Jin, H: Nanking Requiem
Roman
»Ein modernes Antikriegsbuch.« Deutsche Welle
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Produktinformationen zu „Jin, H: Nanking Requiem “
»Ein modernes Antikriegsbuch.« Deutsche Welle
Klappentext zu „Jin, H: Nanking Requiem “
Nanking, Dezember 1937: Die japanische Armee verübt ein unvorstellbares Massaker an der chinesischen Zivilbevölkerung. Die amerikanische Missionarin Wilhelmine "Minnie" Vautrin ist eine von wenigen Mitarbeitern ausländischer Einrichtungen, die sich entschließen, zu bleiben. Gemeinsam mit ihrem kleinen Team verwandelt sie das amerikanische College, das sie leitet, in ein Flüchtlingslager für Frauen und Kinder - und rettet Tausenden von Menschen das Leben.Ein ergreifender Antikriegsroman, der dem Leser von heute das Grauen von damals spürbar macht.
Lese-Probe zu „Jin, H: Nanking Requiem “
Ha Jin von Nanking RequiemERSTER TEIL
Der Fall der Hauptstadt
Endlich machte Ban den Mund auf. Einen ganzen Abend lang saßen wir im Speisesaal und hörten dem Jungen zu. Er sagte: »An dem Nachmittag, als Rektorin Vautrin mich wegen der Verhaftungen in unserem Lager zu Mr Rabe geschickt hat, bin ich zur Verwaltung der Sicherheitszone gerannt. Vor dem Haus wurde ich von zwei japanischen Soldaten aufgehalten. Einer richtete das Bajonett auf meinen Bauch, der andere bohrte mir sein Gewehr in den Rücken, sie rissen mir die Rote-Kreuz-Armbinde herunter und schlugen mir mit Fäusten ins Gesicht. Dann brachten sie mich zum Schrein der Weißen Wolke, wo es einen Teich mit Karpfen und Barschen gibt. Alle Mönche waren weg, bis auf zwei Alte, die sie erschossen und in die Latrine geworfen hatten. Die Japaner wollten die Fische haben, besaßen aber kein Netz. Einer der Offiziere feuerte das ganze Magazin seiner Pistole in den Teich ab, erwischte jedoch keinen einzigen Fisch. Dann hat ein anderer Handgranaten ins Wasser geworfen. Augenblicklich trieben fette Karpfen und Barsche an die Oberfläche, betäubt und mit dem Bauch nach oben. Die Japsen stachen uns vier Chinesen mit ihren Bajonetten, wir sollten uns ausziehen und die Fische einsammeln. Ich hatte schreckliche Angst, ich kann ja nicht schwimmen, doch mir blieb nichts anderes übrig, als in den Teich zu springen. Das Wasser war eiskalt. Wir brachten die halbtoten Fische ans Ufer, wo die Japaner ihnen mit Gewehrkolben auf die Köpfe schlugen und ein Hanfseil durch die Kiemen zogen. Damit wurden sie an Tragestangen gehängt, und wir mussten die Beute in ihre Unterkünfte schaffen. Es waren große Fische, jeder wog mindestens seine fünfzehn Pfund.
... mehr
Die Soldaten brieten sich die Fische zum Abendessen, wir bekamen nichts - und mussten die Pferdeäpfel, die ihre Kavallerie hinterlassen hatte, mit bloßen Händen aufsammeln. Als es dämmrig wurde, brachten sie uns zu einem Munitionsdepot, wo wir einen Lastwagen zu beladen hatten. Es arbeiteten bereits andere Chinesen dort, elf insgesamt. Wir schleppten Munitionskisten zu dem Laster. Als wir fertig waren, wurden drei andere und ich abkommandiert, mit nach Xiaguan zu fahren. Erschrocken stellte ich fest, dass große Teile des Viertels in Schutt und Asche lagen. Viele Gebäude standen noch in Flammen, das Feuer raste und heulte wie der Wind, und die Strommasten entlang der Straße loderten, als wären es riesige Fackeln. Nur das Jangtse-Hotel und eine Kirche waren heil geblieben. Auf einer kleinen Anhöhe entluden wir den Laster. Eine Menschenmenge hatte sich am Flussufer versammelt, bestimmt über tausend Leute. Einige chinesische Soldaten waren darunter, aber sonst lauter Zivilisten, viele Frauen und Kinder. Sie hielten weiße Fahnen hoch, von einem Baum wehte ein weißes Laken. Auf dem Uferstreifen dahinter waren drei Panzer postiert, deren Aufbauten wie umgestülpte Schüsseln aussahen. Die Geschütze waren auf die Menge gerichtet. Nicht weit von uns hockten japanische Soldaten um eine in den Boden gerammte Kriegsflagge und tranken Sake aus einem strohumwickelten Fässchen. Plötzlich erschien ein Offizier und brüllte Befehle, doch die Soldaten an den schweren Maschinengewehren rührten sich nicht, sie sahen einander bloß an. Da wurde der Offizier wütend, zog sein Schwert und drosch mit dem Griff auf einen der Soldaten ein. Wumm, wumm, wumm. Zufällig fiel sein Blick auf uns chinesische Kulis, die wir in der Nähe am Boden kauerten. Mit einem Schrei hob er sein Schwert und hieb dem Größten von uns den Kopf ab. Zwei Blutfontänen spritzten hoch in die Luft, lautlos kippte der Mann vornüber. Wir anderen fielen auf die Knie, schlugen die Köpfe auf den Boden und flehten um Gnade. Ich habe mir in die Hose gemacht.
Die Soldaten an den Maschinengewehren waren einen Moment lang verwirrt, dann eröffnete einer das Feuer, gleich darauf schossen auch die anderen beiden. Maschinengewehre, die anderswo postiert waren, feuerten ebenfalls los, dann auch die Panzer. Die Menge geriet in Bewegung, Menschen stürzten kreischend übereinander, doch es gab kein Entrinnen. Jede Kugel streckte gleich mehrere nieder, in weniger als zehn Minuten war alles umgemäht. Wer noch atmete, wurde von Soldaten mit dem Bajonett erledigt. Ich konnte mein Zittern und Weinen nicht unterdrücken. Einer der Kameraden packte mich an den Haaren und schüttelte mich. ›Sei still, sonst bemerken sie dich noch!‹ Da habe ich mich zusammengerissen.
Der Laster brachte uns zurück, weil wir den Soldaten beim Transport von Beutegut helfen sollten, Möbeln hauptsächlich. Sie behielten nicht alles, eine Menge Zeug wurde auf einen großen Scheiterhaufen vor dem Hauptquartier geworfen. Über dem Feuer haben sie dann an langen Spießen Schweine und Schafe, sogar eine ganze Rinderhälfte gebraten. Die Kessel brodelten, und die Luft war erfüllt vom Geruch des gebratenen Fleischs. In jener Nacht sperrten sie uns in einen Raum und gaben jedem einen Batzen Reis und einen Becher Wasser. Die nächsten beiden Tage brachten sie uns in die Gegend östlich der Zentraluniversität. Wieder zündeten sie Häuser an, die sie zuvor plünderten. Einer der Soldaten hatte sogar ein Werkzeug zum Knacken von Panzerschränken dabei, das allerdings kaum zum Einsatz kam. Meist brauchten sie nur eine Handgranate am Boden des Tresors zu befestigen, dort wo das Metall am dünnsten ist, und jagten das Ding dann einfach in die Luft. Vor allem auf Armbanduhren und Schmuck hatten sie es abgesehen, da waren sie ganz scharf drauf. Einer von ihnen, ein junger Kerl, nahm sogar einen Kinderwagen mit. Keine Ahnung, was er damit wollte. Er war zu jung, um Kinder zu haben.
Später brachten sie sechs von uns nach Osten in die Stadt Jurong, wo wir den ganzen Tag Artilleriemunition umladen mussten. Am Abend ließen sie uns frei, sie sagten, wir könnten nachhause gehen. Hundemüde schleppten wir uns durch die Dunkelheit. In der ersten Nacht schafften wir bloß fünfzehn Kilometer. Jeder Teich und jeder Bach unterwegs war voller Leichen. Das Blut der toten Menschen und Tiere färbte das Wasser rot. Durstig, wie wir waren, blieb uns nichts übrig, als die faulige Brühe zu trinken. Ich habe jetzt noch den Gestank der verwesten Leiber in der Nase. Manchen quollen die Augäpfel aus den Höhlen, vermutlich wegen der Gase, die sich innen gebildet hatten. Einmal sind wir an der Leiche eines Mädchens vorbeigekommen, der ein Fuß fehlte, der andere steckte in einem winzigen violetten Stoffschuh - sie hatte gebundene Füße. Manchmal waren die Frauen von der Taille abwärts nackt, die Japsen hatten sie vergewaltigt und anschließend erstochen. Jedes Mal, wenn wir an einem Leichenhaufen vorbeikamen, schlotterten mir die Knie.
Immer wieder wurden wir von Soldaten angehalten. Zum Glück hatte uns der Offizier einen Zettel mitgegeben, als er uns laufen ließ. So konnten wir uns nach Nanking durchschlagen, ohne dass die Wachtposten uns festnahmen. Einer der Kameraden hatte Durchfall und war so ausgedörrt, dass er es nicht schaffte. Wir haben ihn am Wegrand liegen lassen. Sicher ist er längst tot. Ein Stück weiter trafen wir einen kleinen Jungen, zwei oder drei Jahre alt, der vor Hunger greinend an einer verlassenen Bushaltestelle hockte. Ich habe ihm ein Stück von meinem Pfannkuchen gegeben, doch bevor er ihn essen konnte, tauchten vier Japsen auf und traten mit ihren Stiefeln auf den Kleinen ein. Ein Soldat zog den Schwanz heraus und pinkelte ihm in den Mund. Das Kind brüllte, und die Japsen konnten sich kaum halten vor Lachen. Wir zogen weiter, um das nicht länger mit ansehen zu müssen. Ich bin sicher, dass die drei anderen ihm dasselbe angetan haben. Er kann von Glück reden, wenn er noch am Leben ist.
Ein Menschenleben war plötzlich nichts mehr wert. Überall Leichen, denen die Gedärme aus den aufgeschlitzten Bäuchen hingen, manche waren mit Benzin übergossen und halb verkohlt. Die Japsen hatten so viele Leute umgebracht, dass sämtliche Flüsse, Teiche und Quellen verseucht waren und sie selbst kein sauberes Trinkwasser mehr fanden. Sogar der Reis, den sie aßen, war ganz rot, weil sie ihn in blutigem Wasser kochten. Einmal hat uns der Koch einer japanischen Feldküche ein paar Schalen von diesem Reis gegeben. Mein Mund schmeckte noch Stunden später nach Blut. Ehrlich, ich hätte nie gedacht, dass ich es bis hierher schaffen und euch alle wiedersehen würde. Noch jetzt wache ich nachts oft auf, und mein Herz rast.«
Ich schrieb alles mit, was Ban uns berichtete.
1 »Morgen, Anling«, begrüßte mich Minnie, als ich sie vor dem Hauptgebäude traf, dem größten im Jinling-Mädchencollege. Gemeinsam gingen wir zu Präsidentin Wu, die uns in der South Hill Residence zum Frühstück erwartete. Ende November war die Luft bereits empfindlich kalt, der Atem hing den Menschen in Wölkchen um die Gesichter. Eine Schar Enten zog mit lautem Geschnatter Richtung Norden, ich sah ihre Schwingen wie kleine Ruder in der Luft paddeln, bis der Zug schließlich mit dem bleigrauen Himmel verschmolz. Die aufgetürmten Wolken waren regenschwer, was bedeutete, dass heute keine japanischen Bomber kommen würden. Trotz des nasskalten Wetters begrüßten sich die Leute daher mit einem freudigen »Schöner Tag heute!«. Bei bewölktem Himmel waren wir stets guter Laune.
Dr. Wu hatte die Schulunterlagen durchgesehen und einige davon zusammengepackt, um sie mitzunehmen. Auch andere Chinesen aus dem Kollegium bereiteten sich auf die Abreise vor. Selbst die, die kein Zuhause mehr hatten, versteckten Lebensmittel und Wertsachen. Minnie hingegen hatte noch kein Stück gepackt. Als stellvertretende Rektorin des College wollte sie ausharren. »Ich stehe das hier bis zum Ende durch«, hatte sie zu mir gesagt.
Dr. Wu erwartete uns in aufgeräumter Stimmung. Auf dem Tisch standen getoastete Weißbrotscheiben, ein Stück Butter, eine Sauciere mit Marmelade und ein Schälchen Mayonnaise. Der Anblick dieses westlichen Frühstücks ließ Minnie ungläubig blinzeln. »Seit Wochen esse ich morgens nur Reisbrei und gesalzene Erdnüsse. Wo haben Sie das alles her?«
»Ich habe die Sachen gestern von Madame Chiang bekommen «, erwiderte Dr. Wu und rückte mit der Fingerspitze ihre Brille zurecht. Sie war oft bei der First Lady zu Gast, denn beide hatten in den Vereinigten Staaten studiert - Madame Chiang am Wellesley College, während Dr. Wu ihren Doktor in Entomologie an der University of Michigan gemacht hatte. Außerdem war Dr. Wu Vorstandsmitglied der Women's War Relief Association, die von Madame Chiang geleitet wurde. In dieser Funktion engagierte sich die First Lady für unsere Armee sowie für Waisenhäuser und Flüchtlingslager. Dr. Wu hatte ihrerseits eine gewisse Berühmtheit erlangt, da sie als erste Frau einen Doktortitel in den Vereinigten Staaten erworben hatte. Sie gehörte zu den fünf ersten Absolventinnen des Jin- ling-College und hatte von Mrs Dennison dessen Leitung übernommen, als unsere Regierung 1928 verfügte, dass auch ausländische Colleges und Universitäten in China nur noch von Chinesen geführt werden durften.
»Setzen Sie sich doch. Wir können uns beim Essen unterhalten «, forderte Dr. Wu uns auf. Sie trug einen schwarzen Seidenumhang, der am Hals mit Messingknöpfen geschlossen wurde, die wie große Münzen aussahen. Sie war Ende dreißig, doch ihre strahlenden Augen und hohen Wangenknochen ließen sie jugendlich erscheinen, was wohl daran lag, dass sie unverheiratet und nicht mit Kindern und Hausarbeit belastet war.
Ich goss heißes Wasser in drei Becher, löste Milchpulver darin auf und reichte dann je einen an Dr. Wu und Minnie weiter.
Copyright © List TB. (Verlag)
Die Soldaten brieten sich die Fische zum Abendessen, wir bekamen nichts - und mussten die Pferdeäpfel, die ihre Kavallerie hinterlassen hatte, mit bloßen Händen aufsammeln. Als es dämmrig wurde, brachten sie uns zu einem Munitionsdepot, wo wir einen Lastwagen zu beladen hatten. Es arbeiteten bereits andere Chinesen dort, elf insgesamt. Wir schleppten Munitionskisten zu dem Laster. Als wir fertig waren, wurden drei andere und ich abkommandiert, mit nach Xiaguan zu fahren. Erschrocken stellte ich fest, dass große Teile des Viertels in Schutt und Asche lagen. Viele Gebäude standen noch in Flammen, das Feuer raste und heulte wie der Wind, und die Strommasten entlang der Straße loderten, als wären es riesige Fackeln. Nur das Jangtse-Hotel und eine Kirche waren heil geblieben. Auf einer kleinen Anhöhe entluden wir den Laster. Eine Menschenmenge hatte sich am Flussufer versammelt, bestimmt über tausend Leute. Einige chinesische Soldaten waren darunter, aber sonst lauter Zivilisten, viele Frauen und Kinder. Sie hielten weiße Fahnen hoch, von einem Baum wehte ein weißes Laken. Auf dem Uferstreifen dahinter waren drei Panzer postiert, deren Aufbauten wie umgestülpte Schüsseln aussahen. Die Geschütze waren auf die Menge gerichtet. Nicht weit von uns hockten japanische Soldaten um eine in den Boden gerammte Kriegsflagge und tranken Sake aus einem strohumwickelten Fässchen. Plötzlich erschien ein Offizier und brüllte Befehle, doch die Soldaten an den schweren Maschinengewehren rührten sich nicht, sie sahen einander bloß an. Da wurde der Offizier wütend, zog sein Schwert und drosch mit dem Griff auf einen der Soldaten ein. Wumm, wumm, wumm. Zufällig fiel sein Blick auf uns chinesische Kulis, die wir in der Nähe am Boden kauerten. Mit einem Schrei hob er sein Schwert und hieb dem Größten von uns den Kopf ab. Zwei Blutfontänen spritzten hoch in die Luft, lautlos kippte der Mann vornüber. Wir anderen fielen auf die Knie, schlugen die Köpfe auf den Boden und flehten um Gnade. Ich habe mir in die Hose gemacht.
Die Soldaten an den Maschinengewehren waren einen Moment lang verwirrt, dann eröffnete einer das Feuer, gleich darauf schossen auch die anderen beiden. Maschinengewehre, die anderswo postiert waren, feuerten ebenfalls los, dann auch die Panzer. Die Menge geriet in Bewegung, Menschen stürzten kreischend übereinander, doch es gab kein Entrinnen. Jede Kugel streckte gleich mehrere nieder, in weniger als zehn Minuten war alles umgemäht. Wer noch atmete, wurde von Soldaten mit dem Bajonett erledigt. Ich konnte mein Zittern und Weinen nicht unterdrücken. Einer der Kameraden packte mich an den Haaren und schüttelte mich. ›Sei still, sonst bemerken sie dich noch!‹ Da habe ich mich zusammengerissen.
Der Laster brachte uns zurück, weil wir den Soldaten beim Transport von Beutegut helfen sollten, Möbeln hauptsächlich. Sie behielten nicht alles, eine Menge Zeug wurde auf einen großen Scheiterhaufen vor dem Hauptquartier geworfen. Über dem Feuer haben sie dann an langen Spießen Schweine und Schafe, sogar eine ganze Rinderhälfte gebraten. Die Kessel brodelten, und die Luft war erfüllt vom Geruch des gebratenen Fleischs. In jener Nacht sperrten sie uns in einen Raum und gaben jedem einen Batzen Reis und einen Becher Wasser. Die nächsten beiden Tage brachten sie uns in die Gegend östlich der Zentraluniversität. Wieder zündeten sie Häuser an, die sie zuvor plünderten. Einer der Soldaten hatte sogar ein Werkzeug zum Knacken von Panzerschränken dabei, das allerdings kaum zum Einsatz kam. Meist brauchten sie nur eine Handgranate am Boden des Tresors zu befestigen, dort wo das Metall am dünnsten ist, und jagten das Ding dann einfach in die Luft. Vor allem auf Armbanduhren und Schmuck hatten sie es abgesehen, da waren sie ganz scharf drauf. Einer von ihnen, ein junger Kerl, nahm sogar einen Kinderwagen mit. Keine Ahnung, was er damit wollte. Er war zu jung, um Kinder zu haben.
Später brachten sie sechs von uns nach Osten in die Stadt Jurong, wo wir den ganzen Tag Artilleriemunition umladen mussten. Am Abend ließen sie uns frei, sie sagten, wir könnten nachhause gehen. Hundemüde schleppten wir uns durch die Dunkelheit. In der ersten Nacht schafften wir bloß fünfzehn Kilometer. Jeder Teich und jeder Bach unterwegs war voller Leichen. Das Blut der toten Menschen und Tiere färbte das Wasser rot. Durstig, wie wir waren, blieb uns nichts übrig, als die faulige Brühe zu trinken. Ich habe jetzt noch den Gestank der verwesten Leiber in der Nase. Manchen quollen die Augäpfel aus den Höhlen, vermutlich wegen der Gase, die sich innen gebildet hatten. Einmal sind wir an der Leiche eines Mädchens vorbeigekommen, der ein Fuß fehlte, der andere steckte in einem winzigen violetten Stoffschuh - sie hatte gebundene Füße. Manchmal waren die Frauen von der Taille abwärts nackt, die Japsen hatten sie vergewaltigt und anschließend erstochen. Jedes Mal, wenn wir an einem Leichenhaufen vorbeikamen, schlotterten mir die Knie.
Immer wieder wurden wir von Soldaten angehalten. Zum Glück hatte uns der Offizier einen Zettel mitgegeben, als er uns laufen ließ. So konnten wir uns nach Nanking durchschlagen, ohne dass die Wachtposten uns festnahmen. Einer der Kameraden hatte Durchfall und war so ausgedörrt, dass er es nicht schaffte. Wir haben ihn am Wegrand liegen lassen. Sicher ist er längst tot. Ein Stück weiter trafen wir einen kleinen Jungen, zwei oder drei Jahre alt, der vor Hunger greinend an einer verlassenen Bushaltestelle hockte. Ich habe ihm ein Stück von meinem Pfannkuchen gegeben, doch bevor er ihn essen konnte, tauchten vier Japsen auf und traten mit ihren Stiefeln auf den Kleinen ein. Ein Soldat zog den Schwanz heraus und pinkelte ihm in den Mund. Das Kind brüllte, und die Japsen konnten sich kaum halten vor Lachen. Wir zogen weiter, um das nicht länger mit ansehen zu müssen. Ich bin sicher, dass die drei anderen ihm dasselbe angetan haben. Er kann von Glück reden, wenn er noch am Leben ist.
Ein Menschenleben war plötzlich nichts mehr wert. Überall Leichen, denen die Gedärme aus den aufgeschlitzten Bäuchen hingen, manche waren mit Benzin übergossen und halb verkohlt. Die Japsen hatten so viele Leute umgebracht, dass sämtliche Flüsse, Teiche und Quellen verseucht waren und sie selbst kein sauberes Trinkwasser mehr fanden. Sogar der Reis, den sie aßen, war ganz rot, weil sie ihn in blutigem Wasser kochten. Einmal hat uns der Koch einer japanischen Feldküche ein paar Schalen von diesem Reis gegeben. Mein Mund schmeckte noch Stunden später nach Blut. Ehrlich, ich hätte nie gedacht, dass ich es bis hierher schaffen und euch alle wiedersehen würde. Noch jetzt wache ich nachts oft auf, und mein Herz rast.«
Ich schrieb alles mit, was Ban uns berichtete.
1 »Morgen, Anling«, begrüßte mich Minnie, als ich sie vor dem Hauptgebäude traf, dem größten im Jinling-Mädchencollege. Gemeinsam gingen wir zu Präsidentin Wu, die uns in der South Hill Residence zum Frühstück erwartete. Ende November war die Luft bereits empfindlich kalt, der Atem hing den Menschen in Wölkchen um die Gesichter. Eine Schar Enten zog mit lautem Geschnatter Richtung Norden, ich sah ihre Schwingen wie kleine Ruder in der Luft paddeln, bis der Zug schließlich mit dem bleigrauen Himmel verschmolz. Die aufgetürmten Wolken waren regenschwer, was bedeutete, dass heute keine japanischen Bomber kommen würden. Trotz des nasskalten Wetters begrüßten sich die Leute daher mit einem freudigen »Schöner Tag heute!«. Bei bewölktem Himmel waren wir stets guter Laune.
Dr. Wu hatte die Schulunterlagen durchgesehen und einige davon zusammengepackt, um sie mitzunehmen. Auch andere Chinesen aus dem Kollegium bereiteten sich auf die Abreise vor. Selbst die, die kein Zuhause mehr hatten, versteckten Lebensmittel und Wertsachen. Minnie hingegen hatte noch kein Stück gepackt. Als stellvertretende Rektorin des College wollte sie ausharren. »Ich stehe das hier bis zum Ende durch«, hatte sie zu mir gesagt.
Dr. Wu erwartete uns in aufgeräumter Stimmung. Auf dem Tisch standen getoastete Weißbrotscheiben, ein Stück Butter, eine Sauciere mit Marmelade und ein Schälchen Mayonnaise. Der Anblick dieses westlichen Frühstücks ließ Minnie ungläubig blinzeln. »Seit Wochen esse ich morgens nur Reisbrei und gesalzene Erdnüsse. Wo haben Sie das alles her?«
»Ich habe die Sachen gestern von Madame Chiang bekommen «, erwiderte Dr. Wu und rückte mit der Fingerspitze ihre Brille zurecht. Sie war oft bei der First Lady zu Gast, denn beide hatten in den Vereinigten Staaten studiert - Madame Chiang am Wellesley College, während Dr. Wu ihren Doktor in Entomologie an der University of Michigan gemacht hatte. Außerdem war Dr. Wu Vorstandsmitglied der Women's War Relief Association, die von Madame Chiang geleitet wurde. In dieser Funktion engagierte sich die First Lady für unsere Armee sowie für Waisenhäuser und Flüchtlingslager. Dr. Wu hatte ihrerseits eine gewisse Berühmtheit erlangt, da sie als erste Frau einen Doktortitel in den Vereinigten Staaten erworben hatte. Sie gehörte zu den fünf ersten Absolventinnen des Jin- ling-College und hatte von Mrs Dennison dessen Leitung übernommen, als unsere Regierung 1928 verfügte, dass auch ausländische Colleges und Universitäten in China nur noch von Chinesen geführt werden durften.
»Setzen Sie sich doch. Wir können uns beim Essen unterhalten «, forderte Dr. Wu uns auf. Sie trug einen schwarzen Seidenumhang, der am Hals mit Messingknöpfen geschlossen wurde, die wie große Münzen aussahen. Sie war Ende dreißig, doch ihre strahlenden Augen und hohen Wangenknochen ließen sie jugendlich erscheinen, was wohl daran lag, dass sie unverheiratet und nicht mit Kindern und Hausarbeit belastet war.
Ich goss heißes Wasser in drei Becher, löste Milchpulver darin auf und reichte dann je einen an Dr. Wu und Minnie weiter.
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Autoren-Porträt von Ha Jin
Jin, HaHa Jin, geboren 1956 in der nordchinesischen Stadt Jinzhou, ging 1985 zum Studium in die USA und ist heute Professor für englische Literatur an der Boston University. Für seine Romane, Erzählungsbände und Lyriksammlungen wurde er u.a. mit dem National Book Award und zweimal mit dem PEN/Faulkner Award ausgezeichnet. Im Winter 2008 war er Stipendiat der American Academy in Berlin. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Boston.
Hornfeck, Susanne
Susanne Hornfeck, Dr. phil., studierte Germanistik, Sinologie und Deutsch als Fremdsprache. Sie ist Autorin und Übersetzerin, u.a. von Mo Yan, Eileen Chang, Ha Jin, Lionel Shriver. Für ihre Übersetzungen und Romane wurde sie mehrfach ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ha Jin
- 2014, 342 Seiten, Maße: 11,8 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Susanne Hornfeck
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548611915
- ISBN-13: 9783548611914
Kommentar zu "Jin, H: Nanking Requiem"
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