Die Maori-Prinzessin / Neuseeland-Saga Bd.5
Roman. Originalausgabe
Neuseeland, 1930: Die junge Deutsche Eva soll bei entfernten Verwandten leben. Lucie, die geheimnisvolle dunkelhäutige Großmutter ihrer Großcousine, bittet sie, ihre Lebensgeschichte niederzuschreiben: Sie wurde einst als Maori-Prinzessin geboren.
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Produktinformationen zu „Die Maori-Prinzessin / Neuseeland-Saga Bd.5 “
Neuseeland, 1930: Die junge Deutsche Eva soll bei entfernten Verwandten leben. Lucie, die geheimnisvolle dunkelhäutige Großmutter ihrer Großcousine, bittet sie, ihre Lebensgeschichte niederzuschreiben: Sie wurde einst als Maori-Prinzessin geboren.
Klappentext zu „Die Maori-Prinzessin / Neuseeland-Saga Bd.5 “
Mutterseelenallein kommt die junge Deutsche Eva Schindler 1930 nach Neuseeland, wo sie bei entfernten Verwandten leben soll. Sie wird dort wenig freundlich aufgenommen. Doch bald verliert sie ihr Herz an den attraktiven Adrian und gewinnt das Vertrauen seiner Großmutter Lucie, die von den Maori abstammt. Nach Jahrzehnten des Schweigens vertraut Lucie der jungen Eva ihre Lebensgeschichte an - eine Geschichte über Mord, Entführung, Liebe und Verrat, die Eva immer mehr in ihren Bann zieht ...
Lese-Probe zu „Die Maori-Prinzessin / Neuseeland-Saga Bd.5 “
Die Maoriprinzessin von Laura Walden1. Teil
Poverty Bay, Dezember 1867
Die große Zeremonie stand unmittelbar bevor. Häuptling Rane Kanahau saß auf seinem Thron aus Palmenblättern und betrachtete zufrieden das geschäftige Treiben, mit dem die Einweihung seiner älteren Tochter vorbereitet wurde. Er selbst hatte den Tohunga- ta-moko, den Tätowierern, das Oko überreicht, jenes verzierte Holzkästchen, das die Farbpigmente aus Awheto und Ngarehu enthielt, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, damit das Moko unverwechselbar sein würde.
Die Tätowierer waren zwei alte Männer, die bereits ihm die Zeichen seiner Herkunft ins Gesicht und auf die Oberschenkel geschabt hatten. Diese unverwechselbaren Muster waren sein ganzer Stolz. An diesem Moko konnte jeder erkennen, dass er nicht nur ein Häuptling, sondern ein großer Herrscher war.
Dieser Tag war ein ganz besonderer. Wie gern hätte Kanahau einen Sohn gehabt, dem er den Thron hätte vererben können, aber die Erfüllung dieses Wunsches hatte der Gott der Fruchtbarkeit ihm und seiner Frau verweigert. Zwei Mädchen hatte er ihnen geschenkt. Nun galt Kanahaus ganze Hoffnung diesem älteren Kind, das einem Jungen beim Fischen und Jagen in nichts nachstand. Würde sie nicht wie eine Tochter aussehen, Häuptling Kanahau hätte sich in der Illusion wiegen können, einen Sohn gezeugt zu haben. Sie war wild und ungestüm. Eine echte Kriegerin.
... mehr
Wenn er da nur an den Überfall der Feinde vor vielen Jahren dachte. Ahorangi war damals erst elf gewesen und hatte wie ein Mann gekämpft. Er war stolz auf ihren Mut, aber nun wurde es höchste Zeit, dass sie sich auf ihre fraulichen Pflichten besann. Deshalb sollte die Zeremonie am heutigen Tag gleich mit ihrer Eheschließung verbunden werden.
Hehu, der Bräutigam, war Ahorangis Freund seit Kindertagen. Als Sohn eines Kanahau treu ergebenen Häuptlings hatte er stets viel Zeit mit ihr verbracht. Die Wettkämpfe der beiden Kinder waren legendär. Wie Brüder hatten sie sich gemessen, ja, sich sogar die traditionellen Kämpfe mit dem Stock - Mann gegen Mann - geliefert. Dass Hehu mehr für die Prinzessin empfand, war deren Vater allerdings nicht entgangen. Der junge Mann war außer sich vor Freude gewesen, als Kanahau ihm vorgeschlagen hatte, seine Tochter am Tag der Tätowierung zu heiraten. Ahorangi hingegen hatte mit einem heftigen Zornausbruch reagiert. Sie wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, Ehefrau zu werden, doch ihr Vater hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass die Heirat beschlossene Sache war. Seitdem lief seine Tochter mit finsterer Miene durch das Dorf. Keiner durfte sie ansprechen, und ihren Jugendfreund Hehu würdigte sie keines Blickes mehr. Der junge Mann tat dem Häuptling leid. Immer wieder suchte er Ahorangis Nähe und holte sich eine Abfuhr nach der anderen.
Kanahau stieß einen tiefen Seufzer aus, als sein Blick am abweisenden und stolzen Gesicht seiner Ältesten hängen blieb. Er liebte sie von ganzem Herzen, viel mehr als die um ein Jahr jüngere Harakeke, aber ihre Eigenwilligkeit bereitete ihm auch Sorgen. Würde der feinsinnige Hehu Herr über ihr wildes Wesen werden?
Was ihn jedoch weit mehr beunruhigte als ihr Widerstand gegen die Ehe war ihre offen geäußerte Abscheu vor dem Moko. Sie hatte gebeten und gebettelt, dass man ihr Gesicht mit den Zeichen ihrer Ahnen verschonen möge. Sie hätte es in Kauf genommen, dass man ihre Beine tätowierte, aber dann hätte niemand auf den ersten Blick ihre vornehme Herkunft erkennen können. Und diesem Zweck diente das Zeichen. Das Moko musste ihr Kinn sichtbar zieren.
Ich werde wie ein Mann mit einem Bart aussehen, hatte sie ihrem Vater entgegengeschleudert. Du wolltest doch immer ein Junge sein, hatte er ihr erwidert, aber das hatte sie nicht gelten lassen. Und was sie dann gesagt hatte, das beschäftigte Kanahau noch in diesem erhabenen Augenblick, in dem Ahorangi nur noch wenige Augenblicke von ihrer Einweihung trennten. Sie hatte ihn provozierend gefragt, warum die Engländerinnen kein Moko im Gesicht trügen. Und keinen Zweifel daran gelassen, dass die Pakeha in diesem Punkt zivilisierter seien als die Maori. Ihre Worte hatten Kanahau bis ins Mark getroffen, denn er vermochte keinerlei Vorzüge der Weißen seinem Volk gegenüber zu erkennen.
Kanahau atmete tief durch und versuchte, sich entspannt auf seinem Thron zurückzulehnen. Wovor hatte er Angst? Es konnte gar nichts mehr geschehen!
Die jungen Männer von seinem und Hehus Stamm machten sich bereits fertig, um nach Ahorangis Einweihung einen Haka, den rituellen Tanz der Maori, vorzuführen, während die Tätowierer ihre Werkzeuge vor der Prinzessin ausbreiteten. Es waren Schaber aus den Knochen des Albatros. Kanahau erfüllte der Gedanke, dass die noch blütenzarte Gesichtshaut seine Tochter alsbald rau und voller Narben sein würde, mit Stolz. Er mochte die Pfirsichhaut der Pakeha-Frauen nicht, und er verstand nicht, wie man ein solches glattes, helles Gesicht mögen konnte. Wenn seine Tochter erst als Maoriprinzessin gezeichnet wäre, würde sie solche törichten Vergleiche in Zukunft sicherlich nicht mehr anstellen. Das jedenfalls redete sich Kanahau in diesem Augenblick ein.
Soeben stimmten die Frauen ein Lied an. Ihre Stimmen erfüllten den erhabenen Ort und schallten bis weit über das Meer. Kanahau wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Wie sehr er seine Frau vermisste, die vor knapp einem Jahr gestorben war. Sie wäre voller Stolz, wenn sie hätte miterleben dürfen, wie ihre ungestüme Tochter sich nun doch noch zähmen ließ und die Rituale ihrer Ahnen zu respektieren lernte. Vielleicht würde Ahorangi sich unter dem Schutz ihrer Mutter auch immer noch weigern, sich tätowieren zu lassen und zu heiraten. Wenn es nach Kanahau gegangen wäre, hätte man diesen Tag nämlich bereits vor zwei Jahren gefeiert, aber seine Frau Ihapere hatte sich stets vor ihre Tochter gestellt und ihren Mann vertröstet. Nicht bevor sie sechzehn wird, hatte Ihapere gefordert. Inzwischen war Ahorangi siebzehn Jahre alt und in den Augen ihres Vaters so reif wie eine Süßkartoffel, die zu lange im Vorrats- haus gelagert hatte.
Kanahau wollte noch einen letzten Blick auf ihr kindlich reines Gesicht werfen. Sie sah ihrer Mutter verblüffend ähnlich. Wenn er daran dachte, wie vehement sein Vater sich seinerzeit gegen die Hochzeit seines Sohnes mit der »Schmalgesichtigen« - so hatte er seine zukünftige Schwiegertochter zeitlebens genannt -, ausgesprochen hatte. Kanahau aber hatten genau diese - für eine Maorifrau außergewöhnlich zarten - Gesichtszüge magisch angezogen. Doch Ihapere hatte ein Moko am Kinn besessen, das sie voller Stolz getragen hatte. Und genau dort würden die Tohungata- moko seiner Tochter das Moko in die Haut ritzen.
Plötzlich brach der Gesang der Frauen ab; Schreie wurden laut.
Kanahau wandte erschrocken den Blick von seiner Tochter ab. Eine Gruppe von Reitern bahnte sich den Weg durch die kreischenden Frauen. Woher diese Männer kamen, wussten nur die Götter. Und noch hatte der Häuptling die Tragweite dieser Störung nicht gänzlich begriffen. Erst als einer der Männer seine Tochter Harakeke packte und auf sein Pferd zog, ahnteer, dass dies ein feiger Überfall war. Er hatte davon gehört, dass liebeshungrige Siedler gelegentlich Maorifrauen raubten, aber wie konnten sie es wagen, es in seinem Dorf und an diesem Tag zu wagen?
Kanahau erhob sich und gab den jungen Männern, die zum Haka aufgestellt waren und auf ihren Tanz warteten, ein Zeichen, sich gegen die Eindringlinge zu wehren. Mit martialischem Gebrüll stürzten sich die Krieger auf die Pakeha und schlugen sie in die Flucht. Unter wilden Flüchen preschten sie im Galopp davon.
Auch Kanahau hatte sich in das Kampfgetümmel gestürzt und war gerade dabei, den letzten der Reiter zu vertreiben, als ein spitzer Schrei ihn herumfahren ließ.
Dem Häuptling stockte der Atem. Der Platz, auf dem soeben noch seine geliebte Tochter Ahorangi gesessen hatte, war von einer Staubwolke eingehüllt, die ein davongaloppierendes Pferd aufgewirbelt hatte. Als die Wolke sich verzog und der Häuptling wieder freie Sicht hatte, stieß er beim Anblick des leeren Palmenthrons einen Mark erschütternden Schrei aus.
Zug nach Napier, Dezember 1930
Anfangs hatte Eva noch gebannt aus dem Fenster des Zuges gestarrt. Eine derart wilde Landschaft hatte sie noch nie zuvor gesehen. Bis zu jenem Tag, an dem sie alles hinter sich gelassen hatte, war sie selten aus Badenheim herausgekommen, dieser kleinen pfälzischen Welt mit ihren sanften Hügeln und Weinbergen so weit das Auge reichte. Sie hatte es sich immer gewünscht, eines Tages fortzugehen, aber wie schnell und auf welche Weise ihre geheimsten Träume wahr werden sollten, hätte sie niemals für möglich gehalten.
Das Ganze war jetzt bald ein Vierteljahr her. Niemals würde sie den Abend vergessen, an dem sie bei Kerzenlicht beisammensaßen und der Vater ihnen seinen Plan verkündete. Sie würde auch niemals die Erinnerung daran aus ihrem Gedächtnis streichen können, wie reglos die Mutter die Nachricht von der baldigen Auswanderung aufnahm. Dass sie manchmal stundenlang in ihrem Sessel saß und düster vor sich hinstarrte, daran hatte sich Eva mit den Jahren gewöhnt, aber dass sie nicht aufschrie, weil von ihr verlangt wurde, ihr geliebtes Heimatland von einem Tag auf den anderen zu verlassen, verwunderte Eva sehr.
Sie selbst hingegen hatte ihre Begeisterung kaum verbergen können. Amerika war mehr, als sie je zu hoffen wagte, doch dann bekam ihre Freude einen argen Dämpfer: Nur ihren Bruder Hans wollte der Vater mitnehmen. Seine gemütskranke Frau und seine temperamentvolle Tochter sollten indessen nach Neuseeland zu irgendeiner Cousine reisen.
»Die Fahrkarten, bitte!«, riss sie eine Stimme auf Englisch aus ihren Gedanken. Eva schreckte hoch und wühlte in ihrer Handtasche nach dem Ticket. Das hatte sie sich vom letzten Geld kaufen können, das ihre Mutter als Reisekasse mit aufs Schiff genommen hatte. Eigentlich hätte sie in Auckland abgeholt werden sollen, aber nachdem sie mutterseelenallein bis zum nächsten Tag am Kai gewartet und schließlich ein Telefon gesucht hatte, um ihre Tante anzurufen, war ihr mitgeteilt worden, sie solle den Zug nach Wellington nehmen, in Taumarunui in Richtung Napier umsteigen und sich dort vom Bahnhof zu ihrem Haus in Napier bringen lassen. Sehr freundlich hatte ihre Tante am Telefon nicht geklungen. Dabei hatte sie ihrem Vater einen netten Brief geschrieben, dass man seine Frau und seine Tochter gern für zwei Jahre aufnehme. Auf dem Weingut sei genug zu tun. Da könne man jede Hand gebrauchen.
Nun hatten sich die Umstände offenbar geändert, denn von einem Haus in der Stadt war nie zuvor die Rede gewesen.
»Träumen Sie?«, hörte sie den Schaffner fragen.
»Nein, hier ist das Ticket!«, erwiderte Eva hastig auf Englisch.
»Woher kommen Sie?«
Eva zuckte zusammen. Hörte man es etwa, dass sie aus Deutschland kam? Dabei hatte sie doch so fleißig gelernt. Die ganze Überfahrt hatte sie nichts anderes getan, als auf ihrem Etagenbett zu hocken und sich in die Bücher zu vertiefen. Sie wollte auf keinen Fall als sprachloses Dummchen am anderen Ende der Welt ankommen.
»Ich bin aus Deutschland«, erwiderte Eva zögernd.
Ein Strahlen huschte über das Gesicht des Schaffners.
»Ich hab's gewusst. Und ich müsste lügen, wenn ich nicht gleich herausgehört hätte, dass Sie aus der Pfalz kommen.«
Evas Miene erhellte sich ebenfalls. Sie nickte eifrig. »Ja, aus Badenheim!«
Der Mann kratzte sich den Bart. »Kenn ich nicht, aber ich bin auch schon über vierzig Jahre hier. War noch ein Kind, als wir ausgewandert sind . . .« Er stockte und musterte sie prüfend. »Hat man Sie ganz allein um die Welt geschickt?«
»Nein, mit meiner Mutter; die ist allerdings unterwegs gestorben ...«
Tränen traten ihr in die Augen; sie konnte nichts dagegen tun. Es lag wohl an diesem fremden Mann, der die ihr vertraute Sprache sprach. Hinzu kam die schmerzhafte Erinnerung an den Tag, an dem ihre Mutter nicht mehr aufgewacht war. Es stand ihr so lebendig vor Augen, als wäre sie wieder auf dem Schiff.
»Die wird nicht mehr!«, hatte sich eine alte Frau aus dem Stockbett nebenan mitleidlos eingemischt, nachdem Eva den leblosen Körper ihrer Mutter wie eine Irre geschüttelt hatte.
Spätestens in jenem Augenblick hatte sie gewusst, dass die Alte die Wahrheit sprach, aber sie wollte sich ihr nicht stellen. Sie stürzte aus dem Saal mit den Doppelstockbetten und schrie nach Doktor Franke. Der begleitete sie sofort zum Bett der Mutter, die er recht gut kannte, hatte sie sich doch während einer schlimmen Grippewelle, die unter den Passagieren wütete, freiwillig bei ihm als Helferin gemeldet. Eva und sie halfen unermüdlich, die Kranken zu betreuen. Immer in der Angst, sie könnten sich selber anstecken, aber sie bekamen nicht einmal einen Schnupfen. Inzwischen war die Epidemie an Bord überstanden und hatte nur wenige Opfer gefordert.
Der grauhaarige Arzt wurde weiß um die Nase, als er sich zu Martha Schindler hinunterbeugte.
»Ihre Mutter ist tot«, sagte er, nachdem er sie untersucht hatte.
»Gestern war sie noch völlig gesund! Sie hatte keine Anzeichen der schrecklichen Grippe. Und sie leidet nicht unter einem schwachen Herzen. Das kann doch gar nicht sein!«, widersprach Eva verzweifelt.
Doktor Franke machte ein Zeichen, dass sie ihm nach draußen folgen sollte, denn mittlerweile waren die neugierigen Blicke sämtlicher mitreisender Damen auf Eva und den Doktor gerichtet.
Eva ließ sich aus dem Schlafsaal hinausschieben. Sie hatte immer noch nicht begriffen, was geschehen war.
»Ich habe mich schon gewundert, wer uns das Veronal gestohlen hat, aber hier ist das leere Röhrchen.« Der Doktor hielt es hoch.
»Wo haben Sie es her?«
»Es lag unter der Bettdecke Ihrer Mutter. Ich habe es eben gefunden, als ich sie abgehorcht habe. Sie müssen jetzt tapfer sein: Ihre Mutter hat sich umgebracht.«
»Sie hat es schon einmal versucht«, hatte Eva kaum hörbar erwidert. Ihr Vater hatte ihr einmal erklärt, dass es mit Marthas Schwermut kurz nach ihrer Geburt losgegangen sei.
Der Schaffner hatte sich inzwischen neben Eva auf die Bank gesetzt und den Arm um sie gelegt. Als sie begriff, dass dieser fremde Mann sie zu trösten versuchte, schluchzte sie laut auf. Endlich konnte sie weinen. Die ganze Zeit seit dem furchtbaren Tag war sie wie versteinert gewesen.
»Nädd draurig sin, Maat«, hörte sie den Schaffner wie von ferne raunen, doch sie konnte nichts dagegen tun. Es musste sein. Endlich! Alle hatten sich gewundert, dass sie keine Träne vergossen hatte, während der Kapitän den Leichensack mit ihrer Mutter ins Meer gekippt hatte. Sie aber hatte nicht weinen können. Ihr Inneres war wie erstarrt gewesen.
Erst in diesem Augenblick, als sie an einen fremden bulligen Mann aus ihrer Heimat gelehnt war, trauerte sie darüber, dass sie ihre Mutter verloren hatte und allein in einem fremden Land war.
Ich werde Vater schreiben, damit er mir das Geld für eine Fahrkarte schickt, dann sehe ich die beiden bald wieder, redete sie sich gut zu. Und nicht erst in zwei Jahren, wie ihr Vater es sich vorgestellt hatte.
In zwei Jahren habe ich genug Geld zusammen, sodass wir unsere Hänge wieder bewirtschaften und vom Weinverkauf leben können, hatte er versprochen, aber bis dahin könnt ihr nicht auf diesem heruntergekommenen Stück Land hausen, das einmal ein ertragreiches Weinland gewesen war.
Nach dem Krieg war es mit dem Weingut ständig bergab gegangen. Zum einen war der Vater mit einer Kriegsverletzung heimgekehrt und zum anderen hatte er sich früh den Separatisten um Heinz Orbis angeschlossen. Sein Traum war eine freie Pfalz mit Anlehnung an Frankreich gewesen. Doch der Rückhalt in der Bevölkerung für diese Bewegung war nicht eben groß gewesen. Peter Schindler hatte sich zwar noch rechtzeitig von den Separatisten losgesagt, um nicht mit seinem Leben zu büßen, aber in den Augen der französischen Besatzer war er politisch unzuverlässig, und von den Hilfen der Bayrischen Landesregierung bekam er gar nichts. Der Bürgermeister überging den frankophilen Querkopf, wie Peter Schindler im Dorf genannt wurde. Mit dem Ergebnis, dass er Weinberge verkaufen musste und vom Rest seine Familie nicht mehr hatte ernähren können. Er hatte sich allerdings geweigert, das Anwesen zu verkaufen. Stattdessen hatte er für die Tickets nach Amerika und Neuseeland sämtliche Schmuckstücke versetzt, die ihm seine Mutter einst vererbt hatte. Und das waren nicht wenige gewesen, denn das Weingut Schindler hatte unter seinen Eltern weitaus bessere Zeiten gesehen.
Eva schreckte aus ihren Gedanken, als der Schaffner sich entschuldigend erhob. Er müsse weiter. Allerdings nicht, ohne sich nach ihrer Bleibe in Napier zu erkundigen. Als sie die Adresse in der Cameron Road nannte, pfiff er durch die Zähne und erklärte ihr, dass dies eine Straße wäre, in der es nur große, alte viktorianische Villen gebe. Dort habe man Geld, fügte er augenzwinkernd hinzu.
Eva dankte dem freundlichen Mann. Wenn er wüsste, wie gleichgültig ihr war, wohin sie kam. Sie würde eh nicht lange bleiben. Sie war nur von einem Gedanken besessen: ihrem Vater einen Brief zu schreiben, sobald er seinerseits die Adresse geschickt hatte, um ihn zu bitten, sie nachkommen zu lassen.
Wenn ich diese Reise überlebt habe, werde ich auch noch gesund von hier nach Amerika gelangen, dachte sie und setzte sich aufrecht hin. Draußen schien die Sonne, und im Zug wurde es langsam warm. Eva zog ihren dunklen Wollmantel aus, der sie seit Beginn der Reise begleitete. Ihr Vater hatte ihn ihr in Hamburg gekauft. Dort hatten sie einige Tage in einer schäbigen Unterkunft auf die Abfahrt ihrer Schiffe warten müssen. Auch das würde sie nie vergessen: Wie ihre Mutter und sie auf dem riesigen Dampfer gestanden und ihrem Vater und Bruder zu gewunken hatten, bis diese eins mit der gesichtslosen Menge geworden waren, die am Kai Abschied von ihren Verwandten nahm.
In ihrer ersten Nacht auf dem riesigen Auswandererdampfer hatte Eva sich in den Schlaf geweint, um dann keine einzige Träne mehr zu vergießen - bis heute. Der Zug durchquerte soeben eine Landschaft aus Bergen und grünen Wiesen. Die Berge waren höher als zu Hause und die Wiesen grüner. Eva drückte sich die Nase an der Scheibe platt. Selbst die Sonnenstrahlen, die das Land in ein warmes Lichttauchten, kamen ihr kräftiger vor als in Badenheim. Sie wollte auf keinen Fall etwas verpassen. Doch schon kurz darauf ergriff die Müdigkeit mit aller Macht von ihr Besitz. Die Augen fielen ihr zu und ihr Kopf sackte nach vorn auf die Brust.
Napier, Dezember 1930
Eva erwachte davon, dass jemand sie kräftig schüttelte. Es war der freundliche Schaffner.
»Schnell, steigen Sie aus. Sonst müssen Sie bis nach Hastings mitfahren!«, rief er aufgeregt, während er ihren Koffer aus dem Netz zerrte und zum Ausgang eilte. Eva sprang auf, griff sich ihren Mantel und die Handtasche und folgte ihm. Kaum war sie auf dem Bahnsteig, setzte sich der Zug auch schon in Bewegung.
»Viel Glück in Ihrer neuen Heimat!«, rief der Schaffner und winkte ihr zu.
Eva hatte nur den einen Koffer, der allerdings so schwer war, dass sie ihn kaum tragen konnte. Als sie auf dem Vorplatz ankam, lief ihr der Schweiß in Strömen aus allen Poren. Das hatte sie bereits bei der Ankunft in Auckland bemerkt. In diesem abgelegenen Teil der Erde herrschten im Dezember sommerliche Temperaturen. Sie hielt Ausschau nach einem Taxi, aber in der Mittagshitze entdeckte sie weit und breit keinen Wagen.
»Da können Sie lange warten«, bemerkte eine vorübereilende Frau. »Am Wochenende fahren kaum Wagen. Die Männer sind alle beim Fischen oder Wandern.«
»Und wie komme ich dann zur Cameron Road?«
»Ganz einfach. Sie gehen die Straße nach links und dann immer geradeaus. Da fragen Sie noch einmal. Es geht ein bisschen bergauf, aber Sie sind ja noch jung! Keine zwei Kilometer. Höchstens fünfzehn Minuten.«
Eva holte tief Luft und überlegte. Vielleicht sollte sie bei der Tante anrufen und sie bitten, dass man sie abholen möge. Doch sie hatte noch immer den unwirschen Ton im Ohr, der ihr aus dem Telefon entgegengeklungen war. Diese Stimme machte ihr keine allzu große Hoffnung auf einen freundlichen Empfang. Was würde die Tante wohl sagen, wenn sie ohne ihre Mutter in der Cameron Road ankam? Entschieden nahm Eva den Koffer und ging nach links, wie die Frau es ihr geraten hatte. Die Strecke schien sich ewig hinzuziehen. Ein kleiner Trost war der atemberaubende Anblick des Meeres, das rechter Hand auftauchte. Aber die Freude darüber konnte Eva schließlich auch nicht mehr von ihren schmerzenden Armen ablenken. Alle paar Minuten blieb sie stehen, um die Hand zu wechseln. Ihre Finger waren jedes Mal schneeweiß, weil das Gewicht des Koffers die Blutzufuhr abquetschte.
Nach einer Weile kam ihr eine alte, dunkelhäutige Frau mit krausem schwarzem Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war, entgegen. Ob sie die ansprechen sollte? Sie war unschlüssig, starrte die Fremde aber so durchdringend an, dass diese stehenblieb und unverblümt fragte, warum sie sie so ansehe.
Eva fühlte sich ertappt und kam ins Stottern, als sie der Alten zu erklären versuchte, dass sie aus Deutschland käme und zu ihrer Tante in die Cameron Road wolle.
Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Frau.
»Sie haben noch nie zuvor eine Maori gesehen, oder?«
Eva schüttelte den Kopf. »Ich hab ein einem kleinen Ort gelebt, bis mein Vater unsere Auswanderung beschlossen hat.« Eva hatte Mühe, die richtigen englischen Wörter zu finden. In der Schule hatte sie kein Englisch gelernt und ihr Eifer auf dem Schiff zahlte sich zwar darin aus, dass sie beinahe alles verstand, aber zum flüssigen Sprechen reichte es noch nicht. Eva war das ein wenig unangenehm. Ebenso wie die Tatsache, dass sie gar nichts über dieses Land wusste. Es wäre ihr ein Gräuel, wenn man sie für ungebildet hielte. Denn ihre mangelnde Ausbildung war ihre Schwachstelle. Wie gern wäre sie nach Mainz oder Worms auf die höhere Schule gegangen wie Inge, ihre Freundin, die Tochter des Bürgermeisters. Doch es war kein Geld da, und sie wurde im Haushalt gebraucht. Einer musste schließlich kochen und sauber machen, wenn ihre Mutter wieder einmal wochenlang nur trübsinnig vor sich hingestarrt hatte.
»Und wo ist deine Mutter?«
Eva blickte die Maori erschrocken an. »Woher wissen Sie, dass ich in Begleitung meiner Mutter erwartet werde?«
Die Maori lachte.
»Weil ich die Schwester von Misses Bold bin.«
»Misses Bold? Ich werde aber von einer Misses Clarke erwartet. «
»Das ist Misses Bolds Tochter.«
»Oh, das hat mein Vater mir gar nicht gesagt, dass Misses Clarkes Mutter im Haus wohnt, aber ich wundere mich sowieso. Ich sollte eigentlich auf ein Weingut kommen und nicht in die Stadt.«
Die Miene der Maori verfinsterte sich. »Das kann ich mir lebhaft vorstellen, dass man Ihrem Vater die gute Lucie unterschlagen hat. Und Misses Clarke heißt auch nicht mehr Misses Clarke, denn sie hat neu geheiratet. Einen Doktor Thomas. Sie heißt also jetzt Misses Thomas.«
»Nein, ich meine . . . doch schon, ich weiß, dass der Onkel meines Vaters eine Frau hatte, sonst würde es ja Misses Clarke, ich meine, Vaters Cousine, also Misses Thomas nicht geben; wir dachten allerdings, sie sei schon lange . . .« Eva stockte mit hochrotem Kopf, gerade noch rechtzeitig, um es nicht auszusprechen.
»Sprechen Sie es ruhig aus! Mich können Sie damit nicht schockieren. Sie haben zudem in gewisser Weise recht. Sie ist zwar bei bester Gesundheit, aber sie wird gern auch einmal totgeschwiegen.« Die Maori griff nach Evas Koffer. »O je, das Monstrum sollen wir den ganzen Berg hochhieven? Warum holt Sie Joanne nicht ab. Oder Adrian?«
»Ich . . . ich habe nicht gefragt, weil sie sich am Telefon so abweisend angehört hat.«
Die Maori lachte wieder laut auf.
»Na, dann lernen Sie die Dame des Hauses erst einmal persönlich kennen.«
Das klingt nicht gerade ermutigend, schoss es Eva durch den Kopf, während sie mit am Griff des Koffers anpackte. Zu zweit trug er sich wesentlich leichter.
»Wer ist Adrian?«, fragte Eva, nachdem sie schon ein kleines Stück bergan gegangen waren.
»Lucies Enkel, Joannes, also Miss Thomas', Sohn und der von Mister John Clarke. Sein Vater war ein feiner Kerl, aber zu schwach für diese Welt. Er ist mein Patenkind, also Adrian, nicht der Vater, der ist ja auch leider viel zu früh verstorben.«
»Und wie alt ist er. Ich meine, Adrian?«
»Zwanzig und ein echter Prachtbursche. Er wäre ein fantastischer Weinbauer geworden, wenn das nicht alles den Bach hinuntergegangen wäre, aber ihn interessieren ohnehin mehr die alten Häuser . . .«
Eva hörte der Maori gar nicht mehr zu. Sie hatte ihren staunenden Blick auf die Häuser geheftet, die nun vor ihnen auftauchten. Wenn sie auch wenig über Land und Leute hier wusste, den Baustil, der, je näher sie kamen, umso prächtiger wirkte, kannte sie bis in die Details. Ihre größte Freude war es gewesen, sich bei ihren seltenen Besuchen in Mainz Bücher über Architektur zu besorgen. Das Geld dazu hatte sie sich mit Kinderhüten verdient. Sie bedauerte in diesem Augenblick zutiefst, dass sie das Buch über viktorianische Häuser kurz vor der Abreise hatte hergeben müssen. Auf Wunsch ihres Vaters, der alle Kostbarkeiten im Haus zu Geld gemacht hatte, um die Reisekasse zu füllen.
»Wir sind da! Oder schlafen Sie mit offenen Augen?«
»Entschuldigen Sie, nein, ich bin beeindruckt von den Häusern. Ich liebe diesen Stil, wenngleich er sehr altmodisch ist. Aber es hat alles einen so verspielten Charme. Sehen Sie, allein die verzierten Giebel ...«
»Da wird sich Adrian freuen. Der redet von nichts anderem als von alten Häusern. Aber Sie haben recht. Man kann gegen die Pakeha sagen, was man will, Sie haben schon in schönen Bauten gewohnt, als wir noch in fensterlosen Hütten gehaust haben.«
»Pakeha? Wer ist das?«
»Sie zum Beispiel. Sie sind eine Pakeha. Eine Weiße. Wir nannten die ersten weißen Siedler so, und mittlerweile ist das ein ganz gebräuchlicher Begriff geworden und . . .«
Die Maori wurde unterbrochen, als die Haustür aufging und ein junger Mann mit dunklen Locken freudig auf sie zueilte.
»Tante Ha, sie erwartet dich schon sehnsüchtig. Sie kann dem Trubel im Haus nichts abgewinnen. Und du weißt ja, den medizinischen Künsten des Arztes traut sie auch nicht. Sie lässt sich nur von dir behandeln . . .«
Der junge Mann stockte, als er Eva wahrnahm. Mit einem Blick auf ihren Koffer sagte er verschmitzt: »Sie sind hoffentlich die unbekannte Großcousine, für die ich mein Zimmer räumen musste. Dann täte es mir nämlich nicht mehr ganz so leid, dass ich das separate Reich am Ende des Flurs habe aufgeben müssen.« Er streckte ihr die Hand entgegen.
»Ich bin Adrian.«
Eva hatte Angst zu erröten. Dass junge Männer so charmant sein konnten, hatte sie nicht für möglich gehalten. In Badenheim hatten zwar mehrere Männer um sie geworben, kein einziger von den Dorfburschen hatte allerdings je ihr Interesse erregt. Und keiner hatte über solche Manieren verfügt und ein derart gewinnendes Lächeln besessen.
Sein Händedruck war angenehm kräftig.
»Ja, ich bin die Cousine aus Deutschland, aber ich bestehe nicht auf Ihrem Zimmer. Meinetwegen können wir tauschen.«
»Kommen Sie, geben Sie mir Ihren Koffer. Sie haben in dem Monstrum hoffentlich ein paar sommerliche Kleidungsstücke. Oder haben Sie darin Ihre Mutter versteckt? Wenn ich richtig informiert bin, erwarten wir Sie beide.«
Eva biss sich auf die Lippen. Nur nicht wieder weinen, redete sie sich gut zu.
»Meine Mutter ist unterwegs gestorben«, sagte sie mit belegter Stimme.
»Aber, warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Kindchen?«, bemerkte Tante Ha ehrlich betroffen.
© 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Wenn er da nur an den Überfall der Feinde vor vielen Jahren dachte. Ahorangi war damals erst elf gewesen und hatte wie ein Mann gekämpft. Er war stolz auf ihren Mut, aber nun wurde es höchste Zeit, dass sie sich auf ihre fraulichen Pflichten besann. Deshalb sollte die Zeremonie am heutigen Tag gleich mit ihrer Eheschließung verbunden werden.
Hehu, der Bräutigam, war Ahorangis Freund seit Kindertagen. Als Sohn eines Kanahau treu ergebenen Häuptlings hatte er stets viel Zeit mit ihr verbracht. Die Wettkämpfe der beiden Kinder waren legendär. Wie Brüder hatten sie sich gemessen, ja, sich sogar die traditionellen Kämpfe mit dem Stock - Mann gegen Mann - geliefert. Dass Hehu mehr für die Prinzessin empfand, war deren Vater allerdings nicht entgangen. Der junge Mann war außer sich vor Freude gewesen, als Kanahau ihm vorgeschlagen hatte, seine Tochter am Tag der Tätowierung zu heiraten. Ahorangi hingegen hatte mit einem heftigen Zornausbruch reagiert. Sie wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, Ehefrau zu werden, doch ihr Vater hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass die Heirat beschlossene Sache war. Seitdem lief seine Tochter mit finsterer Miene durch das Dorf. Keiner durfte sie ansprechen, und ihren Jugendfreund Hehu würdigte sie keines Blickes mehr. Der junge Mann tat dem Häuptling leid. Immer wieder suchte er Ahorangis Nähe und holte sich eine Abfuhr nach der anderen.
Kanahau stieß einen tiefen Seufzer aus, als sein Blick am abweisenden und stolzen Gesicht seiner Ältesten hängen blieb. Er liebte sie von ganzem Herzen, viel mehr als die um ein Jahr jüngere Harakeke, aber ihre Eigenwilligkeit bereitete ihm auch Sorgen. Würde der feinsinnige Hehu Herr über ihr wildes Wesen werden?
Was ihn jedoch weit mehr beunruhigte als ihr Widerstand gegen die Ehe war ihre offen geäußerte Abscheu vor dem Moko. Sie hatte gebeten und gebettelt, dass man ihr Gesicht mit den Zeichen ihrer Ahnen verschonen möge. Sie hätte es in Kauf genommen, dass man ihre Beine tätowierte, aber dann hätte niemand auf den ersten Blick ihre vornehme Herkunft erkennen können. Und diesem Zweck diente das Zeichen. Das Moko musste ihr Kinn sichtbar zieren.
Ich werde wie ein Mann mit einem Bart aussehen, hatte sie ihrem Vater entgegengeschleudert. Du wolltest doch immer ein Junge sein, hatte er ihr erwidert, aber das hatte sie nicht gelten lassen. Und was sie dann gesagt hatte, das beschäftigte Kanahau noch in diesem erhabenen Augenblick, in dem Ahorangi nur noch wenige Augenblicke von ihrer Einweihung trennten. Sie hatte ihn provozierend gefragt, warum die Engländerinnen kein Moko im Gesicht trügen. Und keinen Zweifel daran gelassen, dass die Pakeha in diesem Punkt zivilisierter seien als die Maori. Ihre Worte hatten Kanahau bis ins Mark getroffen, denn er vermochte keinerlei Vorzüge der Weißen seinem Volk gegenüber zu erkennen.
Kanahau atmete tief durch und versuchte, sich entspannt auf seinem Thron zurückzulehnen. Wovor hatte er Angst? Es konnte gar nichts mehr geschehen!
Die jungen Männer von seinem und Hehus Stamm machten sich bereits fertig, um nach Ahorangis Einweihung einen Haka, den rituellen Tanz der Maori, vorzuführen, während die Tätowierer ihre Werkzeuge vor der Prinzessin ausbreiteten. Es waren Schaber aus den Knochen des Albatros. Kanahau erfüllte der Gedanke, dass die noch blütenzarte Gesichtshaut seine Tochter alsbald rau und voller Narben sein würde, mit Stolz. Er mochte die Pfirsichhaut der Pakeha-Frauen nicht, und er verstand nicht, wie man ein solches glattes, helles Gesicht mögen konnte. Wenn seine Tochter erst als Maoriprinzessin gezeichnet wäre, würde sie solche törichten Vergleiche in Zukunft sicherlich nicht mehr anstellen. Das jedenfalls redete sich Kanahau in diesem Augenblick ein.
Soeben stimmten die Frauen ein Lied an. Ihre Stimmen erfüllten den erhabenen Ort und schallten bis weit über das Meer. Kanahau wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Wie sehr er seine Frau vermisste, die vor knapp einem Jahr gestorben war. Sie wäre voller Stolz, wenn sie hätte miterleben dürfen, wie ihre ungestüme Tochter sich nun doch noch zähmen ließ und die Rituale ihrer Ahnen zu respektieren lernte. Vielleicht würde Ahorangi sich unter dem Schutz ihrer Mutter auch immer noch weigern, sich tätowieren zu lassen und zu heiraten. Wenn es nach Kanahau gegangen wäre, hätte man diesen Tag nämlich bereits vor zwei Jahren gefeiert, aber seine Frau Ihapere hatte sich stets vor ihre Tochter gestellt und ihren Mann vertröstet. Nicht bevor sie sechzehn wird, hatte Ihapere gefordert. Inzwischen war Ahorangi siebzehn Jahre alt und in den Augen ihres Vaters so reif wie eine Süßkartoffel, die zu lange im Vorrats- haus gelagert hatte.
Kanahau wollte noch einen letzten Blick auf ihr kindlich reines Gesicht werfen. Sie sah ihrer Mutter verblüffend ähnlich. Wenn er daran dachte, wie vehement sein Vater sich seinerzeit gegen die Hochzeit seines Sohnes mit der »Schmalgesichtigen« - so hatte er seine zukünftige Schwiegertochter zeitlebens genannt -, ausgesprochen hatte. Kanahau aber hatten genau diese - für eine Maorifrau außergewöhnlich zarten - Gesichtszüge magisch angezogen. Doch Ihapere hatte ein Moko am Kinn besessen, das sie voller Stolz getragen hatte. Und genau dort würden die Tohungata- moko seiner Tochter das Moko in die Haut ritzen.
Plötzlich brach der Gesang der Frauen ab; Schreie wurden laut.
Kanahau wandte erschrocken den Blick von seiner Tochter ab. Eine Gruppe von Reitern bahnte sich den Weg durch die kreischenden Frauen. Woher diese Männer kamen, wussten nur die Götter. Und noch hatte der Häuptling die Tragweite dieser Störung nicht gänzlich begriffen. Erst als einer der Männer seine Tochter Harakeke packte und auf sein Pferd zog, ahnteer, dass dies ein feiger Überfall war. Er hatte davon gehört, dass liebeshungrige Siedler gelegentlich Maorifrauen raubten, aber wie konnten sie es wagen, es in seinem Dorf und an diesem Tag zu wagen?
Kanahau erhob sich und gab den jungen Männern, die zum Haka aufgestellt waren und auf ihren Tanz warteten, ein Zeichen, sich gegen die Eindringlinge zu wehren. Mit martialischem Gebrüll stürzten sich die Krieger auf die Pakeha und schlugen sie in die Flucht. Unter wilden Flüchen preschten sie im Galopp davon.
Auch Kanahau hatte sich in das Kampfgetümmel gestürzt und war gerade dabei, den letzten der Reiter zu vertreiben, als ein spitzer Schrei ihn herumfahren ließ.
Dem Häuptling stockte der Atem. Der Platz, auf dem soeben noch seine geliebte Tochter Ahorangi gesessen hatte, war von einer Staubwolke eingehüllt, die ein davongaloppierendes Pferd aufgewirbelt hatte. Als die Wolke sich verzog und der Häuptling wieder freie Sicht hatte, stieß er beim Anblick des leeren Palmenthrons einen Mark erschütternden Schrei aus.
Zug nach Napier, Dezember 1930
Anfangs hatte Eva noch gebannt aus dem Fenster des Zuges gestarrt. Eine derart wilde Landschaft hatte sie noch nie zuvor gesehen. Bis zu jenem Tag, an dem sie alles hinter sich gelassen hatte, war sie selten aus Badenheim herausgekommen, dieser kleinen pfälzischen Welt mit ihren sanften Hügeln und Weinbergen so weit das Auge reichte. Sie hatte es sich immer gewünscht, eines Tages fortzugehen, aber wie schnell und auf welche Weise ihre geheimsten Träume wahr werden sollten, hätte sie niemals für möglich gehalten.
Das Ganze war jetzt bald ein Vierteljahr her. Niemals würde sie den Abend vergessen, an dem sie bei Kerzenlicht beisammensaßen und der Vater ihnen seinen Plan verkündete. Sie würde auch niemals die Erinnerung daran aus ihrem Gedächtnis streichen können, wie reglos die Mutter die Nachricht von der baldigen Auswanderung aufnahm. Dass sie manchmal stundenlang in ihrem Sessel saß und düster vor sich hinstarrte, daran hatte sich Eva mit den Jahren gewöhnt, aber dass sie nicht aufschrie, weil von ihr verlangt wurde, ihr geliebtes Heimatland von einem Tag auf den anderen zu verlassen, verwunderte Eva sehr.
Sie selbst hingegen hatte ihre Begeisterung kaum verbergen können. Amerika war mehr, als sie je zu hoffen wagte, doch dann bekam ihre Freude einen argen Dämpfer: Nur ihren Bruder Hans wollte der Vater mitnehmen. Seine gemütskranke Frau und seine temperamentvolle Tochter sollten indessen nach Neuseeland zu irgendeiner Cousine reisen.
»Die Fahrkarten, bitte!«, riss sie eine Stimme auf Englisch aus ihren Gedanken. Eva schreckte hoch und wühlte in ihrer Handtasche nach dem Ticket. Das hatte sie sich vom letzten Geld kaufen können, das ihre Mutter als Reisekasse mit aufs Schiff genommen hatte. Eigentlich hätte sie in Auckland abgeholt werden sollen, aber nachdem sie mutterseelenallein bis zum nächsten Tag am Kai gewartet und schließlich ein Telefon gesucht hatte, um ihre Tante anzurufen, war ihr mitgeteilt worden, sie solle den Zug nach Wellington nehmen, in Taumarunui in Richtung Napier umsteigen und sich dort vom Bahnhof zu ihrem Haus in Napier bringen lassen. Sehr freundlich hatte ihre Tante am Telefon nicht geklungen. Dabei hatte sie ihrem Vater einen netten Brief geschrieben, dass man seine Frau und seine Tochter gern für zwei Jahre aufnehme. Auf dem Weingut sei genug zu tun. Da könne man jede Hand gebrauchen.
Nun hatten sich die Umstände offenbar geändert, denn von einem Haus in der Stadt war nie zuvor die Rede gewesen.
»Träumen Sie?«, hörte sie den Schaffner fragen.
»Nein, hier ist das Ticket!«, erwiderte Eva hastig auf Englisch.
»Woher kommen Sie?«
Eva zuckte zusammen. Hörte man es etwa, dass sie aus Deutschland kam? Dabei hatte sie doch so fleißig gelernt. Die ganze Überfahrt hatte sie nichts anderes getan, als auf ihrem Etagenbett zu hocken und sich in die Bücher zu vertiefen. Sie wollte auf keinen Fall als sprachloses Dummchen am anderen Ende der Welt ankommen.
»Ich bin aus Deutschland«, erwiderte Eva zögernd.
Ein Strahlen huschte über das Gesicht des Schaffners.
»Ich hab's gewusst. Und ich müsste lügen, wenn ich nicht gleich herausgehört hätte, dass Sie aus der Pfalz kommen.«
Evas Miene erhellte sich ebenfalls. Sie nickte eifrig. »Ja, aus Badenheim!«
Der Mann kratzte sich den Bart. »Kenn ich nicht, aber ich bin auch schon über vierzig Jahre hier. War noch ein Kind, als wir ausgewandert sind . . .« Er stockte und musterte sie prüfend. »Hat man Sie ganz allein um die Welt geschickt?«
»Nein, mit meiner Mutter; die ist allerdings unterwegs gestorben ...«
Tränen traten ihr in die Augen; sie konnte nichts dagegen tun. Es lag wohl an diesem fremden Mann, der die ihr vertraute Sprache sprach. Hinzu kam die schmerzhafte Erinnerung an den Tag, an dem ihre Mutter nicht mehr aufgewacht war. Es stand ihr so lebendig vor Augen, als wäre sie wieder auf dem Schiff.
»Die wird nicht mehr!«, hatte sich eine alte Frau aus dem Stockbett nebenan mitleidlos eingemischt, nachdem Eva den leblosen Körper ihrer Mutter wie eine Irre geschüttelt hatte.
Spätestens in jenem Augenblick hatte sie gewusst, dass die Alte die Wahrheit sprach, aber sie wollte sich ihr nicht stellen. Sie stürzte aus dem Saal mit den Doppelstockbetten und schrie nach Doktor Franke. Der begleitete sie sofort zum Bett der Mutter, die er recht gut kannte, hatte sie sich doch während einer schlimmen Grippewelle, die unter den Passagieren wütete, freiwillig bei ihm als Helferin gemeldet. Eva und sie halfen unermüdlich, die Kranken zu betreuen. Immer in der Angst, sie könnten sich selber anstecken, aber sie bekamen nicht einmal einen Schnupfen. Inzwischen war die Epidemie an Bord überstanden und hatte nur wenige Opfer gefordert.
Der grauhaarige Arzt wurde weiß um die Nase, als er sich zu Martha Schindler hinunterbeugte.
»Ihre Mutter ist tot«, sagte er, nachdem er sie untersucht hatte.
»Gestern war sie noch völlig gesund! Sie hatte keine Anzeichen der schrecklichen Grippe. Und sie leidet nicht unter einem schwachen Herzen. Das kann doch gar nicht sein!«, widersprach Eva verzweifelt.
Doktor Franke machte ein Zeichen, dass sie ihm nach draußen folgen sollte, denn mittlerweile waren die neugierigen Blicke sämtlicher mitreisender Damen auf Eva und den Doktor gerichtet.
Eva ließ sich aus dem Schlafsaal hinausschieben. Sie hatte immer noch nicht begriffen, was geschehen war.
»Ich habe mich schon gewundert, wer uns das Veronal gestohlen hat, aber hier ist das leere Röhrchen.« Der Doktor hielt es hoch.
»Wo haben Sie es her?«
»Es lag unter der Bettdecke Ihrer Mutter. Ich habe es eben gefunden, als ich sie abgehorcht habe. Sie müssen jetzt tapfer sein: Ihre Mutter hat sich umgebracht.«
»Sie hat es schon einmal versucht«, hatte Eva kaum hörbar erwidert. Ihr Vater hatte ihr einmal erklärt, dass es mit Marthas Schwermut kurz nach ihrer Geburt losgegangen sei.
Der Schaffner hatte sich inzwischen neben Eva auf die Bank gesetzt und den Arm um sie gelegt. Als sie begriff, dass dieser fremde Mann sie zu trösten versuchte, schluchzte sie laut auf. Endlich konnte sie weinen. Die ganze Zeit seit dem furchtbaren Tag war sie wie versteinert gewesen.
»Nädd draurig sin, Maat«, hörte sie den Schaffner wie von ferne raunen, doch sie konnte nichts dagegen tun. Es musste sein. Endlich! Alle hatten sich gewundert, dass sie keine Träne vergossen hatte, während der Kapitän den Leichensack mit ihrer Mutter ins Meer gekippt hatte. Sie aber hatte nicht weinen können. Ihr Inneres war wie erstarrt gewesen.
Erst in diesem Augenblick, als sie an einen fremden bulligen Mann aus ihrer Heimat gelehnt war, trauerte sie darüber, dass sie ihre Mutter verloren hatte und allein in einem fremden Land war.
Ich werde Vater schreiben, damit er mir das Geld für eine Fahrkarte schickt, dann sehe ich die beiden bald wieder, redete sie sich gut zu. Und nicht erst in zwei Jahren, wie ihr Vater es sich vorgestellt hatte.
In zwei Jahren habe ich genug Geld zusammen, sodass wir unsere Hänge wieder bewirtschaften und vom Weinverkauf leben können, hatte er versprochen, aber bis dahin könnt ihr nicht auf diesem heruntergekommenen Stück Land hausen, das einmal ein ertragreiches Weinland gewesen war.
Nach dem Krieg war es mit dem Weingut ständig bergab gegangen. Zum einen war der Vater mit einer Kriegsverletzung heimgekehrt und zum anderen hatte er sich früh den Separatisten um Heinz Orbis angeschlossen. Sein Traum war eine freie Pfalz mit Anlehnung an Frankreich gewesen. Doch der Rückhalt in der Bevölkerung für diese Bewegung war nicht eben groß gewesen. Peter Schindler hatte sich zwar noch rechtzeitig von den Separatisten losgesagt, um nicht mit seinem Leben zu büßen, aber in den Augen der französischen Besatzer war er politisch unzuverlässig, und von den Hilfen der Bayrischen Landesregierung bekam er gar nichts. Der Bürgermeister überging den frankophilen Querkopf, wie Peter Schindler im Dorf genannt wurde. Mit dem Ergebnis, dass er Weinberge verkaufen musste und vom Rest seine Familie nicht mehr hatte ernähren können. Er hatte sich allerdings geweigert, das Anwesen zu verkaufen. Stattdessen hatte er für die Tickets nach Amerika und Neuseeland sämtliche Schmuckstücke versetzt, die ihm seine Mutter einst vererbt hatte. Und das waren nicht wenige gewesen, denn das Weingut Schindler hatte unter seinen Eltern weitaus bessere Zeiten gesehen.
Eva schreckte aus ihren Gedanken, als der Schaffner sich entschuldigend erhob. Er müsse weiter. Allerdings nicht, ohne sich nach ihrer Bleibe in Napier zu erkundigen. Als sie die Adresse in der Cameron Road nannte, pfiff er durch die Zähne und erklärte ihr, dass dies eine Straße wäre, in der es nur große, alte viktorianische Villen gebe. Dort habe man Geld, fügte er augenzwinkernd hinzu.
Eva dankte dem freundlichen Mann. Wenn er wüsste, wie gleichgültig ihr war, wohin sie kam. Sie würde eh nicht lange bleiben. Sie war nur von einem Gedanken besessen: ihrem Vater einen Brief zu schreiben, sobald er seinerseits die Adresse geschickt hatte, um ihn zu bitten, sie nachkommen zu lassen.
Wenn ich diese Reise überlebt habe, werde ich auch noch gesund von hier nach Amerika gelangen, dachte sie und setzte sich aufrecht hin. Draußen schien die Sonne, und im Zug wurde es langsam warm. Eva zog ihren dunklen Wollmantel aus, der sie seit Beginn der Reise begleitete. Ihr Vater hatte ihn ihr in Hamburg gekauft. Dort hatten sie einige Tage in einer schäbigen Unterkunft auf die Abfahrt ihrer Schiffe warten müssen. Auch das würde sie nie vergessen: Wie ihre Mutter und sie auf dem riesigen Dampfer gestanden und ihrem Vater und Bruder zu gewunken hatten, bis diese eins mit der gesichtslosen Menge geworden waren, die am Kai Abschied von ihren Verwandten nahm.
In ihrer ersten Nacht auf dem riesigen Auswandererdampfer hatte Eva sich in den Schlaf geweint, um dann keine einzige Träne mehr zu vergießen - bis heute. Der Zug durchquerte soeben eine Landschaft aus Bergen und grünen Wiesen. Die Berge waren höher als zu Hause und die Wiesen grüner. Eva drückte sich die Nase an der Scheibe platt. Selbst die Sonnenstrahlen, die das Land in ein warmes Lichttauchten, kamen ihr kräftiger vor als in Badenheim. Sie wollte auf keinen Fall etwas verpassen. Doch schon kurz darauf ergriff die Müdigkeit mit aller Macht von ihr Besitz. Die Augen fielen ihr zu und ihr Kopf sackte nach vorn auf die Brust.
Napier, Dezember 1930
Eva erwachte davon, dass jemand sie kräftig schüttelte. Es war der freundliche Schaffner.
»Schnell, steigen Sie aus. Sonst müssen Sie bis nach Hastings mitfahren!«, rief er aufgeregt, während er ihren Koffer aus dem Netz zerrte und zum Ausgang eilte. Eva sprang auf, griff sich ihren Mantel und die Handtasche und folgte ihm. Kaum war sie auf dem Bahnsteig, setzte sich der Zug auch schon in Bewegung.
»Viel Glück in Ihrer neuen Heimat!«, rief der Schaffner und winkte ihr zu.
Eva hatte nur den einen Koffer, der allerdings so schwer war, dass sie ihn kaum tragen konnte. Als sie auf dem Vorplatz ankam, lief ihr der Schweiß in Strömen aus allen Poren. Das hatte sie bereits bei der Ankunft in Auckland bemerkt. In diesem abgelegenen Teil der Erde herrschten im Dezember sommerliche Temperaturen. Sie hielt Ausschau nach einem Taxi, aber in der Mittagshitze entdeckte sie weit und breit keinen Wagen.
»Da können Sie lange warten«, bemerkte eine vorübereilende Frau. »Am Wochenende fahren kaum Wagen. Die Männer sind alle beim Fischen oder Wandern.«
»Und wie komme ich dann zur Cameron Road?«
»Ganz einfach. Sie gehen die Straße nach links und dann immer geradeaus. Da fragen Sie noch einmal. Es geht ein bisschen bergauf, aber Sie sind ja noch jung! Keine zwei Kilometer. Höchstens fünfzehn Minuten.«
Eva holte tief Luft und überlegte. Vielleicht sollte sie bei der Tante anrufen und sie bitten, dass man sie abholen möge. Doch sie hatte noch immer den unwirschen Ton im Ohr, der ihr aus dem Telefon entgegengeklungen war. Diese Stimme machte ihr keine allzu große Hoffnung auf einen freundlichen Empfang. Was würde die Tante wohl sagen, wenn sie ohne ihre Mutter in der Cameron Road ankam? Entschieden nahm Eva den Koffer und ging nach links, wie die Frau es ihr geraten hatte. Die Strecke schien sich ewig hinzuziehen. Ein kleiner Trost war der atemberaubende Anblick des Meeres, das rechter Hand auftauchte. Aber die Freude darüber konnte Eva schließlich auch nicht mehr von ihren schmerzenden Armen ablenken. Alle paar Minuten blieb sie stehen, um die Hand zu wechseln. Ihre Finger waren jedes Mal schneeweiß, weil das Gewicht des Koffers die Blutzufuhr abquetschte.
Nach einer Weile kam ihr eine alte, dunkelhäutige Frau mit krausem schwarzem Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war, entgegen. Ob sie die ansprechen sollte? Sie war unschlüssig, starrte die Fremde aber so durchdringend an, dass diese stehenblieb und unverblümt fragte, warum sie sie so ansehe.
Eva fühlte sich ertappt und kam ins Stottern, als sie der Alten zu erklären versuchte, dass sie aus Deutschland käme und zu ihrer Tante in die Cameron Road wolle.
Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Frau.
»Sie haben noch nie zuvor eine Maori gesehen, oder?«
Eva schüttelte den Kopf. »Ich hab ein einem kleinen Ort gelebt, bis mein Vater unsere Auswanderung beschlossen hat.« Eva hatte Mühe, die richtigen englischen Wörter zu finden. In der Schule hatte sie kein Englisch gelernt und ihr Eifer auf dem Schiff zahlte sich zwar darin aus, dass sie beinahe alles verstand, aber zum flüssigen Sprechen reichte es noch nicht. Eva war das ein wenig unangenehm. Ebenso wie die Tatsache, dass sie gar nichts über dieses Land wusste. Es wäre ihr ein Gräuel, wenn man sie für ungebildet hielte. Denn ihre mangelnde Ausbildung war ihre Schwachstelle. Wie gern wäre sie nach Mainz oder Worms auf die höhere Schule gegangen wie Inge, ihre Freundin, die Tochter des Bürgermeisters. Doch es war kein Geld da, und sie wurde im Haushalt gebraucht. Einer musste schließlich kochen und sauber machen, wenn ihre Mutter wieder einmal wochenlang nur trübsinnig vor sich hingestarrt hatte.
»Und wo ist deine Mutter?«
Eva blickte die Maori erschrocken an. »Woher wissen Sie, dass ich in Begleitung meiner Mutter erwartet werde?«
Die Maori lachte.
»Weil ich die Schwester von Misses Bold bin.«
»Misses Bold? Ich werde aber von einer Misses Clarke erwartet. «
»Das ist Misses Bolds Tochter.«
»Oh, das hat mein Vater mir gar nicht gesagt, dass Misses Clarkes Mutter im Haus wohnt, aber ich wundere mich sowieso. Ich sollte eigentlich auf ein Weingut kommen und nicht in die Stadt.«
Die Miene der Maori verfinsterte sich. »Das kann ich mir lebhaft vorstellen, dass man Ihrem Vater die gute Lucie unterschlagen hat. Und Misses Clarke heißt auch nicht mehr Misses Clarke, denn sie hat neu geheiratet. Einen Doktor Thomas. Sie heißt also jetzt Misses Thomas.«
»Nein, ich meine . . . doch schon, ich weiß, dass der Onkel meines Vaters eine Frau hatte, sonst würde es ja Misses Clarke, ich meine, Vaters Cousine, also Misses Thomas nicht geben; wir dachten allerdings, sie sei schon lange . . .« Eva stockte mit hochrotem Kopf, gerade noch rechtzeitig, um es nicht auszusprechen.
»Sprechen Sie es ruhig aus! Mich können Sie damit nicht schockieren. Sie haben zudem in gewisser Weise recht. Sie ist zwar bei bester Gesundheit, aber sie wird gern auch einmal totgeschwiegen.« Die Maori griff nach Evas Koffer. »O je, das Monstrum sollen wir den ganzen Berg hochhieven? Warum holt Sie Joanne nicht ab. Oder Adrian?«
»Ich . . . ich habe nicht gefragt, weil sie sich am Telefon so abweisend angehört hat.«
Die Maori lachte wieder laut auf.
»Na, dann lernen Sie die Dame des Hauses erst einmal persönlich kennen.«
Das klingt nicht gerade ermutigend, schoss es Eva durch den Kopf, während sie mit am Griff des Koffers anpackte. Zu zweit trug er sich wesentlich leichter.
»Wer ist Adrian?«, fragte Eva, nachdem sie schon ein kleines Stück bergan gegangen waren.
»Lucies Enkel, Joannes, also Miss Thomas', Sohn und der von Mister John Clarke. Sein Vater war ein feiner Kerl, aber zu schwach für diese Welt. Er ist mein Patenkind, also Adrian, nicht der Vater, der ist ja auch leider viel zu früh verstorben.«
»Und wie alt ist er. Ich meine, Adrian?«
»Zwanzig und ein echter Prachtbursche. Er wäre ein fantastischer Weinbauer geworden, wenn das nicht alles den Bach hinuntergegangen wäre, aber ihn interessieren ohnehin mehr die alten Häuser . . .«
Eva hörte der Maori gar nicht mehr zu. Sie hatte ihren staunenden Blick auf die Häuser geheftet, die nun vor ihnen auftauchten. Wenn sie auch wenig über Land und Leute hier wusste, den Baustil, der, je näher sie kamen, umso prächtiger wirkte, kannte sie bis in die Details. Ihre größte Freude war es gewesen, sich bei ihren seltenen Besuchen in Mainz Bücher über Architektur zu besorgen. Das Geld dazu hatte sie sich mit Kinderhüten verdient. Sie bedauerte in diesem Augenblick zutiefst, dass sie das Buch über viktorianische Häuser kurz vor der Abreise hatte hergeben müssen. Auf Wunsch ihres Vaters, der alle Kostbarkeiten im Haus zu Geld gemacht hatte, um die Reisekasse zu füllen.
»Wir sind da! Oder schlafen Sie mit offenen Augen?«
»Entschuldigen Sie, nein, ich bin beeindruckt von den Häusern. Ich liebe diesen Stil, wenngleich er sehr altmodisch ist. Aber es hat alles einen so verspielten Charme. Sehen Sie, allein die verzierten Giebel ...«
»Da wird sich Adrian freuen. Der redet von nichts anderem als von alten Häusern. Aber Sie haben recht. Man kann gegen die Pakeha sagen, was man will, Sie haben schon in schönen Bauten gewohnt, als wir noch in fensterlosen Hütten gehaust haben.«
»Pakeha? Wer ist das?«
»Sie zum Beispiel. Sie sind eine Pakeha. Eine Weiße. Wir nannten die ersten weißen Siedler so, und mittlerweile ist das ein ganz gebräuchlicher Begriff geworden und . . .«
Die Maori wurde unterbrochen, als die Haustür aufging und ein junger Mann mit dunklen Locken freudig auf sie zueilte.
»Tante Ha, sie erwartet dich schon sehnsüchtig. Sie kann dem Trubel im Haus nichts abgewinnen. Und du weißt ja, den medizinischen Künsten des Arztes traut sie auch nicht. Sie lässt sich nur von dir behandeln . . .«
Der junge Mann stockte, als er Eva wahrnahm. Mit einem Blick auf ihren Koffer sagte er verschmitzt: »Sie sind hoffentlich die unbekannte Großcousine, für die ich mein Zimmer räumen musste. Dann täte es mir nämlich nicht mehr ganz so leid, dass ich das separate Reich am Ende des Flurs habe aufgeben müssen.« Er streckte ihr die Hand entgegen.
»Ich bin Adrian.«
Eva hatte Angst zu erröten. Dass junge Männer so charmant sein konnten, hatte sie nicht für möglich gehalten. In Badenheim hatten zwar mehrere Männer um sie geworben, kein einziger von den Dorfburschen hatte allerdings je ihr Interesse erregt. Und keiner hatte über solche Manieren verfügt und ein derart gewinnendes Lächeln besessen.
Sein Händedruck war angenehm kräftig.
»Ja, ich bin die Cousine aus Deutschland, aber ich bestehe nicht auf Ihrem Zimmer. Meinetwegen können wir tauschen.«
»Kommen Sie, geben Sie mir Ihren Koffer. Sie haben in dem Monstrum hoffentlich ein paar sommerliche Kleidungsstücke. Oder haben Sie darin Ihre Mutter versteckt? Wenn ich richtig informiert bin, erwarten wir Sie beide.«
Eva biss sich auf die Lippen. Nur nicht wieder weinen, redete sie sich gut zu.
»Meine Mutter ist unterwegs gestorben«, sagte sie mit belegter Stimme.
»Aber, warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Kindchen?«, bemerkte Tante Ha ehrlich betroffen.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Laura Walden
- 2013, 2. Aufl., 512 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 340416797X
- ISBN-13: 9783404167975
- Erscheinungsdatum: 19.04.2013
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