Narcopolis
Roman. Ausgezeichnet mit dem DSC Prize for South Asian Literature 2012
So haben Sie Indien noch nie gesehen - eine fiebrige Tour de Force durch das Bombay der Prostituierten, Dichter, Drogendealer
Rashids Opiumhöhle im Rotlichtviertel Bombays bildet das dunkle Herz von 'Narcopolis'. Hier schweben die Versprengten und...
Rashids Opiumhöhle im Rotlichtviertel Bombays bildet das dunkle Herz von 'Narcopolis'. Hier schweben die Versprengten und...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Narcopolis “
Klappentext zu „Narcopolis “
So haben Sie Indien noch nie gesehen - eine fiebrige Tour de Force durch das Bombay der Prostituierten, Dichter, DrogendealerRashids Opiumhöhle im Rotlichtviertel Bombays bildet das dunkle Herz von 'Narcopolis'. Hier schweben die Versprengten und Versehrten der Stadt ein, um sich einem trägen Traum hinzugeben. Die schöne Dimple, nicht ganz Frau und nicht ganz Mann, bereitet die Pfeifen vor, und alle kommen - Hindus, Muslime, Künstler, Angestellte, Xavier, der weltberühmte Maler, und Rumi, der Brahmane. In einer lyrischen, leuchtenden Prosa erzählt Thayil von einer »großen und gebrochenen Stadt«, die dabei ist, ihre Seele zu verkaufen.
Lese-Probe zu „Narcopolis “
Narcopolis von Jeet Thayil Prolog
Etwas für den Mund
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Bombay, eine Stadt, die ihre eigene Historie verwischte, indem sie sich einen anderen Namen gab und chirurgisch ein anderes Aussehen, ist Heldin, auch Heroin dieser Geschichte, und da ich es bin, der diese Geschichte erzählt, und du nicht weißt, wer ich bin, lass mich sagen, dass wir zum Wer noch kommen, allerdings nicht jetzt, bleibt uns doch Zeit genug, nichts zu überstürzen, die Lampe anzuknipsen, das Fenster zum Mond zu öffnen und uns einen Augenblick zu gönnen, um von der großen und gebrochenen Stadt zu träumen, denn wenn der geschäftige Tag beginnt, muss ich aufhören, schließlich sind dies Nachtgeschichten, die im Sonnenlicht schwinden wie der Staub von Vampiren, aber warte, steck mich an, damit wir es richtig machen, ja, halt mich still an die Flamme, halt ein, halt, gut, ein gemächlicher Zug für den Anfang, der Rauch sanft in die Lungen gesogen, ja, ach ja, noch ein Zug für die Nase, etwas Süßes für den Mund, so, jetzt können wir beginnen, ganz von vorn, mit jenem ersten Mal bei Rashid, als ich mir den blauen Rauch von der Pfeife ans Blut steppte, ans Auge ans Ich an die blaue Welt dort draußen - und nun kommen wir auch zum Wer, weshalb ich dir sagen kann, dass das Ich, das Ich, das du dir nun vorstellst, ein denkender Jemand, der diese Worte aufschreibt, der die Zeit in logisch chronologische Ordnung bringt, jemand also mit einem übergeordneten Plan, ein Ingenieurgott in der Maschine, nun, dass dieses Ich nicht das Ich ist, das diese Geschichte erzählt, vielmehr ist es das Ich, das erzählt wird, wobei ich an meine erste Pfeife bei Rashid denke, das Gedächtnis nach Bildern durchkämme, einem Gesicht, einem Fetzen Musik oder dem Klang einer Stimme, in dem Versuch, mich zu erinnern, wie sie war, die Vergangenheit, sie zu erinnern, wie ich mich an eine Landschaft erinnern würde oder an das Licht in einem fernen Land, denn eben das ist sie, weder Fiktion noch tote Geschichte, sondern ein Ort, an dem man einst lebte und an den man nicht zurückkehren kann, weshalb ich mir ins Gedächtnis zu rufen versuche, wie es kam, dass ich in New York solchen Ärger hatte und nach Bombay zurückgeschickt wurde, um wieder clean zu werden, wie ich Rashid fand und eines Nachmittags mit einem Taxi durch müllverminte Straßen fuhr, voll mit menschlichem, animalischem Abfall und den Ärmsten der Armen, überall Arme, die in Lumpen verstört durch die Gegend stolperten oder bloß herumstanden und starrten, wobei ich nichts Ungewöhnliches daran fand, dass sie barfuß gingen, dass sie wirkten, als hätten sie sich längst aufgegeben, und ich, ich rauchte eine Pfeife, woraufhin mir den ganzen Tag schlecht war und ich Gewisper hörte in meinem steinernen Schlaf, Gewisper über Pathar Maar, den Steinkiller, der nachts die Stadt patrouillierte, Gewisper, das von den Bedürftigen aufstieg, Gewisper darüber, wie er die Arbeiterbezirke Sion und Koliwada durchstreifte und die Armen im Schlaf umbrachte, sich jenen näherte, die allein schliefen, sich in der Nacht an sie heranschlich und sie tötete, nur wurde niemand darauf aufmerksam, weil seine Opfer ärmer waren als arm, unsichtbare Existenzen waren sie, ohne Namen, Papiere oder Familien, und er tötete sie mit Bedacht, ein halbes Dutzend Männer und Frauen, Gehwegschläfer aus den nördlichen Vororten, wo Abwasserkanäle die Straßen säumen, Schlamm mit ölig grünem Schimmer; das ganze Jahr war er ein Unterweltgewisper, den oberen Klassen unbekannt, bis er in die Schlagzeilen geriet, und ich in meinem Wahn meinte, sein Mitleid und die Angst zu verstehen, meinte, in ihm einen Samariter sehen zu können, den wahren Erlöser der Opfer eines verfehlten Experiments, des sozialistischen Planstaates Indien, jemand, der ihr Elend zu beenden suchte, dieser Pathar Maar, dessen Mission es war, die Armut auszumerzen, so meinte ich, auf dem Rücksitz des Taxis tief in die eigene Armut versunken, ins bombaybraun schattierte Polster gelehnt, während ich den Fahrer bat, langsamer zu fahren, als wir die Frauen passierten, und ich - ehrlich, es ist wahr - das Gesicht der Amme sah, die auf mich aufgepasst hatte, als ich noch klein war, eine dunkle Frau, die freundlich lächelte, wenn ich sie schlug, und ich wusste, sie war es, gestrandet im Sackgassenbezirk, dort, wo die Frauen in Güteklassen eingeteilt und ausgepreist werden, zur Schau gestellt in sämtlichen Straßen, in allen Gossen und Häusern, Frauen aus dem fernen Norden, aus dem Süden, von überall her, neu oder gebraucht, verscherbelt oder fortgegeben, heruntergehandelt, fast umsonst, ich wusste, dass sie es war, ließ aber nicht anhalten, obwohl das Taxi nun hinter einem Jeep herkroch, auf dem GOVERNAMENT OF INDIA stand, und als der Fahrer das Rashid's anhand der Adresse ausfindig machte, die ich ihm gegeben hatte, nahm er an, ich wolle zu den Käfigen, den billigsten Zimmern der Straße, wo die Frauen fünf Rupien und aufwärts kosten, weshalb er auf die Häuser mit außen an die Blumenkästen gemalten Nummern zeigte und sagte: »Nummerhäuser sind besser«, zu den Straßenhuren hinübernickte, zu den Frauen in den Käfigen, und sagte »die sind dreckig«, während ich aus dem Taxi ins Chaos stieg, weil ein Büffelkarren zusammengebrochen war, und rasch eine Menge zusammenströmte, um das Tier zu beglotzen, das auf der schmalen Straße kniete und den Fuhrmann, der darauf eindrosch in scharf und methodisch aufflackernder Wut, ansonsten aber ruhig wirkte, weder fluchte noch schwitzte, der die Peitsche auf und nieder schwang, auf und nieder, derweil in Sägemehl gehüllte und säuberlich geordnete Eisplatten auf dem Karren dahinschmolzen und überall die Armen warteten, die Verstörten, und zusahen, wie ich es gleichfalls tat, ehe ich die Stufen zum ersten Stock hinaufeilte, der Adresse, die mir genannt worden war, um dann im Eingang stehenzubleiben und den Anblick in mich aufzunehmen, den Geruch nach Melasse, Schlaf und Krankheit, die Frau an der Pfeife, die mit langer Nadel das Opium kochte und deren Hand sich bewegte, als würde sie stricken, einige Raucher auf hölzernen Pritschen, ein über einen Ofen gebeugter alter Mann, der blubberndes Opium inhalierte, und alles, was in diesem Raum passierte, geschah auf dem Boden, Schlafmatten und Kissen ausgebreitet oder zusammengefaltet, ein Kalender an der Wand mit dem Foto einer Moschee - hör zu, warte kurz und zünde noch einmal an oder lass mich es machen, ja, ach ja, so ist's gut, wunderbar, welch herrliche Meditation, nein, mehr als eine Meditation, eine Glückseligkeit, die es der Ruhe erlaubt, den Geist zu umfangen, und die das Tempo erträglich werden lässt, ja, wie schön - und nun, in derselben Stadt, nur ein Leben später, da sind wir, Ich und Ich, was nicht nach Ras- tafari-Manier wir heißen, sondern nur die beiden Ich- Maschinen trennen soll, den Mensch und die Pfeife, das Wer und das Wer, beim Erzählen dieser Geschichte aus lang vergangener Zeit, als ich eine Pyali rauchte und mir den ganzen Tag schlecht war, mein erstes Mal auf der Shuklaji Street, neu auf der Straße, neu in der Stadt, fremd, weil ich mich nicht auskannte, fremd in der Hektik menschlicher Geschäfte auf den Gehwegen und in den Läden, wusste ich doch, mir fehlten die Fähigkeiten, der Schritt zu langsam, die Aufmerksamkeit aufs Falsche gerichtet, da ich im Kopf nicht ganz da war und dieses Teilweise, diese nur halb anwesende Abwesenheit, war meinem Gesicht anzumerken, Leute schauten mich an und sahen Jetlag, erkannten einen spirituellen Mangel, und so ging ich zu Rashid, legte den Kopf auf ein Holzkissen, streckte mich lang aus und versuchte, es mir bequem zu machen, als ich überrascht merkte, dass der Alte, der nickend überm Kochtopf stand, Englisch redete und sich in der Sprache eines todbesessenen, religionsversessenen Landes lebender Heiliger an mich wendete, um zu fragen, ob ich ein Christ aus Syrien sei, da ihm mein koptisches Kreuz um den Hals aufgefallen war und er wusste, Katholiken würden diese Art Kreuz niemals tragen; natürlich hatte er recht, ich war syrischer Christ, ein Jakobit, um die unterste der Untersekten genau zu benennen - ach, so gut, dieser Rauch, der letzte Zug von der letzten Pfeife in der letzten Nacht dieser Welt - der Alte, der Bengali hieß, sagte: »Tja, wenn das so ist, kannst du mir vielleicht eine Frage beantworten, die mich schon lange beschäftigt, ich meine, die besondere Art und Weise, in der das Christentum in Kerala Fuß gefasst hat, und wie sich die Hindi in Kerala nicht dem Christentum, sondern sie das Christentum sich selbst angepasst haben, mitsamt den alten Einteilungen in Kasten, und - dies ist nun meine Frage - hätte Jesus ein in Kasten unterteilendes Christentum gebilligt, wo doch sein ganzes Projekt darauf hinauslief, derlei abzuschaffen, ein Mann, der sich mit den Armen verbrüderte, mit Fischern, Leprakranken und Prostituierten, den Siechen, Sterbenden und mit Frauen, ein Mann, dessen Wahn- und Zwanghaftigkeit ihn drängte, sich für die Ärmsten der Armen einzusetzen, drehte sich in seiner Botschaft doch alles um Gottes bedingungslose Liebe, ganz unabhängig von jeglicher gesellschaftlichen Stellung?«, nur welche Antwort hätte ich geben können, da er keine erwartete und schon vor sich hinnickte, während ich der Frau zusah, Dimple zusah, und irgendwas an der unaufgeregten Art, wie sie die Pfeife zubereitete, mich besänftigte, wie sie die Kochnadel in die winzige Messing- Pyali mit flachem Rand tunkte, die Pyali fingerhutgroß, bis obenhin mit Melasse gefüllt, einer Flüssigkeit in Farbe und Konsistenz wie Öl, und sie rollte die Nadelspitze in Opium, hob es an die Flamme, ließ es brodeln und hart werden und wiederholte die Prozedur, bis sie einen Klumpen von der Größe und der Farbe einer Walnuss hatte, pochte mit der Nadel gegen den Pfeifenschaft, um mir zu verstehen zu geben, dass meine Portion fertig war, was sie auch war, nur war die Pfeife zu lang, ich fand sie zu schwer, sogar als ich daran saugte, während Dimple den Pfeifenkopf in die Flamme hielt, war mir das Mundstück zu groß, der Geschmack zu herb, weshalb, als die Pfeife verstopfte, Dimple sie forsch wieder an sich nahm, um noch einmal mit der Nadel zu helfen und auf Englisch zu sagen: »Rauch, zieh fester«, woraufhin Rashid ergänzte: »Nimm dir ein Beispiel an Dimple, sie zeigt's dir«, und das tat sie, warf ihr Haar aus den Augen, brachte die Pfeife gekonnt und elegant an die Lippen, nahm einen langen, perfekten Zug, der Rauch schien zu verschwinden, und als sie die Pfeife zurückgab, war ich mir sehr bewusst, dass sie in ihrem Mund gewesen war, während Dimple sagte: »Zieh tief und fest und zieh immer weiter, hör nicht auf, denn wenn du aufhörst, verbrennt das Opium, und mit verbranntem Opium kann man nichts anfangen, das kann man nur wegwerfen, also zieh, bis du nicht mehr ziehen kannst«, und ich in meiner Unwissenheit fragte: »Nehm ich einen einzigen langen Zug?«, »Kannst du, aber dann musst du den Rauch in deiner Lunge behalten. Besser sind kurze Züge.« »Wie lang halt ich die Luft an?« »So viele Fragen. Hängt davon ab, wie viel Nasha du willst. Halt den Rauch in dir, solang du willst, aber steck nicht die ganze Pfeife in den Mund, das ist unhöflich«, woraufhin ich »Tut mir leid« sagte, hastig die Pfeife aus dem Mund nahm und sie behutsam wieder an die Lippen führte, sie sorgsam ansetzte, mir Zeit ließ und verstand, dass es bei Opium vor allem auf die Etikette ankam, auf ein Rhythmusgefühl, das sich um den Mund konzentriert und darauf, wie man die Pfeife in Relation zum Körper hält, lunare Ebben und Fluten von Rauch, der erst die Lunge füllt, dann die Adern, und kaum blickte ich auf, lächelte sie, Bengali ebenso, und Rashid sagte: »Hier heißt es, man solle nur seinen schlimmsten Feind mit dem Opium bekannt machen, also ist Dimple vielleicht deine schlimmste Feindin«, und ich dachte, ja, vielleicht ist sie's aber auch nicht, vielleicht ist Ich es, vielleicht ist das Opium das Ich, und das Ich ist unzuverlässig, mein Gedächtnis wie Löschpapier, mein durchlöchertes, poröses, zerschreddertes Ungedächtnis, das sich an Einzelheiten von vor dreißig Jahren erinnert, für das der heutige Morgen aber eine Leerstelle bleibt, und wenn Gedächtnis = Schmerz = Menschsein, dann bin ich kein Mensch, dann bin ich die Pfeife Opium, die diese Geschichte im Verlauf einer einzigen Nacht erzählt, und ich, womit nun das andere Ich gemeint ist, ich schreibe sie bloß auf, unverändert übertragen vom Mundstück der Pfeife, derselben Pfeife übrigens, die Dimple mir beim ersten Mal gemacht hat, nur ist das eine andere Geschichte, eine für später - okay, los geht's, jetzt kommen wir zum besten Teil, den Träumen, die keine Träume sind, sondern Gespräche, Heimsuchungen abwesender Freunde, eine lärmende Prozession hinter deinen geschlossenen Augenlidern, deinen wachen, träumenden Augen, und nur manchmal weckt dich eine Stimme, die eigene Stimme, die mit jemandem redet, der nicht da ist, denn du bist allein, liegst auf dem Rücken, segelst über das Opiummeer, nein, diesmal verzichte ich, mir geht's prima, prächtig sogar - dasselbe Ich, dem, als man mich ins Gefängnis steckte, auffiel, dass die Zelle kaum kleiner als das Zimmer war, in dem ich damals in der Upper East Side wohnte, als man mich erwischte, wie ich Dope kaufte, total auf Downers, woraufhin der weiße Cop seine Waffe zog, mich durch die Straßen verfolgte und ich in eine Sackgasse lief, mich umdrehte, in meine Tasche fasste, um ihm die Tütchen zu geben, und der Bulle nicht schoss, aus irgendeinem Grund hat er nicht geschossen, mich nur in seinen Wagen bugsiert und ins Gefängnis gebracht, wo, wie gesagt, die Zelle klein war wie das Zimmer, in dem ich wohnte, und ich war ganz froh, dort zu sein und am Leben, und erst später brachte man mich nach Indien zurück, wo ich Bombay fand und das Opium, die Droge und die Stadt, die Opiumstadt und die Droge Bombay - okay, noch Zeit für eine auf die Schnelle, fast ist die Nacht schon um, eine Pfeife auf die Schnelle, damit das O-Boot übers Melassemeer segelt, nur werde ich diesmal nichts weiter tun, bloß den Kopf wenden und inhalieren, du erledigst den Rest -, habe schließlich von jeher versucht, das eine vom anderen zu trennen oder auch nicht, jetzt aber erliege ich der Versuchung, ich trenne nicht, ich verbinde, ich lasse mich auf die Geschichten ein, stecke die Pfeife an, eine für mich und eine für mich, schmecke sie ein letztes Mal, genieße die Farbe und den Duft, das Aroma, ja, genau so, gut, und dann halte ich inne, denn jetzt ist Zeit, in Stille zu versinken und das andere Ich sprechen zu lassen.
Erstes Buch
Die Stadt O
1
Dimple
Ehe Dimple zu Zeenat wurde, arbeitete sie halbtags bei Rashid und verschwand abends in Richtung Hijrabordell. Ich rauchte auch dann an ihrem Platz, wenn andere Pfeifen frei waren, und wir unterhielten uns, wie sich Raucher unterhalten, horizontal, mit langen Pausen, unsere Worte so leise, dass sie wie die unverständlichen Äußerungen kleiner Kinder klangen. Ich stellte die üblichen dummen Fragen. Was ist besser, ein Mann oder eine Frau zu sein? Dimple antwortete: Geht es um Gespräche, ist man besser eine Frau, für alles andere, für Sex, zöge sie es vor, ein Mann zu sein. Dann fragte ich, ob sie ein Mann oder eine Frau sei, und sie nickte, als würde ihr diese Frage zum ersten Mal gestellt. Damals war sie etwa fünfundzwanzig und besaß die Angewohnheit, sich das Haar in die Augen zu schütteln und grundlos zu lächeln, ein nettes Lächeln, wie ich mich erinnere, ein Lächeln ohne eine Andeutung all jener Veränderungen, die ihr bevorstanden.
Sie sagte: Frau und Mann sind Wörter, die andere Leute benutzen, ich nicht. Ich weiß gar nicht genau, was ich bin. An manchen Tagen bin ich weder noch oder auch gar nichts, und dann wieder komme ich mir wie beides vor. Wenn aber Männer und Frauen so unterschiedlich sind, wie kann ein Mensch da beides sein? Ist es nicht das, was du dich fragst? Nun, ich bin beides, und ich habe zu meinem Leidwesen manches lernen müssen, was man besser nicht wissen sollte, wenn man in dieser Welt leben will. So weiß ich zum Beispiel etwas über die Liebe, weiß, dass Liebende sich verzehren und verzehrt werden wollen, dass sie ineinander aufgehen möchten. Ich weiß, wie sehr sie sich danach sehnen, aus zweien eins werden zu lassen, und ich weiß auch, dass dies nie geschehen wird. Was noch? Frauen sind biologisch und emotional weiterentwickelt, das ist allgemein bekannt und offensichtlich. Allerdings vermengen sie Sex und Seele; sie trennen nicht. Männer dagegen trennen immer, wie du weißt: Sie trennen zwischen ihrer menschlichen und ihrer hündischen Natur. Und dann sagte Dimple: Ich würde dir gern mehr darüber erzählen, da ich, wie du dir denken kannst, dazu allerlei zu sagen habe, doch was würde das bringen? Es besteht ja kaum Hoffnung, dass du mich verstehst, schließlich bist du ein Mann.
In Gesprächen mit ihren Kunden hatte sie Englisch gelernt, und sie brachte sich selbst das Lesen bei. Das Alphabet beherrschte sie gut genug, um einige Wörter in Zeitungen und Filmzeitschriften entziffern zu können, auch in jenen Taschenbüchern, die Kunden in der Khana liegenließen, oder sie las die Beschriftungen von Waschmittelpackungen und Zahnpastatuben. Manchmal bekam sie Bücher von Bengali, meist über Geschichte, auch über Philosophie und Geographie, oder aber illustrierte Biographien mit Titeln wie Große Denker des Zwanzigsten Jahrhunderts und Einhundert berühmte Männer der Welt. Er stöberte die Bücher in den Zeitungsläden unweit der Shuklaji Street auf, einem zentralen Umschlagplatz für Altpapier, Lumpen, Spielzeug und Trödel aller Art. Er gab sie ihr, und sie las sie heimlich, da sie beim Lesen nicht gesehen werden wollte. Sie las, wie ungebildete Menschen lesen, schaute sich gern die Umschläge an, malte mit dem Finger den Titel nach und freute sich, wenn es ihr gelang, eine Zeile oder ein Wort zu enträtseln.
Ich lag lang ausgestreckt, die Khana ansonsten leer in dieser toten Nachmittagsstunde, als Dimple mich fragte, was ich für ein Buch lese. Das ist kein Buch, sagte ich, es ist ein Magazin mit einer Geschichte über einen indischen Maler, der in London lebt.
»Time. Was für ein großer Name für so ein kleines Buch. Ist der Maler berühmt?«
»Hier nicht, in England schon. Er hat die Schule geschmissen. Nein, falsch: Er wurde der Schule verwiesen, weil er die Jungentoilette mit pornographischen Wandgemälden verzierte, schaffte es aber auf die Kunstschule und bekam ein Stipendium für Oxford. Die vornehmen Engländer hielten ihn für eine Art gelehrten hinduistischen Mystiker, hier aber steht, er male Christus mit weit größerer Autorität als jeder britische Künstler.«
»Lies.«
»Newton Pinter Xaviers Kunst ist das mit verheerender Wirkung zur Explosion gebrachte Schuldgefühl der Katholiken. Er malt nicht, er schlitzt auf und weidet aus. Seine überarbeiteten Christi sind wirkmächtiger als die von Bacon, da sie sich uns ohne Kontext präsentieren, zumindest ohne Bezüge, die wir in einem irdischen Bezugsrahmen zu deuten wüssten. Sie haben sich von der Geschichte losgelöst. Und was die Geographie betrifft, bleiben sie entschieden außerhalb des britischen und, so darf man annehmen, auch außerhalb des indischen Wirkkreises. Sie triefen vor Sex, Ketzerei und den Resultaten einer wahllosen Lektüre der Psychopathologie des Alltags, sie ...«
»Genug, hör auf, es reicht. Zeig mir die Bilder.«
Die Redaktion hatte mehreren Reproduktionen von Xaviers Gemälden Platz eingeräumt. Da sah man einen blutverschmierten Christus, umringt von Dornen groß wie Eisenbahnschwellen, so dass die Gestalt selbst winzig wirkte, geschändet vor bluttriefendem Hintergrund. Und es gab ein Selbstporträt sowie zwei unbarmherzige Nackte, weiche, weiße Leiber, hingestreckt auf rostfreiem Stahl, die tote Haut runzelig im harschen Neonlicht. Stumm betrachtete Dimple die Bilder. Dann reichte sie mir das Magazin zurück und blinzelte mich an, als könnte sie nicht richtig sehen. Sie sagte: Er ist so wütend, dass er nicht klar denken kann, so wütend, dass er gemeingefährlich ist. Er will alles ins Hässliche ziehen, will die Welt ermorden. Wie, fragte sie, kannst du so einem Mann vertrauen? Wie kannst du seiner Meinung sein, wenn er sagt, dass die Menschen krank sind und den Tod verdienen?
Nach einer Weile bat sie mich, ihr noch etwas vorzulesen, und langte unter die Pritsche, um ein auf Schülermanier in braunes Packpapier geschlagenes Lehrbuch vorzuziehen: Das neue universale Unterrichtsbuch für Nichtchristen: Geschichts- und moralwissenschaftliche Prüfungsmaterialien. Unter dem Titel stand der Name des Autors: S. T. Pande, Professor für Geschichte an der Universität Baroda. Sie hielt mir das Buch hin, schlug eine zuvor markierte Seite auf, und ich las einige Zeilen.
»Gründer und Namensgeber des Christentums war Jesus Christus, der sich mit seiner gleichermaßen manischen wie magnetischen Persönlichkeit das radikale Ziel gesetzt hatte, die hierarchischen Gesellschaftsordnungen der Welt zu Fall zu bringen. Seine Radikalität, die sich vorwiegend in Form mystischer Äußerungen manifestierte, lässt sich am besten in folgendem indirektem Zitat zusammenfassen: ›Sei nicht zufrieden mit dem Zustand der Welt.‹ Er besaß eine scharfe Zunge, die besonders Priester zu spüren bekamen, aber auch die Wohlhabenden, die Politiker, Wucherer, Juden wie Nichtjuden und Freunde wie Feinde. Manche behaupten, er habe die besondere Gabe besessen, aller Welt unterschiedslos die Wahrheit zu sagen, andere behaupten, dies sei sein Fluch gewesen. Er war der Sohn von Maria, Jungfrau und Mutter, die mit einem lieblichen, birnenförmigen Gesicht gesegnet war und deren Anhänger sie auf folgende Weise anbeten: Gegrüßet seist du, Maria, Mutter Gottes, bete für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen!
Jesus praktizierte unter anderem als selbsternannter Arzt, der Kranke durch bloßes Berühren mit dem rechten Zeigefinger heilen konnte. Ob diese Fähigkeit göttlichen Ursprungs oder schlicht eine Frage talentierten Umgangs mit Kräutern und Pflanzen war, darüber lässt sich nur spekulieren. Außer Frage steht allerdings die wundersame Wirkung, die er auf Kranke und Sterbende hatte. Deshalb wurden die Gebrechlichen zu Christen und auch die Armen, die Allerniedrigsten bekehrten sich zum Christentum, da sie darin Trost in einer dem Kastendenken verhafteten Welt fanden.«
War dies, fragte ich mich, Professor Pandes Stil? So zu schreiben, als hätte er Tag und Nacht an der Seite von Jesus und Maria verbracht, sich Notizen gemacht und Zugang zu vertraulichen Informationen erhalten, die er nun seinen glücklichen Lesern zukommen ließ? Ich sagte Dimple, dass ich den Professor, sofern er denn einer sei, für eine unzuverlässige Quelle hielt, auch wenn ich ihn durchaus unterhaltsam fände. Es sei ja nicht weiter schlimm, unzuverlässig zu sein, ergänzte ich. Wer war das schließlich nicht? Und überhaupt, was brachte es denn, so verlässlich wie ein Hund zu sein, wie ein Auto oder ein Sessel? Ich sagte, ich fände es völlig in Ordnung, solange er nicht behauptete, er wäre Historiker oder Moralwissenschaftler. Dimple kümmerte das nicht. Sie war süchtig nach Geschichten, sie war die Art Leserin, die es hasste - wenn sie denn hätte lesen können -, zur letzten Seite eines Buches zu gelangen. Also hielt ich Professor Pandes Buch aufgeschlagen über meiner Brust und fuhr fort:
»Jesus wurde auf ziemlich grausame Weise gekreuzigt, doch starb er mit einem Lächeln auf den Lippen. Diese glückliche Miene übte auf seine Jünger eine große Wirkung aus, ebenso wie die von ihm bewirkten Wunder. Überhaupt war er der perfekte Selbstdarsteller, da er auch unter ungünstigsten Bedingungen mehrmals die Woche auftrat. Einmal machte er fünftausend Menschen mit nur fünf Laib Brot und zwei Fischen satt.«
»Fünf Laib Brot und zwei Fische«, überlegte Dimple, »das heißt, mit einem halben Dutzend Fische bekäme er all die Armen von Bombay satt, nein, quatsch, nur die Armen der Shuklaji Street. Trotzdem, er hätte in Indien zur Welt kommen sollen.«
Sie trat ans Fenster und spuckte auf die Straße. Sie hatte Brandnarben an den Fingern, und die Fußnägel waren schwarz lackiert. Am Schlüsselbein prangte ein mondförmiger blauer Fleck, weshalb sie die Bluse bis oben geschlossen hielt. Für einen Moment stand sie so am Fenster, blickte auf die Straße und würde ihr Leben lang nicht mehr vergessen, wie Handkarren den Staub ins Sonnenlicht wirbelten und wie sie damals lebte, im Bordell, an der Tür die rote Nummer 007, im Bad, das sie mit den übrigen Huren teilte, ein erdnussförmiges Loch im Boden, in das sie pinkelten, sie alle, auch die Kunden. Sie erinnerte sich an die Frauen, mit denen sie arbeitete, die jungen und nicht mehr so jungen Frauen aus vielerlei Dörfern und Städten, aus Secunderabad und Patna, Kalkutta und Katmandu, nach Bombay geschickt, um Geld für die Familien zu verdienen, Geld, das daheim nie ankam, da die Bordellmütter vergaßen, es abzuschicken. Und Dimple würde sich auch daran erinnern, dass sie um diese Zeit beschloss, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen, damals, als sie zu lesen begann, den Kopf auf der Pritsche, im Schneidersitz oder vornübergebeugt, wie sie mühsam die Buchstaben entzifferte, bis der Schlaf sie überkam. Beim Aufwachen wusste sie, dass ihre Zeit im Bordell dem Ende zuging, dass sie bald gehen würde, dass sie wahr werden würde, die Zukunft, falls sie, Dimple, nicht in ihrer Entschlossenheit nachließ, wenn sie nur durchhielt, und sie wusste, was auch geschah, was immer sie auch erreichte oder nicht erreichte, würde Zeugnis ablegen von ihrer Zeit im Bordell.
Geschah es an diesem oder einem anderen Nachmittag, dass sie eine Ausgabe von Sex Detective hervorholte, jenes Journal für wahre Verbrechen, nach dem Bengali so süchtig war? Sie blätterte, bis sie die Fotogeschichte fand: Verheirateter Schürzenjäger erhält verdiente Strafe. Im ersten Bild schenkt ein Mann in Blumenhemd und Schlaghose einer vollbusigen Frau eine Sonnenblume. Der dazugehörige Text steht in Comicsprechblasen. Dimple zeigte auf die Stellen, die ich ihr vorlesen soll.
»›Wie schlau von Ihnen. Sie schenken mir eine Blume und wollen dafür die Blume meiner Jugend pflücken.‹ Ihr heißer Atem vereint sich. Augen verraten, wie groß das Verlangen ist. Prakash und Priya kommen einander näher, um sich an den Säften der Liebe zu ergötzen. ›Deine aufreizende Berührung betört die Blume, Prakash, bitte, netze die Jungfräulichkeit der Blüte mit den Tropfen deiner Manneskraft.‹ Prakashs Finger berühren Priyas Lippen und erwecken ihren Leib.«
Unwillkürlich lese ich die Passage mit eigenwilliger Betonung vor, mit abschätzigem, auch scherzhaftem Unterton, und Dimple fragt, warum ich mich darüber lustig mache.
»Und warum bist du so ernst? Es ist nur eine Geschichte; jemand hat sie sich ausgedacht.«
»Geschichten sind wahr. Begreifst du nicht, dass sich diese Leute ins Verderben stürzen? Gib mir mein Buch zurück.«
»Das ist kein Buch.«
»Nein?«
»Und das hier ist keine Pfeife.«
»Genug. Du träumst mit offenen Augen.«
Vermutlich hatte Dimple die Idee von der Tai oder den Prostituierten im Bordell, und so wie Dimple nun einmal war, wuchs sich das Ganze zu einer Art Unterrichtsstunde aus, einer kleinen Vorlesung. Sie sagte, sie hätte mir etwas mitzuteilen, etwas, das ich nicht persönlich nehmen solle. Sie sagte, sie erzähle mir dies wegen der Fragen, die ich ihr gestellt hatte, und weil ihr erst jetzt klargeworden sei, was sie darüber denke. Sie sagte, dass Männer ganz unabhängig von ihren sexuellen Vorlieben mehr mit anderen Männern als mit Frauen gemein haben. Es sei sogar möglich, dass sie mehr mit den Männchen anderer Spezies als mit Frauen gemein haben, mit Schimpansen etwa, mit Ziegenböcken oder Hunden, vor allem mit Hunden, wie sie mir ja bereits zuvor erklärt hatte. Dies sei nicht beleidigend gemeint, fuhr sie fort, schon gar nicht für einen Mann. Ich möge sie korrigieren, wenn sie sich irre, aber sei es nicht richtig, dass es Männer stärker nach einem Orgasmus als nach Zärtlichkeit verlange? Sei es nicht richtig, dass für einen Mann das wesentliche Ziel des sexuellen Aktes darin bestehe, seinen Samen in ein passendes Gefäß zu ergießen oder auch in ein unpassendes, sofern nichts anderes verfügbar sei? Sie wolle nicht zynisch klingen, aber es stimme doch, dass die Kluft zwischen Mann und Frau unüberbrückbar sei und einfach alles erfasse, von der Art des Genießens bis zur Bedeutung der Ehe. Echte Vereinigung sei unmöglich, bestenfalls können wir uns ein erträgliches Zusammenleben erhoffen. Darauf erwiderte ich nichts. An ihrer Rede überraschte mich weniger der Inhalt als die Tatsache, dass Dimple sie auf Englisch gehalten hatte, in fließendem Englisch, und ich fragte mich, wann sie so gut geworden war.
Später, als mir die Augen zufielen, träumte ich, ich ginge durch Flure in einem Haus, in dem man schon lang den Strom abgestellt hatte. Ich folgte dem Geräusch von fließendem Wasser durch unbeleuchtete Flure bis ans Ende und darüber hinaus in ein Zimmer. Es dauerte einen Moment, bis ich die auf mich wartende Gestalt auf dem Bett erkannte. Alte Freundin, sagte ich, erzähle mir die Geschichte deines Todes, und bitte, du musst dir Mühe geben, denn nur dann können wir miteinander reden. Dimple lächelte höflich. Was, fragte sie, ich kann dich nicht verstehen. Ich sagte: Gib dir Mühe, große Mühe. Wie du willst, sagte sie, dies ist dein Haus, aber warum machst du nicht die Fenster auf? Du solltest bei Vollmond keinen Strom verschwenden. Zünde stattdessen eine Kerze an und öffne die Fenster. Draußen auf der Straße brannte nur eine einzige Laterne. Ein Hund mit gebrochenem Bein humpelte ins Licht. Die Straße schien sich zu winden, und ich begriff, dass sie unter Wasser stand. Ich hörte das Wasser ans Haus schlagen und roch die Chemikalien, die auf seiner Oberfläche trieben. Sei dankbar, sagte Dimple, viele Menschen haben nicht einmal dies. Und dann fuhr sie fort: Ich starb im Dezember um drei Uhr nachmittags. Man ging auf der Promenade spazieren. Ein kleines Mädchen fragte: Ist dies das Meer oder der Ozean? Und die Mutter antwortete: Trink deinen Kokossaft und halt einen Moment lang die Klappe. Bis auf einige Krähen waren die Gedenkbänke leer. Ein Paar schaute hinaus auf die See, und mir fiel auf, dass die Frau schwanger war; außerdem kam es mir so vor, als wären die beiden tot, so wie alle Leute auf der Promenade, doch unter den vielen Toten, die spazieren gingen, war ich so tot wie niemand sonst, und ich war mit Blut bedeckt, mit meinem eigenen oder dem von jemand anderem, das
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wusste ich nicht. Das Meer lag still zwischen dreckigen Mangroven, und ich malte mir aus, ich sei die Flut, die sich um die Felsen am Musikpavillon sammelte, eine schmutzige, blutgeränderte Flut, die verebbte und dann versiegte. Willst du wissen, was als Nächstes geschah? Ich starb, und meine Seele hing kopfüber in einer Höhle voller Kreaturen, die auf ihre Geburt warteten, hing kopfüber viele Jahre oder Stunden. Ein Hinweis war vor langer Zeit auf die Mauer gepinselt worden, Pit Loka stand da, Welt der Vorfahren, und obwohl die Buchstaben bereits verblasst waren, hielt sich eine Gruppe von uns ständig dort auf, als könnte die Nähe zu den Wörtern bewirken, dass wir bald ins Land der Lebenden zurückkehrten. Nur kann ich nicht zurück, außer so, außer teilweise.
»Ich freue mich, dass du wieder da bist«, sagte ich.
»Ich war die ganze Zeit hier. Was ich getan habe? Ich weiß nicht. Die Leute erzählen mir Geschichten, vertrauen mir Geheimnisse an. Sie sind nett, weil sie mich mögen, und sie sagen mir, was ich zu erwarten habe.«
»Was sagen sie denn?«
»Das Gleiche, was ich dir jetzt sage, dass wir hier sind, in deiner Nähe, unsichtbar natürlich, aber wir sind hier.«
»Wo?«
»Ich kenne keinen Menschen, der so viele Fragen stellt«, sagte Dimple, blickte aus dem Fenster und lächelte. »Auf der anderen Seite des Spiegels pressen wir die Hände ans Glas und versuchen, dein Gesicht zu berühren. Nur ein Schleier trennt uns, ein durchsichtiger Schleier, so dünn wie der, der dich von deinen Träumen trennt. Willst du mit uns reden, brauchst du nur die Hand ins Wasser zu tunken. Wir warten auf einen Blick, auf ein Wort, irgendeine Anerkennung, dass wir hier sind. Tunkst du die Hand ein, hörst du uns. Und du solltest zuhören. Selbst wenn du es unerträglich findest, solltest du zuhören.«
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Rumi über Zuhälter
Ich belauschte zufällig ein Gespräch, nein, eher einen Streit zwischen einem Zuhälter und einem großgewachsenen Mann mit einem Kastenzeichen auf der Stirn. Der große Mann trug Cowboystiefel und weigerte sich, sie an der Tür auszuziehen. Ich konnte nicht verstehen, was der Zuhälter sagte, die Stimme des anderen Mannes aber war kaum zu überhören. Er erklärte dem Zuhälter, das Gesetz von Angebot und Nachfrage gelte überall, auch in den Jauchegruben der verdammten Dritten Welt. Das ist doch kindisch, sagte er. Sie sollten es nicht persönlich nehmen, wenn Ihre Huren unbeliebt sind. Überlegen Sie lieber, wie Sie das Problem aus der Welt schaffen. Könnte sein, dass Sie nur einen USP brauchen. Eine regelmäßige medizinische Vorsorgeuntersuchung, das ist die Lösung, mein Freund. Die Untersuchungsergebnisse werden für alle lesbar an die Wand geheftet, allerdings nur, wenn nichts gefunden wurde. Der Zuhälter war ein pockennarbiger Riese mit Zähnen, die zu groß für seine Lippen waren. Sein Mund stand offen, als hechelte er, doch die Stimme blieb gefasst. Er sagte: Haben Sie mich kindisch genannt? Er gebrauchte dasselbe Wort aus dem Hoch-Hindi, das auch der andere Mann benutzt hatte: ›bachpana‹, dabei hätte er zulangen und seinem Gegenüber den Garaus machen können, ohne dass es ihn auch nur einen einzigen Schweißtropfen gekostet hätte. Was ihn zurückhielt, war die Miene im Gesicht des Fremden, der ihn so gelassen musterte, als trüge er eine Pistole unterm Hemd oder zumindest doch ein Messer.
»Bloß bekifftes Gequatsche«, sagte der Mann, sobald der hundegesichtige Zuhälter gegangen war. Er trug Kopfhörer um den Hals, und ich hörte eigenartige Musik herauspulsen. »Ich habe was gesagt, er hat sich aufgeregt, und dann hat er sich verdammt nochmal wieder beruhigt. Soll ich Ihnen was verraten?«
Er senkte die Stimme ein wenig, was auf die Männer um uns herum nur wie ein Signal wirkte. Er sagte: Man darf eine kleine, aber überaus wichtige Tatsache niemals vergessen: Zuhälter sind Feiglinge. Zuhälter sind Abschaum. Zuhälter verdienen ihr Geld mit den Schwachen und Gebrechlichen, mit Männern und Frauen, die ihren Lebenswillen verloren haben, die niemals kämpfen oder Widerstand leisten, die sterben wollen. Sobald man begriffen hat, dass ein Zuhälter ein feiger kleiner Schisser ist, gibt es kein Problem mehr; man kann sich ihm stellen wie ein Mann. Man muss eben den Tatsachen ins Auge sehen, und Tatsache ist: Das Leben ist ein Witz, ein beschissen schlechter Witz, nein, ein schlechter Scheißwitz. Sinnlos, es ernst zu nehmen, denn was auch passiert, und ich meine, scheißegal was, die Pointe ist immer dieselbe: Man beißt ins Gras. Kapiert? Es gibt verdammt nochmal nichts zu kapieren.
Ich dachte: Er will mich beeindrucken. Ich dachte: Chandulis sind Sklaven der Pfeife; das lässt uns in der Welt schlechter dastehen, was wir mit Prahlereien und Lügen zu kompensieren versuchen.
Dann richtete sich der große Mann auf und schrie Bengali quer durch den Raum zu: »He, Boss, krieg ich heute noch irgendwann meine Pyali? Ich bin seit einer halben Stunde hier und habe keine Lust, noch länger zu warten.« Irgendwer hüstelte, dann wurde es still. Äußerst widerwillig, wie mir schien, stellte Bengali eine Pyali auf Dimples Tablett.
»Ich glaube, man mag Sie hier nicht besonders«, sagte ich.
»Ach, scheiß drauf, ohne mich abzusichern würde ich nie in eine Kaschemme wie diese gehen.« Er schaute bedeutungsvoll auf seine Aktentasche. »Und? Wo kommen Sie ursprünglich her?«
»Aus Kerala in Südindien.«
»Undu Gundu Land. Ich weiß, wo das ist. Haben Sie deswegen Ärger?«
»Wenn ich den Fehler begehe, die Einheimischen hier auf Malayalam anzureden, dann ja.«
»Einheimische? Wie mich, meinen Sie? Ach was, keine Sorge, die Dinge ändern sich, euch Südländern passiert hier schon nichts. Wir sind auf größere Beute aus.« Er senkte die Stimme und sagte: »Mossies.«
»Lautet so die neue Strategie, die Ihnen Freunde und ein gutes Einkommen sichert?«
Er stützte sich auf einen Ellbogen, um mich besser ansehen zu können. »Vorsicht, mein Freund, mit dem, was Sie da sagen. Bestimmt haben Sie die Wampe voll Opium, und deswegen ist Ihnen alles egal. Oder Sie wollen abnibbeln und überlegen, wie's am schnellsten geht. Kann auch sein, Ihr Schädel ist nur voller Wanzen so wie meiner.« Er lächelte, ein breites, herablassendes Lächeln, und hielt mir die Hand hin, der Griff fest und feucht. »Wie auch immer, ich heiße Rumi. Und Sie?«
»Dom.«
»Mit so einem Namen sind Sie echt beschissen dran. Da haben Sie mit diesen Leuten wirklich nur die Pfeife gemein.«
»Was ist das für Musik, die Sie hören?«, fragte ich.
Er gab mir die Kopfhörer. Ein schriller Klang wie der Soundtrack eines Films, in dem Szenen beliebig aneinandergereiht waren, oder man hatte den Film zerschnitten und spielte die Abschnitte nun rückwärts ab oder absichtlich ganz durcheinander. Flaschen klirrten, eine Tür knarrte auf. Ein Schuss fiel. Ein Kind flüsterte: Ist er da? Wo ist er? Eine Frau weinte und sagte: Nahi, nahi. Da war das Geräusch von Wasser, das aus großer Höhe herabprasselte. Eine Tür fiel quietschend zu, eine Flasche zerbarst auf Fliesenboden. Die hohe Stimme einer Frau stürzte durch die Oktaven, ein Schuss fiel. Ein Mann hechelte wie ein Hund. Ein Kind weinte, und Wasser schlug an ein Boot oder einen Toten. Champagnerkorken knallten, es klingelte an der Tür. JamesBond- Gitarren spielten gegen ein Cowboy-Streichorchester an. Das Kind sagte: Er ist hier. Wo ist hier? Die Stimme der Frau, mit Hall und Whisky unterlegt, absolvierte einen weiteren perfekten Höhensturz, und ich meinte plötzlich, in die Tiefe zu sinken, ein Gefühl wie ein Schwindelanfall. Ich hörte das Geräusch von Wasser, und Dimple reichte mir die Pfeife. Ich setzte sie an die Lippen, hörte einen Mann ›Monica‹ rufen, ›mein Schatz‹ und fühlte mich so schwindlig, dass ich die Augen schließen musste. Dann fragte eine Frau: Ist er da?, und ein Kind flüsterte: Nahi; es fiel ein Schuss, und alles wurde still. Ich nahm die Kopfhörer ab und gab sie Rumi zurück.
Er sagte: »Bombay Blues.«
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Bombay, eine Stadt, die ihre eigene Historie verwischte, indem sie sich einen anderen Namen gab und chirurgisch ein anderes Aussehen, ist Heldin, auch Heroin dieser Geschichte, und da ich es bin, der diese Geschichte erzählt, und du nicht weißt, wer ich bin, lass mich sagen, dass wir zum Wer noch kommen, allerdings nicht jetzt, bleibt uns doch Zeit genug, nichts zu überstürzen, die Lampe anzuknipsen, das Fenster zum Mond zu öffnen und uns einen Augenblick zu gönnen, um von der großen und gebrochenen Stadt zu träumen, denn wenn der geschäftige Tag beginnt, muss ich aufhören, schließlich sind dies Nachtgeschichten, die im Sonnenlicht schwinden wie der Staub von Vampiren, aber warte, steck mich an, damit wir es richtig machen, ja, halt mich still an die Flamme, halt ein, halt, gut, ein gemächlicher Zug für den Anfang, der Rauch sanft in die Lungen gesogen, ja, ach ja, noch ein Zug für die Nase, etwas Süßes für den Mund, so, jetzt können wir beginnen, ganz von vorn, mit jenem ersten Mal bei Rashid, als ich mir den blauen Rauch von der Pfeife ans Blut steppte, ans Auge ans Ich an die blaue Welt dort draußen - und nun kommen wir auch zum Wer, weshalb ich dir sagen kann, dass das Ich, das Ich, das du dir nun vorstellst, ein denkender Jemand, der diese Worte aufschreibt, der die Zeit in logisch chronologische Ordnung bringt, jemand also mit einem übergeordneten Plan, ein Ingenieurgott in der Maschine, nun, dass dieses Ich nicht das Ich ist, das diese Geschichte erzählt, vielmehr ist es das Ich, das erzählt wird, wobei ich an meine erste Pfeife bei Rashid denke, das Gedächtnis nach Bildern durchkämme, einem Gesicht, einem Fetzen Musik oder dem Klang einer Stimme, in dem Versuch, mich zu erinnern, wie sie war, die Vergangenheit, sie zu erinnern, wie ich mich an eine Landschaft erinnern würde oder an das Licht in einem fernen Land, denn eben das ist sie, weder Fiktion noch tote Geschichte, sondern ein Ort, an dem man einst lebte und an den man nicht zurückkehren kann, weshalb ich mir ins Gedächtnis zu rufen versuche, wie es kam, dass ich in New York solchen Ärger hatte und nach Bombay zurückgeschickt wurde, um wieder clean zu werden, wie ich Rashid fand und eines Nachmittags mit einem Taxi durch müllverminte Straßen fuhr, voll mit menschlichem, animalischem Abfall und den Ärmsten der Armen, überall Arme, die in Lumpen verstört durch die Gegend stolperten oder bloß herumstanden und starrten, wobei ich nichts Ungewöhnliches daran fand, dass sie barfuß gingen, dass sie wirkten, als hätten sie sich längst aufgegeben, und ich, ich rauchte eine Pfeife, woraufhin mir den ganzen Tag schlecht war und ich Gewisper hörte in meinem steinernen Schlaf, Gewisper über Pathar Maar, den Steinkiller, der nachts die Stadt patrouillierte, Gewisper, das von den Bedürftigen aufstieg, Gewisper darüber, wie er die Arbeiterbezirke Sion und Koliwada durchstreifte und die Armen im Schlaf umbrachte, sich jenen näherte, die allein schliefen, sich in der Nacht an sie heranschlich und sie tötete, nur wurde niemand darauf aufmerksam, weil seine Opfer ärmer waren als arm, unsichtbare Existenzen waren sie, ohne Namen, Papiere oder Familien, und er tötete sie mit Bedacht, ein halbes Dutzend Männer und Frauen, Gehwegschläfer aus den nördlichen Vororten, wo Abwasserkanäle die Straßen säumen, Schlamm mit ölig grünem Schimmer; das ganze Jahr war er ein Unterweltgewisper, den oberen Klassen unbekannt, bis er in die Schlagzeilen geriet, und ich in meinem Wahn meinte, sein Mitleid und die Angst zu verstehen, meinte, in ihm einen Samariter sehen zu können, den wahren Erlöser der Opfer eines verfehlten Experiments, des sozialistischen Planstaates Indien, jemand, der ihr Elend zu beenden suchte, dieser Pathar Maar, dessen Mission es war, die Armut auszumerzen, so meinte ich, auf dem Rücksitz des Taxis tief in die eigene Armut versunken, ins bombaybraun schattierte Polster gelehnt, während ich den Fahrer bat, langsamer zu fahren, als wir die Frauen passierten, und ich - ehrlich, es ist wahr - das Gesicht der Amme sah, die auf mich aufgepasst hatte, als ich noch klein war, eine dunkle Frau, die freundlich lächelte, wenn ich sie schlug, und ich wusste, sie war es, gestrandet im Sackgassenbezirk, dort, wo die Frauen in Güteklassen eingeteilt und ausgepreist werden, zur Schau gestellt in sämtlichen Straßen, in allen Gossen und Häusern, Frauen aus dem fernen Norden, aus dem Süden, von überall her, neu oder gebraucht, verscherbelt oder fortgegeben, heruntergehandelt, fast umsonst, ich wusste, dass sie es war, ließ aber nicht anhalten, obwohl das Taxi nun hinter einem Jeep herkroch, auf dem GOVERNAMENT OF INDIA stand, und als der Fahrer das Rashid's anhand der Adresse ausfindig machte, die ich ihm gegeben hatte, nahm er an, ich wolle zu den Käfigen, den billigsten Zimmern der Straße, wo die Frauen fünf Rupien und aufwärts kosten, weshalb er auf die Häuser mit außen an die Blumenkästen gemalten Nummern zeigte und sagte: »Nummerhäuser sind besser«, zu den Straßenhuren hinübernickte, zu den Frauen in den Käfigen, und sagte »die sind dreckig«, während ich aus dem Taxi ins Chaos stieg, weil ein Büffelkarren zusammengebrochen war, und rasch eine Menge zusammenströmte, um das Tier zu beglotzen, das auf der schmalen Straße kniete und den Fuhrmann, der darauf eindrosch in scharf und methodisch aufflackernder Wut, ansonsten aber ruhig wirkte, weder fluchte noch schwitzte, der die Peitsche auf und nieder schwang, auf und nieder, derweil in Sägemehl gehüllte und säuberlich geordnete Eisplatten auf dem Karren dahinschmolzen und überall die Armen warteten, die Verstörten, und zusahen, wie ich es gleichfalls tat, ehe ich die Stufen zum ersten Stock hinaufeilte, der Adresse, die mir genannt worden war, um dann im Eingang stehenzubleiben und den Anblick in mich aufzunehmen, den Geruch nach Melasse, Schlaf und Krankheit, die Frau an der Pfeife, die mit langer Nadel das Opium kochte und deren Hand sich bewegte, als würde sie stricken, einige Raucher auf hölzernen Pritschen, ein über einen Ofen gebeugter alter Mann, der blubberndes Opium inhalierte, und alles, was in diesem Raum passierte, geschah auf dem Boden, Schlafmatten und Kissen ausgebreitet oder zusammengefaltet, ein Kalender an der Wand mit dem Foto einer Moschee - hör zu, warte kurz und zünde noch einmal an oder lass mich es machen, ja, ach ja, so ist's gut, wunderbar, welch herrliche Meditation, nein, mehr als eine Meditation, eine Glückseligkeit, die es der Ruhe erlaubt, den Geist zu umfangen, und die das Tempo erträglich werden lässt, ja, wie schön - und nun, in derselben Stadt, nur ein Leben später, da sind wir, Ich und Ich, was nicht nach Ras- tafari-Manier wir heißen, sondern nur die beiden Ich- Maschinen trennen soll, den Mensch und die Pfeife, das Wer und das Wer, beim Erzählen dieser Geschichte aus lang vergangener Zeit, als ich eine Pyali rauchte und mir den ganzen Tag schlecht war, mein erstes Mal auf der Shuklaji Street, neu auf der Straße, neu in der Stadt, fremd, weil ich mich nicht auskannte, fremd in der Hektik menschlicher Geschäfte auf den Gehwegen und in den Läden, wusste ich doch, mir fehlten die Fähigkeiten, der Schritt zu langsam, die Aufmerksamkeit aufs Falsche gerichtet, da ich im Kopf nicht ganz da war und dieses Teilweise, diese nur halb anwesende Abwesenheit, war meinem Gesicht anzumerken, Leute schauten mich an und sahen Jetlag, erkannten einen spirituellen Mangel, und so ging ich zu Rashid, legte den Kopf auf ein Holzkissen, streckte mich lang aus und versuchte, es mir bequem zu machen, als ich überrascht merkte, dass der Alte, der nickend überm Kochtopf stand, Englisch redete und sich in der Sprache eines todbesessenen, religionsversessenen Landes lebender Heiliger an mich wendete, um zu fragen, ob ich ein Christ aus Syrien sei, da ihm mein koptisches Kreuz um den Hals aufgefallen war und er wusste, Katholiken würden diese Art Kreuz niemals tragen; natürlich hatte er recht, ich war syrischer Christ, ein Jakobit, um die unterste der Untersekten genau zu benennen - ach, so gut, dieser Rauch, der letzte Zug von der letzten Pfeife in der letzten Nacht dieser Welt - der Alte, der Bengali hieß, sagte: »Tja, wenn das so ist, kannst du mir vielleicht eine Frage beantworten, die mich schon lange beschäftigt, ich meine, die besondere Art und Weise, in der das Christentum in Kerala Fuß gefasst hat, und wie sich die Hindi in Kerala nicht dem Christentum, sondern sie das Christentum sich selbst angepasst haben, mitsamt den alten Einteilungen in Kasten, und - dies ist nun meine Frage - hätte Jesus ein in Kasten unterteilendes Christentum gebilligt, wo doch sein ganzes Projekt darauf hinauslief, derlei abzuschaffen, ein Mann, der sich mit den Armen verbrüderte, mit Fischern, Leprakranken und Prostituierten, den Siechen, Sterbenden und mit Frauen, ein Mann, dessen Wahn- und Zwanghaftigkeit ihn drängte, sich für die Ärmsten der Armen einzusetzen, drehte sich in seiner Botschaft doch alles um Gottes bedingungslose Liebe, ganz unabhängig von jeglicher gesellschaftlichen Stellung?«, nur welche Antwort hätte ich geben können, da er keine erwartete und schon vor sich hinnickte, während ich der Frau zusah, Dimple zusah, und irgendwas an der unaufgeregten Art, wie sie die Pfeife zubereitete, mich besänftigte, wie sie die Kochnadel in die winzige Messing- Pyali mit flachem Rand tunkte, die Pyali fingerhutgroß, bis obenhin mit Melasse gefüllt, einer Flüssigkeit in Farbe und Konsistenz wie Öl, und sie rollte die Nadelspitze in Opium, hob es an die Flamme, ließ es brodeln und hart werden und wiederholte die Prozedur, bis sie einen Klumpen von der Größe und der Farbe einer Walnuss hatte, pochte mit der Nadel gegen den Pfeifenschaft, um mir zu verstehen zu geben, dass meine Portion fertig war, was sie auch war, nur war die Pfeife zu lang, ich fand sie zu schwer, sogar als ich daran saugte, während Dimple den Pfeifenkopf in die Flamme hielt, war mir das Mundstück zu groß, der Geschmack zu herb, weshalb, als die Pfeife verstopfte, Dimple sie forsch wieder an sich nahm, um noch einmal mit der Nadel zu helfen und auf Englisch zu sagen: »Rauch, zieh fester«, woraufhin Rashid ergänzte: »Nimm dir ein Beispiel an Dimple, sie zeigt's dir«, und das tat sie, warf ihr Haar aus den Augen, brachte die Pfeife gekonnt und elegant an die Lippen, nahm einen langen, perfekten Zug, der Rauch schien zu verschwinden, und als sie die Pfeife zurückgab, war ich mir sehr bewusst, dass sie in ihrem Mund gewesen war, während Dimple sagte: »Zieh tief und fest und zieh immer weiter, hör nicht auf, denn wenn du aufhörst, verbrennt das Opium, und mit verbranntem Opium kann man nichts anfangen, das kann man nur wegwerfen, also zieh, bis du nicht mehr ziehen kannst«, und ich in meiner Unwissenheit fragte: »Nehm ich einen einzigen langen Zug?«, »Kannst du, aber dann musst du den Rauch in deiner Lunge behalten. Besser sind kurze Züge.« »Wie lang halt ich die Luft an?« »So viele Fragen. Hängt davon ab, wie viel Nasha du willst. Halt den Rauch in dir, solang du willst, aber steck nicht die ganze Pfeife in den Mund, das ist unhöflich«, woraufhin ich »Tut mir leid« sagte, hastig die Pfeife aus dem Mund nahm und sie behutsam wieder an die Lippen führte, sie sorgsam ansetzte, mir Zeit ließ und verstand, dass es bei Opium vor allem auf die Etikette ankam, auf ein Rhythmusgefühl, das sich um den Mund konzentriert und darauf, wie man die Pfeife in Relation zum Körper hält, lunare Ebben und Fluten von Rauch, der erst die Lunge füllt, dann die Adern, und kaum blickte ich auf, lächelte sie, Bengali ebenso, und Rashid sagte: »Hier heißt es, man solle nur seinen schlimmsten Feind mit dem Opium bekannt machen, also ist Dimple vielleicht deine schlimmste Feindin«, und ich dachte, ja, vielleicht ist sie's aber auch nicht, vielleicht ist Ich es, vielleicht ist das Opium das Ich, und das Ich ist unzuverlässig, mein Gedächtnis wie Löschpapier, mein durchlöchertes, poröses, zerschreddertes Ungedächtnis, das sich an Einzelheiten von vor dreißig Jahren erinnert, für das der heutige Morgen aber eine Leerstelle bleibt, und wenn Gedächtnis = Schmerz = Menschsein, dann bin ich kein Mensch, dann bin ich die Pfeife Opium, die diese Geschichte im Verlauf einer einzigen Nacht erzählt, und ich, womit nun das andere Ich gemeint ist, ich schreibe sie bloß auf, unverändert übertragen vom Mundstück der Pfeife, derselben Pfeife übrigens, die Dimple mir beim ersten Mal gemacht hat, nur ist das eine andere Geschichte, eine für später - okay, los geht's, jetzt kommen wir zum besten Teil, den Träumen, die keine Träume sind, sondern Gespräche, Heimsuchungen abwesender Freunde, eine lärmende Prozession hinter deinen geschlossenen Augenlidern, deinen wachen, träumenden Augen, und nur manchmal weckt dich eine Stimme, die eigene Stimme, die mit jemandem redet, der nicht da ist, denn du bist allein, liegst auf dem Rücken, segelst über das Opiummeer, nein, diesmal verzichte ich, mir geht's prima, prächtig sogar - dasselbe Ich, dem, als man mich ins Gefängnis steckte, auffiel, dass die Zelle kaum kleiner als das Zimmer war, in dem ich damals in der Upper East Side wohnte, als man mich erwischte, wie ich Dope kaufte, total auf Downers, woraufhin der weiße Cop seine Waffe zog, mich durch die Straßen verfolgte und ich in eine Sackgasse lief, mich umdrehte, in meine Tasche fasste, um ihm die Tütchen zu geben, und der Bulle nicht schoss, aus irgendeinem Grund hat er nicht geschossen, mich nur in seinen Wagen bugsiert und ins Gefängnis gebracht, wo, wie gesagt, die Zelle klein war wie das Zimmer, in dem ich wohnte, und ich war ganz froh, dort zu sein und am Leben, und erst später brachte man mich nach Indien zurück, wo ich Bombay fand und das Opium, die Droge und die Stadt, die Opiumstadt und die Droge Bombay - okay, noch Zeit für eine auf die Schnelle, fast ist die Nacht schon um, eine Pfeife auf die Schnelle, damit das O-Boot übers Melassemeer segelt, nur werde ich diesmal nichts weiter tun, bloß den Kopf wenden und inhalieren, du erledigst den Rest -, habe schließlich von jeher versucht, das eine vom anderen zu trennen oder auch nicht, jetzt aber erliege ich der Versuchung, ich trenne nicht, ich verbinde, ich lasse mich auf die Geschichten ein, stecke die Pfeife an, eine für mich und eine für mich, schmecke sie ein letztes Mal, genieße die Farbe und den Duft, das Aroma, ja, genau so, gut, und dann halte ich inne, denn jetzt ist Zeit, in Stille zu versinken und das andere Ich sprechen zu lassen.
Erstes Buch
Die Stadt O
1
Dimple
Ehe Dimple zu Zeenat wurde, arbeitete sie halbtags bei Rashid und verschwand abends in Richtung Hijrabordell. Ich rauchte auch dann an ihrem Platz, wenn andere Pfeifen frei waren, und wir unterhielten uns, wie sich Raucher unterhalten, horizontal, mit langen Pausen, unsere Worte so leise, dass sie wie die unverständlichen Äußerungen kleiner Kinder klangen. Ich stellte die üblichen dummen Fragen. Was ist besser, ein Mann oder eine Frau zu sein? Dimple antwortete: Geht es um Gespräche, ist man besser eine Frau, für alles andere, für Sex, zöge sie es vor, ein Mann zu sein. Dann fragte ich, ob sie ein Mann oder eine Frau sei, und sie nickte, als würde ihr diese Frage zum ersten Mal gestellt. Damals war sie etwa fünfundzwanzig und besaß die Angewohnheit, sich das Haar in die Augen zu schütteln und grundlos zu lächeln, ein nettes Lächeln, wie ich mich erinnere, ein Lächeln ohne eine Andeutung all jener Veränderungen, die ihr bevorstanden.
Sie sagte: Frau und Mann sind Wörter, die andere Leute benutzen, ich nicht. Ich weiß gar nicht genau, was ich bin. An manchen Tagen bin ich weder noch oder auch gar nichts, und dann wieder komme ich mir wie beides vor. Wenn aber Männer und Frauen so unterschiedlich sind, wie kann ein Mensch da beides sein? Ist es nicht das, was du dich fragst? Nun, ich bin beides, und ich habe zu meinem Leidwesen manches lernen müssen, was man besser nicht wissen sollte, wenn man in dieser Welt leben will. So weiß ich zum Beispiel etwas über die Liebe, weiß, dass Liebende sich verzehren und verzehrt werden wollen, dass sie ineinander aufgehen möchten. Ich weiß, wie sehr sie sich danach sehnen, aus zweien eins werden zu lassen, und ich weiß auch, dass dies nie geschehen wird. Was noch? Frauen sind biologisch und emotional weiterentwickelt, das ist allgemein bekannt und offensichtlich. Allerdings vermengen sie Sex und Seele; sie trennen nicht. Männer dagegen trennen immer, wie du weißt: Sie trennen zwischen ihrer menschlichen und ihrer hündischen Natur. Und dann sagte Dimple: Ich würde dir gern mehr darüber erzählen, da ich, wie du dir denken kannst, dazu allerlei zu sagen habe, doch was würde das bringen? Es besteht ja kaum Hoffnung, dass du mich verstehst, schließlich bist du ein Mann.
In Gesprächen mit ihren Kunden hatte sie Englisch gelernt, und sie brachte sich selbst das Lesen bei. Das Alphabet beherrschte sie gut genug, um einige Wörter in Zeitungen und Filmzeitschriften entziffern zu können, auch in jenen Taschenbüchern, die Kunden in der Khana liegenließen, oder sie las die Beschriftungen von Waschmittelpackungen und Zahnpastatuben. Manchmal bekam sie Bücher von Bengali, meist über Geschichte, auch über Philosophie und Geographie, oder aber illustrierte Biographien mit Titeln wie Große Denker des Zwanzigsten Jahrhunderts und Einhundert berühmte Männer der Welt. Er stöberte die Bücher in den Zeitungsläden unweit der Shuklaji Street auf, einem zentralen Umschlagplatz für Altpapier, Lumpen, Spielzeug und Trödel aller Art. Er gab sie ihr, und sie las sie heimlich, da sie beim Lesen nicht gesehen werden wollte. Sie las, wie ungebildete Menschen lesen, schaute sich gern die Umschläge an, malte mit dem Finger den Titel nach und freute sich, wenn es ihr gelang, eine Zeile oder ein Wort zu enträtseln.
Ich lag lang ausgestreckt, die Khana ansonsten leer in dieser toten Nachmittagsstunde, als Dimple mich fragte, was ich für ein Buch lese. Das ist kein Buch, sagte ich, es ist ein Magazin mit einer Geschichte über einen indischen Maler, der in London lebt.
»Time. Was für ein großer Name für so ein kleines Buch. Ist der Maler berühmt?«
»Hier nicht, in England schon. Er hat die Schule geschmissen. Nein, falsch: Er wurde der Schule verwiesen, weil er die Jungentoilette mit pornographischen Wandgemälden verzierte, schaffte es aber auf die Kunstschule und bekam ein Stipendium für Oxford. Die vornehmen Engländer hielten ihn für eine Art gelehrten hinduistischen Mystiker, hier aber steht, er male Christus mit weit größerer Autorität als jeder britische Künstler.«
»Lies.«
»Newton Pinter Xaviers Kunst ist das mit verheerender Wirkung zur Explosion gebrachte Schuldgefühl der Katholiken. Er malt nicht, er schlitzt auf und weidet aus. Seine überarbeiteten Christi sind wirkmächtiger als die von Bacon, da sie sich uns ohne Kontext präsentieren, zumindest ohne Bezüge, die wir in einem irdischen Bezugsrahmen zu deuten wüssten. Sie haben sich von der Geschichte losgelöst. Und was die Geographie betrifft, bleiben sie entschieden außerhalb des britischen und, so darf man annehmen, auch außerhalb des indischen Wirkkreises. Sie triefen vor Sex, Ketzerei und den Resultaten einer wahllosen Lektüre der Psychopathologie des Alltags, sie ...«
»Genug, hör auf, es reicht. Zeig mir die Bilder.«
Die Redaktion hatte mehreren Reproduktionen von Xaviers Gemälden Platz eingeräumt. Da sah man einen blutverschmierten Christus, umringt von Dornen groß wie Eisenbahnschwellen, so dass die Gestalt selbst winzig wirkte, geschändet vor bluttriefendem Hintergrund. Und es gab ein Selbstporträt sowie zwei unbarmherzige Nackte, weiche, weiße Leiber, hingestreckt auf rostfreiem Stahl, die tote Haut runzelig im harschen Neonlicht. Stumm betrachtete Dimple die Bilder. Dann reichte sie mir das Magazin zurück und blinzelte mich an, als könnte sie nicht richtig sehen. Sie sagte: Er ist so wütend, dass er nicht klar denken kann, so wütend, dass er gemeingefährlich ist. Er will alles ins Hässliche ziehen, will die Welt ermorden. Wie, fragte sie, kannst du so einem Mann vertrauen? Wie kannst du seiner Meinung sein, wenn er sagt, dass die Menschen krank sind und den Tod verdienen?
Nach einer Weile bat sie mich, ihr noch etwas vorzulesen, und langte unter die Pritsche, um ein auf Schülermanier in braunes Packpapier geschlagenes Lehrbuch vorzuziehen: Das neue universale Unterrichtsbuch für Nichtchristen: Geschichts- und moralwissenschaftliche Prüfungsmaterialien. Unter dem Titel stand der Name des Autors: S. T. Pande, Professor für Geschichte an der Universität Baroda. Sie hielt mir das Buch hin, schlug eine zuvor markierte Seite auf, und ich las einige Zeilen.
»Gründer und Namensgeber des Christentums war Jesus Christus, der sich mit seiner gleichermaßen manischen wie magnetischen Persönlichkeit das radikale Ziel gesetzt hatte, die hierarchischen Gesellschaftsordnungen der Welt zu Fall zu bringen. Seine Radikalität, die sich vorwiegend in Form mystischer Äußerungen manifestierte, lässt sich am besten in folgendem indirektem Zitat zusammenfassen: ›Sei nicht zufrieden mit dem Zustand der Welt.‹ Er besaß eine scharfe Zunge, die besonders Priester zu spüren bekamen, aber auch die Wohlhabenden, die Politiker, Wucherer, Juden wie Nichtjuden und Freunde wie Feinde. Manche behaupten, er habe die besondere Gabe besessen, aller Welt unterschiedslos die Wahrheit zu sagen, andere behaupten, dies sei sein Fluch gewesen. Er war der Sohn von Maria, Jungfrau und Mutter, die mit einem lieblichen, birnenförmigen Gesicht gesegnet war und deren Anhänger sie auf folgende Weise anbeten: Gegrüßet seist du, Maria, Mutter Gottes, bete für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen!
Jesus praktizierte unter anderem als selbsternannter Arzt, der Kranke durch bloßes Berühren mit dem rechten Zeigefinger heilen konnte. Ob diese Fähigkeit göttlichen Ursprungs oder schlicht eine Frage talentierten Umgangs mit Kräutern und Pflanzen war, darüber lässt sich nur spekulieren. Außer Frage steht allerdings die wundersame Wirkung, die er auf Kranke und Sterbende hatte. Deshalb wurden die Gebrechlichen zu Christen und auch die Armen, die Allerniedrigsten bekehrten sich zum Christentum, da sie darin Trost in einer dem Kastendenken verhafteten Welt fanden.«
War dies, fragte ich mich, Professor Pandes Stil? So zu schreiben, als hätte er Tag und Nacht an der Seite von Jesus und Maria verbracht, sich Notizen gemacht und Zugang zu vertraulichen Informationen erhalten, die er nun seinen glücklichen Lesern zukommen ließ? Ich sagte Dimple, dass ich den Professor, sofern er denn einer sei, für eine unzuverlässige Quelle hielt, auch wenn ich ihn durchaus unterhaltsam fände. Es sei ja nicht weiter schlimm, unzuverlässig zu sein, ergänzte ich. Wer war das schließlich nicht? Und überhaupt, was brachte es denn, so verlässlich wie ein Hund zu sein, wie ein Auto oder ein Sessel? Ich sagte, ich fände es völlig in Ordnung, solange er nicht behauptete, er wäre Historiker oder Moralwissenschaftler. Dimple kümmerte das nicht. Sie war süchtig nach Geschichten, sie war die Art Leserin, die es hasste - wenn sie denn hätte lesen können -, zur letzten Seite eines Buches zu gelangen. Also hielt ich Professor Pandes Buch aufgeschlagen über meiner Brust und fuhr fort:
»Jesus wurde auf ziemlich grausame Weise gekreuzigt, doch starb er mit einem Lächeln auf den Lippen. Diese glückliche Miene übte auf seine Jünger eine große Wirkung aus, ebenso wie die von ihm bewirkten Wunder. Überhaupt war er der perfekte Selbstdarsteller, da er auch unter ungünstigsten Bedingungen mehrmals die Woche auftrat. Einmal machte er fünftausend Menschen mit nur fünf Laib Brot und zwei Fischen satt.«
»Fünf Laib Brot und zwei Fische«, überlegte Dimple, »das heißt, mit einem halben Dutzend Fische bekäme er all die Armen von Bombay satt, nein, quatsch, nur die Armen der Shuklaji Street. Trotzdem, er hätte in Indien zur Welt kommen sollen.«
Sie trat ans Fenster und spuckte auf die Straße. Sie hatte Brandnarben an den Fingern, und die Fußnägel waren schwarz lackiert. Am Schlüsselbein prangte ein mondförmiger blauer Fleck, weshalb sie die Bluse bis oben geschlossen hielt. Für einen Moment stand sie so am Fenster, blickte auf die Straße und würde ihr Leben lang nicht mehr vergessen, wie Handkarren den Staub ins Sonnenlicht wirbelten und wie sie damals lebte, im Bordell, an der Tür die rote Nummer 007, im Bad, das sie mit den übrigen Huren teilte, ein erdnussförmiges Loch im Boden, in das sie pinkelten, sie alle, auch die Kunden. Sie erinnerte sich an die Frauen, mit denen sie arbeitete, die jungen und nicht mehr so jungen Frauen aus vielerlei Dörfern und Städten, aus Secunderabad und Patna, Kalkutta und Katmandu, nach Bombay geschickt, um Geld für die Familien zu verdienen, Geld, das daheim nie ankam, da die Bordellmütter vergaßen, es abzuschicken. Und Dimple würde sich auch daran erinnern, dass sie um diese Zeit beschloss, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen, damals, als sie zu lesen begann, den Kopf auf der Pritsche, im Schneidersitz oder vornübergebeugt, wie sie mühsam die Buchstaben entzifferte, bis der Schlaf sie überkam. Beim Aufwachen wusste sie, dass ihre Zeit im Bordell dem Ende zuging, dass sie bald gehen würde, dass sie wahr werden würde, die Zukunft, falls sie, Dimple, nicht in ihrer Entschlossenheit nachließ, wenn sie nur durchhielt, und sie wusste, was auch geschah, was immer sie auch erreichte oder nicht erreichte, würde Zeugnis ablegen von ihrer Zeit im Bordell.
Geschah es an diesem oder einem anderen Nachmittag, dass sie eine Ausgabe von Sex Detective hervorholte, jenes Journal für wahre Verbrechen, nach dem Bengali so süchtig war? Sie blätterte, bis sie die Fotogeschichte fand: Verheirateter Schürzenjäger erhält verdiente Strafe. Im ersten Bild schenkt ein Mann in Blumenhemd und Schlaghose einer vollbusigen Frau eine Sonnenblume. Der dazugehörige Text steht in Comicsprechblasen. Dimple zeigte auf die Stellen, die ich ihr vorlesen soll.
»›Wie schlau von Ihnen. Sie schenken mir eine Blume und wollen dafür die Blume meiner Jugend pflücken.‹ Ihr heißer Atem vereint sich. Augen verraten, wie groß das Verlangen ist. Prakash und Priya kommen einander näher, um sich an den Säften der Liebe zu ergötzen. ›Deine aufreizende Berührung betört die Blume, Prakash, bitte, netze die Jungfräulichkeit der Blüte mit den Tropfen deiner Manneskraft.‹ Prakashs Finger berühren Priyas Lippen und erwecken ihren Leib.«
Unwillkürlich lese ich die Passage mit eigenwilliger Betonung vor, mit abschätzigem, auch scherzhaftem Unterton, und Dimple fragt, warum ich mich darüber lustig mache.
»Und warum bist du so ernst? Es ist nur eine Geschichte; jemand hat sie sich ausgedacht.«
»Geschichten sind wahr. Begreifst du nicht, dass sich diese Leute ins Verderben stürzen? Gib mir mein Buch zurück.«
»Das ist kein Buch.«
»Nein?«
»Und das hier ist keine Pfeife.«
»Genug. Du träumst mit offenen Augen.«
Vermutlich hatte Dimple die Idee von der Tai oder den Prostituierten im Bordell, und so wie Dimple nun einmal war, wuchs sich das Ganze zu einer Art Unterrichtsstunde aus, einer kleinen Vorlesung. Sie sagte, sie hätte mir etwas mitzuteilen, etwas, das ich nicht persönlich nehmen solle. Sie sagte, sie erzähle mir dies wegen der Fragen, die ich ihr gestellt hatte, und weil ihr erst jetzt klargeworden sei, was sie darüber denke. Sie sagte, dass Männer ganz unabhängig von ihren sexuellen Vorlieben mehr mit anderen Männern als mit Frauen gemein haben. Es sei sogar möglich, dass sie mehr mit den Männchen anderer Spezies als mit Frauen gemein haben, mit Schimpansen etwa, mit Ziegenböcken oder Hunden, vor allem mit Hunden, wie sie mir ja bereits zuvor erklärt hatte. Dies sei nicht beleidigend gemeint, fuhr sie fort, schon gar nicht für einen Mann. Ich möge sie korrigieren, wenn sie sich irre, aber sei es nicht richtig, dass es Männer stärker nach einem Orgasmus als nach Zärtlichkeit verlange? Sei es nicht richtig, dass für einen Mann das wesentliche Ziel des sexuellen Aktes darin bestehe, seinen Samen in ein passendes Gefäß zu ergießen oder auch in ein unpassendes, sofern nichts anderes verfügbar sei? Sie wolle nicht zynisch klingen, aber es stimme doch, dass die Kluft zwischen Mann und Frau unüberbrückbar sei und einfach alles erfasse, von der Art des Genießens bis zur Bedeutung der Ehe. Echte Vereinigung sei unmöglich, bestenfalls können wir uns ein erträgliches Zusammenleben erhoffen. Darauf erwiderte ich nichts. An ihrer Rede überraschte mich weniger der Inhalt als die Tatsache, dass Dimple sie auf Englisch gehalten hatte, in fließendem Englisch, und ich fragte mich, wann sie so gut geworden war.
Später, als mir die Augen zufielen, träumte ich, ich ginge durch Flure in einem Haus, in dem man schon lang den Strom abgestellt hatte. Ich folgte dem Geräusch von fließendem Wasser durch unbeleuchtete Flure bis ans Ende und darüber hinaus in ein Zimmer. Es dauerte einen Moment, bis ich die auf mich wartende Gestalt auf dem Bett erkannte. Alte Freundin, sagte ich, erzähle mir die Geschichte deines Todes, und bitte, du musst dir Mühe geben, denn nur dann können wir miteinander reden. Dimple lächelte höflich. Was, fragte sie, ich kann dich nicht verstehen. Ich sagte: Gib dir Mühe, große Mühe. Wie du willst, sagte sie, dies ist dein Haus, aber warum machst du nicht die Fenster auf? Du solltest bei Vollmond keinen Strom verschwenden. Zünde stattdessen eine Kerze an und öffne die Fenster. Draußen auf der Straße brannte nur eine einzige Laterne. Ein Hund mit gebrochenem Bein humpelte ins Licht. Die Straße schien sich zu winden, und ich begriff, dass sie unter Wasser stand. Ich hörte das Wasser ans Haus schlagen und roch die Chemikalien, die auf seiner Oberfläche trieben. Sei dankbar, sagte Dimple, viele Menschen haben nicht einmal dies. Und dann fuhr sie fort: Ich starb im Dezember um drei Uhr nachmittags. Man ging auf der Promenade spazieren. Ein kleines Mädchen fragte: Ist dies das Meer oder der Ozean? Und die Mutter antwortete: Trink deinen Kokossaft und halt einen Moment lang die Klappe. Bis auf einige Krähen waren die Gedenkbänke leer. Ein Paar schaute hinaus auf die See, und mir fiel auf, dass die Frau schwanger war; außerdem kam es mir so vor, als wären die beiden tot, so wie alle Leute auf der Promenade, doch unter den vielen Toten, die spazieren gingen, war ich so tot wie niemand sonst, und ich war mit Blut bedeckt, mit meinem eigenen oder dem von jemand anderem, das
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wusste ich nicht. Das Meer lag still zwischen dreckigen Mangroven, und ich malte mir aus, ich sei die Flut, die sich um die Felsen am Musikpavillon sammelte, eine schmutzige, blutgeränderte Flut, die verebbte und dann versiegte. Willst du wissen, was als Nächstes geschah? Ich starb, und meine Seele hing kopfüber in einer Höhle voller Kreaturen, die auf ihre Geburt warteten, hing kopfüber viele Jahre oder Stunden. Ein Hinweis war vor langer Zeit auf die Mauer gepinselt worden, Pit Loka stand da, Welt der Vorfahren, und obwohl die Buchstaben bereits verblasst waren, hielt sich eine Gruppe von uns ständig dort auf, als könnte die Nähe zu den Wörtern bewirken, dass wir bald ins Land der Lebenden zurückkehrten. Nur kann ich nicht zurück, außer so, außer teilweise.
»Ich freue mich, dass du wieder da bist«, sagte ich.
»Ich war die ganze Zeit hier. Was ich getan habe? Ich weiß nicht. Die Leute erzählen mir Geschichten, vertrauen mir Geheimnisse an. Sie sind nett, weil sie mich mögen, und sie sagen mir, was ich zu erwarten habe.«
»Was sagen sie denn?«
»Das Gleiche, was ich dir jetzt sage, dass wir hier sind, in deiner Nähe, unsichtbar natürlich, aber wir sind hier.«
»Wo?«
»Ich kenne keinen Menschen, der so viele Fragen stellt«, sagte Dimple, blickte aus dem Fenster und lächelte. »Auf der anderen Seite des Spiegels pressen wir die Hände ans Glas und versuchen, dein Gesicht zu berühren. Nur ein Schleier trennt uns, ein durchsichtiger Schleier, so dünn wie der, der dich von deinen Träumen trennt. Willst du mit uns reden, brauchst du nur die Hand ins Wasser zu tunken. Wir warten auf einen Blick, auf ein Wort, irgendeine Anerkennung, dass wir hier sind. Tunkst du die Hand ein, hörst du uns. Und du solltest zuhören. Selbst wenn du es unerträglich findest, solltest du zuhören.«
2
Rumi über Zuhälter
Ich belauschte zufällig ein Gespräch, nein, eher einen Streit zwischen einem Zuhälter und einem großgewachsenen Mann mit einem Kastenzeichen auf der Stirn. Der große Mann trug Cowboystiefel und weigerte sich, sie an der Tür auszuziehen. Ich konnte nicht verstehen, was der Zuhälter sagte, die Stimme des anderen Mannes aber war kaum zu überhören. Er erklärte dem Zuhälter, das Gesetz von Angebot und Nachfrage gelte überall, auch in den Jauchegruben der verdammten Dritten Welt. Das ist doch kindisch, sagte er. Sie sollten es nicht persönlich nehmen, wenn Ihre Huren unbeliebt sind. Überlegen Sie lieber, wie Sie das Problem aus der Welt schaffen. Könnte sein, dass Sie nur einen USP brauchen. Eine regelmäßige medizinische Vorsorgeuntersuchung, das ist die Lösung, mein Freund. Die Untersuchungsergebnisse werden für alle lesbar an die Wand geheftet, allerdings nur, wenn nichts gefunden wurde. Der Zuhälter war ein pockennarbiger Riese mit Zähnen, die zu groß für seine Lippen waren. Sein Mund stand offen, als hechelte er, doch die Stimme blieb gefasst. Er sagte: Haben Sie mich kindisch genannt? Er gebrauchte dasselbe Wort aus dem Hoch-Hindi, das auch der andere Mann benutzt hatte: ›bachpana‹, dabei hätte er zulangen und seinem Gegenüber den Garaus machen können, ohne dass es ihn auch nur einen einzigen Schweißtropfen gekostet hätte. Was ihn zurückhielt, war die Miene im Gesicht des Fremden, der ihn so gelassen musterte, als trüge er eine Pistole unterm Hemd oder zumindest doch ein Messer.
»Bloß bekifftes Gequatsche«, sagte der Mann, sobald der hundegesichtige Zuhälter gegangen war. Er trug Kopfhörer um den Hals, und ich hörte eigenartige Musik herauspulsen. »Ich habe was gesagt, er hat sich aufgeregt, und dann hat er sich verdammt nochmal wieder beruhigt. Soll ich Ihnen was verraten?«
Er senkte die Stimme ein wenig, was auf die Männer um uns herum nur wie ein Signal wirkte. Er sagte: Man darf eine kleine, aber überaus wichtige Tatsache niemals vergessen: Zuhälter sind Feiglinge. Zuhälter sind Abschaum. Zuhälter verdienen ihr Geld mit den Schwachen und Gebrechlichen, mit Männern und Frauen, die ihren Lebenswillen verloren haben, die niemals kämpfen oder Widerstand leisten, die sterben wollen. Sobald man begriffen hat, dass ein Zuhälter ein feiger kleiner Schisser ist, gibt es kein Problem mehr; man kann sich ihm stellen wie ein Mann. Man muss eben den Tatsachen ins Auge sehen, und Tatsache ist: Das Leben ist ein Witz, ein beschissen schlechter Witz, nein, ein schlechter Scheißwitz. Sinnlos, es ernst zu nehmen, denn was auch passiert, und ich meine, scheißegal was, die Pointe ist immer dieselbe: Man beißt ins Gras. Kapiert? Es gibt verdammt nochmal nichts zu kapieren.
Ich dachte: Er will mich beeindrucken. Ich dachte: Chandulis sind Sklaven der Pfeife; das lässt uns in der Welt schlechter dastehen, was wir mit Prahlereien und Lügen zu kompensieren versuchen.
Dann richtete sich der große Mann auf und schrie Bengali quer durch den Raum zu: »He, Boss, krieg ich heute noch irgendwann meine Pyali? Ich bin seit einer halben Stunde hier und habe keine Lust, noch länger zu warten.« Irgendwer hüstelte, dann wurde es still. Äußerst widerwillig, wie mir schien, stellte Bengali eine Pyali auf Dimples Tablett.
»Ich glaube, man mag Sie hier nicht besonders«, sagte ich.
»Ach, scheiß drauf, ohne mich abzusichern würde ich nie in eine Kaschemme wie diese gehen.« Er schaute bedeutungsvoll auf seine Aktentasche. »Und? Wo kommen Sie ursprünglich her?«
»Aus Kerala in Südindien.«
»Undu Gundu Land. Ich weiß, wo das ist. Haben Sie deswegen Ärger?«
»Wenn ich den Fehler begehe, die Einheimischen hier auf Malayalam anzureden, dann ja.«
»Einheimische? Wie mich, meinen Sie? Ach was, keine Sorge, die Dinge ändern sich, euch Südländern passiert hier schon nichts. Wir sind auf größere Beute aus.« Er senkte die Stimme und sagte: »Mossies.«
»Lautet so die neue Strategie, die Ihnen Freunde und ein gutes Einkommen sichert?«
Er stützte sich auf einen Ellbogen, um mich besser ansehen zu können. »Vorsicht, mein Freund, mit dem, was Sie da sagen. Bestimmt haben Sie die Wampe voll Opium, und deswegen ist Ihnen alles egal. Oder Sie wollen abnibbeln und überlegen, wie's am schnellsten geht. Kann auch sein, Ihr Schädel ist nur voller Wanzen so wie meiner.« Er lächelte, ein breites, herablassendes Lächeln, und hielt mir die Hand hin, der Griff fest und feucht. »Wie auch immer, ich heiße Rumi. Und Sie?«
»Dom.«
»Mit so einem Namen sind Sie echt beschissen dran. Da haben Sie mit diesen Leuten wirklich nur die Pfeife gemein.«
»Was ist das für Musik, die Sie hören?«, fragte ich.
Er gab mir die Kopfhörer. Ein schriller Klang wie der Soundtrack eines Films, in dem Szenen beliebig aneinandergereiht waren, oder man hatte den Film zerschnitten und spielte die Abschnitte nun rückwärts ab oder absichtlich ganz durcheinander. Flaschen klirrten, eine Tür knarrte auf. Ein Schuss fiel. Ein Kind flüsterte: Ist er da? Wo ist er? Eine Frau weinte und sagte: Nahi, nahi. Da war das Geräusch von Wasser, das aus großer Höhe herabprasselte. Eine Tür fiel quietschend zu, eine Flasche zerbarst auf Fliesenboden. Die hohe Stimme einer Frau stürzte durch die Oktaven, ein Schuss fiel. Ein Mann hechelte wie ein Hund. Ein Kind weinte, und Wasser schlug an ein Boot oder einen Toten. Champagnerkorken knallten, es klingelte an der Tür. JamesBond- Gitarren spielten gegen ein Cowboy-Streichorchester an. Das Kind sagte: Er ist hier. Wo ist hier? Die Stimme der Frau, mit Hall und Whisky unterlegt, absolvierte einen weiteren perfekten Höhensturz, und ich meinte plötzlich, in die Tiefe zu sinken, ein Gefühl wie ein Schwindelanfall. Ich hörte das Geräusch von Wasser, und Dimple reichte mir die Pfeife. Ich setzte sie an die Lippen, hörte einen Mann ›Monica‹ rufen, ›mein Schatz‹ und fühlte mich so schwindlig, dass ich die Augen schließen musste. Dann fragte eine Frau: Ist er da?, und ein Kind flüsterte: Nahi; es fiel ein Schuss, und alles wurde still. Ich nahm die Kopfhörer ab und gab sie Rumi zurück.
Er sagte: »Bombay Blues.«
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Autoren-Porträt von Jeet Thayil
Jeet Thayil ist Dichter, Performance-Künstler, Songwriter und Musiker. Mit 'Narcopolis' gelang ihm ein sensationelles Debüt und eine faszinierende Parabel auf das moderne Indien. Der Roman begeisterte weltweit die Kritik, schaffte es auf die Shortlist des Booker Prize sowie des Man Asian Literary Prize und gewann den DSC Prize for South Asian Literature. Thayil kam 1959 im südindischen Kerala zur Welt und lebt nach Stationen in Hong Kong, New York und Bombay heute in Neu-Delhi. Robben, BernhardBernhard Robben, geboren 1955, Übersetzer und Journalist, lebt in Brunne/Brandenburg und übersetzt aus dem Englischen u. a. Ian McEwan, Salman Rushdie, Martin Amis, Patricia Highsmith, Peter Carey und Philip Roth. 2003 wurde er für die Übersetzung des Romans 'Abbitte' von Ian McEwan und für sein Lebenswerk mit dem Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jeet Thayil
- 2013, 1. Auflage, 384 Seiten, Maße: 13,1 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Bernhard Robben
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100800273
- ISBN-13: 9783100800275
- Erscheinungsdatum: 26.09.2013
Rezension zu „Narcopolis “
Der grandiose Roman beginnt mit Bombay und endet mit dem Wort Bombay. Ein berauschendes Szenario eines gigantischen Melting Pots. Bayerischer Rundfunk Bayern 5 20131105
Pressezitat
Der grandiose Roman beginnt mit Bombay und endet mit dem Wort Bombay. Ein berauschendes Szenario eines gigantischen Melting Pots. Bayerischer Rundfunk Bayern 5 20131105
Kommentar zu "Narcopolis"
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