Die Stunde des Wolfs / Nemesis Bd.5
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Die Stundedes Wolfs von Wolfgang Hohlbein
LESEPROBE
»In Anbetracht der Tatsache, wie ihr euch hier aufführt,lasse ich euch den Vortritt. Carl hatte uns mit der kleinen Pistole in der Handvor sich her durch die Dunkelheit über den Hof gescheucht und wedelte nun, alswir das kleine Lehrerhaus erreicht hatten, mit dem Handscheinwerfer inRichtung der steinernen Stufen, die auf den Eingang zuführten. Nicht nur seinerGestik, sondern auch dem Klang seiner Stimme ließ sich unschwer entnehmen,dass er tief in seinem Inneren nicht halb so cool und gelassen war, wieer sich zu geben bemühte. Ein leichtes Beben hatte sich in seine Silbengeschlichen und auch sein hektisches Herumfuchteln mit der Lampe diente wohleher dazu, das Zittern seiner Hände zu übertünchen,als uns tatsächlich den Weg zu weisen. Ich könnte ihn überwältigen, dachte ichbei mir, er war nervös und damit angreifbar, und nicht zuletzt hatte ichohnehin noch eine Rechnung mit ihm offen. Ich tastete vorsichtig mit der Fingerspitze nach der mächtigen Beule an meinem Hinterkopf, was umgehend mit einemstechen den, pulsierenden Schmerz quittiert wurde. Dieser aufgeschwemmte,hässliche Kerl hatte noch mindestens eine Gehirnerschütterung bei mir gut, wennnicht gleich einen Schädelbasisbruch. Er hatte mich niedergeschlagen undverletzt, aber schlimmer noch als die Schwellung an meinem Hinterkopf schmerzteder tiefe Kratzer, den mein Ego aus meiner peinlichen Niederlage davongetragenhatte. Carl war nicht der Erste, der in meinem Leben auf mich eingedroschenhatte; in meiner späteren Jugend hatte ich mich nahezu an das Gefühl geballterFäuste in meinem Gesicht gewöhnt. Ich hatte einfach ein unglaubliches Talentdarin, mir aus Unbedachtheit und Dummheit Ärger einzufahren; und umüberflüssige Wunden zu vermeiden, hatte ich nie ernsthaft versucht, mich gegenmeine Kontrahenten, die in der Regel ohnehin größer und stärker gewesen warenals ich (zumindest aber in deutlicher Überzahl,) zu wehren. Schließlich hätteich letztlich ohnehin verloren - jede Gegenwehr hätte die Angelegenheit nachmeiner Überzeugung nur in unnötige und qualvolle Länge gezogen oder meineGegenspieler zusätzlich provoziert. So hatte ich es in solchen Situationenimmerzu vorgezogen, jeden Hieb geduldig einzustecken und auszuharren, bisalles Wieder vorbei war. Aber ich war auch noch nie so verzweifeltgewesen wie in dieser Nacht. Und ich war nie gezwungen gewesen, mich vor einerFrau zu schlagen, die ich liebte. Nun saßen Wut, Enttäuschung und Schamunendlich tief. Aber ich fiel nicht über Carl her, sondern griff nach JudithsHand und zog sie gehorsam mit mir die Stufen zum Eingang hinauf, uni dendahinter liegenden, stockfinsteren Korridor zu betreten. Der Wirt hatte keinRecht, uns so zu behandeln, und seine Nervosität beruhte vielleicht nicht einzig auf dem Umstand, dass wir in den vergangenen Stunden mit dem Tod dreierMenschen konfrontiert worden- waren (vierer, wenn man das plötzliche, abernatürliche Ableben des jungen Rechtsanwalts miteinberechnete; aber nach dennbeiden schrecklichen Morden und Marias freiwilligem Sprung von den Zinnen hattedie Erinnerung an den Tod des Mannes in Carls Gaststätte deutlich an Schreckeneingebüßt, obgleich es die erste Leiche gewesen war, die ich in meinem Lebenhatte sehen müssen). Niemand von uns konnte wissen, was uns in dieser Nachtnoch alles widerfahren würde, und vielleicht plagte den Wirt ja auch seinGewissen, weil er sich über sein Unrecht völlig im Klaren sein musste. Dochauch ich war nicht gerade in der besten körperlichen Verfassung für einen Kampfseit meiner Blinddarmoperation vor zwölf Jahren, und außerdem hatte derAlthippie zumindest ein enorm überzeugendes Argument dafür, das Kommando überuns Übernehmen zu dürfen: einen handlichen Metallbeschleuniger Kaliber 38, deiner in der rechten Inland hielt, nämlich. Carl trat nach Ellen, Judith und mirüber die Schwelle und leuchtete mit dem Strahl der Lampe an derhölzernen, alten Treppe, die zum Obergeschoss mit dem Rektorat hinaufführte,vorbei, und ich stellte ohne sonderliche Überraschung fest, dass eseine kleine Nische zur rechten Seite des unteren Treppenabsatzes gab, in derenlinke Seite eine schmale Holztür eingelassen war. Obwohl ich mich nicht zuEllen herumdrehte, konnte ich ihren skeptischen Blick fast körperlich in meinemNacken spüren. Ich hatte niemandem erzählt, dass es auch von hier aus einenZugang zum Keller gab, obwohl es meine Aufgabe gewesen war, das Lehrerhausnach einem möglichen zweiten Ausgang abzusuchen, und dabei wäre es nahe liegendgewesen, zuerst im Keller nachzusehen. Aber ich hatte es nicht getan, hattenicht einmal überprüft, ob es einen Weg in die Tiefe gab, sondern warzielstrebig ins Obergeschoss hinaufgegangen. Warum, konnte ich mir selbst nichtmehr erklären. Meine Beine hatten mich nahezu ohne mein Zutun ins Rektorathinaufgetragen, ohne nach einem Wieso zu fragen. Aber jetzt, da wir uns derKellertür näherten, war ich mir nicht mehr sicher, ob ich das Gefühl gehabthatte, dass es richtig war, nach oben zu gehen, odervielleicht viel mehr, dass es falsch war, mich nach unten zu begeben.Mit jedem Schritt, den der Wirt uns auf die Kellertür zutrieb, wuchs einungutes, neuerliche Übelkeit erregendes Gefühl in meinem Magen heran und ichspürte, wie sich kleine Schweißperlchen hinter meinen Ohren sammelten. Dudarfst es nicht,schoss es mir aus irgendeinem Grunde plötzlich durch den Kopf, du weißt, dasses verboten ist, du kennst deine Strafe. (...)
© Ullstein Buchverlag
Autoren-Porträt von Wolfgang Hohlbein
WolfgangHohlbein, 1953 in Weimar geboren, ist der meistgelesene und erfolgreichstedeutschsprachige Fantasy-Autor. Seine Bücher deckendie ganze Palette der Unterhaltungsliteratur ab - von Kinder- und Jugendbüchernüber Romane und Drehbücher zuFilmen, von Fantasy über Sciencefiction bis hin zum Horror. DerDurchbruch gelang ihm 1982 mit dem Jugendbuch "Märchenmond", für daser mit dem Fantastik-Preis der Stadt Wetzlarausgezeichnet wurde. 1993 schaffte er mit seinem phantastischen Thriller"Das Druidentor" im Hardcover für Erwachsene den Sprung auf dieSpiegel-Bestsellerliste. Die Auflagen seiner Bücher gehen in die Millionen undimmer noch wird seine Fangemeinde Tag für Tag größer. Der passionierte Motoradfahrer und Zinnfigurensammler lebt zusammen mitseiner Frau und Co-Autorin Heike, seinen Kindern und zahlreichen Hunden undKatzen am Niederrhein.
- Autor: Wolfgang Hohlbein
- 2004, 155 Seiten, Maße: 11,4 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548259731
- ISBN-13: 9783548259734
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