt und ihrer maroden Dependance in Mattierzoll. Verluste konnten nicht mehr ausgeglichen, Geschäfte nicht mehr aufgefangen werden. Else war mit ihren Existenzängsten allein.
Da war auch für mich nicht viel Platz. Ich war ein spindeldürres, hyperaktives Kind, eine Nervensäge. Else war froh, mich 1949 über das Hilfswerk 20. Juli vorübergehend in ein Kinderheim abgeben zu können. Das gehörte der evangelischen Kirche und lag in Gaienhofen am Bodensee. Sie schickte mich mit dem Nachtzug, Umsteigen um ein Uhr in Hannover. Ein zehnjähriges Kind nächtens allein quer durchs Land - das würden wir uns heute nicht trauen. Fremde Menschen, Freunde von Freunden der Eltern, holten mich in Stuttgart ab. Sie hatten einen großen Hund, oh Schreck, und ich verstand kein Wort von ihrem Schwäbisch. Aber ich aß zum ersten Mal Oblaten und war beeindruckt. Mit einem Kindertransport des Hilfswerks 20. Juli kam ich ans Ziel, und hier erst, so lese ich in einem Bericht der Leiterin, heulte ich mir die Augen aus dem Kopf vor Heimweh.
Ich war hart im Nehmen, immer schon, sonst hätte ich mich gegen die unfreundliche Schwester nicht behaupten können. Wir haben uns übrigens in unserem erwachsenen Leben stets weiträumig vermieden. Aber Heimweh überforderte meine Kräfte. Ich erinnere mich an eine Schlachtfest-Einladung bei einer Klassenkameradin irgendwo auf dem Land. Das war wohl im Winter 1948/49. Kaum war ich dort, beutelte mich das Heimweh. Ich musste - MUSSTE - nach Hause. Ich habe eine hanebüchene Geschichte erfunden von einer Blinddarmreizung, die immer mal wieder auftauche und mich zwinge, sofort, SOFORT, mit meiner Mutter zum Arzt zu gehen. Ob die Gastgeber mir diesen Quatsch geglaubt haben oder nicht, jedenfalls saß ich wenig später im Zug zurück nach Braunschweig. Ich sehe noch das Entsetzen meiner Mutter, als sie mir die Tür aufmachte. Sie hatte das Wochenende kinderfrei disponiert - die Schwester war sonstwo. Else hatte gehofft, ich würde mich bei dem Schlachtfest ordentlich durchfuttern, und es war folglich nichts zu essen im Haus.
Das war kein Einzelfall. Ich frage mich ohnehin, wie Else mit dem knappen Geld ausgekommen ist, vor allem, weil immer wieder durchreisende Freunde mitversorgt wurden. Die nahe Zonengrenze machte Elses Domizil zu einer Anlaufstelle für Pendler von Ost nach West und umgekehrt. Es wurde viel gelesen und diskutiert in diesen Jahren - woher nahm Else die Zeit?! Selbst ich erinnere mich an Wolfgang Borcherts »Draußen vor der Tür« und an die wütenden Diskussionen über die Radioansprachen Thomas Manns in der BBC während des Krieges. Verräter oder Held? Hatte »unser« Nobelpreisträger den Deutschen in den Rücken fallen dürfen, solange sie an allen Fronten kämpften? Wir erlebten doch heute, was es hieß, einen solchen Krieg zu verlieren. Die Wogen gingen hoch, aber eins war klar: Thomas Mann in Amerika hatte keine Ahnung!
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Autoren-Porträt von Wibke Bruhns
Wibke Bruhns, Jahrgang 1938, aufgewachsen in Internaten. Abbruch eines Volontariat bei der Bild-Zeitung aus politischen Gründen. Sie schrieb für die Zeit und wechselte zum Fernsehen, wo sie 1971 als erste Frau vor die Kameras von "Heute" trat. Nach 1973 Produktion von Beiträge für Panorama. Für den Stern Korrespondentin in Israel und Washington. Auszeichnung mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis, 2006 mit dem Friedrich-Schiedel-Literaturpreis. Heute ist Wibke Bruhns freie Autorin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Wibke Bruhns
- 2012, 417 Seiten, Maße: 15 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426275627
- ISBN-13: 9783426275627
Rezension zu „Nachrichtenzeit “
"So gerade heraus hat selten ein Promi uralte Gerüchte dementiert. (...) Zu den Stärken dieser Erinnerungen gehört Bruhns' uneitler und pragmatischer Grundton." Münchner merkur, 05.03.2012
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