Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen
Denkstationen eines Bürgers
Verantwortung für die Vergangenheit, Ermutigung für die Zukunft
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Produktinformationen zu „Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen “
Verantwortung für die Vergangenheit, Ermutigung für die Zukunft
Bundespräsident Joachim Gauck steht für Glaubwürdigkeit: Offen und ehrlich spricht er Wahrheiten aus - hier sind seine wichtigsten Worte der letzten 25 Jahre!
Seit Joachim Gauck 1990 in öffentliche Ämter kam, spricht er zu wichtigen Themen und Anlässen. Und die Menschen hören ihm zu, weil er glaubwürdig ist - und unbequem. Weil das, was er sagt, von seiner Biographie gedeckt ist. In diesem Buch sind erstmals die wichtigsten Reden der letzten 25 Jahre zu seinen Lebensthemen Freiheit, Verantwortung und Selbstermächtigung versammelt: kluge, feinsinnige und auch leidenschaftliche Texte über Themen, die Gauck wichtig sind.
"Bürger trifft Bürger", so beschreibt Joachim Gauck sein Verständnis von den öffentlichen Auftritten, die er als Bundespräsident wahrnimmt. Dabei geht es ihm nicht darum, der Bevölkerung nach dem Mund zu reden, sondern eine klare Haltung zu wichtigen Fragen einzunehmen, die unser Leben und unsere Gesellschaft betreffen. Er hütet sich vor vermeintlichen Patentrezepten und sagt sehr deutlich, wo ideologische Fallen lauern. Gerade dadurch hat er die Herzen und Köpfe in Deutschland für sich eingenommen, über alle Parteigrenzen hinweg. Gauck will uns mit seinen großen Reden dazu ermutigen, unser Leben und das Nachdenken darüber, ja: das Schicksal unseres Landes selbst in die Hand zu nehmen.
So spricht er über Anpassung und Widerstand. Darüber, wie schwierig es ist, Freiheit zu gestalten. Warum Deutschland und Europa eine lebendige Erinnerung brauchen. Und wie aus Untertanen engagierte Citoyens - eben Bürger - werden.
Bundespräsident Joachim Gauck steht für Glaubwürdigkeit: Offen und ehrlich spricht er Wahrheiten aus - hier sind seine wichtigsten Worte der letzten 25 Jahre!
Seit Joachim Gauck 1990 in öffentliche Ämter kam, spricht er zu wichtigen Themen und Anlässen. Und die Menschen hören ihm zu, weil er glaubwürdig ist - und unbequem. Weil das, was er sagt, von seiner Biographie gedeckt ist. In diesem Buch sind erstmals die wichtigsten Reden der letzten 25 Jahre zu seinen Lebensthemen Freiheit, Verantwortung und Selbstermächtigung versammelt: kluge, feinsinnige und auch leidenschaftliche Texte über Themen, die Gauck wichtig sind.
"Bürger trifft Bürger", so beschreibt Joachim Gauck sein Verständnis von den öffentlichen Auftritten, die er als Bundespräsident wahrnimmt. Dabei geht es ihm nicht darum, der Bevölkerung nach dem Mund zu reden, sondern eine klare Haltung zu wichtigen Fragen einzunehmen, die unser Leben und unsere Gesellschaft betreffen. Er hütet sich vor vermeintlichen Patentrezepten und sagt sehr deutlich, wo ideologische Fallen lauern. Gerade dadurch hat er die Herzen und Köpfe in Deutschland für sich eingenommen, über alle Parteigrenzen hinweg. Gauck will uns mit seinen großen Reden dazu ermutigen, unser Leben und das Nachdenken darüber, ja: das Schicksal unseres Landes selbst in die Hand zu nehmen.
So spricht er über Anpassung und Widerstand. Darüber, wie schwierig es ist, Freiheit zu gestalten. Warum Deutschland und Europa eine lebendige Erinnerung brauchen. Und wie aus Untertanen engagierte Citoyens - eben Bürger - werden.
Klappentext zu „Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen “
Verantwortung für die Vergangenheit, Ermutigung für die Zukunft Seit Joachim Gauck 1990 in öffentliche Ämter kam, spricht er zu wichtigen Themen und Anlässen. Und die Menschen hören ihm zu, weil er glaubwürdig ist - und unbequem. Weil das, was er sagt, von seiner Biographie gedeckt ist. In diesem Buch sind erstmals die wichtigsten Reden der letzten 25 Jahre zu seinen Lebensthemen Freiheit, Verantwortung und Selbstermächtigung versammelt: kluge, feinsinnige und auch leidenschaftliche Texte über Themen, die Gauck wichtig sind.
Lese-Probe zu „Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen “
Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen von Joachim GauckEinleitung
Das Leben, in das ich hineingeriet, war eines, das ich nicht schweigend ertragen wollte. aber viele der Worte, die mir aus politischen Gründen wichtig waren in der Kindheit, der Jugendzeit und dann bis zu meinem fünfzigsten Lebensjahr, waren im Land der Diktatur nicht erwünscht. ich habe es in diesem Land dennoch aushalten können, weil mir mein Beruf in der Kirche Möglichkeiten gab, Meinungen und Worte zu vertreten, die ich als Lehrer oder Journalist niemals hätte äußern dürfen.
Einige der frühen texte haben wieder wachgerufen, was selbst nach zwei Jahrzehnten noch Spuren in mir hinterlassen hat. Andere texte zeigen, wie stark sich unsere Lebensumstände und meine Interessen verändert haben, seitdem Deutschland wieder eins wurde. Manche reden und Aufsätze behandeln also bereits historisches, andere greifen Gegenwart und Zukunft auf.
Reden, die ich oft weitgehend frei gehalten habe, tragen zudem einen deutlich anderen Duktus als schriftlich abgelieferte Beiträge für Zeitungen oder Bücher. Entstanden ist eine Sammlung aus höchst unterschiedlichen, teilweise typischen, aber auch einigen ganz besonderen Texten.
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Am Anfang steht eine Predigt zum Kirchentag im Norden der DDR, die zugleich politische Anspielungen, Kritik und Worte der Hoffnung enthält. Es war das Jahr 1988. Wir wagten damals noch nicht, vom Untergang des Kommunismus zu träumen, aber wir wollten von den Machthabern endlich gehört werden. Es wirkte befreiend auf die große Kirchentagsgemeinde, dass wir offen die Stationierung der Raketen in unseren Wäldern oder die repressive Pädagogik problematisierten. Mehr noch aber war die Gemeinde elektrisiert von Bildern, in denen ihr Lebensgefühl Ausdruck fand: »Seele und Herz unzähliger Menschen in Eiszeit«.
Dieser Band enthält sodann Reden und Artikel, die nach 1990 entstanden sind. in den ersten zehn Jahren dominierten Beiträge zur Aufarbeitung der Stasihinterlassenschaft und zum Umgang mit der kommunistischen Diktatur. Während meiner anschließenden ehrenamtlichen Tätigkeit als Vorsitzender des Vereins »Gegen Vergessen - Für Demokratie« widmete ich mich unter anderem dem Widerstand in der NS-Zeit, der Verteidigung der Demokratie und Fragen von Mentalität und Mentalitätswandel in Transformationsgesellschaften.
Die vorliegende Sammlung von Aufsätzen und Reden belegt die Kontinuität meines öffentlichen Engagements. als Bundespräsident stehe ich nun - schon im fortgeschrittenen Alter - noch einmal vor neuen Herausforderungen. als Beispiel für die Erweiterung meines Themen Spektrums mag die Rede zu Europa stehen.
Um Wiederholungen zu vermeiden, wurden die Texte des Bandes einem gründlichen Lektorat unterzogen und deutlich und beherzt gekürzt. ich hoffe, dass dies der Erkennbarkeit meiner Person nützt.
Aufbruch 1989
Hoffnung
In diesem Gottesdienst werden wir sehr intensiv um Hoffnung bitten, denn wir denken, dass nur, wer etwas hofft, auch die Kraft zum Engagement hat. Das verbindet Christen und Nichtchristen. Wir müssen etwas haben, von dem wir träumen können. Dann werden wir uns auch in Bewegung setzen und in Kirche und Gesellschaft notwendige Veränderungen bewirken.
Interview zum Schlussgottesdienst auf dem Kirchentag in Rostock, Juni 1988.
Abschied vom Schattendasein der Anpassung
Liebe Gemeinde der Weggefährten und Gäste! an Festtagen wird auch bei Regen alles licht. aber Kirchentag und Hochzeit sind selten. tägliche sorgen engen Blick und Seele ein. als Kind, Frau und Mann, als Christen und Staatsbürger erleben wir oft mehr Dunkelheit als Licht. mancher kommt sich benachteiligt vor - und mancher ist es auch. Polarnacht liegt oft Jahrzehnte über ganzen Völkern und Bevölkerungsgruppen - Seele und Herz unzähliger Menschen in Eiszeit! ungleichmäßig sind die Licht-und Klima Zonen über die Erdkugel verteilt, Fülle und Mangel im Leben der Menschheit desgleichen. Vor dem Licht ist die Nacht. aber in der tiefe der Nacht wird für den, der wachen muss, die Sehnsucht nach dem Licht am heftigsten. man kann diese Sehnsucht am Morgen schnell vergessen. ob das gut ist?
Licht lässt uns sehen - auch die Dinge, die in uns geschehen. Vielleicht so: ich nehme das Dunkel ernst, ich halte die Sehnsucht am Leben, schlucke sie nicht herunter. ich warte nicht auf das magische innere Licht, sondern nehme auch meine quälenden Zweifel ernst. ich verzichte darauf, mein Leben zu retuschieren. Denn ich muss aushalten, was quält, sonst entdecke ich die Sehnsucht nicht. und ich will mich sehnen, sonst finde ich die Hoffnung nicht.
Hoffnung wächst nicht aus haben, sie wächst aus Sehnsucht nach sein.
Wenn sie echt ist, riskiert sie etwas. nicht Idylle, sondern Veränderung umgibt sie. eine Schwester von ihr heißt Unruhe. Bitte erschrecken wir nicht, sondern bedenken wir, wohin uns die ruhe gegenüber allem unrecht geführt hat! Die etablierte christen- und
Rostock, 19. Juni 1988, Predigt während des Schlussgottesdienstes auf dem Kirchentag.
Bürgergemeinschaft muss wohl lernen, ihren Unruhestiftern zu danken. sie lehren uns: Finde dich nicht ab mit dem, was du vorfindest. so suchen viele von uns erbittert und doch mit Hoffnung unter dem täglichen Leben das Leben, unter den vielen Wahrheiten die Wahrheit. und sollte da nicht auch nähe Gottes sein, wo wir so hungern und dürsten nach dem Wirklichen und Wahrhaftigen, dem Sinn für unser Leben? Da sind wir noch kein Licht, aber wir werden schon erleuchtet. und wir werden die Brücke finden, die uns gehen, handeln und lieben lässt.
Wie könnten wir dem Leben neu begegnen?
Der 1. Johannesbrief bietet dafür zwei Schwerpunkte an. erstens: erkennen und bekennen, wie ich wirklich bin; zweitens: Erneuerung erfahren.
Erkennen, »dass ich ein Sünder bin«, heißt es in der Sprache der Bibel. in unserer Sprache heißt das: die eigenen Grenzen erkennen.
Dem Licht - Gott - gegenüber erkenne ich Schatten und Rückseiten: ich mache nicht nur Fehler, ich werde schuldig. und dies nicht nur irgendwo am Rande, sondern im Zentrum des Lebens. schuld, so erkennen wir, ist eine Dimension des menschlichen Lebens. Wer sie leugnet und stur behauptet, der Mensch ist gut, gut, gut, tut sich und seinen Mitmenschen nichts Gutes. Wer dies erkannt hat, wird frei werden, Schuld Schuld und Sünde Sünde zu nennen. Das ist sicher ein schwerer schritt, besonders für erwachsene Menschen; noch schwerer ist er für formierte menschengruppen. aber neues Leben kann wachsen, wo schuld bekannt und Neuanfang gesucht wird. es erfüllt Christen mit einem guten Gefühl, wenn ihre Kirche sture Rechthaberei verlässt und für sich selbst Umkehr bejaht. und es erfüllt uns mit einem neuen Gefühl gegenüber Vertretern der marxistischen Weltanschauung, wenn wir aus der Sowjetunion hören, dass Schuld genannt werden kann.
Was für den einzelnen Menschen gilt, gilt auch für die Gesellschaft; erkennen und benennen, was ungut ist, und dann anfangen, auf eine neue Art zu leben. Plötzlich entsteht dann nähe, wo lange Distanz war. Wir brauchen diese nähe, denn wir haben einen Dialog des normalen Gesprächs, nicht der tönenden Phrasen zu erlernen.
Das wünschen wir uns so sehr: ein neues miteinander in unserer Gesellschaftabrüstung und Entspannung als tragende Säulen eines neuen innergesellschaftlichen Dialogs! Was außenpolitisch mehr und mehr gilt (Abrüstung), will und muss mehr und mehr in das innere dieses Landes!
Wir freuen uns über jeden Schritt, der auf diesem Weg zurückgelegt wird, besonders über den begonnenen Dialog zwischen Marxisten und Christen auf unserem Kirchentag.
Beim ernstnehmen unserer Grenzen und unserer schuld fällt der Blick in diesem Jahr (vor fünfzig Jahren Reichspogromnacht) auf unsere Unheilsgeschichte gegenüber den Juden.
Neues wird, wo alte Schuld nicht geleugnet wird.
Dem Leben neu begegnen bedeutet Erneuerung erfahren. Wo der erste Schritt getan ist, begegnet uns Jesus. er findet uns, wie er uns gerufen hat: mangelhaft. und er vergibt uns. - Da denken wir daran, wie wir klein waren und sich Hände auf unseren Kopf legten, die alles, alles gutmachten. Da konnten wir wieder aufspringen und weiterlaufen, noch immer mangelhaft, aber geliebt.
So wollen wir Vergebung begreifen. Christine Lavant:
Angst, leg dich schlafen,
Hoffnung, zieh dich an, du musst mit mir gehen.
Schnür die Schuhe fester! ich hielt dich lang verborgen,
kleine Schwester, schön bist du geworden,
und ich freu mich dran.
Mit der Schwester Hoffnung suchen wir jene geheimnisvolle und verwandelte Beziehung zu dem schöneren Gegenüber unseres beschädigten Menschseins.
Dorothee Sölle spricht einmal von der »Zärtlichkeit Gottes«. sie ahnen dürfen - das geschieht, wenn wir beieinanderstehen: freundlich, solidarisch, geschwisterlich. Darum ist unser wichtigstes Erlebnis nicht das interessante und spektakuläre, sondern das, was uns neu hoffen macht. Das brauchen wir wie Brot zum Leben.
So viele Abgründe warten auf Brücken, die engagierte Menschen bauen:
- Menschen sollen sich begegnen, nicht verurteilen.
- Die Natur will bewahrt, nicht ausgebeutet sein.
- aus unseren Wäldern soll das Teufelszeug der Raketen verschwinden.
- aus unseren Schulen sollen die schwarz-Weiß-klischees verabschiedet werden.
- unsere Republik will einladender werden: Wir werden bleiben wollen, wenn wir gehen dürfen.
- Ausbeutung, Apartheid und Unterdrückung warten auf den Hass der Liebenden.
- Die Opfer jeder Gesellschaft warten auf die Nähe von Genossen und Geschwistern, die diese Namen verdienen.
- und: unsere Kirche will auferstehen zum Leben! nehmen wir Abschied, Freunde, vom Schattendasein, das wir leben in den Tarnanzügen der Anpassung. also: die Brücke betreten in das Leben, das wir bei Jesus Christus lernen können!
1989 - Das Später kam früher
ich beginne mit dem Glück. Wir schrieben den 19. Oktober 1989. in der Rostocker Marienkirche drängten sich tausende von Menschen. sie waren nicht zum ersten Mal hier, sondern hatten schon in der Vorwoche ihren Wunsch nach Erneuerung der Gesellschaft zum Ausdruck gebracht. Das hatte andere motiviert dazuzukommen, so wurden in anderen Kirchen Parallelgottesdienste mit exakt denselben texten abgehalten. Wir Organisatoren dieser Veranstaltungen trugen über unsere Netzwerke Informationen von den sich neu bildenden Bewegungen und aus anderen Städten zusammen. all diese Menschen hatten gehört von den Montagsdemonstrationen in Leipzig seit September, von den Demonstrationen in Plauen seit Anfang Oktober. sie hatten im Westfernsehen tausende von Flüchtlingen in der Botschaft der Bundesrepublik in Prag gesehen, gehört von der massenausreise in verriegelten Zügen über Dresden, sie hatten die Prügelorgien der Staatsmacht in Dresden und am
7. Oktober in Berlin beklagt, und viele hatten für die Opfer mahnwachen und Fürbittandachten organisiert. aber auf der Straße waren sie bis jetzt noch nicht gewesen. Was würde jetzt in Rostock geschehen? Fehlte uns der Mut der Sachsen? mussten wir Mecklenburger uns an den Tankstellen im Süden beschimpfen lassen, weil es im Norden zu keinen »öffentlichen Kundgebungen gegen den Staat« gekommen war? ich war damals seit fast zwanzig Jahren Pastor in Rostock, seit kurzem auch Sprecher des »neuen Forums«. an jenem 19. Oktober 1989 predigte ich in der überfüllten Marienkirche - über Amos 5, 21 - 24, wo es unter anderem heißt: »ich bin euren Feiertagen gram
Der Beitrag erschien 2009.
Und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. und ob ihr mir gleich Brandopfer und Speiseopfer opfert, so habe ich keinen Gefallen daran ... es soll aber recht offenbart werden wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom.«
Der Staatsfeiertag am 7. Oktober 1949 anlässlich der DDR- Gründung vierzig Jahre zuvor war erst wenige Tage vorbei. Wir alle in der Kirche hatten in den Nachrichten die Menschenströme gesehen, die an den Tribünen vorbeigezogen waren und der ergrauten macht ihren Tribut gezollt hatten. Wir alle hatten uns dabei gesehnt nach einem Amos, einer Kassandra, einem Jan Hus oder einem Martin Luther King, der - so sagte ich damals - »das kollektive unrechtsempfinden und die kollektive Sehnsucht nach Wahrheit und recht« ausdrücken würde. aber war es nicht an einem jeden von uns, die Freiheit einzuklagen?
Da hörte ich mich auf einmal sagen, dass es Menschen gebe, die ihrer Angst »auf Wiedersehen« sagen und den aufrechten Gang trainieren: »Wir wollen nicht in der Schizophrenie unser Leben verbringen. Wir wollen hier leben in Wahrheit und Gerechtigkeit ... es gibt genug stasi-Leute um uns herum, wir suchen die Stasi nicht in uns.« erst gab es eine Pause. einige schluchzten. Dann fingen alle an zu klatschen.
nach dem Gottesdienst formte sich aus den tausenden in der marien- und der Petrikirche ein langer Zug, ein Zug ohne transparente, ohne laute Parolen, aber mit Kerzen. Wir zogen vorbei an den Zwingburgen der Staatsmacht, der unbeleuchteten Bezirksbehörde des Ministeriums für Staatssicherheit, der Bezirkszentrale der SED, dem Rathaus. Wir warfen keine Steine, aber wir klatschten und pfiffen vor dem Hochhaus, in dem viele stasi-mitarbeiter wohnten, und wir brachen aus in Hohngelächter, als uns vor dem stasi-Gebäude eine Stimme per Lautsprecher aufforderte: »Verlassen sie den Platz! Lösen sie die Demonstration auf!«
Der Abend des 19. Oktober bedeutete in Rostock den Durchbruch. Wir hatten das Lebensgefühl der Massen in Leipzig nach Rostock geholt. »Wir sagen unserer angst ›auf Wiedersehen!‹« als die erste Massendemonstration in unserer Stadt zu Ende ging, wussten wir alle, die dabei waren: Wir schaffen es, wir werden gewinnen. Das war Glück. Glück in einer großen historischen stunde. Jeder hatte seine angst besiegt, hatte sich und seine oft so feigen Mitbürger als Teil einer Protestbewegung gesehen. Die meisten hatten unendlich lange zu allem geschwiegen. Jetzt wollten auch sie mitreden, mit dabei sein, endlich mündig sein.
nie war deutlicher zu spüren, welche Verwandlung Menschen erfahren, die von den Zuschauerrängen auf die Bühne überwechseln. Arbeiter, Handwerker, Studenten und Krankenschwestern, sie alle entdeckten ihre Potenzen und bestimmten ihre Rolle in der Gesellschaft neu. Das »Wir sind das Volk!« hieß für jeden einzelnen: »ich bin ein Bürger!« unglaublich, wie jahrzehntelang eingeübte Demut, wie Furcht und Anpassung abgestreift werden konnten wie ein Kokon, der die weitere Entwicklung zum erwachsenwerden hinderte.
»Ermächtigung«, so erlebt, wird von den Betroffenen nicht nur als ein politischer Begriff verstanden, als Definition eines gesellschaftlichen Prozesses. Ermächtigung drückt mehr aus, ein Lebensgefühl, die Freude eines Menschen, der über sich hinauswächst, Glück.
Es war unglaublich. Wir waren das Volk. Und ich war dabei. Seit zwanzig Jahren nenne ich dieses Land gern mein Land.
Über Deutschland
Frau Ministerin, Herr Oberbürgermeister,
meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kirche feiert am ersten oktobersonntag das Erntedankfest. in Gottesdiensten wird Dank für verdiente und unverdiente Gaben gesagt, und nach alter Sitte spendet man auch etwas. Die Ärmeren geben meist etwas mehr, die reicheren etwas ... überlegter.
Liebe Landsleute aus dem Osten, lassen sie uns in unserer Erinnerung zurückgehen ins Jahr 1989, in den Sommer, den bleiernen. Die Depression unserer Gemüter, wir haben sie noch nicht vergessen.
Die SED regierte, ohne dass sie führte. Die Festlichkeiten zum republikgeburtstag wurden wie üblich vorbereitet. Zu allem Unglück stand ein rundes Jubiläum ins Haus. so etwas wird teuer!
Derweil waren Junge und Junggebliebene auf dem Sprung. in den »Bruderländern« suchten sie Schlupflöcher in die Freiheit. sie waren aktiv und auf uns störende Weise mobil. in vielen Elternhäusern, Freundeskreisen, Gemeinden wurden abschiedstränen geweint. Bei manchen wuchs endlich die Wut, und sie erreichte ihren Höhepunkt, als die bösen Greise in Berlin den Flüchtenden nachriefen: »Denen weinen wir keine Träne nach.« ihre Lohnschreiber haben es im Neuen Deutschland flugs aufgeschrieben. sollten sie es vergessen haben: es gibt Bibliotheken, man kann es nachlesen.
Dann kam der 7. Oktober. an solchen Tagen schaltete man schon mal das DDR-Fernsehen ein. Wir wussten zwar, was sich da abspielte, wir kannten das alle: Das marschieren, das Feiern, die »Winkelemente«, die Blumen, die Orden, »unsere« Jugend, »unsere«
Weimar, 2. Oktober 1994, Vortrag im Rahmen der Reihe »Weimarer Reden«.
Menschen - alles war inszeniert wie immer. Der regierende hatte für das Fernsehvolk sein Serenissimus-Lächeln aufgesetzt. Wieder waren genügend Landeskinder in Berlin, um den eingeübten Frohsinn vorzuführen. irgendwann sangen die Veteranen ganz gerührt, einige hatten Tränen in den Augen: »Wir sind die junge Garde / des Proletariats ...« ob sie die »internationale« auch noch gesungen haben im Kreis immergrüner Vasallen? ich habe es vergessen.
Am Abend trösteten wir uns mit Gorbatschow. eigentlich nahmen wir ihm übel, dass er in diese Gesellschaft kam. aber wenigstens hatte das Westfernsehen einen Satz auf der Straße aufgeschnappt. sie wissen ja: »Wer zu spät kommt ...« Vielen war das nicht genug, mir auch nicht. aber einige wollten Honecker strafen, indem sie Gorbatschow zujubelten, zu klatschten, ihn feierten. Viele hofften, einige riefen: »Gorbi, hilf!«
Andere waren da schon aufgestanden, um sich selbst zu helfen. Wir meinen jene Minderheit, die zu den inszenierten Feiern mit unbestelltem Protest erschien. »Frauen für den Frieden« - ganz und gar unangeleitet vom Demokratischen Frauenbund Deutschlands, der doch dafür autorisiert war. eine Initiative, die am Frieden interessiert war, der aber die Menschenrechte genau so viel bedeuteten. christliche oder andere unangepasste Jugendliche, auch Mitbürger, deren Protest sich zu einem Wort und Programm verdichtet hatte, das viele von uns ablehnten, auch ich: Ausreise.
Alles in allem: Störenfriede.
Die Staatsmacht - wir erinnern uns weiter - reagierte entschieden, zielgerichtet und brutal. Die Zahl der Protestierenden war noch gering. so konnten die Einsatz Kräfte von Polizei und Stasi der Lage alsbald wieder Herr werden. in Plauen allerdings war am
7. Oktober schon Großdemonstration - zwanzigtausend Menschen gingen auf die Straße, mehr als ein Viertel der damaligen Bevölkerung. einige Studentinnen und Arbeiter bekamen nach Auflösung der Demonstration - »Gesicht zur Wand« - den für derartige Zwecke vorgesehenen Nachhilfeunterricht. unsere mächtigen brauchten für ihre Exempel ihre »Rädelsführer«. neu war: Die Festgenommenen schrieben unmittelbar nach der Entlassung Gedächtnisprotokolle, sie schrieben auf, was ihnen angetan worden war. und diese Texte wurden kampftexte gegen die SED für diejenigen, die vorher noch nicht bereit gewesen waren zu protestieren. sie taten es jetzt.
Es begannen die Fürbittandachten und mahnwachen in unseren Kirchen, organisiert von kleinen, überschaubaren Gruppierungen. Minderheiten immer noch, die von wachsamen Mehrheiten durchaus unter »operativer Kontrolle« gehalten werden konnten.
Mein Gott, wie schnell in diesem kalten, heißen Herbst aus Wachen und Beten, reden, Planen, singen, organisieren - Protestieren wurde. Wie schnell aus aushalten, angsthaben, aus Trauer und Ohnmacht Mut, Fantasie und sogar Kraft wurden! Gleich kommen die Leipziger in unseren erinnerungsblick: Plötzlich all diese Menschen auf der Straße. Jetzt geht es los. Diese Massen. Je nach alter denken wir an frühere Situationen: 1953, 1956, 1968. und voller Zweifel und angst fragen wir noch: können wir das schaffen, was Solidarnosc in Polen schaffte?! mit solchen Zweifeln und solchen Ängsten haben wir die nächsten Demonstrationen vorbereitet.
Gleich werden sie in Berlin das Tor aufmachen, plötzlich und verschämt, kleinlaut - so anders als in der Zeit, als sie es schlossen -, sie wollen Druck ablassen. retten, was noch zu retten ist. Doch wir sahen es anders: Wir wollten ändern, was geändert werden musste. mutige Frauen und Männer starten sanfte und doch revolutionäre Aktionen gegen die stasi-Dienststellen - wir schreiben Anfang Dezember. »Stasi in die Produktion!« - unser alter Schlachtruf von den Demos - soll nun Wirklichkeit werden, und ihr herrschaftswissen soll in unsere Hände und Köpfe, in die des Volkes kommen, das sie so lange unterdrückt hatten. Dann werden die Genossen den alten feuern und den Grinsenden* heuern; nützen wird ihnen das am Ende nichts. sein sozialistischer Biedersinn erhält eine nur kurze Hauptrolle.
© 2013 by Siedler Verlag, München
Am Anfang steht eine Predigt zum Kirchentag im Norden der DDR, die zugleich politische Anspielungen, Kritik und Worte der Hoffnung enthält. Es war das Jahr 1988. Wir wagten damals noch nicht, vom Untergang des Kommunismus zu träumen, aber wir wollten von den Machthabern endlich gehört werden. Es wirkte befreiend auf die große Kirchentagsgemeinde, dass wir offen die Stationierung der Raketen in unseren Wäldern oder die repressive Pädagogik problematisierten. Mehr noch aber war die Gemeinde elektrisiert von Bildern, in denen ihr Lebensgefühl Ausdruck fand: »Seele und Herz unzähliger Menschen in Eiszeit«.
Dieser Band enthält sodann Reden und Artikel, die nach 1990 entstanden sind. in den ersten zehn Jahren dominierten Beiträge zur Aufarbeitung der Stasihinterlassenschaft und zum Umgang mit der kommunistischen Diktatur. Während meiner anschließenden ehrenamtlichen Tätigkeit als Vorsitzender des Vereins »Gegen Vergessen - Für Demokratie« widmete ich mich unter anderem dem Widerstand in der NS-Zeit, der Verteidigung der Demokratie und Fragen von Mentalität und Mentalitätswandel in Transformationsgesellschaften.
Die vorliegende Sammlung von Aufsätzen und Reden belegt die Kontinuität meines öffentlichen Engagements. als Bundespräsident stehe ich nun - schon im fortgeschrittenen Alter - noch einmal vor neuen Herausforderungen. als Beispiel für die Erweiterung meines Themen Spektrums mag die Rede zu Europa stehen.
Um Wiederholungen zu vermeiden, wurden die Texte des Bandes einem gründlichen Lektorat unterzogen und deutlich und beherzt gekürzt. ich hoffe, dass dies der Erkennbarkeit meiner Person nützt.
Aufbruch 1989
Hoffnung
In diesem Gottesdienst werden wir sehr intensiv um Hoffnung bitten, denn wir denken, dass nur, wer etwas hofft, auch die Kraft zum Engagement hat. Das verbindet Christen und Nichtchristen. Wir müssen etwas haben, von dem wir träumen können. Dann werden wir uns auch in Bewegung setzen und in Kirche und Gesellschaft notwendige Veränderungen bewirken.
Interview zum Schlussgottesdienst auf dem Kirchentag in Rostock, Juni 1988.
Abschied vom Schattendasein der Anpassung
Liebe Gemeinde der Weggefährten und Gäste! an Festtagen wird auch bei Regen alles licht. aber Kirchentag und Hochzeit sind selten. tägliche sorgen engen Blick und Seele ein. als Kind, Frau und Mann, als Christen und Staatsbürger erleben wir oft mehr Dunkelheit als Licht. mancher kommt sich benachteiligt vor - und mancher ist es auch. Polarnacht liegt oft Jahrzehnte über ganzen Völkern und Bevölkerungsgruppen - Seele und Herz unzähliger Menschen in Eiszeit! ungleichmäßig sind die Licht-und Klima Zonen über die Erdkugel verteilt, Fülle und Mangel im Leben der Menschheit desgleichen. Vor dem Licht ist die Nacht. aber in der tiefe der Nacht wird für den, der wachen muss, die Sehnsucht nach dem Licht am heftigsten. man kann diese Sehnsucht am Morgen schnell vergessen. ob das gut ist?
Licht lässt uns sehen - auch die Dinge, die in uns geschehen. Vielleicht so: ich nehme das Dunkel ernst, ich halte die Sehnsucht am Leben, schlucke sie nicht herunter. ich warte nicht auf das magische innere Licht, sondern nehme auch meine quälenden Zweifel ernst. ich verzichte darauf, mein Leben zu retuschieren. Denn ich muss aushalten, was quält, sonst entdecke ich die Sehnsucht nicht. und ich will mich sehnen, sonst finde ich die Hoffnung nicht.
Hoffnung wächst nicht aus haben, sie wächst aus Sehnsucht nach sein.
Wenn sie echt ist, riskiert sie etwas. nicht Idylle, sondern Veränderung umgibt sie. eine Schwester von ihr heißt Unruhe. Bitte erschrecken wir nicht, sondern bedenken wir, wohin uns die ruhe gegenüber allem unrecht geführt hat! Die etablierte christen- und
Rostock, 19. Juni 1988, Predigt während des Schlussgottesdienstes auf dem Kirchentag.
Bürgergemeinschaft muss wohl lernen, ihren Unruhestiftern zu danken. sie lehren uns: Finde dich nicht ab mit dem, was du vorfindest. so suchen viele von uns erbittert und doch mit Hoffnung unter dem täglichen Leben das Leben, unter den vielen Wahrheiten die Wahrheit. und sollte da nicht auch nähe Gottes sein, wo wir so hungern und dürsten nach dem Wirklichen und Wahrhaftigen, dem Sinn für unser Leben? Da sind wir noch kein Licht, aber wir werden schon erleuchtet. und wir werden die Brücke finden, die uns gehen, handeln und lieben lässt.
Wie könnten wir dem Leben neu begegnen?
Der 1. Johannesbrief bietet dafür zwei Schwerpunkte an. erstens: erkennen und bekennen, wie ich wirklich bin; zweitens: Erneuerung erfahren.
Erkennen, »dass ich ein Sünder bin«, heißt es in der Sprache der Bibel. in unserer Sprache heißt das: die eigenen Grenzen erkennen.
Dem Licht - Gott - gegenüber erkenne ich Schatten und Rückseiten: ich mache nicht nur Fehler, ich werde schuldig. und dies nicht nur irgendwo am Rande, sondern im Zentrum des Lebens. schuld, so erkennen wir, ist eine Dimension des menschlichen Lebens. Wer sie leugnet und stur behauptet, der Mensch ist gut, gut, gut, tut sich und seinen Mitmenschen nichts Gutes. Wer dies erkannt hat, wird frei werden, Schuld Schuld und Sünde Sünde zu nennen. Das ist sicher ein schwerer schritt, besonders für erwachsene Menschen; noch schwerer ist er für formierte menschengruppen. aber neues Leben kann wachsen, wo schuld bekannt und Neuanfang gesucht wird. es erfüllt Christen mit einem guten Gefühl, wenn ihre Kirche sture Rechthaberei verlässt und für sich selbst Umkehr bejaht. und es erfüllt uns mit einem neuen Gefühl gegenüber Vertretern der marxistischen Weltanschauung, wenn wir aus der Sowjetunion hören, dass Schuld genannt werden kann.
Was für den einzelnen Menschen gilt, gilt auch für die Gesellschaft; erkennen und benennen, was ungut ist, und dann anfangen, auf eine neue Art zu leben. Plötzlich entsteht dann nähe, wo lange Distanz war. Wir brauchen diese nähe, denn wir haben einen Dialog des normalen Gesprächs, nicht der tönenden Phrasen zu erlernen.
Das wünschen wir uns so sehr: ein neues miteinander in unserer Gesellschaftabrüstung und Entspannung als tragende Säulen eines neuen innergesellschaftlichen Dialogs! Was außenpolitisch mehr und mehr gilt (Abrüstung), will und muss mehr und mehr in das innere dieses Landes!
Wir freuen uns über jeden Schritt, der auf diesem Weg zurückgelegt wird, besonders über den begonnenen Dialog zwischen Marxisten und Christen auf unserem Kirchentag.
Beim ernstnehmen unserer Grenzen und unserer schuld fällt der Blick in diesem Jahr (vor fünfzig Jahren Reichspogromnacht) auf unsere Unheilsgeschichte gegenüber den Juden.
Neues wird, wo alte Schuld nicht geleugnet wird.
Dem Leben neu begegnen bedeutet Erneuerung erfahren. Wo der erste Schritt getan ist, begegnet uns Jesus. er findet uns, wie er uns gerufen hat: mangelhaft. und er vergibt uns. - Da denken wir daran, wie wir klein waren und sich Hände auf unseren Kopf legten, die alles, alles gutmachten. Da konnten wir wieder aufspringen und weiterlaufen, noch immer mangelhaft, aber geliebt.
So wollen wir Vergebung begreifen. Christine Lavant:
Angst, leg dich schlafen,
Hoffnung, zieh dich an, du musst mit mir gehen.
Schnür die Schuhe fester! ich hielt dich lang verborgen,
kleine Schwester, schön bist du geworden,
und ich freu mich dran.
Mit der Schwester Hoffnung suchen wir jene geheimnisvolle und verwandelte Beziehung zu dem schöneren Gegenüber unseres beschädigten Menschseins.
Dorothee Sölle spricht einmal von der »Zärtlichkeit Gottes«. sie ahnen dürfen - das geschieht, wenn wir beieinanderstehen: freundlich, solidarisch, geschwisterlich. Darum ist unser wichtigstes Erlebnis nicht das interessante und spektakuläre, sondern das, was uns neu hoffen macht. Das brauchen wir wie Brot zum Leben.
So viele Abgründe warten auf Brücken, die engagierte Menschen bauen:
- Menschen sollen sich begegnen, nicht verurteilen.
- Die Natur will bewahrt, nicht ausgebeutet sein.
- aus unseren Wäldern soll das Teufelszeug der Raketen verschwinden.
- aus unseren Schulen sollen die schwarz-Weiß-klischees verabschiedet werden.
- unsere Republik will einladender werden: Wir werden bleiben wollen, wenn wir gehen dürfen.
- Ausbeutung, Apartheid und Unterdrückung warten auf den Hass der Liebenden.
- Die Opfer jeder Gesellschaft warten auf die Nähe von Genossen und Geschwistern, die diese Namen verdienen.
- und: unsere Kirche will auferstehen zum Leben! nehmen wir Abschied, Freunde, vom Schattendasein, das wir leben in den Tarnanzügen der Anpassung. also: die Brücke betreten in das Leben, das wir bei Jesus Christus lernen können!
1989 - Das Später kam früher
ich beginne mit dem Glück. Wir schrieben den 19. Oktober 1989. in der Rostocker Marienkirche drängten sich tausende von Menschen. sie waren nicht zum ersten Mal hier, sondern hatten schon in der Vorwoche ihren Wunsch nach Erneuerung der Gesellschaft zum Ausdruck gebracht. Das hatte andere motiviert dazuzukommen, so wurden in anderen Kirchen Parallelgottesdienste mit exakt denselben texten abgehalten. Wir Organisatoren dieser Veranstaltungen trugen über unsere Netzwerke Informationen von den sich neu bildenden Bewegungen und aus anderen Städten zusammen. all diese Menschen hatten gehört von den Montagsdemonstrationen in Leipzig seit September, von den Demonstrationen in Plauen seit Anfang Oktober. sie hatten im Westfernsehen tausende von Flüchtlingen in der Botschaft der Bundesrepublik in Prag gesehen, gehört von der massenausreise in verriegelten Zügen über Dresden, sie hatten die Prügelorgien der Staatsmacht in Dresden und am
7. Oktober in Berlin beklagt, und viele hatten für die Opfer mahnwachen und Fürbittandachten organisiert. aber auf der Straße waren sie bis jetzt noch nicht gewesen. Was würde jetzt in Rostock geschehen? Fehlte uns der Mut der Sachsen? mussten wir Mecklenburger uns an den Tankstellen im Süden beschimpfen lassen, weil es im Norden zu keinen »öffentlichen Kundgebungen gegen den Staat« gekommen war? ich war damals seit fast zwanzig Jahren Pastor in Rostock, seit kurzem auch Sprecher des »neuen Forums«. an jenem 19. Oktober 1989 predigte ich in der überfüllten Marienkirche - über Amos 5, 21 - 24, wo es unter anderem heißt: »ich bin euren Feiertagen gram
Der Beitrag erschien 2009.
Und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. und ob ihr mir gleich Brandopfer und Speiseopfer opfert, so habe ich keinen Gefallen daran ... es soll aber recht offenbart werden wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom.«
Der Staatsfeiertag am 7. Oktober 1949 anlässlich der DDR- Gründung vierzig Jahre zuvor war erst wenige Tage vorbei. Wir alle in der Kirche hatten in den Nachrichten die Menschenströme gesehen, die an den Tribünen vorbeigezogen waren und der ergrauten macht ihren Tribut gezollt hatten. Wir alle hatten uns dabei gesehnt nach einem Amos, einer Kassandra, einem Jan Hus oder einem Martin Luther King, der - so sagte ich damals - »das kollektive unrechtsempfinden und die kollektive Sehnsucht nach Wahrheit und recht« ausdrücken würde. aber war es nicht an einem jeden von uns, die Freiheit einzuklagen?
Da hörte ich mich auf einmal sagen, dass es Menschen gebe, die ihrer Angst »auf Wiedersehen« sagen und den aufrechten Gang trainieren: »Wir wollen nicht in der Schizophrenie unser Leben verbringen. Wir wollen hier leben in Wahrheit und Gerechtigkeit ... es gibt genug stasi-Leute um uns herum, wir suchen die Stasi nicht in uns.« erst gab es eine Pause. einige schluchzten. Dann fingen alle an zu klatschen.
nach dem Gottesdienst formte sich aus den tausenden in der marien- und der Petrikirche ein langer Zug, ein Zug ohne transparente, ohne laute Parolen, aber mit Kerzen. Wir zogen vorbei an den Zwingburgen der Staatsmacht, der unbeleuchteten Bezirksbehörde des Ministeriums für Staatssicherheit, der Bezirkszentrale der SED, dem Rathaus. Wir warfen keine Steine, aber wir klatschten und pfiffen vor dem Hochhaus, in dem viele stasi-mitarbeiter wohnten, und wir brachen aus in Hohngelächter, als uns vor dem stasi-Gebäude eine Stimme per Lautsprecher aufforderte: »Verlassen sie den Platz! Lösen sie die Demonstration auf!«
Der Abend des 19. Oktober bedeutete in Rostock den Durchbruch. Wir hatten das Lebensgefühl der Massen in Leipzig nach Rostock geholt. »Wir sagen unserer angst ›auf Wiedersehen!‹« als die erste Massendemonstration in unserer Stadt zu Ende ging, wussten wir alle, die dabei waren: Wir schaffen es, wir werden gewinnen. Das war Glück. Glück in einer großen historischen stunde. Jeder hatte seine angst besiegt, hatte sich und seine oft so feigen Mitbürger als Teil einer Protestbewegung gesehen. Die meisten hatten unendlich lange zu allem geschwiegen. Jetzt wollten auch sie mitreden, mit dabei sein, endlich mündig sein.
nie war deutlicher zu spüren, welche Verwandlung Menschen erfahren, die von den Zuschauerrängen auf die Bühne überwechseln. Arbeiter, Handwerker, Studenten und Krankenschwestern, sie alle entdeckten ihre Potenzen und bestimmten ihre Rolle in der Gesellschaft neu. Das »Wir sind das Volk!« hieß für jeden einzelnen: »ich bin ein Bürger!« unglaublich, wie jahrzehntelang eingeübte Demut, wie Furcht und Anpassung abgestreift werden konnten wie ein Kokon, der die weitere Entwicklung zum erwachsenwerden hinderte.
»Ermächtigung«, so erlebt, wird von den Betroffenen nicht nur als ein politischer Begriff verstanden, als Definition eines gesellschaftlichen Prozesses. Ermächtigung drückt mehr aus, ein Lebensgefühl, die Freude eines Menschen, der über sich hinauswächst, Glück.
Es war unglaublich. Wir waren das Volk. Und ich war dabei. Seit zwanzig Jahren nenne ich dieses Land gern mein Land.
Über Deutschland
Frau Ministerin, Herr Oberbürgermeister,
meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kirche feiert am ersten oktobersonntag das Erntedankfest. in Gottesdiensten wird Dank für verdiente und unverdiente Gaben gesagt, und nach alter Sitte spendet man auch etwas. Die Ärmeren geben meist etwas mehr, die reicheren etwas ... überlegter.
Liebe Landsleute aus dem Osten, lassen sie uns in unserer Erinnerung zurückgehen ins Jahr 1989, in den Sommer, den bleiernen. Die Depression unserer Gemüter, wir haben sie noch nicht vergessen.
Die SED regierte, ohne dass sie führte. Die Festlichkeiten zum republikgeburtstag wurden wie üblich vorbereitet. Zu allem Unglück stand ein rundes Jubiläum ins Haus. so etwas wird teuer!
Derweil waren Junge und Junggebliebene auf dem Sprung. in den »Bruderländern« suchten sie Schlupflöcher in die Freiheit. sie waren aktiv und auf uns störende Weise mobil. in vielen Elternhäusern, Freundeskreisen, Gemeinden wurden abschiedstränen geweint. Bei manchen wuchs endlich die Wut, und sie erreichte ihren Höhepunkt, als die bösen Greise in Berlin den Flüchtenden nachriefen: »Denen weinen wir keine Träne nach.« ihre Lohnschreiber haben es im Neuen Deutschland flugs aufgeschrieben. sollten sie es vergessen haben: es gibt Bibliotheken, man kann es nachlesen.
Dann kam der 7. Oktober. an solchen Tagen schaltete man schon mal das DDR-Fernsehen ein. Wir wussten zwar, was sich da abspielte, wir kannten das alle: Das marschieren, das Feiern, die »Winkelemente«, die Blumen, die Orden, »unsere« Jugend, »unsere«
Weimar, 2. Oktober 1994, Vortrag im Rahmen der Reihe »Weimarer Reden«.
Menschen - alles war inszeniert wie immer. Der regierende hatte für das Fernsehvolk sein Serenissimus-Lächeln aufgesetzt. Wieder waren genügend Landeskinder in Berlin, um den eingeübten Frohsinn vorzuführen. irgendwann sangen die Veteranen ganz gerührt, einige hatten Tränen in den Augen: »Wir sind die junge Garde / des Proletariats ...« ob sie die »internationale« auch noch gesungen haben im Kreis immergrüner Vasallen? ich habe es vergessen.
Am Abend trösteten wir uns mit Gorbatschow. eigentlich nahmen wir ihm übel, dass er in diese Gesellschaft kam. aber wenigstens hatte das Westfernsehen einen Satz auf der Straße aufgeschnappt. sie wissen ja: »Wer zu spät kommt ...« Vielen war das nicht genug, mir auch nicht. aber einige wollten Honecker strafen, indem sie Gorbatschow zujubelten, zu klatschten, ihn feierten. Viele hofften, einige riefen: »Gorbi, hilf!«
Andere waren da schon aufgestanden, um sich selbst zu helfen. Wir meinen jene Minderheit, die zu den inszenierten Feiern mit unbestelltem Protest erschien. »Frauen für den Frieden« - ganz und gar unangeleitet vom Demokratischen Frauenbund Deutschlands, der doch dafür autorisiert war. eine Initiative, die am Frieden interessiert war, der aber die Menschenrechte genau so viel bedeuteten. christliche oder andere unangepasste Jugendliche, auch Mitbürger, deren Protest sich zu einem Wort und Programm verdichtet hatte, das viele von uns ablehnten, auch ich: Ausreise.
Alles in allem: Störenfriede.
Die Staatsmacht - wir erinnern uns weiter - reagierte entschieden, zielgerichtet und brutal. Die Zahl der Protestierenden war noch gering. so konnten die Einsatz Kräfte von Polizei und Stasi der Lage alsbald wieder Herr werden. in Plauen allerdings war am
7. Oktober schon Großdemonstration - zwanzigtausend Menschen gingen auf die Straße, mehr als ein Viertel der damaligen Bevölkerung. einige Studentinnen und Arbeiter bekamen nach Auflösung der Demonstration - »Gesicht zur Wand« - den für derartige Zwecke vorgesehenen Nachhilfeunterricht. unsere mächtigen brauchten für ihre Exempel ihre »Rädelsführer«. neu war: Die Festgenommenen schrieben unmittelbar nach der Entlassung Gedächtnisprotokolle, sie schrieben auf, was ihnen angetan worden war. und diese Texte wurden kampftexte gegen die SED für diejenigen, die vorher noch nicht bereit gewesen waren zu protestieren. sie taten es jetzt.
Es begannen die Fürbittandachten und mahnwachen in unseren Kirchen, organisiert von kleinen, überschaubaren Gruppierungen. Minderheiten immer noch, die von wachsamen Mehrheiten durchaus unter »operativer Kontrolle« gehalten werden konnten.
Mein Gott, wie schnell in diesem kalten, heißen Herbst aus Wachen und Beten, reden, Planen, singen, organisieren - Protestieren wurde. Wie schnell aus aushalten, angsthaben, aus Trauer und Ohnmacht Mut, Fantasie und sogar Kraft wurden! Gleich kommen die Leipziger in unseren erinnerungsblick: Plötzlich all diese Menschen auf der Straße. Jetzt geht es los. Diese Massen. Je nach alter denken wir an frühere Situationen: 1953, 1956, 1968. und voller Zweifel und angst fragen wir noch: können wir das schaffen, was Solidarnosc in Polen schaffte?! mit solchen Zweifeln und solchen Ängsten haben wir die nächsten Demonstrationen vorbereitet.
Gleich werden sie in Berlin das Tor aufmachen, plötzlich und verschämt, kleinlaut - so anders als in der Zeit, als sie es schlossen -, sie wollen Druck ablassen. retten, was noch zu retten ist. Doch wir sahen es anders: Wir wollten ändern, was geändert werden musste. mutige Frauen und Männer starten sanfte und doch revolutionäre Aktionen gegen die stasi-Dienststellen - wir schreiben Anfang Dezember. »Stasi in die Produktion!« - unser alter Schlachtruf von den Demos - soll nun Wirklichkeit werden, und ihr herrschaftswissen soll in unsere Hände und Köpfe, in die des Volkes kommen, das sie so lange unterdrückt hatten. Dann werden die Genossen den alten feuern und den Grinsenden* heuern; nützen wird ihnen das am Ende nichts. sein sozialistischer Biedersinn erhält eine nur kurze Hauptrolle.
© 2013 by Siedler Verlag, München
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Autoren-Porträt von Joachim Gauck
Gauck, JoachimJoachim Gauck, geboren 1940 in Rostock, stand von 1965 bis 1990 im Dienst der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs und arbeitete viele Jahre als Pastor. Er war Mitinitiator des kirchlichen und öffentlichen Widerstandes gegen die SED-Diktatur, 1989 gehörte er zu den Mitbegründern des Neuen Forum und wurde in Rostock dessen Sprecher. Von 1990 bis 2000 war er Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (Stasi). Von 2003 bis 2012 war er Vorsitzender des Vereins »Gegen Vergessen - Für Demokratie«. 2012 bis 2017 war Joachim Gauck Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Joachim Gauck
- 2013, 1, 256 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Leinen, Deutsch
- Verlag: Siedler
- ISBN-10: 382750032X
- ISBN-13: 9783827500328
- Erscheinungsdatum: 16.09.2013
Rezension zu „Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen “
»Lohnende Lektüre, Gauck hat enorm viel zu sagen!« Gong, 04.10.2013
Kommentar zu "Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen"
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