Nie sollst du vergessen
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Die Ermittler sehen sich bald schon einem düsteren Familiendrama gegenüber, in dem überzogener Ehrgeiz, falsch verstandene Liebe und verzweifelte Lügen bereits vor zwanzig Jahren tödliche Konsequenzen hatten.
Warum werden die Ermittlungen von Lynley und Havers von höchster Stelle aus behindert?
Elizabeth George wurde am 26.02.1949 in Warren, Ohio geboren. Heute lebt sie in Huntington Beach, Kalifornien. Die Bestseller-Autorin war früher Highschool-Lehrerin für Englisch und Literatur mit Abschluss in Psychologie.
Nie sollst du vergessen von Elizabeth George
LESEPROBE
Maida Vale London
Dicke sind toll. Dickesind toll. Dicke sind toll, toll, toll.
Katie Waddingtonbegleitete ihren schwerfälligen Schritt mit dem gewohnten
Mantra, während sie den Bürgersteig entlang zu ihrem Wagen ging. Sie
sprach die Worte nicht laut, sondern sagte sie sich in Gedanken vor,
weniger deshalb, weil sie allein war und fürchtete, für verrückt gehalten
zu werden, sondern vor allem, weil lautes Sprechen ihre strapazierte
Lunge zusätzlich angestrengt hätte. Und die hatte schon Mühe genug,
durchzuhalten. Genau wie ihr Herz, das, ihrem stets dozierenden Hausarzt
zufolge, nicht dazu geschaffen war, Blut durch Arterien zu pumpen,
die durch Fettablagerungen stetig enger wurden.
Wenn er sie betrachtete, sah er Fettwülste; Brüste, die wie Säcke von
ihren Schultern herabhingen; statt eines Bauchs schlaff wabbelnde
Massen, die ihre Scham verdeckten; von Cellulite gewellte Haut. Sie
schleppte so viel Fett mit sich herum, dass sie ein ganzes Jahr von
ihren Reserven hätte zehren können, ohne einen Bissen zu essen, und
wenn dem Arzt zu glauben war, begann das Fett, die lebenswichtigen
Organe anzugreifen. Wenn sie nicht bald anfinge, sich bei Tisch zu
bremsen, erklärte er bei jedem ihrer Besuche, würde sie nicht mehr
lange leben.
»Herzversagen oder ein Schlaganfall, Kathleen«, pflegte er kopfschüttelnd
zu sagen. »Sie können es sich aussuchen. Bei Ihrem Zustand müssen
Sie unbedingt etwas tun, und dazu gehört vor allem, dass Sie sich
nicht ständig Essen in den Mund schieben, das sich sofort in Fettgewebe
verwandelt. Verstehen Sie?«
Natürlich, wie sollte sie nicht verstehen? Es war schließlich ihr Körper,
über den sie hier sprachen, und man konnte nicht aussehen wie ein
Nilpferd im Schneiderkostüm, ohne das gelegentlich zu bemerken, wenn
man an einem Spiegel vorüberkam.
Tatsache war jedoch, dass der Arzt der Einzige in Katies Bekannten-
und Familienkreis war, dem es schwer fiel, sie als die Dicke zu akzeptieren,
die sie schon seit ihrer Kindheit war. Und da die Menschen, die für
sie zählten, sie so nahmen, wie sie war, trieb nichts sie an, den
vom Arzt immer wieder empfohlenen Kampf gegen die achtzig Kilo Übergewicht
aufzunehmen.
Wenn je Zweifel sie plagten, ob sie in einer Gesellschaft, in der die
Körper immer glatter, straffer und durchtrainierter wurden, einen
Platz hatte, so wurden diese gewöhnlich von ihren Eros-Action-Gruppen,
die montags, mittwochs und freitags von neunzehn bis zweiundzwanzig
Uhr zusammenzukommen pflegten, umgehend beseitigt. In diesen Gruppen
versammelte sich die sexuell gestörte Bevölkerung Groß-Londons auf
der Suche nach Trost und Problemlösungen. Unter der Leitung von Katie
Waddington - die sich das Studium der menschlichen Sexualität zur
Leidenschaft gemacht hatte - wurde die Libido der Gruppenteilnehmer
unter die Lupe genommen; Erotomanie und -phobie wurden seziert; Frigidität,
Nymphomanie, Satyriasis, Transvestismus und Fetischismus gebeichtet;
erotische Fantasien gefördert; die sinnliche Vorstellungskraft stimuliert.
Ihre Klienten überschütteten sie mit Dankbarkeit. »Du hast unsere Ehe
gerettet«, hieß es häufig, oder: »mein Leben«, »meinen Verstand«,
»meine Karriere«.
Sex ist Kommerz, lautete Katies Motto, und zum Beweis der Richtigkeit
ihrer These konnte sie beinahe zwanzig Jahre Erfahrung mit etwa sechstausend
zufriedenen Klienten und eine lange Warteliste vorweisen.
Kein Wunder, dass sie an diesem Abend nach der Gruppe recht beschwingt
zu ihrem Wagen ging, nicht gerade ekstatisch, aber doch sehr zufrieden
mit sich. Sie selbst hatte zwar noch nie einen Orgasmus gehabt, aber
das brauchte ja niemand zu wissen; Hauptsache, es gelang ihr, anderen
zu diesem Glückserlebnis zu verhelfen. Denn die Leute wollten doch
alle das Gleiche: sexuelle Befriedigung auf Kommando und ohne Schuldgefühle.
Und wer zeigte ihnen den Weg dorthin? Eine Dicke.
Wer befreite sie von der Scham über ihre Lust? Eine Dicke.
Wer zeigte ihnen die Tricks von der Stimulation der erogenen Zonen
bis zum Simulieren von Leidenschaft, um Leidenschaft neu anzufachen?
Eine unförmige Dicke aus Canterbury.
Das war wichtiger, als Kalorien zu zählen. Wenn Katie Waddington dazu
bestimmt war, als Dicke zu sterben, dann würde sie eben als Dicke
sterben.
Es war ein kühler Abend, genauso, wie sie es mochte. Nach einem glühenden
Sommer war endlich der Herbst in die Stadt eingezogen, und während
sie sich mit ihrem watschelnden Gang durch die Dunkelheit bewegte,
dachte sie wie stets an diesen Abenden an die Glanzpunkte der vergangenen
Gruppensitzung zurück.
Tränen, ja, Tränen gab es immer, ebenso Händeringen, schamhaftes Erröten,
Stottern und Schwitzen. Aber es gab auch jedes Mal einen besonderen
Moment, einen Moment des Durchbruchs, der es wert war, sich stundenlang
immer wieder dieselben alten Geschichten anzuhören.
Heute Abend hatten ihr Felix und Dolores (Nachnamen taten nichts zur
Sache) diesen Moment beschert. Sie waren in die Gruppe gekommen, weil
sie, wie sie es ausgedrückt hatten, »den Zauber« in ihrer Ehe wieder
finden wollten, nachdem jeder von ihnen zwei Jahre - und zwanzigtausend
Pfund - darauf verwendet hatte, seine ganz persönlichen sexuellen
Bedürfnisse zu erforschen. Felix hatte längst eingestanden, dass er
die Befriedigung außerhalb der Ehe suchte, und Dolores hatte bekannt,
dass sie ihren Vibrator und ein Bild Laurence Oliviers als Heathcliff
weit erregender fand als die Umarmungen ihres Ehemanns. An diesem
Abend jedoch waren Felix' laute Überlegungen darüber, warum der Anblick
von Dolores' nacktem Gesäß Gedanken an seine alte Mutter weckte, drei
älteren Frauen in der Gruppe zu viel geworden. Sie hatten ihn so heftig
angegriffen, dass Dolores selbst leidenschaftlich für ihn in die Bresche
gesprungen war und mit ihren selbstlosen Tränen allem Anschein nach
seine Aversion gegen ihren Hintern fortgespült hatte. Die beiden waren
sich in die Arme gesunken und hatten nicht mehr voneinander gelassen
bis zum Ende der Sitzung, als sie in schöner Einmütigkeit gejubelt
hatten: »Du hast unsere Ehe gerettet!«
Katie war sich bewusst, dass sie nicht mehr getan hatte, als ihnen
ein Forum zu bieten. Aber es gab eben genügend Leute, die gar nicht
mehr wollten als eine Gelegenheit, sich selbst oder ihren Partner
in der Öffentlichkeit zu demütigen und so eine Situation zu schaffen,
die es dem Partner letztlich ermöglichte, zu retten oder gerettet
zu werden.
Das Geschäft mit den sexuellen Nöten der Briten war eine echte Goldgrube.
Katie fand es ausgesprochen clever von sich, dass sie auf diese Marktlücke
gestoßen war.
Sie gähnte herzhaft und bemerkte dabei das laute Knurren ihres Magens.
Nach einem Tag und einem Abend harter Arbeit hatte sie ein üppiges
Mahl und danach ein paar Stunden Faulenzen vor dem Fernsehgerät als
Belohnung redlich verdient. Die alten Filme mit ihrer romantischen
Schönfärberei waren ihr die liebsten. Eine Abblende im entscheidenden
Moment wirkte auf sie weit erregender als Nahaufnahmen gewisser Körperteile
und ein Soundtrack, der nur aus Keuchen und Stöhnen bestand. Heute
Abend würde sie sich Es geschah in einer Nacht gönnen: Clark und Claudette
und die prickelnde Spannung zwischen den beiden.
Das ist genau das, was in den meisten Beziehungen fehlt, dachte sie
bestimmt zum tausendsten Mal in diesem Monat. Die erotische Spannung.
Zwischen Männern und Frauen bleibt nichts mehr der Fantasie überlassen.
Wir leben in einer Welt, die alles weiß, alles sagt und alles fotografiert;
in der es keine Erwartungsfreude und keine Geheimnisse mehr gibt.
© Verlagsgruppe Random House
Autoren-Porträt von Elizabeth George
DieAmerikanerin Elizabeth George hatte von Jugend an ein ausgeprägtes Faible fürdie britische Krimitradition. Bereits in ihrem ersten Roman kombinierte siepsychologische Raffinesse mit einem unfehlbaren Sinn für Spannung und Dramatik:Gott schütze dieses Haus (dt. 1989) wurde mit mehreren namhaften Auszeichnungengewürdigt. Elizabeth George lebt in Huntington Beach, Kalifornien.
- Autor: Elizabeth George
- 2003, 928 Seiten, Maße: 11,4 x 18,2 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Dtsch. v. Mechthild Sandberg-Ciletti
- Übersetzer: Mechtild Sandberg-Ciletti
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442456118
- ISBN-13: 9783442456116
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