Nachts kommt der Tod
Thriller
Privatdetektiv Cal Weaver nimmt in einer regnerischen Nacht gefälligkeitshalber eine fremde junge Frau in seinem Auto mit. Großer Fehler, denn am nächsten Morgen ist die Anhalterin wie vom Erdboden verschluckt. Und es kommt noch dicker: Die...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Nachts kommt der Tod “
Privatdetektiv Cal Weaver nimmt in einer regnerischen Nacht gefälligkeitshalber eine fremde junge Frau in seinem Auto mit. Großer Fehler, denn am nächsten Morgen ist die Anhalterin wie vom Erdboden verschluckt. Und es kommt noch dicker: Die Freundin der Tramperin wird tot aufgefunden.
Klappentext zu „Nachts kommt der Tod “
Tod einer Doppelgängerin - "Ein Killer von einem Thriller." New York TimesCal Weaver, ein Privatdetektiv, fährt in einer regnerischen Nacht nach Hause. Auf einem Parkplatz klopft eine junge, nervös wirkende Frau an die Windschutzscheibe und bittet ihn, sie mitzunehmen. Cal hat Bedenken, fährt den Teenager aber zu einer Bar. Ein großer Fehler - denn am nächsten Morgen ist die Anhalterin verschwunden, ihre Freundin wird tot aufgefunden. Und der Verdacht fällt auf Cal ...
"Spannung, die keinen Moment nachlässt." TV Movie
Lese-Probe zu „Nachts kommt der Tod “
Nachts kommt der Tod von Lindwood Barclay»Kannst du schwimmen?«
»Sie sind verrückt, Mann! Lassen Sie mich los!«
»Obwohl ... auch wenn du's kannst, seh ich schwarz für dich. Wir sind so nahe bei den Wasserfällen, da ist die Strömung unglaublich stark. Da reißt's dich runter, bevor du bis drei zählen kannst. Und es geht sehr tief runter.«
»Lassen Sie mich los!«
»Vielleicht erwischst du davor noch einen von den Felsen und kannst dich dranklammern. Aber wenn du dagegenknallst, bist du höchstwahrscheinlich erledigt. Wenn du in einem Fass stecken würdest, wie diese Wahnsinnigen, die sich da schon mal runtergestürzt haben, hättest du vielleicht eine Chance von einem Prozent, optimistisch gerechnet.«
»Wenn ich's Ihnen doch sage, Mister, ich schwöre bei Gott, ich war's nicht.«
»Ich glaub dir nicht. Aber wenn du ehrlich bist, wenn du zugibst, was du getan hast, dann schmeiß ich dich nicht runter.«
»Ich war's nicht! Ich schwöre!«
»Wenn du's nicht warst, wer war's dann?«
»Ich weiß es doch nicht! Wenn ich einen Namen wüsste, ich würd ihn sagen. Bitte, bitte, ich flehe Sie an, Mann.«
»Weißt du, was ich glaube? Wenn du da runterstürzt, das fühlt sich an wie fliegen.«
EINS
... mehr
Wenn ein Mann mittleren Alters eine Jugendliche mitnimmt, die vor einer Bar steht und den Daumen rausstreckt, dann ist er nicht ganz bei Trost. Und auch das Mädel ist eigentlich nicht mehr zu retten. Doch im Augenblick reden wir von meiner Dummheit, nicht von ihrer.
Sie stand am Straßenrand, das blonde Haar hing ihr in klatschnassen Strähnen ins Gesicht, der Neonschein der Coors-Reklame im Fenster von Patchett's Bar tauchte sie in ein gespenstisches Licht. Die Schultern hatte sie hochgezogen, als könne sie damit den Sprühregen abwehren, sich irgendwie warm und trocken halten.
Wie alt sie wohl sein mochte? Alt genug, um Auto fahren und vielleicht sogar wählen zu dürfen, aber um Alkohol zu trinken wahrscheinlich noch zu jung. Wenigstens hier in Griffon im Staat New York. Auf der anderen Seite der Lewiston Queenston Bridge vielleicht nicht. Drüben in Kanada durfte man schon mit neunzehn trinken, nicht erst mit einundzwanzig. Was aber nicht hieß, dass sie im Patchett's nicht ein paar Bierchen gezischt haben konnte. Ausweise wurden da nicht besonders gründlich kontrolliert. Das war allgemein bekannt. Wenn auf deinem Ausweis ein Foto von Nicole Kidman prangt, du aber eher wie Penelope Cruz aussiehst, dann reicht ihnen das völlig. »Hock dich hin, was willst du trinken?«, das war das Motto bei Patchett's.
Mit ihrer überdimensionalen roten Handtasche auf der Schulter stand sie da und streckte den Daumen raus. Und sie sah zu mir herüber, als ich langsam auf das Stoppschild an der Ecke zurollte.
Vergiss es, dachte ich. Einen männlichen Anhalter mitzunehmen ist schon nicht besonders schlau, aber eine jugendliche Anhalterin? Das ist dümmer, als die Polizei erlaubt. Ein Typ Anfang vierzig, der in einer finsteren, regnerischen Nacht ein Mädchen zu sich in den Wagen steigen lässt, das noch nicht mal halb so alt ist wie er selbst - die reine Idiotie. Also Augen stur geradeaus. Ich wollte gerade wieder Gas geben, da hörte ich ein Klopfen am Beifahrerfenster.
Ich sah hinüber. Da stand sie. Sie hatte sich vorgebeugt, sah mich an. Ich schüttelte den Kopf, aber sie klopfte weiter. Ich ließ das Fenster gerade so weit herunter, dass ich ihre Augen und die obere Hälfte ihrer Nase sehen konnte. »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich kann -«
»Nur zu mir nach Hause«, sagte sie. »Ist gar nicht weit. In dem Pick-up da drüben sitzt so ein Typ, der ist mir nicht geheuer, glotzt mich schon die ganze Zeit an und ...« Sie machte große Augen. »Scheiße, sind Sie nicht der Vater von Scott Weaver?«
Und dann war plötzlich alles anders.
»Ja«, sagte ich. Der war ich gewesen.
»Dacht ich mir's doch. Sie kennen mich wahrscheinlich gar nicht, aber ich hab Sie schon öfter gesehen. Wenn Sie Scott von der Schule abgeholt haben und so. Hören Sie, es tut mir leid, jetzt regnet's Ihnen auch noch in den Wagen. Ich find schon jemand ...«
Wie hätte ich eine von Scotts Freundinnen da im Regen stehen lassen können?
»Steig ein«, sagte ich.
»Sind Sie sicher?«
»Ja.« Ich schwieg einen Moment, gab mir eine Sekunde Zeit, da wieder rauszukommen. Dann: »Schon in Ordnung. «
»Mensch, danke!«, sagte sie, öffnete die Tür und stieg ein. Sie jonglierte mit ihrem Handy, streifte sich die Tasche von der Schulter und stellte sie neben ihre Füße. Das Innenlicht ging an und gleich wieder aus. »Gott, ich bin völlig durchgeweicht. Tut mir leid wegen Ihrem Sitz.«
Sie war nass. Ich weiß nicht, wie lange sie da schon gestanden hatte, aber lange genug, dass ihr das Wasser in kleinen Rinnsalen von den Haaren auf Jacke und Jeans lief. Ihre Oberschenkel waren nass, gut möglich, dass ein vorbeifahrendes Auto sie vollgespritzt hatte.
»Mach dir deswegen keine Sorgen«, sagte ich, während sie sich anschnallte. Ich war noch nicht wieder angefahren, wartete, dass sie mir sagte, wo sie hinwollte. »Soll ich geradeaus fahren, abbiegen, oder was?«
»Bin ich doof.« Sie lachte nervös, dann schüttelte sie den Kopf und verspritzte Wassertropfen wie ein Spaniel, der aus einem See kommt. »Woher sollen Sie wissen, wo ich wohne? Einfach geradeaus.«
Ich sah nach links und rechts, dann fuhr ich über die Kreuzung.
»Du warst also eine Freundin von Scott?«, fragte ich.
Sie nickte, lächelte. Dann verzog sie das Gesicht. »Ja, er war ein lieber Kerl.«
»Wie heißt du?«
»Claire.«
»Claire?« Ich zog den Namen in die Länge, eine Aufforderung an sie, mir ihren Nachnamen zu nennen. Vielleicht war sie mir bei meinen Online-Recherchen schon untergekommen. Ihr Gesicht hatte ich eigentlich noch nicht richtig gesehen.
»Genau«, sagte sie. »Wie Schoko E. Claire.« Wieder das nervöse Lachen. Sie nahm das Handy von der linken in die rechte Hand, legte dann die leere Linke auf das linke Knie. Auf dem Handrücken, direkt unter den Knöcheln, hatte sie einen ziemlich bösen Kratzer, der vielleicht drei Zentimeter lang und ganz frisch war, aber nicht blutete.
»Hast du dir weh getan, Claire?«, fragte ich sie mit einem Nicken in Richtung ihrer Hand.
Sie sah auf sie hinunter. »O Scheiße, hab ich gar nicht bemerkt. Da ist so ein Idiot im Patchett's rumgetorkelt, hat mich fast über den Haufen gerannt, da muss ich mir die Hand an einer Tischkante aufgerissen haben. Brennt ein bisschen.« Sie hob die Hand ans Gesicht und blies auf die Wunde. »Ich werd's überleben«, sagte sie.
»Du siehst aber nicht aus, als ob du schon alt genug wärst, um da reinzudürfen.« Ich warf ihr einen vorwurfsvollen und zugleich süffisanten Blick zu.
Sie bemerkte den Blick und verdrehte die Augen. »Schon klar.«
Einen Kilometer lang schwiegen wir beide. Soweit ich im Licht des Armaturenbretts sehen konnte, lag das Handy auf ihrem rechten Oberschenkel und ihre Hand darüber.
Sie beugte sich vor, um in den Außenspiegel an der Beifahrertür zu sehen.
»Der Typ da sitzt schon fast auf Ihrer Stoßstange«, sagte sie.
Grelles Scheinwerferlicht traf auf meinen Rückspiegel. Das Fahrzeug hinter uns war ein Geländewagen oder ein Pick- up, die Scheinwerfer waren jedenfalls so hoch montiert, dass sie mir ins Heckfenster strahlten. Ich stieg kurz auf die Bremse, damit das Bremslicht aufleuchtete, und der Fahrer vergrößerte den Abstand. Claire sah weiterhin in den Außenspiegel. Der Drängler schien sie sehr zu interessieren.
»Alles in Ordnung, Claire?«, fragte ich.
»Hmm? Ja, alles bestens, ja.«
»Du wirkst ein bisschen nervös.«
Sie schüttelte den Kopf ein wenig zu aggressiv.
»Bist du sicher?«, fragte ich sie. Ich drehte mich zu ihr, und unsere Blicke kreuzten sich.
»Ganz sicher«, sagte sie.
Sie war keine besonders gute Lügnerin.
Wir fuhren auf der Danbury Road, einer vierspurigen Straße mit einer fünften Spur für Linksabbieger. Sie war links und rechts von Fast-Food-Lokalen, einem Heimwerkermarkt, diversen Discountern und einer Reihe anderer Läden gesäumt, deren Omnipräsenz in jeder größeren Stadt es einem schwermachte, Tucson von Tallahassee zu unterscheiden.
»Woher kanntest du Scott?«, fragte ich.
Claire zuckte die Achseln. »So halt, von der Schule. Wir sind jetzt nicht so oft zusammen abgehangen oder so, aber ich kannte ihn. Hat mich echt traurig gemacht, was mit ihm passiert ist.«
Ich schwieg.
»Ich meine, alle Jugendlichen bauen mal Scheiße. Aber was wirklich Schlimmes passiert den meisten dabei nicht.«
»Stimmt«, sagte ich.
»Wann war das noch mal?«, fragte sie. »Weil, es kommt mir irgendwie so vor, als wär's erst ein paar Wochen her.«
»Morgen sind's zwei Monate«, sagte ich. »Am 25. August.«
»Mensch«, sagte sie. »Aber, klar, jetzt, wo Sie's sagen, wir hatten ja Ferien. Weil normalerweise würde die ganze Schule über so was reden, aber in diesem Fall halt nicht. Als die Schule wieder anfing, dachte irgendwie niemand mehr daran. « Sie hielt sich die linke Hand vor den Mund und sah mich entschuldigend an. »So hab ich das nicht gemeint.«
»Schon gut.«
Es gab so vieles, was ich sie fragen wollte. Doch ich kannte sie ja noch keine fünf Minuten, und meine Fragen waren zu direkt gewesen, und ich wollte nicht rüberkommen wie jemand vom Heimatschutzministerium. Seit dem Vorfall benutzte ich die Liste von Scotts Facebook-Freunden als eine Art Wegweiser, und bestimmt war mir auch der Name dieses Mädchens schon untergekommen, aber im Augenblick wusste ich nicht, wo ich sie hintun sollte. Allerdings wusste ich auch, dass eine Facebook-»Freundschaft« nicht unbedingt viel zu bedeuten hatte. Scott hatte eine Menge Leute zu seinen Freunden hinzugefügt, die er nicht mal kannte, darunter auch einige bekannte Künstler, die Graphic Novels machten, und weitere C-Promis, die ihre Facebook- Seiten noch eigenhändig pflegten. Rausfinden, wer dieses Mädchen war, konnte ich immer noch. Vielleicht würde sie mir ein andermal ein paar Fragen zu Scott beantworten. Sie buchstäblich nicht im Regen stehen zu lassen trug mir möglicherweise ein paar Pluspunkte für einen späteren Zeitpunkt ein. Vielleicht wusste sie ja etwas, das ihr unwichtig schien, mir aber weiterhelfen konnte.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagte sie: »Man redet über Sie.«
»Häh?«
»Ja ... also, die Leute in der Schule.«
»Über mich?«
»Ein bisschen. Sie wussten schon vorher, was Sie machen. Beruflich, meine ich. Und sie wissen, was Sie in letzter Zeit tun.«
Da brauchte ich mich wohl nicht zu wundern.
»Ich weiß nichts, hat also gar keinen Sinn, mir Fragen zu stellen«, fügte sie hinzu.
Ich wandte meinen Blick einen Moment von der regennassen Straße und sah sie an, sagte aber nichts.
Ein Mundwinkel verzog sich nach oben. »Ich hab gemerkt, dass Sie das überlegt haben.« Sie schien über etwas nachzudenken, dann sagte sie: »Das soll aber kein Vorwurf sein wegen dem, was Sie machen. Mein Dad würde wahrscheinlich dasselbe tun. Wenn's drauf ankommt, kann er ganz schön verbissen und kleinkariert sein.« Sie drehte sich so, dass sie mich ansehen konnte. »Ich finde, es ist falsch, ein Urteil über jemanden zu fällen, bevor man alles über ihn weiß, Sie nicht? Ich meine, man muss erst verstehen, dass er vielleicht Erfahrungen gemacht hat, die ihn die Welt in einem anderen Licht sehen lassen. Meine Großmutter zum Beispiel, sie lebt nicht mehr, aber sie hat immer nur gespart und gespart, bis zu ihrem Tod, neunzig ist sie geworden, weil sie damals die Weltwirtschaftskrise miterlebt hat. Ich hatte noch nie davon gehört, aber dann habe ich mich schlaugemacht. Sie wissen wahrscheinlich, was die Weltwirtschaftskrise war?«
»Ich weiß, was die Weltwirtschaftskrise war. Aber ob du's glaubst oder nicht, miterlebt habe ich sie nicht.«
»Egal«, sagte Claire, »wir dachten immer, Grandma wäre knausrig, aber in Wirklichkeit wollte sie nur auf alles vorbereitet sein. Für den Fall, dass das wieder passiert. Könnten Sie kurz mal bei Iggy's reinfahren?«
»Was?«
»Da vorn.« Sie zeigte durch die Windschutzscheibe.
Ich kannte das Lokal. Was ich nicht kapierte, war, warum sie mich dorthin lotsen wollte. Iggy's war so eine Art Wahrzeichen von Griffon, das hatte ich von den Einheimischen erfahren. Seit über fünfzig Jahren bekam man dort Eis und Burger, und Iggy's konnte sich auch noch behaupten, nachdem McDonald's einen Kilometer weiter seine goldenen Bögen aufgespannt hatte. Selbst ausgewiesene Big-Mac- Apostel pilgerten hierher, um sich Iggy's unnachahmliche, von Hand geschnittene und mit Meersalz gewürzte Pommes sowie die Milchshakes mit richtigem Speiseeis schmecken zu lassen.
Ich hatte mich darauf eingelassen, dieses Mädchen nach Hause zu fahren, aber ein Abstecher zu Iggy's Drive-in war doch ein bisschen viel verlangt.
Ehe ich Einwände erheben konnte, sagte sie: »Also, nicht zum Essen. Mir ist nur plötzlich ganz komisch im Magen. Manchmal wird mir von Bier schlecht, wissen Sie, und es ist ja schon schlimm genug, dass ich Ihnen den Wagen nass mache. Ich will nicht auch noch reinkotzen.«
Ich setzte den Blinker und fuhr auf das Restaurant zu, in dessen Scheiben sich das Licht meiner Scheinwerfer spiegelte und mich blendete. Iggy's war nicht so durchorganisiert und geleckt wie MacDonald's oder ein Burger King - die Menütafeln bestanden noch immer aus gerilltem weißem Kunststoff mit schwarzen Steckbuchstaben -, bot jedoch genügend Platz zum Sitzen, und selbst zu dieser vorgerückten Stunde saßen noch Gäste da. Ein ungepflegter Mann mit einem überdimensionalen Rucksack trank Kaffee. Allem Anschein nach ein Obdachloser, der sich vor dem Regen hierhergeflüchtet hatte. Ein paar Tische weiter teilte eine Frau eine Portion Pommes unter zwei Mädchen in rosa Schlafanzügen auf, von denen keines älter als fünf sein konnte. Was die wohl zu erzählen hätten? Mir fiel eine Geschichte von einem gewalttätigen Vater ein, der einen über den Durst getrunken hatte. Sie waren hergekommen, um abzuwarten, dass der Vater in sein Säuferkoma fiel und sie sich wieder nach Hause wagen konnten.
Noch ehe ich anhielt, hatte Claire sich den Riemen ihrer Handtasche ums Handgelenk gewickelt und ihre Sachen zusammengerafft, als plane sie eine Flucht.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte ich und stellte den Schalthebel auf Parken. »Ich meine, abgesehen von deiner Übelkeit?«
»Ja - ja, sicher.« Sie lachte auf und öffnete die Tür. Ich registrierte die Scheinwerfer eines Wagens, der hinter mir auf den Parkplatz gefahren war. »Bin gleich wieder da«, sagte sie, sprang aus dem Auto und schlug die Tür zu. Zum Schutz vor dem Regen hielt sie sich die Tasche über den Kopf. Sie rannte auf den Eingang des Restaurants zu und gleich weiter in den hinteren Teil, wo sich die Toiletten befanden.
Inzwischen hatte der Wagen in einiger Entfernung von meinem geparkt. Ich sah hinüber. Es war ein schwarzer Pick-up, dessen Scheiben so stark getönt waren, dass ich nicht erkennen konnte, wer am Steuer saß.
Mein Blick wanderte zum Restaurant zurück. Hier saß ich nun, mitten in der Nacht, und wartete darauf, dass ein Mädchen, das ich kaum kannte - eine Minderjährige noch dazu -, sich den Alkohol , den sie noch gar nicht hätte trinken dürfen, aus dem Leib kotzte. Mir war völlig klar, dass ich mich erst gar nicht in diese Situation hätte hineinmanövrieren dürfen. Aber nachdem sie diesen Typ in dem Pick-up erwähnt hatte, der sich so für sie interessierte ...
Pick-up? Ich sah noch mal zu dem schwarzen Wagen hinüber, der auch dunkelblau oder grau sein konnte - bei dem Regen war das schwer zu sagen. Falls jemand ausgestiegen und zu Iggy's reingegangen war, dann hatte ich es jedenfalls nicht bemerkt.
Bevor Claire zu mir in den Wagen gestiegen war, hätte ich ihr klipp und klar sagen sollen, sie solle ihre Eltern anrufen. Die sollten sie abholen.
Aber dann hatte sie Scott erwähnt.
Ich holte mein Handy heraus und sah nach, ob ich E-Mails bekommen hatte. Hatte ich nicht, aber während dieser Übung waren immerhin zehn Sekunden vergangen. Mit einer Programmtaste des Autoradios rief ich einen Sender aus Buffalo auf, der mich nicht mit Werbung nervte. Allerdings bekam ich von dem, was da gesprochen wurde, nicht viel mit.
Das Mädchen war jetzt schon fünf Minuten auf der Toilette. Wie lange braucht ein Mensch, um sich zu übergeben? Man geht rein, tut, was zu tun ist, spritzt sich ein bisschen Wasser ins Gesicht und kommt wieder raus.
Vielleicht ging es Claire schlechter, als ihr klar gewesen war. Möglicherweise hatte sie sich eingeferkelt und brauchte länger, um sich zu restaurieren.
Toll.
Ich hatte meine Hand auf dem Zündschlüssel, wollte ihn drehen. Du könntest einfach losfahren. Sie hatte ein Handy. Sie konnte jemand anderen anrufen und sich abholen lassen. Ich konnte nach Hause fahren. Ich war nicht verantwortlich für dieses Mädchen.
Leider stimmte das nicht. In dem Moment, als ich mich darauf eingelassen hatte, sie mitzunehmen, hatte ich in gewisser Weise auch die Verantwortung für sie übernommen. Ich sah wieder zu dem Pick-up hinüber. Er stand einfach da.
Wieder ließ ich meinen Blick durch das Restaurant schweifen. Da waren der Obdachlose und die Frau mit den beiden Mädchen. In der Nische am Fenster saßen jetzt noch ein Junge und ein Mädchen um die achtzehn und teilten sich ein Coke und eine Portion Hähnchensticks. An der Theke gab ein Mann seine Bestellung auf. Er stand mit dem Rücken zu mir, hatte pechschwarzes Haar und trug eine braune Lederjacke.
Sieben Minuten.
Ich machte mir Gedanken, wie es wohl aussähe, wenn jetzt Claires Eltern auf der Suche nach ihr hier hereinschneiten und feststellten, dass ich auf ihre Tochter wartete? Ich, Cal Weaver, der Privatschnüffler der Stadt. Würden sie mir glauben, dass ich sie nur nach Hause bringen wollte? Dass ich mich bereit erklärt hatte, sie mitzunehmen, weil sie meinen Sohn gekannt hatte? Dass es lautere Absichten waren, die mich leiteten?
An ihrer Stelle würde ich mir kein Wort glauben. Und so ganz lauter waren meine Absichten auch nicht gewesen. Ich hatte überlegt, ob ich versuchen sollte, ihr ein paar Informationen über Scott zu entlocken, auch wenn ich mich rasch dagegen entschieden hatte.
Es war nicht die Hoffnung, etwas von ihr zu erfahren, die mich jetzt hier festhielt. Ich brachte es einfach nicht über mich, ein junges Mädchen nachts in dieser Gegend im Stich zu lassen. Und erst recht nicht, ohne ihr vorher Bescheid zu sagen.
Ich beschloss, ins Lokal zu gehen, um sie zu suchen und mich zu vergewissern, dass es ihr gutging. Dann würde ich ihr sagen, sie müsse sich jetzt selbst darum kümmern, wie sie von hier nach Hause kam. Ich würde ihr Geld fürs Taxi geben, wenn es niemanden gab, den sie anrufen konnte. Ich stieg aus, ging ins Restaurant, sah auch auf den Plätzen nach, die ich von draußen nicht hatte einsehen können, nur für den Fall, dass Claire sich kurz hingesetzt haben sollte. Als ich sie an keinem der Tische entdeckte, ging ich nach hinten zu den Toiletten. Sie waren nur ein paar Schritte von einer weiteren Glastür entfernt, die nach draußen führte. Vor der Tür mit der Aufschrift DAMEN wappnete ich mich kurz, dann drückte ich sie einen Spaltbreit auf.
»Claire? Geht's dir gut, Claire?«
Keine Antwort.
»Ich bin's. Mr. Weaver.«
Nichts. Nicht von Claire und auch von sonst niemandem. Also stieß ich die Tür etwas weiter auf und warf einen prüfenden Blick in den Waschraum. Zwei Waschbecken, ein an der Wand montierter Händetrockner, drei Kabinen. Die Türen waren in einem stumpfen Hellbraun gestrichen, und von ihren Angeln blätterte der Rost. Alle drei waren geschlossen. In dem knapp fünfzig Zentimeter breiten Spalt zwischen Türunterkante und Fußboden waren keine Füße zu sehen.
Ich machte zwei Schritte vorwärts, streckte einen Arm aus und berührte vorsichtig die Tür der ersten Kabine. Sie war nicht versperrt und schwang träge auf. Keine Ahnung, was ich mir eigentlich erwartete. Schon ehe ich die Tür aufgestoßen hatte, war mir klar, dass niemand da drin war. Und dann schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Was, wenn jemand drin gewesen wäre? Egal, ob Claire oder sonst wer? Die Damentoilette war bestimmt nicht der richtige Ort für mich.
Rasch ging ich wieder hinaus, zurück ins Restaurant. Ich hielt weiterhin Ausschau nach Claire. Obdachloser, Frau mit Kindern -
Der Mann in der braunen Lederjacke, der vorhin an der Theke gestanden hatte, war nicht mehr da.
»Mist«, sagte ich.
Als ich wieder den Parkplatz betrat, fiel mir als Erstes auf, dass der schwarze Pick-up verschwunden war. Gleich darauf sah ich ihn. Er wartete in der Ausfahrt zur Danbury Street darauf, sich in den fließenden Verkehr einordnen zu können. Bei diesen getönten Scheiben war es unmöglich zu erkennen, ob jemand auf dem Beifahrersitz saß.
Jetzt tat sich eine Lücke auf, und der Pick-up schoss los, dass der Motor aufheulte und die Hinterreifen auf dem nassen Asphalt durchdrehten. Er fuhr nach Süden, Richtung Niagara Falls.
War das womöglich der Wagen, von dem Claire gesprochen hatte, als ich sie vor Patchett's hatte einsteigen lassen? Wenn ja, war er uns gefolgt? War der Fahrer der Mann in der Lederjacke? Hatte er sich Claire geschnappt und war mit ihr davongefahren? Oder war sie zu der Einsicht gelangt, dass er doch nicht so furchteinflößend war, wie sie ursprünglich gedacht hatte, und gewährte jetzt ihm die Gunst, sie nach Hause fahren zu dürfen?
Mist, verdammter.
Mein Herz hämmerte. Ich hatte Claire verloren. Eigentlich hatte ich sie ja gar nicht haben wollen, aber jetzt schob ich Panik, weil ich nicht wusste, wo sie abgeblieben war. Was sollte ich tun? Ich überlegte fieberhaft. Dem Pick-up folgen? Die Polizei verständigen? Vergessen, dass das Ganze überhaupt geschehen war?
Dem Pick-up folgen. Das schien mir am logischsten. Ihm nachfahren, ihn einholen, versuchen, einen Blick hineinzuwerfen, mich vergewissern, dass Claire -
Da war sie.
In meinem Wagen. Auf dem Beifahrersitz. Den Gurt hatte sie bereits angelegt. Das blonde Haar hing ihr ins Gesicht. Sie wartete auf mich.
Ich atmete ein paarmal durch, ging zum Wagen, stieg ein, schlug die Tür zu. »Wo zum Teufel warst du?«, fragte ich, als ich mich auf den Sitz fallen ließ. Das Innenlicht leuchtete kurz auf und erlosch. »Du warst so lang da drin, dass ich mir schon Sorgen gemacht habe.«
Sie wandte sich von mir ab und starrte aus dem Seitenfenster. »Bin wahrscheinlich zur Seitentür rausgekommen, als Sie vorne reingingen.« Ihre Stimme klang jetzt mehr wie ein Brummeln, jedenfalls rauher als vorher. Die Bröckchen, die sie gehustet hatte, waren ihrer Kehle offenbar nicht bekommen.
»Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt«, sagte ich. Doch was hatte es für einen Sinn, mit ihr zu schimpfen? Sie war schließlich nicht mein Kind, und in ein paar Minuten würde ich sie zu Hause abliefern.
Ich setzte zurück, fuhr hinaus auf die Danbury Street und dann weiter in Richtung Süden.
Meine Beifahrerin lehnte sich weiterhin an ihre Tür, als bemühe sie sich, den größtmöglichen Abstand zwischen uns zu halten. Ich konnte mir ihren plötzlichen Argwohn nicht erklären. Warum jetzt erst und nicht schon vor unserem Stopp bei Iggy's? Warum sollte sie jetzt auf einmal Angst vor mir haben? Weil ich ihr ins Restaurant hinterhergerannt war? Hatte ich damit irgendeine Grenze überschritten?
Und noch etwas irritierte mich. Nichts, was mit mir zu tun hatte. Etwas, das ich gesehen hatte, als ich in den Wagen gestiegen war. In den paar Sekunden, die das Licht an war. Und das mir jetzt erst richtig bewusst wurde.
Ihre Kleider.
Die waren trocken. Ihre Jeans waren nicht dunkel vor Feuchtigkeit. Ich konnte schlecht hinüberlangen und ihr die Hand aufs Knie legen, um zu prüfen, ob die Hose nass war, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie es nicht war. Hatte sie die Hose im Waschraum ausgezogen und unter den Händetrockner gehalten? Wohl kaum. Diese Dinger schafften es gerade so, einem das Wasser von den Händen zu pusten. Aber Jeansstoff zu trocknen? Ausgeschlossen.
Da war aber noch etwas. Und es befremdete mich noch mehr als die trockenen Klamotten. Vielleicht hatte ich in Wirklichkeit gar nicht gesehen, was ich zu sehen geglaubt hatte. Das Licht hatte schließlich nur kurz aufgeleuchtet.
Ich musste es noch mal einschalten, um mich zu vergewissern.
Ich tastete an der Lenksäule nach dem Schalter für das Deckenlicht. »Verzeihung«, sagte ich. »Hab grade überlegt, was ich mit meiner Sonnenbrille gemacht habe.« Mit der Rechten kramte ich in der kleinen Ablage vorne an der Mittelkonsole herum. »Ah, da ist sie ja.«
Dann schaltete ich das Licht wieder aus. Ich hatte gesehen, was ich sehen wollte.
Ihre linke Hand. Sie war unverletzt.
Kein Kratzer.
Übersetzung: Silvia Visintini
Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2014 Knaur Paperback
Wenn ein Mann mittleren Alters eine Jugendliche mitnimmt, die vor einer Bar steht und den Daumen rausstreckt, dann ist er nicht ganz bei Trost. Und auch das Mädel ist eigentlich nicht mehr zu retten. Doch im Augenblick reden wir von meiner Dummheit, nicht von ihrer.
Sie stand am Straßenrand, das blonde Haar hing ihr in klatschnassen Strähnen ins Gesicht, der Neonschein der Coors-Reklame im Fenster von Patchett's Bar tauchte sie in ein gespenstisches Licht. Die Schultern hatte sie hochgezogen, als könne sie damit den Sprühregen abwehren, sich irgendwie warm und trocken halten.
Wie alt sie wohl sein mochte? Alt genug, um Auto fahren und vielleicht sogar wählen zu dürfen, aber um Alkohol zu trinken wahrscheinlich noch zu jung. Wenigstens hier in Griffon im Staat New York. Auf der anderen Seite der Lewiston Queenston Bridge vielleicht nicht. Drüben in Kanada durfte man schon mit neunzehn trinken, nicht erst mit einundzwanzig. Was aber nicht hieß, dass sie im Patchett's nicht ein paar Bierchen gezischt haben konnte. Ausweise wurden da nicht besonders gründlich kontrolliert. Das war allgemein bekannt. Wenn auf deinem Ausweis ein Foto von Nicole Kidman prangt, du aber eher wie Penelope Cruz aussiehst, dann reicht ihnen das völlig. »Hock dich hin, was willst du trinken?«, das war das Motto bei Patchett's.
Mit ihrer überdimensionalen roten Handtasche auf der Schulter stand sie da und streckte den Daumen raus. Und sie sah zu mir herüber, als ich langsam auf das Stoppschild an der Ecke zurollte.
Vergiss es, dachte ich. Einen männlichen Anhalter mitzunehmen ist schon nicht besonders schlau, aber eine jugendliche Anhalterin? Das ist dümmer, als die Polizei erlaubt. Ein Typ Anfang vierzig, der in einer finsteren, regnerischen Nacht ein Mädchen zu sich in den Wagen steigen lässt, das noch nicht mal halb so alt ist wie er selbst - die reine Idiotie. Also Augen stur geradeaus. Ich wollte gerade wieder Gas geben, da hörte ich ein Klopfen am Beifahrerfenster.
Ich sah hinüber. Da stand sie. Sie hatte sich vorgebeugt, sah mich an. Ich schüttelte den Kopf, aber sie klopfte weiter. Ich ließ das Fenster gerade so weit herunter, dass ich ihre Augen und die obere Hälfte ihrer Nase sehen konnte. »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich kann -«
»Nur zu mir nach Hause«, sagte sie. »Ist gar nicht weit. In dem Pick-up da drüben sitzt so ein Typ, der ist mir nicht geheuer, glotzt mich schon die ganze Zeit an und ...« Sie machte große Augen. »Scheiße, sind Sie nicht der Vater von Scott Weaver?«
Und dann war plötzlich alles anders.
»Ja«, sagte ich. Der war ich gewesen.
»Dacht ich mir's doch. Sie kennen mich wahrscheinlich gar nicht, aber ich hab Sie schon öfter gesehen. Wenn Sie Scott von der Schule abgeholt haben und so. Hören Sie, es tut mir leid, jetzt regnet's Ihnen auch noch in den Wagen. Ich find schon jemand ...«
Wie hätte ich eine von Scotts Freundinnen da im Regen stehen lassen können?
»Steig ein«, sagte ich.
»Sind Sie sicher?«
»Ja.« Ich schwieg einen Moment, gab mir eine Sekunde Zeit, da wieder rauszukommen. Dann: »Schon in Ordnung. «
»Mensch, danke!«, sagte sie, öffnete die Tür und stieg ein. Sie jonglierte mit ihrem Handy, streifte sich die Tasche von der Schulter und stellte sie neben ihre Füße. Das Innenlicht ging an und gleich wieder aus. »Gott, ich bin völlig durchgeweicht. Tut mir leid wegen Ihrem Sitz.«
Sie war nass. Ich weiß nicht, wie lange sie da schon gestanden hatte, aber lange genug, dass ihr das Wasser in kleinen Rinnsalen von den Haaren auf Jacke und Jeans lief. Ihre Oberschenkel waren nass, gut möglich, dass ein vorbeifahrendes Auto sie vollgespritzt hatte.
»Mach dir deswegen keine Sorgen«, sagte ich, während sie sich anschnallte. Ich war noch nicht wieder angefahren, wartete, dass sie mir sagte, wo sie hinwollte. »Soll ich geradeaus fahren, abbiegen, oder was?«
»Bin ich doof.« Sie lachte nervös, dann schüttelte sie den Kopf und verspritzte Wassertropfen wie ein Spaniel, der aus einem See kommt. »Woher sollen Sie wissen, wo ich wohne? Einfach geradeaus.«
Ich sah nach links und rechts, dann fuhr ich über die Kreuzung.
»Du warst also eine Freundin von Scott?«, fragte ich.
Sie nickte, lächelte. Dann verzog sie das Gesicht. »Ja, er war ein lieber Kerl.«
»Wie heißt du?«
»Claire.«
»Claire?« Ich zog den Namen in die Länge, eine Aufforderung an sie, mir ihren Nachnamen zu nennen. Vielleicht war sie mir bei meinen Online-Recherchen schon untergekommen. Ihr Gesicht hatte ich eigentlich noch nicht richtig gesehen.
»Genau«, sagte sie. »Wie Schoko E. Claire.« Wieder das nervöse Lachen. Sie nahm das Handy von der linken in die rechte Hand, legte dann die leere Linke auf das linke Knie. Auf dem Handrücken, direkt unter den Knöcheln, hatte sie einen ziemlich bösen Kratzer, der vielleicht drei Zentimeter lang und ganz frisch war, aber nicht blutete.
»Hast du dir weh getan, Claire?«, fragte ich sie mit einem Nicken in Richtung ihrer Hand.
Sie sah auf sie hinunter. »O Scheiße, hab ich gar nicht bemerkt. Da ist so ein Idiot im Patchett's rumgetorkelt, hat mich fast über den Haufen gerannt, da muss ich mir die Hand an einer Tischkante aufgerissen haben. Brennt ein bisschen.« Sie hob die Hand ans Gesicht und blies auf die Wunde. »Ich werd's überleben«, sagte sie.
»Du siehst aber nicht aus, als ob du schon alt genug wärst, um da reinzudürfen.« Ich warf ihr einen vorwurfsvollen und zugleich süffisanten Blick zu.
Sie bemerkte den Blick und verdrehte die Augen. »Schon klar.«
Einen Kilometer lang schwiegen wir beide. Soweit ich im Licht des Armaturenbretts sehen konnte, lag das Handy auf ihrem rechten Oberschenkel und ihre Hand darüber.
Sie beugte sich vor, um in den Außenspiegel an der Beifahrertür zu sehen.
»Der Typ da sitzt schon fast auf Ihrer Stoßstange«, sagte sie.
Grelles Scheinwerferlicht traf auf meinen Rückspiegel. Das Fahrzeug hinter uns war ein Geländewagen oder ein Pick- up, die Scheinwerfer waren jedenfalls so hoch montiert, dass sie mir ins Heckfenster strahlten. Ich stieg kurz auf die Bremse, damit das Bremslicht aufleuchtete, und der Fahrer vergrößerte den Abstand. Claire sah weiterhin in den Außenspiegel. Der Drängler schien sie sehr zu interessieren.
»Alles in Ordnung, Claire?«, fragte ich.
»Hmm? Ja, alles bestens, ja.«
»Du wirkst ein bisschen nervös.«
Sie schüttelte den Kopf ein wenig zu aggressiv.
»Bist du sicher?«, fragte ich sie. Ich drehte mich zu ihr, und unsere Blicke kreuzten sich.
»Ganz sicher«, sagte sie.
Sie war keine besonders gute Lügnerin.
Wir fuhren auf der Danbury Road, einer vierspurigen Straße mit einer fünften Spur für Linksabbieger. Sie war links und rechts von Fast-Food-Lokalen, einem Heimwerkermarkt, diversen Discountern und einer Reihe anderer Läden gesäumt, deren Omnipräsenz in jeder größeren Stadt es einem schwermachte, Tucson von Tallahassee zu unterscheiden.
»Woher kanntest du Scott?«, fragte ich.
Claire zuckte die Achseln. »So halt, von der Schule. Wir sind jetzt nicht so oft zusammen abgehangen oder so, aber ich kannte ihn. Hat mich echt traurig gemacht, was mit ihm passiert ist.«
Ich schwieg.
»Ich meine, alle Jugendlichen bauen mal Scheiße. Aber was wirklich Schlimmes passiert den meisten dabei nicht.«
»Stimmt«, sagte ich.
»Wann war das noch mal?«, fragte sie. »Weil, es kommt mir irgendwie so vor, als wär's erst ein paar Wochen her.«
»Morgen sind's zwei Monate«, sagte ich. »Am 25. August.«
»Mensch«, sagte sie. »Aber, klar, jetzt, wo Sie's sagen, wir hatten ja Ferien. Weil normalerweise würde die ganze Schule über so was reden, aber in diesem Fall halt nicht. Als die Schule wieder anfing, dachte irgendwie niemand mehr daran. « Sie hielt sich die linke Hand vor den Mund und sah mich entschuldigend an. »So hab ich das nicht gemeint.«
»Schon gut.«
Es gab so vieles, was ich sie fragen wollte. Doch ich kannte sie ja noch keine fünf Minuten, und meine Fragen waren zu direkt gewesen, und ich wollte nicht rüberkommen wie jemand vom Heimatschutzministerium. Seit dem Vorfall benutzte ich die Liste von Scotts Facebook-Freunden als eine Art Wegweiser, und bestimmt war mir auch der Name dieses Mädchens schon untergekommen, aber im Augenblick wusste ich nicht, wo ich sie hintun sollte. Allerdings wusste ich auch, dass eine Facebook-»Freundschaft« nicht unbedingt viel zu bedeuten hatte. Scott hatte eine Menge Leute zu seinen Freunden hinzugefügt, die er nicht mal kannte, darunter auch einige bekannte Künstler, die Graphic Novels machten, und weitere C-Promis, die ihre Facebook- Seiten noch eigenhändig pflegten. Rausfinden, wer dieses Mädchen war, konnte ich immer noch. Vielleicht würde sie mir ein andermal ein paar Fragen zu Scott beantworten. Sie buchstäblich nicht im Regen stehen zu lassen trug mir möglicherweise ein paar Pluspunkte für einen späteren Zeitpunkt ein. Vielleicht wusste sie ja etwas, das ihr unwichtig schien, mir aber weiterhelfen konnte.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagte sie: »Man redet über Sie.«
»Häh?«
»Ja ... also, die Leute in der Schule.«
»Über mich?«
»Ein bisschen. Sie wussten schon vorher, was Sie machen. Beruflich, meine ich. Und sie wissen, was Sie in letzter Zeit tun.«
Da brauchte ich mich wohl nicht zu wundern.
»Ich weiß nichts, hat also gar keinen Sinn, mir Fragen zu stellen«, fügte sie hinzu.
Ich wandte meinen Blick einen Moment von der regennassen Straße und sah sie an, sagte aber nichts.
Ein Mundwinkel verzog sich nach oben. »Ich hab gemerkt, dass Sie das überlegt haben.« Sie schien über etwas nachzudenken, dann sagte sie: »Das soll aber kein Vorwurf sein wegen dem, was Sie machen. Mein Dad würde wahrscheinlich dasselbe tun. Wenn's drauf ankommt, kann er ganz schön verbissen und kleinkariert sein.« Sie drehte sich so, dass sie mich ansehen konnte. »Ich finde, es ist falsch, ein Urteil über jemanden zu fällen, bevor man alles über ihn weiß, Sie nicht? Ich meine, man muss erst verstehen, dass er vielleicht Erfahrungen gemacht hat, die ihn die Welt in einem anderen Licht sehen lassen. Meine Großmutter zum Beispiel, sie lebt nicht mehr, aber sie hat immer nur gespart und gespart, bis zu ihrem Tod, neunzig ist sie geworden, weil sie damals die Weltwirtschaftskrise miterlebt hat. Ich hatte noch nie davon gehört, aber dann habe ich mich schlaugemacht. Sie wissen wahrscheinlich, was die Weltwirtschaftskrise war?«
»Ich weiß, was die Weltwirtschaftskrise war. Aber ob du's glaubst oder nicht, miterlebt habe ich sie nicht.«
»Egal«, sagte Claire, »wir dachten immer, Grandma wäre knausrig, aber in Wirklichkeit wollte sie nur auf alles vorbereitet sein. Für den Fall, dass das wieder passiert. Könnten Sie kurz mal bei Iggy's reinfahren?«
»Was?«
»Da vorn.« Sie zeigte durch die Windschutzscheibe.
Ich kannte das Lokal. Was ich nicht kapierte, war, warum sie mich dorthin lotsen wollte. Iggy's war so eine Art Wahrzeichen von Griffon, das hatte ich von den Einheimischen erfahren. Seit über fünfzig Jahren bekam man dort Eis und Burger, und Iggy's konnte sich auch noch behaupten, nachdem McDonald's einen Kilometer weiter seine goldenen Bögen aufgespannt hatte. Selbst ausgewiesene Big-Mac- Apostel pilgerten hierher, um sich Iggy's unnachahmliche, von Hand geschnittene und mit Meersalz gewürzte Pommes sowie die Milchshakes mit richtigem Speiseeis schmecken zu lassen.
Ich hatte mich darauf eingelassen, dieses Mädchen nach Hause zu fahren, aber ein Abstecher zu Iggy's Drive-in war doch ein bisschen viel verlangt.
Ehe ich Einwände erheben konnte, sagte sie: »Also, nicht zum Essen. Mir ist nur plötzlich ganz komisch im Magen. Manchmal wird mir von Bier schlecht, wissen Sie, und es ist ja schon schlimm genug, dass ich Ihnen den Wagen nass mache. Ich will nicht auch noch reinkotzen.«
Ich setzte den Blinker und fuhr auf das Restaurant zu, in dessen Scheiben sich das Licht meiner Scheinwerfer spiegelte und mich blendete. Iggy's war nicht so durchorganisiert und geleckt wie MacDonald's oder ein Burger King - die Menütafeln bestanden noch immer aus gerilltem weißem Kunststoff mit schwarzen Steckbuchstaben -, bot jedoch genügend Platz zum Sitzen, und selbst zu dieser vorgerückten Stunde saßen noch Gäste da. Ein ungepflegter Mann mit einem überdimensionalen Rucksack trank Kaffee. Allem Anschein nach ein Obdachloser, der sich vor dem Regen hierhergeflüchtet hatte. Ein paar Tische weiter teilte eine Frau eine Portion Pommes unter zwei Mädchen in rosa Schlafanzügen auf, von denen keines älter als fünf sein konnte. Was die wohl zu erzählen hätten? Mir fiel eine Geschichte von einem gewalttätigen Vater ein, der einen über den Durst getrunken hatte. Sie waren hergekommen, um abzuwarten, dass der Vater in sein Säuferkoma fiel und sie sich wieder nach Hause wagen konnten.
Noch ehe ich anhielt, hatte Claire sich den Riemen ihrer Handtasche ums Handgelenk gewickelt und ihre Sachen zusammengerafft, als plane sie eine Flucht.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte ich und stellte den Schalthebel auf Parken. »Ich meine, abgesehen von deiner Übelkeit?«
»Ja - ja, sicher.« Sie lachte auf und öffnete die Tür. Ich registrierte die Scheinwerfer eines Wagens, der hinter mir auf den Parkplatz gefahren war. »Bin gleich wieder da«, sagte sie, sprang aus dem Auto und schlug die Tür zu. Zum Schutz vor dem Regen hielt sie sich die Tasche über den Kopf. Sie rannte auf den Eingang des Restaurants zu und gleich weiter in den hinteren Teil, wo sich die Toiletten befanden.
Inzwischen hatte der Wagen in einiger Entfernung von meinem geparkt. Ich sah hinüber. Es war ein schwarzer Pick-up, dessen Scheiben so stark getönt waren, dass ich nicht erkennen konnte, wer am Steuer saß.
Mein Blick wanderte zum Restaurant zurück. Hier saß ich nun, mitten in der Nacht, und wartete darauf, dass ein Mädchen, das ich kaum kannte - eine Minderjährige noch dazu -, sich den Alkohol , den sie noch gar nicht hätte trinken dürfen, aus dem Leib kotzte. Mir war völlig klar, dass ich mich erst gar nicht in diese Situation hätte hineinmanövrieren dürfen. Aber nachdem sie diesen Typ in dem Pick-up erwähnt hatte, der sich so für sie interessierte ...
Pick-up? Ich sah noch mal zu dem schwarzen Wagen hinüber, der auch dunkelblau oder grau sein konnte - bei dem Regen war das schwer zu sagen. Falls jemand ausgestiegen und zu Iggy's reingegangen war, dann hatte ich es jedenfalls nicht bemerkt.
Bevor Claire zu mir in den Wagen gestiegen war, hätte ich ihr klipp und klar sagen sollen, sie solle ihre Eltern anrufen. Die sollten sie abholen.
Aber dann hatte sie Scott erwähnt.
Ich holte mein Handy heraus und sah nach, ob ich E-Mails bekommen hatte. Hatte ich nicht, aber während dieser Übung waren immerhin zehn Sekunden vergangen. Mit einer Programmtaste des Autoradios rief ich einen Sender aus Buffalo auf, der mich nicht mit Werbung nervte. Allerdings bekam ich von dem, was da gesprochen wurde, nicht viel mit.
Das Mädchen war jetzt schon fünf Minuten auf der Toilette. Wie lange braucht ein Mensch, um sich zu übergeben? Man geht rein, tut, was zu tun ist, spritzt sich ein bisschen Wasser ins Gesicht und kommt wieder raus.
Vielleicht ging es Claire schlechter, als ihr klar gewesen war. Möglicherweise hatte sie sich eingeferkelt und brauchte länger, um sich zu restaurieren.
Toll.
Ich hatte meine Hand auf dem Zündschlüssel, wollte ihn drehen. Du könntest einfach losfahren. Sie hatte ein Handy. Sie konnte jemand anderen anrufen und sich abholen lassen. Ich konnte nach Hause fahren. Ich war nicht verantwortlich für dieses Mädchen.
Leider stimmte das nicht. In dem Moment, als ich mich darauf eingelassen hatte, sie mitzunehmen, hatte ich in gewisser Weise auch die Verantwortung für sie übernommen. Ich sah wieder zu dem Pick-up hinüber. Er stand einfach da.
Wieder ließ ich meinen Blick durch das Restaurant schweifen. Da waren der Obdachlose und die Frau mit den beiden Mädchen. In der Nische am Fenster saßen jetzt noch ein Junge und ein Mädchen um die achtzehn und teilten sich ein Coke und eine Portion Hähnchensticks. An der Theke gab ein Mann seine Bestellung auf. Er stand mit dem Rücken zu mir, hatte pechschwarzes Haar und trug eine braune Lederjacke.
Sieben Minuten.
Ich machte mir Gedanken, wie es wohl aussähe, wenn jetzt Claires Eltern auf der Suche nach ihr hier hereinschneiten und feststellten, dass ich auf ihre Tochter wartete? Ich, Cal Weaver, der Privatschnüffler der Stadt. Würden sie mir glauben, dass ich sie nur nach Hause bringen wollte? Dass ich mich bereit erklärt hatte, sie mitzunehmen, weil sie meinen Sohn gekannt hatte? Dass es lautere Absichten waren, die mich leiteten?
An ihrer Stelle würde ich mir kein Wort glauben. Und so ganz lauter waren meine Absichten auch nicht gewesen. Ich hatte überlegt, ob ich versuchen sollte, ihr ein paar Informationen über Scott zu entlocken, auch wenn ich mich rasch dagegen entschieden hatte.
Es war nicht die Hoffnung, etwas von ihr zu erfahren, die mich jetzt hier festhielt. Ich brachte es einfach nicht über mich, ein junges Mädchen nachts in dieser Gegend im Stich zu lassen. Und erst recht nicht, ohne ihr vorher Bescheid zu sagen.
Ich beschloss, ins Lokal zu gehen, um sie zu suchen und mich zu vergewissern, dass es ihr gutging. Dann würde ich ihr sagen, sie müsse sich jetzt selbst darum kümmern, wie sie von hier nach Hause kam. Ich würde ihr Geld fürs Taxi geben, wenn es niemanden gab, den sie anrufen konnte. Ich stieg aus, ging ins Restaurant, sah auch auf den Plätzen nach, die ich von draußen nicht hatte einsehen können, nur für den Fall, dass Claire sich kurz hingesetzt haben sollte. Als ich sie an keinem der Tische entdeckte, ging ich nach hinten zu den Toiletten. Sie waren nur ein paar Schritte von einer weiteren Glastür entfernt, die nach draußen führte. Vor der Tür mit der Aufschrift DAMEN wappnete ich mich kurz, dann drückte ich sie einen Spaltbreit auf.
»Claire? Geht's dir gut, Claire?«
Keine Antwort.
»Ich bin's. Mr. Weaver.«
Nichts. Nicht von Claire und auch von sonst niemandem. Also stieß ich die Tür etwas weiter auf und warf einen prüfenden Blick in den Waschraum. Zwei Waschbecken, ein an der Wand montierter Händetrockner, drei Kabinen. Die Türen waren in einem stumpfen Hellbraun gestrichen, und von ihren Angeln blätterte der Rost. Alle drei waren geschlossen. In dem knapp fünfzig Zentimeter breiten Spalt zwischen Türunterkante und Fußboden waren keine Füße zu sehen.
Ich machte zwei Schritte vorwärts, streckte einen Arm aus und berührte vorsichtig die Tür der ersten Kabine. Sie war nicht versperrt und schwang träge auf. Keine Ahnung, was ich mir eigentlich erwartete. Schon ehe ich die Tür aufgestoßen hatte, war mir klar, dass niemand da drin war. Und dann schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Was, wenn jemand drin gewesen wäre? Egal, ob Claire oder sonst wer? Die Damentoilette war bestimmt nicht der richtige Ort für mich.
Rasch ging ich wieder hinaus, zurück ins Restaurant. Ich hielt weiterhin Ausschau nach Claire. Obdachloser, Frau mit Kindern -
Der Mann in der braunen Lederjacke, der vorhin an der Theke gestanden hatte, war nicht mehr da.
»Mist«, sagte ich.
Als ich wieder den Parkplatz betrat, fiel mir als Erstes auf, dass der schwarze Pick-up verschwunden war. Gleich darauf sah ich ihn. Er wartete in der Ausfahrt zur Danbury Street darauf, sich in den fließenden Verkehr einordnen zu können. Bei diesen getönten Scheiben war es unmöglich zu erkennen, ob jemand auf dem Beifahrersitz saß.
Jetzt tat sich eine Lücke auf, und der Pick-up schoss los, dass der Motor aufheulte und die Hinterreifen auf dem nassen Asphalt durchdrehten. Er fuhr nach Süden, Richtung Niagara Falls.
War das womöglich der Wagen, von dem Claire gesprochen hatte, als ich sie vor Patchett's hatte einsteigen lassen? Wenn ja, war er uns gefolgt? War der Fahrer der Mann in der Lederjacke? Hatte er sich Claire geschnappt und war mit ihr davongefahren? Oder war sie zu der Einsicht gelangt, dass er doch nicht so furchteinflößend war, wie sie ursprünglich gedacht hatte, und gewährte jetzt ihm die Gunst, sie nach Hause fahren zu dürfen?
Mist, verdammter.
Mein Herz hämmerte. Ich hatte Claire verloren. Eigentlich hatte ich sie ja gar nicht haben wollen, aber jetzt schob ich Panik, weil ich nicht wusste, wo sie abgeblieben war. Was sollte ich tun? Ich überlegte fieberhaft. Dem Pick-up folgen? Die Polizei verständigen? Vergessen, dass das Ganze überhaupt geschehen war?
Dem Pick-up folgen. Das schien mir am logischsten. Ihm nachfahren, ihn einholen, versuchen, einen Blick hineinzuwerfen, mich vergewissern, dass Claire -
Da war sie.
In meinem Wagen. Auf dem Beifahrersitz. Den Gurt hatte sie bereits angelegt. Das blonde Haar hing ihr ins Gesicht. Sie wartete auf mich.
Ich atmete ein paarmal durch, ging zum Wagen, stieg ein, schlug die Tür zu. »Wo zum Teufel warst du?«, fragte ich, als ich mich auf den Sitz fallen ließ. Das Innenlicht leuchtete kurz auf und erlosch. »Du warst so lang da drin, dass ich mir schon Sorgen gemacht habe.«
Sie wandte sich von mir ab und starrte aus dem Seitenfenster. »Bin wahrscheinlich zur Seitentür rausgekommen, als Sie vorne reingingen.« Ihre Stimme klang jetzt mehr wie ein Brummeln, jedenfalls rauher als vorher. Die Bröckchen, die sie gehustet hatte, waren ihrer Kehle offenbar nicht bekommen.
»Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt«, sagte ich. Doch was hatte es für einen Sinn, mit ihr zu schimpfen? Sie war schließlich nicht mein Kind, und in ein paar Minuten würde ich sie zu Hause abliefern.
Ich setzte zurück, fuhr hinaus auf die Danbury Street und dann weiter in Richtung Süden.
Meine Beifahrerin lehnte sich weiterhin an ihre Tür, als bemühe sie sich, den größtmöglichen Abstand zwischen uns zu halten. Ich konnte mir ihren plötzlichen Argwohn nicht erklären. Warum jetzt erst und nicht schon vor unserem Stopp bei Iggy's? Warum sollte sie jetzt auf einmal Angst vor mir haben? Weil ich ihr ins Restaurant hinterhergerannt war? Hatte ich damit irgendeine Grenze überschritten?
Und noch etwas irritierte mich. Nichts, was mit mir zu tun hatte. Etwas, das ich gesehen hatte, als ich in den Wagen gestiegen war. In den paar Sekunden, die das Licht an war. Und das mir jetzt erst richtig bewusst wurde.
Ihre Kleider.
Die waren trocken. Ihre Jeans waren nicht dunkel vor Feuchtigkeit. Ich konnte schlecht hinüberlangen und ihr die Hand aufs Knie legen, um zu prüfen, ob die Hose nass war, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie es nicht war. Hatte sie die Hose im Waschraum ausgezogen und unter den Händetrockner gehalten? Wohl kaum. Diese Dinger schafften es gerade so, einem das Wasser von den Händen zu pusten. Aber Jeansstoff zu trocknen? Ausgeschlossen.
Da war aber noch etwas. Und es befremdete mich noch mehr als die trockenen Klamotten. Vielleicht hatte ich in Wirklichkeit gar nicht gesehen, was ich zu sehen geglaubt hatte. Das Licht hatte schließlich nur kurz aufgeleuchtet.
Ich musste es noch mal einschalten, um mich zu vergewissern.
Ich tastete an der Lenksäule nach dem Schalter für das Deckenlicht. »Verzeihung«, sagte ich. »Hab grade überlegt, was ich mit meiner Sonnenbrille gemacht habe.« Mit der Rechten kramte ich in der kleinen Ablage vorne an der Mittelkonsole herum. »Ah, da ist sie ja.«
Dann schaltete ich das Licht wieder aus. Ich hatte gesehen, was ich sehen wollte.
Ihre linke Hand. Sie war unverletzt.
Kein Kratzer.
Übersetzung: Silvia Visintini
Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2014 Knaur Paperback
... weniger
Autoren-Porträt von Linwood Barclay
Linwood Barclay stammt aus den USA, lebt aber seit seiner Kindheit in Kanada. Er arbeitete lange als Journalist und hatte eine beliebte Kolumne im Toronto Star. Seit dem Erscheinen seines ersten Thrillers Ohne ein Wort ist Barclay ein internationaler Bestsellerautor. Er hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit seiner Frau in der Nähe von Toronto.
Bibliographische Angaben
- Autor: Linwood Barclay
- 560 Seiten, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Silvia Visintini
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 342651480X
- ISBN-13: 9783426514801
- Erscheinungsdatum: 26.05.2014
Rezension zu „Nachts kommt der Tod “
"Ein geniales, zwar sehr komplex aufgebautes Buch, das vor Spannung nur so sprüht. Der Schreibstil ist sehr angenehm, flüssig und sehr bildlich geschrieben. Die Geschichte fesselt den Leser von der ersten Seite an. [...] Ein wirklich gutes Buch!" com-on-online.com, 26.08.2014
Pressezitat
"Ein geniales, zwar sehr komplex aufgebautes Buch, das vor Spannung nur so sprüht. Der Schreibstil ist sehr angenehm, flüssig und sehr bildlich geschrieben. Die Geschichte fesselt den Leser von der ersten Seite an. [...] Ein wirklich gutes Buch!" com-on-online.com, 26.08.2014
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