Nullzeit
Roman
Der Spiegel-Bestseller jetzt im Taschenbuch
Eigentlich ist die Schauspielerin Jola mit ihrem Lebensgefährten Theo auf die Insel gekommen, um sich auf die nächste Rolle vorzubereiten. Als sie Sven kennenlernt, entwickelt sich aus einem...
Eigentlich ist die Schauspielerin Jola mit ihrem Lebensgefährten Theo auf die Insel gekommen, um sich auf die nächste Rolle vorzubereiten. Als sie Sven kennenlernt, entwickelt sich aus einem...
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Produktinformationen zu „Nullzeit “
Der Spiegel-Bestseller jetzt im Taschenbuch
Eigentlich ist die Schauspielerin Jola mit ihrem Lebensgefährten Theo auf die Insel gekommen, um sich auf die nächste Rolle vorzubereiten. Als sie Sven kennenlernt, entwickelt sich aus einem harmlosen Flirt eine fatale Dreiecksbeziehung, die alle bisherigen Regeln außer Kraft setzt. Wahrheit und Lüge, Täter und Opfer tauschen die Plätze. Sven hat Deutschland verlassen und sich auf der Insel eine Existenz als Tauchlehrer aufgebaut. Keine Einmischung in fremde Probleme - das ist sein Lebensmotto. Jetzt muss Sven erleben, wie er vom Zeugen zum Mitschuldigen wird. Bis er endlich begreift, dass er nur Teil eines mörderischen Spiels ist, in dem er von Anfang an keine Chance hatte.
Eigentlich ist die Schauspielerin Jola mit ihrem Lebensgefährten Theo auf die Insel gekommen, um sich auf die nächste Rolle vorzubereiten. Als sie Sven kennenlernt, entwickelt sich aus einem harmlosen Flirt eine fatale Dreiecksbeziehung, die alle bisherigen Regeln außer Kraft setzt. Wahrheit und Lüge, Täter und Opfer tauschen die Plätze. Sven hat Deutschland verlassen und sich auf der Insel eine Existenz als Tauchlehrer aufgebaut. Keine Einmischung in fremde Probleme - das ist sein Lebensmotto. Jetzt muss Sven erleben, wie er vom Zeugen zum Mitschuldigen wird. Bis er endlich begreift, dass er nur Teil eines mörderischen Spiels ist, in dem er von Anfang an keine Chance hatte.
Klappentext zu „Nullzeit “
Eigentlich ist die Schauspielerin Jola mit ihrem Lebensgefährten Theo auf die Insel gekommen, um sich auf die nächste Rolle vorzubereiten. Als sie Sven kennenlernt, entwickelt sich aus einem harmlosen Flirt eine fatale Dreiecksbeziehung, die alle bisherigen Regeln außer Kraft setzt. Wahrheit und Lüge, Täter und Opfer tauschen die Plätze. Sven hat Deutschland verlassen und sich auf der Insel eine Existenz als Tauchlehrer aufgebaut. Keine Einmischung in fremde Probleme - das ist sein Lebensmotto. Jetzt muss Sven erleben, wie er vom Zeugen zum Mitschuldigen wird. Bis er endlich begreift, dass er nur Teil eines mörderischen Spiels ist, in dem er von Anfang an keine Chance hatte.
Lese-Probe zu „Nullzeit “
Nullzeit von Juli Zeh ... mehr
Wir sprachen über Windrichtung und Wellengang und spekulierten, wie der November verlaufen würde. Auch auf der Insel gab es Jahreszeiten, man musste nur genauer hinschauen. Tagsüber sank die Temperatur selten unter zwanzig Grad. Danach kam die wirtschaftliche Situation an die Reihe. Bernie, der Schotte, plädierte für eine geregelte Insolvenz der Griechen. Laura kam aus der Schweiz und fand, dass man kleine Länder unterstützen sollte. Ich interessierte mich nicht für Politik. Um den ganzen Tag Nachrichten im Internet zu lesen, hätte ich nicht auswandern müssen. Laura und Bernie einigten sich darauf, dass Deutschland die neue Wirtschaftspolizei Europas sei - stark, aber unbeliebt. Erwartungsvoll blickten sie mich an. Im Ausland ist jeder Deutsche Angela Merkels Pressesprecher. Ich sagte: »Für uns ist die Krise doch längst vorbei.« Die Deutschen und Briten fuhren wieder in Urlaub. Es ging uns besser, manchen sogar gut. Unsere Pappschilder trugen wir unter den Arm geklemmt. Auf dem Schild von Bernie stand EVANS FAMILY und NORRIS FAMILY. Bei Laura stand ANNETTE, FRANK, BASTI und SUSANNE. Ich hatte an diesem Tag nur zwei Namen dabei: THEODOR HAST und JOLANTHE AUGUSTA SOPHIE VON DER PAHLEN.
Die vielen Namensbestandteile hatten kaum auf das Schild gepasst. Die Schilder mussten so klein sein, dass wir sie jederzeit unter den Jacken verschwinden lassen konnten. Ein Inselgesetz zum Schutz der Taxifahrer verbot uns die Abholung von Kunden am Flughafen. Erwischte man uns dabei, zahlten wir dreihundert Euro Strafe. Vor den Glastüren der Ankunftshalle standen die Taxifahrer und behielten uns im Auge. Ihretwegen pflegten wir unsere verdutzten Kunden wie alte Freunde in die Arme zu schließen. Die Anzeigetafel über unseren Köpfen sprang um. 20 minutes delayed. Bernie hob fragend die Augenbrauen.
Wir nickten. »With much milk«, sagte ich. »Lots of«, sagte Laura. Seit Jahren versuchte Laura, mir Englisch beizubringen, dabei hatte ich nicht einmal richtig Spanisch gelernt. Bernie war mein schlechtes Englisch egal, solange er mich verstand. Er schob die Hände in die Taschen seiner Shorts und schlenderte zum Kaffeestand. Mit Fünf-Tage-Bart und Wiegeschritt sah er immer aus, als befände er sich an Deck eines Schiffs. Wir hatten den Kaffee ausgetrunken, als die ersten Passagiere durch die Absperrung kamen.
Bernie wurde von einer Familie umringt. Fünf Personen. Das lohnte sich. Ich hielt Ausschau nach einer eleganten älteren Dame in Begleitung eines weißhaarigen Mannes, der einen Gepäckwagen mit einem Berg farblich aufeinander abgestimmter Koffer schieben würde. Anders konnte ich mir einen Theodor und eine Jolante nicht vorstellen. Wir hatten Exklusivbetreuung vereinbart und uns auf eine Summe geeinigt, die nur zahlen konnte, wer einen großen Teil des Lebens bereits hinter sich hatte. Es war immer spannend, neue Kunden am Flughafen abzuholen. Man wusste nie, wer auf die Idee kam, das Tauchen auszuprobieren. Weil Antje die Büroarbeit erledigte, hatte ich mit den meisten im Vorfeld nicht einmal telefoniert. Wie würden sie aussehen, wie alt, welche Vorlieben, Berufe, Lebensgeschichten? Am Meer war es so ähnlich wie im Zug: Man lernte sich in kürzester Zeit verblüffend gut kennen. Weil ich mir angewöhnt hatte, keine Urteile zu fällen, kam ich mit allen gut zurecht. Unter die Air-Berlin-Passagiere mischten sich Insassen einer Maschine aus Madrid. Sie waren kleiner, weniger warm angezogen und nicht so blass. Ich hatte Übung im Erraten von Staatsangehörigkeiten. Deutsche erkannte ich mit einer Trefferquote von fast hundert Prozent.
Ein Paar kam auf mich zu. Vater und Tochter, dachte ich kurz und sah auf der Suche nach Theodor und Jolante durch sie hindurch, bis sie vor mir stehen blieben. Erst als die Frau auf das Schild in meiner Hand zeigte, begriff ich, dass meine neuen Kunden mich gefunden hatten. »Jolante aber ohne H«, sagte die Frau. »Sind Sie Herr Fiedler?«, fragte der Mann. Ein Taxifahrer beobachtete uns von der Drehtür aus. Ich breitete die Arme aus und zog Theodor Hast an mich. »Ich bin Sven«, sagte ich. »Willkommen auf der Insel.« Theodor verkrampfte sich, während ich die Luft links und rechts von seinem Gesicht küsste. Ein leichter Geruch nach Lavendel und Rotwein. Dann drückte ich die Frau. Sie war schmiegsam wie ein Stofftier. Für einen Augenblick glaubte ich, sie würde zu Boden fallen, sobald ich sie losließe. »Hoppla«, sagte Theodor. »Was für eine Begrüßung.« Das Willkommenstheater würde ich ihnen im Auto erklären. »Mein Wagen steht draußen«, sagte ich.
Bernie hatte seine zweite Familie um sich versammelt, Laura stand inmitten einer Gruppe junger Deutscher. Alle schwiegen und blickten zu uns herüber. Ich schaute zurück und hob fragend die Achseln. Antje hätte mich ausgelacht und wieder einmal behauptet, ich sei »schwer von Kapee«. Theodor und Jolante hatten ihre Rollkoffer gegriffen und schlenderten Richtung Ausgang. Er im Maßanzug ohne Hemd und Krawatte, das Sakko offen über einem hellen T-Shirt. Sie in Militärstiefeln zu einem grauen Leinenkleid, ärmellos, der Rock bis zum Knie. Das schwarze Haar auf ihrem Rücken glänzte wie Krähengefieder. Sie stießen einander mit der Schulter an, lachten über etwas. Blieben stehen und drehten sich nach mir um. Jetzt sah ich es auch: Sie wirkten nicht wie Urlauber.
Eher wie Models für eine Ferienreklame. Irgendwie kamen sie mir bekannt vor. Die halbe Ankunftshalle starrte sie an. Das Wort »Prachtexemplare« kam mir in den Sinn. »Dann mal viel Spaß«, sagte Laura mit Blick auf die Beine der Frau von der Pahlen. »Canalla«, sagte Bernie grinsend und schlug mir auf die Schulter, als ich an ihm vorüber ging: Du Mistkerl. Seine Familien waren rothaarig. Das bedeutete Sonnenbrand und nervöse Kinder. Draußen auf dem Parkplatz öffnete ich meinen Kunden die Seitentür des VW-Busses, aber sie fanden es lustiger, mit mir vorne zu sitzen. Der Bus verfügte über eine Fahrerbank mit drei Plätzen; Theodor quetschte sich in die Mitte. Mein nacktes Bein in Shorts schien unpassend neben seiner Anzughose. Als ich den Gang einlegte, streifte meine Hand seinen linken Oberschenkel. Für den Rest der Fahrt presste er die Knie zusammen. »Wir duzen uns hier. Wenn's euch recht ist.« »Theo.« »Jola.«
Wir reichten uns die Hände. Theos Finger lagen warm, aber schlaff in den meinen. Jola hatte den festen Händedruck eines Mannes, fühlte sich aber erstaunlich kalt an. Sie kurbelte das Fenster ein Stück herunter und hielt die Nase in den Wind. Ihre Sonnenbrille gab ihr das Aussehen eines Insekts. Eines niedlichen Insekts, das musste ich zugeben. Arrecife war eine Konzentration von Unannehmlichkeiten. Behörden, Gerichte, Polizei, Hotelanlagen, Krankenhäuser. Man fährt nur hin, wenn es ein Problem gibt, pflegte Antje zu sagen. An diesem Tag wusste ich noch nicht, dass ich eins hatte. Ich genoss es, die Stadt zu verlassen, drückte aufs Gas, erreichte die Ausfallstraße und Fluchtgeschwindigkeit. Die Landschaft öffnete sich. Ein paar bärtige Palmen am Straßenrand, dahinter alles schwarz bis zum Horizont.
Eine Schönheit im klassischen Sinn war die Insel nicht. Vom Flugzeug aus betrachtet, glich sie einem riesigen Kieswerk. Braungraue Hügel, in deren Senken Schneereste zu liegen schienen. Im Landeanflug erkannte man, dass es sich bei den hellen Flecken um Ortschaften handelte, aus weißen Häusern zusammengesetzt. Eine Landschaft ohne nennenswerte Vegetation hatte es ebenso schwer wie eine Frau, die nichts Passendes zum Anziehen besitzt. Gerade für ihre fehlende Eitelkeit hatte ich die Insel von Anfang an geliebt. Wie war euer Flug, wie ist das Wetter in Deutschland? Wie groß ist die Insel, wie viele Menschen leben hier? Ich wählte die Route durchs Weingebiet. Unzählige trichterförmige Mulden, an deren Grund jeweils eine Rebe Schutz und fruchtbaren Boden fand. Dass es Menschen gab, die für jede einzelne Pflanze ein metergroßes Loch in die Lapillischicht gruben, den Rand mit einer kleinen Steinmauer befestigten und auf diese Weise fünftausend Hektar wie einen Schweizer Käse durchlöcherten, faszinierte mich immer wieder aufs Neue. In der Ferne leuchteten die Krater des Timanfaya rötlich, gelb, violett und grünlich von den Flechten, die das Vulkangestein überzogen. Die einzige Pflanze, die in dieser Umgebung wuchs, war ein Pilz. Ich wartete, wer als Erstes »wie auf dem Mond« sagen würde. »Wie auf dem Mond«, sagte Jola. »Erhaben«, sagte Theo. Als Antje und ich vor vierzehn Jahren angekommen waren, ausgestattet mit zwei Rucksäcken und dem Plan, einen möglichst großen Teil unserer Zukunft auf der Insel zu verbringen, wenn auch nicht unbedingt gemeinsam, da war sie es, die beim Anblick des Timanfaya »wie auf dem Mond« gesagt hatte. Ich hatte etwas wie »erhaben« gedacht und nicht das richtige Wort dafür gefunden. »Wenn man Geröll mag«, sagte Jola. »Du hast keinen Sinn für die Ästhetik des Kargen«, erwiderte Theo. »Und du bist einfach nur froh, dich auf festem Boden zu befinden.« Jola zog Stiefel und Strümpfe aus und warf mir einen fragenden Blick zu, bevor sie die nackten Füße gegen die Windschutzscheibe stützte. Ich nickte zustimmend.
Es freute mich, wenn sich meine Kunden möglichst rasch entspannten. Sie sollten sich nicht wie zu Hause fühlen. »Fliegst du auch so ungern?«, fragte ich Theo. Sein Blick war vernichtend. »Er stellt sich schlafend«, sagte Jola. Sie hatte ihr Telefon hervorgeholt und tippte eine SMS. »Wie alle Männer, die Angst haben.« »Ich betrinke mich, so schnell ich kann«, sagte ich.
»Das erledigt Theo schon vorher.« Ein Handy piepste. Theo griff in die Innentasche seines Sakkos. Las und antwortete. »Fährst du oft nach Deutschland?«, fragte Jola. »Nicht, wenn ich es vermeiden kann«, sagte ich. Jolas Handy piepste. Sie las und stieß Theo in die Seite. Beim Lachen zog sie die Nase kraus wie ein kleines Mädchen. Theo sah aus dem Fenster. »Mir gefällt die Landschaft«, sagte er. »Sie lässt einen in Ruhe. Will nicht ständig bestaunt und bewundert werden.« Ich verstand genau, was er meinte. »Mich interessiert in den nächsten zwei Wochen nur, was unter Wasser ist«, sagte Jola. »Die Welt darüber kann mir gestohlen bleiben.« Auch das verstand ich. Wir erreichten Tinajo, eine kleine Stadt aus weißen Häusern mit orientalisch anmutenden Türmchen auf den Ecken der Flachdächer. An der Buchhandlung, die aussah, als hätte man sie saniert und danach geschlossen, bogen wir links ab. Nach wenigen hundert Metern hatten wir die letzten gepflegten Vorgärten hinter uns gelassen. Es folgten terrassenförmige Felder, dem Geröll abgetrotzt. Hier und da lagen ein paar Zucchinis auf der schwarzen Erde. Ein flacher Schuppen, auf dessen Dach ein Schäferhund in der prallen Sonne angebunden war, stellte das letzte Anzeichen von Zivilisation dar. Die Straße verwandelte sich in eine Schotterpiste, die sich, von weiß getünchten Steinen markiert, als gewundenes Band durch die Vulkanfelder zog. An dieser Stelle gerieten die meisten Kunden in Aufregung. In scherzhaftem Ton riefen sie: »Wo bringst du uns hin?« und »Das ist ja das Ende der Welt!«
Jola sagte: »Wow.« Theo sagte: »Krass.« Ich verzichtete auf touristische Hinweise zu Geschichte und Geologie. Sprach nicht von Vulkanausbrüchen, die in sechs Jahren ein Viertel der Insel unter sich begraben hatten. Ich hielt den Mund und überließ sie ihrem Staunen. Ringsum nichts als Gestein in bizarren Formen. Das Schweigen der Minerale. Nicht einmal ein Vogel ließ sich blicken. Der Wind rüttelte am Auto, als wollte er rein. Nachdem wir den letzten Vulkankegel umrundet hatten, offenbarte sich plötzlich der Atlantik, dunkelblau mit weißem Spitzensaum und ein wenig unglaubwürdig nach so viel Gestein. An den Uferfelsen explodierte die Brandung zu hoch aufsteigenden Gischtwolken, wie in Zeitlupe gefilmt. Der Himmel eine Fortsetzung des Ozeans mit anderen Mitteln, blaugrau und weiß und windgezaust. »Ach, Mensch«, sagte Jola. »Kennt ihr die Geschichte«, fragte Theo, »wie zwei Schriftsteller am Strand spazieren gehen? Der eine beschwert sich, dass alle guten Bücher schon geschrieben worden seien. Schau mal, ruft da der andere und zeigt aufs Meer hinaus, da kommt die letzte Welle!« Jola lachte kurz, ich gar nicht. Das mineralische Schweigen gewann immer. Nach einigen Minuten Fahrt erreichten wir Lahora.
Den Eingang des Orts markierte eine Bauruine, ein Betonquader auf Natursteinfundament, dessen leere Fensterhöhlen über das Meer schauten. Die Schotterpiste verwandelte sich in einen rutschigen Sandstreifen, der steil ins Dorf hinabführte. Falls »Dorf« das richtige Wort war für eine Gruppe von dreißig unbewohnten Häusern.
Während ich darüber nachdenke, wie man Lahora am besten beschreibt, fällt mir auf, dass ich über die Insel und alles, was sich auf ihr befindet, in der Vergangenheitsform spreche. Kaum drei Monate ist es her, dass ich mit Theo und Jola zum ersten Mal nach Lahora fuhr. Wie üblich hielt ich auf der Klippe am oberen Ende des Orts, damit meine Kunden die Aussicht genießen konnten. Ich erklärte, dass Lahora, anders als viele Reiseführer behaupteten, keineswegs ein altes Fischerdorf sei. Vielmehr handele es sich um eine Ansammlung von Wochenendhäusern, erbaut von wohlhabenden Spaniern, die in Tinajo bereits ein schönes Anwesen besaßen, nur eben ohne Meerblick. Die Inselregierung, fuhr ich fort, habe den Bauplatz inmitten eines der größten Vulkangebiete freigegeben, ohne sich um die Erschließung zu kümmern. Lahora besitze keinen Bauplan. Keine Straßennamen. Keine Kanalisation. Genau genommen besitze Lahora außer mir und Antje auch keine Einwohner. Lahora sei eine Mischung aus Bauruine und Geisterstadt, eine Variation auf die unklare Grenze zwischen Noch-nicht-fertig und Schon-wieder-verfallen.
Tatsächlich hatten die Spanier längst aufgehört, an ihren halb fertigen Häuschen herumzubasteln, und saßen stattdessen auf ihren mit Schwemmholz eingezäunten Terrassen, während der salzige Wind den Putz von den Wänden nagte. Hölzerne Kabeltrommeln dienten als Tische, gestapelte Baupaletten als Sitzbänke. Lahora war ein Endpunkt. Ein Ort des Stillstands. Möbliert mit Gegenständen, die anderswo längst auf dem Müll gelandet wären. Das Ende der Welt. Wir saßen im Auto und schauten über die flachen Dächer, auf denen Wassertanks, Solarzellen und Satellitenschüsseln versammelt waren, bis hinunter zur ersten Häuserreihe, die bei Flut fast mit den Füßen im Wasser stand. An diesem Ort, versprach ich, würden sie einzigartige Ruhe finden. Die Eigentümer der Häuser kämen, wenn überhaupt, nur an den Wochenenden. Zum Abschluss meiner kleinen Ansprache verkündete ich zwei Regeln für den Aufenthalt: Nicht schwimmen und nicht spazieren gehen. Die kleine Bucht sei bei jeder Wetterlage ein Hexenkessel, und die Vulkanfelder brächen unbelehrbaren Wanderern regelmäßig die Knöchel. In Lahora könne man sitzen, übers Meer schauen und die nördlich vorgelagerten Inseln betrachten, die wie schlafende Tiere im Dunst zwischen Wasser und Himmel kauerten. Außerdem seien sie schließlich zum Tauchen hier.
Täglich würden wir zu den besten Tauchplätzen der Insel fahren, und wenn sie zusätzlich ein paar Sehenswürdigkeiten besuchen wollten, stünde ich wie verabredet als Chauffeur und Reiseführer zur Verfügung. Sie hörten gar nicht zu. Sie hielten sich an den Händen, betrachteten Dorf und Ozean und wirkten vollständig versunken. Sie fragten nicht wie andere Kunden, warum ich mich an einem so entlegenen Ort niedergelassen habe. Sie plapperten nicht von früheren Tauchabenteuern. Als Jola mir das Gesicht zuwandte und die Sonnenbrille abnahm, waren ihre Augen feucht, was, wie ich glaubte, vom Wind herrührte, der durchs offene Seitenfenster fuhr. »Ausgesprochen schön hier«, sagte sie. Ich fröstelte und ließ den Motor an. Heute kommt es mir vor, als hätte sich dieses erste Kennenlernen vor einer halben Ewigkeit abgespielt, in einem anderen Jahrhundert oder fremden Universum. Obwohl ich, während ich das schreibe, noch immer durchs Fenster den Atlantik sehe, besitzt die Insel keine Gegenwart mehr. Ich lebe buchstäblich aus gepackten Koffern. Am Hafen von Arrecife wartet ein Container mit meiner gesamten Ausrüstung auf die Verschiffung nach Thailand, wo ein Deutscher aus Stuttgart auf irgendeiner Palmeninsel mit weißen Stränden eine Tauchbasis eröffnen will. Der zweite Container mit privaten Sachen ist fast leer geblieben. Als ich überlegte, was ich in Deutschland gebrauchen könnte, fiel mir kaum etwas ein.
Was haben Shorts, Sandalen, Bullaugen von gesunkenen Schiffen und ein selbst gefangener, präparierter Schwertfisch im Ruhrgebiet verloren? Der einzig passende Ort für all das ist die Vergangenheit. Langsam rollten wir die Piste hinunter und bogen an der kleinen Mauer, die mit rührender Anmaßung Atlantik und Festland voneinander trennte, links ab. Mein Anwesen bildete das Ende des Orts. An einem Sandplatz standen sich die beiden Häuser in Steinwurfweite schräg gegenüber: die zweigeschossige, mit großzügiger Dachterrasse versehene »Residencia «, in der ich gemeinsam mit Antje lebte, und die »Casa Raya«, das etwas kleinere Feriendomizil. Beiden Gebäuden hatte man ihren Platz in die schwarzen Uferfelsen hineingesprengt. Sie standen erhöht auf Natursteinsockeln, denen die Gischt nichts anhaben konnte. Ich hatte sie günstig erworben und aufwändig saniert, und Antje hatte in den Gärten rings um die Häuser wahre Wunder bewirkt. Tagelang hatte sie mit dem Bauunternehmer um die richtige Aushubmenge gestritten, Pläne für die Bewässerung gezeichnet und auf dem Anfahren von speziellem Boden bestanden. Gewissenhaft untersuchte sie Windbelastung, Sonneneinfall und die Ausbreitungsrichtung von Wurzeln. Mit den Jahren war am Rand der Steinwüste eine Oase entstanden, deren Bewässerung mich ein Vermögen kostete. Flamboyant, Hibiscus und Oleander blühten das ganze Jahr. Massen von Bougainvilleen warfen ihre Farbkaskaden über die Mauern, darüber streckten zwei Norfolktannen ihre dickfingrigen Nadelfächer in die Höhe. Am äußersten Ende Lahoras brannte die Blütenpracht ein Loch in die karge Umgebung. »Das gibt's doch nicht«, sagte Theo, schüttelte den Kopf und lachte leise, als könnte er seinen Augen nicht trauen. Jola hatte die Sonnenbrille wieder aufgesetzt und schwieg. Es gab Kunden, die Lahora nicht mochten, aber niemanden, dem die Casa Raya nicht gefiel.
Der schlichte weiße Würfel mit blau gestrichenen Fensterläden verfügte nur über ein Schlafzimmer, Bad und Wohnzimmer mit Kochnische, hatte aber trotz seiner geringen Größe etwas Majestätisches an sich. Unterhalb der Treppe, die zur Eingangstür hinaufführte, warf sich der Atlantik gegen die Lavafelsen. Weniger wütend als routiniert; er machte das seit ein paar Millionen Jahren. Alle zwei Minuten schaukelte sich das Wasser in der Bucht auf, bis eine zwanzig Meter hohe Fontäne in den Himmel schoss. Unglaublich, dass ein solches Schauspiel nicht das Geringste mit uns Menschen zu tun hatte. Nach ihrem Aufenthalt in der Casa schrieben die Gäste aus Deutschland, sie hätten das mythische Tosen noch tagelang im Ohr gehabt. Es war ein Geräusch, das einen bewohnte. Antje saß bereits auf der Treppe zur Casa und wartete. Auf der Motorhaube ihres weißen Citroëns schlief ihr Cocker Todd. Der einzige Hund im Universum, der freiwillig auf einem heißen Blech in der prallen Sonne lag. Auf diese Weise wollte er verhindern, dass man ohne ihn wegfuhr. Glaubte Antje. Als sie uns kommen sah, sprang sie auf und winkte. Ihr Kleid ein leuchtender Fleck. Sie besaß eine ganze Sammlung bunter Baumwollkleider, jedes mit anderem Muster. Dazu eine Batterie Flip-Flops in passenden Farben.
An diesem Tag galoppierten grüne Pferdchen auf rotem Grund über ihren Körper. Als sie Jola die Hand gab, sah das aus, als hätte man zwei Frauen aus verschiedenen Filmen in einem Trickbild zusammengeschnitten. Theo starrte aufs Meer, die Hände in den Hosentaschen. Ich stellte das Gepäck auf die staubige Erde. Antje hob die Hand zum Dank. Wir hatten uns kaum begrüßt. Ich mochte es nicht, wenn sie mich in Gegenwart anderer Menschen berührte. Obwohl wir seit Jahren zusammenlebten, kam es mir immer noch komisch vor, dass wir ein Paar sein sollten. Jedenfalls in der Öffentlichkeit. Während ich die leeren Tauchflaschen vom Vormittag in die Garage der Residencia schleppte, wo sich die Füllstation befand, führte Antje unsere Gäste ins Ferienhaus. Die Unterbringung der Kunden gehörte zu ihren Zuständigkeiten. Außer der Casa gab es noch einige Ferienapartments in Puerto del Carmen, die sie für andere Eigentümer verwaltete. Die meisten ihrer Gäste waren meine Tauchschüler. Antje buchte, übergab Schlüssel, rechnete ab, machte sauber, pflegte Gärten, beaufsichtigte Handwerker. Nebenher führte sie das Büro meiner Tauchschule, aktualisierte die Homepage und erledigte den Papierkram der Tauchverbände. Nach unserer Ankunft auf der Insel hatte sie keine zwei Jahre gebraucht, um sich unentbehrlich zu machen. Selbst mit der Mañana- Mentalität der Inselspanier kam sie zurecht. Ich warf die benutzten Tauchanzüge in die Waschanlage im Garten und ging ins Haus. Plötzlich verspürte ich Lust auf einen Aperitif. Campari auf Eis. Normalerweise trank ich nur, wenn ich musste. Im Flugzeug, auf Hochzeiten oder an Silvester. Der Campari bezog sich irgendwie auf Jola und Theo.
Ich roch und schmeckte das Getränk, ohne zu wissen, ob Antje es vorrätig hatte. Im Kühlschrank fand ich eine Flasche, goss reichlich ein und freute mich daran, wie die Eiswürfel knackten. Das Glas trug ich hinaus auf die untere Terrasse. Wenn man den Stuhl ganz dicht an die Brüstung stellte, konnte man quer über den Sandplatz ins Wohnzimmerfenster der Casa sehen. Gerade wurden die Vorhänge aufgezogen. Antjes buntes Kleid erschien hinter der Scheibe. Im Hintergrund sah ich Jola und Theo nachdenklich die Küchenzeile betrachten. Vermutlich waren sie Besseres gewöhnt. Oder sie fragten sich, was sie hier überhaupt kochen sollten, wo es doch in Lahora nicht einmal einen Kaugummiautomaten gab.
An diesem ersten Abend würde Antje sie zum Essen einladen und morgen nach dem Tauchen mit ihnen einkaufen fahren. So machten wir es immer mit Gästen in der Casa. Drüben erklärte Antje Herd, Mikrowelle und Waschmaschine. Theo schien zuzuhören, während sich Jola aufs Sofa fallen ließ. Ihr Kopf hüpfte im Fenster auf und nieder; wahrscheinlich prüfte sie die Federung. Ich war versucht, mir auszumalen, wie Theo sie über den Esstisch warf, ihr das Kleid hochschob - und löschte die Vorstellung gleich wieder. Kundinnen waren tabu. Ich arbeitete in einer Branche, in der man Badehosen als Arbeitskleidung trug.
Jolas Tagebuch, erster Tag Samstag, 12. November. Nachmittags. Unglaublicher Ort. Weiße Fassaden mit verrammelten Fensterläden. Pralle Sonne und schwarzer Sand. Jeden Augenblick kann Zorro um die Ecke biegen. Man will sofort ein Duell abhalten. Die Luft schmeckt salzig. Ich find's genial hier, aber weil Theo es auch mag, muss ich natürlich das Gegenteil behaupten. Die erhabene Ästhetik des Kargen! Alles klar, alter Mann. Entspann dich doch einfach mal. Die Welt wird nicht schöner, wenn du deine Poesie drüber kippst. Auch nicht größer, wichtiger oder besser. An der Welt prallst du einfach ab. Wie das Meer an den Felsen zersprühen deine Worte und fließen in dich selbst zurück. In zehntausend Jahren hättest du vielleicht eine kleine Ecke rund geschliffen, aber so alt wirst du nicht. Du am allerwenigsten. Aber ich halte den Mund. Spreche nicht über Literatur und nicht vom Sterben. Wir geben uns Mühe. Das wird ein schöner Urlaub. Ich werde ihn nicht provozieren, und er wird sich nicht provozieren lassen. Waffenstillstand. Na ja, Urlaub: Eigentlich bin ich hier, weil ich diese Rolle will. Ich brauche die Rolle. Lotte ist meine letzte Chance. Ich habe Lottes Foto aus dem Buch gerissen und im Schlafzimmer übers Bett gepinnt. Ich könnte sie die ganze Zeit anschauen. Das Mädchen auf dem Meeresgrund. Wie sie sich in rotem Badekostüm und altmodischer Taucherausrüstung an einem Wrack festhält.
© Verlagsgruppe Random House
Wir sprachen über Windrichtung und Wellengang und spekulierten, wie der November verlaufen würde. Auch auf der Insel gab es Jahreszeiten, man musste nur genauer hinschauen. Tagsüber sank die Temperatur selten unter zwanzig Grad. Danach kam die wirtschaftliche Situation an die Reihe. Bernie, der Schotte, plädierte für eine geregelte Insolvenz der Griechen. Laura kam aus der Schweiz und fand, dass man kleine Länder unterstützen sollte. Ich interessierte mich nicht für Politik. Um den ganzen Tag Nachrichten im Internet zu lesen, hätte ich nicht auswandern müssen. Laura und Bernie einigten sich darauf, dass Deutschland die neue Wirtschaftspolizei Europas sei - stark, aber unbeliebt. Erwartungsvoll blickten sie mich an. Im Ausland ist jeder Deutsche Angela Merkels Pressesprecher. Ich sagte: »Für uns ist die Krise doch längst vorbei.« Die Deutschen und Briten fuhren wieder in Urlaub. Es ging uns besser, manchen sogar gut. Unsere Pappschilder trugen wir unter den Arm geklemmt. Auf dem Schild von Bernie stand EVANS FAMILY und NORRIS FAMILY. Bei Laura stand ANNETTE, FRANK, BASTI und SUSANNE. Ich hatte an diesem Tag nur zwei Namen dabei: THEODOR HAST und JOLANTHE AUGUSTA SOPHIE VON DER PAHLEN.
Die vielen Namensbestandteile hatten kaum auf das Schild gepasst. Die Schilder mussten so klein sein, dass wir sie jederzeit unter den Jacken verschwinden lassen konnten. Ein Inselgesetz zum Schutz der Taxifahrer verbot uns die Abholung von Kunden am Flughafen. Erwischte man uns dabei, zahlten wir dreihundert Euro Strafe. Vor den Glastüren der Ankunftshalle standen die Taxifahrer und behielten uns im Auge. Ihretwegen pflegten wir unsere verdutzten Kunden wie alte Freunde in die Arme zu schließen. Die Anzeigetafel über unseren Köpfen sprang um. 20 minutes delayed. Bernie hob fragend die Augenbrauen.
Wir nickten. »With much milk«, sagte ich. »Lots of«, sagte Laura. Seit Jahren versuchte Laura, mir Englisch beizubringen, dabei hatte ich nicht einmal richtig Spanisch gelernt. Bernie war mein schlechtes Englisch egal, solange er mich verstand. Er schob die Hände in die Taschen seiner Shorts und schlenderte zum Kaffeestand. Mit Fünf-Tage-Bart und Wiegeschritt sah er immer aus, als befände er sich an Deck eines Schiffs. Wir hatten den Kaffee ausgetrunken, als die ersten Passagiere durch die Absperrung kamen.
Bernie wurde von einer Familie umringt. Fünf Personen. Das lohnte sich. Ich hielt Ausschau nach einer eleganten älteren Dame in Begleitung eines weißhaarigen Mannes, der einen Gepäckwagen mit einem Berg farblich aufeinander abgestimmter Koffer schieben würde. Anders konnte ich mir einen Theodor und eine Jolante nicht vorstellen. Wir hatten Exklusivbetreuung vereinbart und uns auf eine Summe geeinigt, die nur zahlen konnte, wer einen großen Teil des Lebens bereits hinter sich hatte. Es war immer spannend, neue Kunden am Flughafen abzuholen. Man wusste nie, wer auf die Idee kam, das Tauchen auszuprobieren. Weil Antje die Büroarbeit erledigte, hatte ich mit den meisten im Vorfeld nicht einmal telefoniert. Wie würden sie aussehen, wie alt, welche Vorlieben, Berufe, Lebensgeschichten? Am Meer war es so ähnlich wie im Zug: Man lernte sich in kürzester Zeit verblüffend gut kennen. Weil ich mir angewöhnt hatte, keine Urteile zu fällen, kam ich mit allen gut zurecht. Unter die Air-Berlin-Passagiere mischten sich Insassen einer Maschine aus Madrid. Sie waren kleiner, weniger warm angezogen und nicht so blass. Ich hatte Übung im Erraten von Staatsangehörigkeiten. Deutsche erkannte ich mit einer Trefferquote von fast hundert Prozent.
Ein Paar kam auf mich zu. Vater und Tochter, dachte ich kurz und sah auf der Suche nach Theodor und Jolante durch sie hindurch, bis sie vor mir stehen blieben. Erst als die Frau auf das Schild in meiner Hand zeigte, begriff ich, dass meine neuen Kunden mich gefunden hatten. »Jolante aber ohne H«, sagte die Frau. »Sind Sie Herr Fiedler?«, fragte der Mann. Ein Taxifahrer beobachtete uns von der Drehtür aus. Ich breitete die Arme aus und zog Theodor Hast an mich. »Ich bin Sven«, sagte ich. »Willkommen auf der Insel.« Theodor verkrampfte sich, während ich die Luft links und rechts von seinem Gesicht küsste. Ein leichter Geruch nach Lavendel und Rotwein. Dann drückte ich die Frau. Sie war schmiegsam wie ein Stofftier. Für einen Augenblick glaubte ich, sie würde zu Boden fallen, sobald ich sie losließe. »Hoppla«, sagte Theodor. »Was für eine Begrüßung.« Das Willkommenstheater würde ich ihnen im Auto erklären. »Mein Wagen steht draußen«, sagte ich.
Bernie hatte seine zweite Familie um sich versammelt, Laura stand inmitten einer Gruppe junger Deutscher. Alle schwiegen und blickten zu uns herüber. Ich schaute zurück und hob fragend die Achseln. Antje hätte mich ausgelacht und wieder einmal behauptet, ich sei »schwer von Kapee«. Theodor und Jolante hatten ihre Rollkoffer gegriffen und schlenderten Richtung Ausgang. Er im Maßanzug ohne Hemd und Krawatte, das Sakko offen über einem hellen T-Shirt. Sie in Militärstiefeln zu einem grauen Leinenkleid, ärmellos, der Rock bis zum Knie. Das schwarze Haar auf ihrem Rücken glänzte wie Krähengefieder. Sie stießen einander mit der Schulter an, lachten über etwas. Blieben stehen und drehten sich nach mir um. Jetzt sah ich es auch: Sie wirkten nicht wie Urlauber.
Eher wie Models für eine Ferienreklame. Irgendwie kamen sie mir bekannt vor. Die halbe Ankunftshalle starrte sie an. Das Wort »Prachtexemplare« kam mir in den Sinn. »Dann mal viel Spaß«, sagte Laura mit Blick auf die Beine der Frau von der Pahlen. »Canalla«, sagte Bernie grinsend und schlug mir auf die Schulter, als ich an ihm vorüber ging: Du Mistkerl. Seine Familien waren rothaarig. Das bedeutete Sonnenbrand und nervöse Kinder. Draußen auf dem Parkplatz öffnete ich meinen Kunden die Seitentür des VW-Busses, aber sie fanden es lustiger, mit mir vorne zu sitzen. Der Bus verfügte über eine Fahrerbank mit drei Plätzen; Theodor quetschte sich in die Mitte. Mein nacktes Bein in Shorts schien unpassend neben seiner Anzughose. Als ich den Gang einlegte, streifte meine Hand seinen linken Oberschenkel. Für den Rest der Fahrt presste er die Knie zusammen. »Wir duzen uns hier. Wenn's euch recht ist.« »Theo.« »Jola.«
Wir reichten uns die Hände. Theos Finger lagen warm, aber schlaff in den meinen. Jola hatte den festen Händedruck eines Mannes, fühlte sich aber erstaunlich kalt an. Sie kurbelte das Fenster ein Stück herunter und hielt die Nase in den Wind. Ihre Sonnenbrille gab ihr das Aussehen eines Insekts. Eines niedlichen Insekts, das musste ich zugeben. Arrecife war eine Konzentration von Unannehmlichkeiten. Behörden, Gerichte, Polizei, Hotelanlagen, Krankenhäuser. Man fährt nur hin, wenn es ein Problem gibt, pflegte Antje zu sagen. An diesem Tag wusste ich noch nicht, dass ich eins hatte. Ich genoss es, die Stadt zu verlassen, drückte aufs Gas, erreichte die Ausfallstraße und Fluchtgeschwindigkeit. Die Landschaft öffnete sich. Ein paar bärtige Palmen am Straßenrand, dahinter alles schwarz bis zum Horizont.
Eine Schönheit im klassischen Sinn war die Insel nicht. Vom Flugzeug aus betrachtet, glich sie einem riesigen Kieswerk. Braungraue Hügel, in deren Senken Schneereste zu liegen schienen. Im Landeanflug erkannte man, dass es sich bei den hellen Flecken um Ortschaften handelte, aus weißen Häusern zusammengesetzt. Eine Landschaft ohne nennenswerte Vegetation hatte es ebenso schwer wie eine Frau, die nichts Passendes zum Anziehen besitzt. Gerade für ihre fehlende Eitelkeit hatte ich die Insel von Anfang an geliebt. Wie war euer Flug, wie ist das Wetter in Deutschland? Wie groß ist die Insel, wie viele Menschen leben hier? Ich wählte die Route durchs Weingebiet. Unzählige trichterförmige Mulden, an deren Grund jeweils eine Rebe Schutz und fruchtbaren Boden fand. Dass es Menschen gab, die für jede einzelne Pflanze ein metergroßes Loch in die Lapillischicht gruben, den Rand mit einer kleinen Steinmauer befestigten und auf diese Weise fünftausend Hektar wie einen Schweizer Käse durchlöcherten, faszinierte mich immer wieder aufs Neue. In der Ferne leuchteten die Krater des Timanfaya rötlich, gelb, violett und grünlich von den Flechten, die das Vulkangestein überzogen. Die einzige Pflanze, die in dieser Umgebung wuchs, war ein Pilz. Ich wartete, wer als Erstes »wie auf dem Mond« sagen würde. »Wie auf dem Mond«, sagte Jola. »Erhaben«, sagte Theo. Als Antje und ich vor vierzehn Jahren angekommen waren, ausgestattet mit zwei Rucksäcken und dem Plan, einen möglichst großen Teil unserer Zukunft auf der Insel zu verbringen, wenn auch nicht unbedingt gemeinsam, da war sie es, die beim Anblick des Timanfaya »wie auf dem Mond« gesagt hatte. Ich hatte etwas wie »erhaben« gedacht und nicht das richtige Wort dafür gefunden. »Wenn man Geröll mag«, sagte Jola. »Du hast keinen Sinn für die Ästhetik des Kargen«, erwiderte Theo. »Und du bist einfach nur froh, dich auf festem Boden zu befinden.« Jola zog Stiefel und Strümpfe aus und warf mir einen fragenden Blick zu, bevor sie die nackten Füße gegen die Windschutzscheibe stützte. Ich nickte zustimmend.
Es freute mich, wenn sich meine Kunden möglichst rasch entspannten. Sie sollten sich nicht wie zu Hause fühlen. »Fliegst du auch so ungern?«, fragte ich Theo. Sein Blick war vernichtend. »Er stellt sich schlafend«, sagte Jola. Sie hatte ihr Telefon hervorgeholt und tippte eine SMS. »Wie alle Männer, die Angst haben.« »Ich betrinke mich, so schnell ich kann«, sagte ich.
»Das erledigt Theo schon vorher.« Ein Handy piepste. Theo griff in die Innentasche seines Sakkos. Las und antwortete. »Fährst du oft nach Deutschland?«, fragte Jola. »Nicht, wenn ich es vermeiden kann«, sagte ich. Jolas Handy piepste. Sie las und stieß Theo in die Seite. Beim Lachen zog sie die Nase kraus wie ein kleines Mädchen. Theo sah aus dem Fenster. »Mir gefällt die Landschaft«, sagte er. »Sie lässt einen in Ruhe. Will nicht ständig bestaunt und bewundert werden.« Ich verstand genau, was er meinte. »Mich interessiert in den nächsten zwei Wochen nur, was unter Wasser ist«, sagte Jola. »Die Welt darüber kann mir gestohlen bleiben.« Auch das verstand ich. Wir erreichten Tinajo, eine kleine Stadt aus weißen Häusern mit orientalisch anmutenden Türmchen auf den Ecken der Flachdächer. An der Buchhandlung, die aussah, als hätte man sie saniert und danach geschlossen, bogen wir links ab. Nach wenigen hundert Metern hatten wir die letzten gepflegten Vorgärten hinter uns gelassen. Es folgten terrassenförmige Felder, dem Geröll abgetrotzt. Hier und da lagen ein paar Zucchinis auf der schwarzen Erde. Ein flacher Schuppen, auf dessen Dach ein Schäferhund in der prallen Sonne angebunden war, stellte das letzte Anzeichen von Zivilisation dar. Die Straße verwandelte sich in eine Schotterpiste, die sich, von weiß getünchten Steinen markiert, als gewundenes Band durch die Vulkanfelder zog. An dieser Stelle gerieten die meisten Kunden in Aufregung. In scherzhaftem Ton riefen sie: »Wo bringst du uns hin?« und »Das ist ja das Ende der Welt!«
Jola sagte: »Wow.« Theo sagte: »Krass.« Ich verzichtete auf touristische Hinweise zu Geschichte und Geologie. Sprach nicht von Vulkanausbrüchen, die in sechs Jahren ein Viertel der Insel unter sich begraben hatten. Ich hielt den Mund und überließ sie ihrem Staunen. Ringsum nichts als Gestein in bizarren Formen. Das Schweigen der Minerale. Nicht einmal ein Vogel ließ sich blicken. Der Wind rüttelte am Auto, als wollte er rein. Nachdem wir den letzten Vulkankegel umrundet hatten, offenbarte sich plötzlich der Atlantik, dunkelblau mit weißem Spitzensaum und ein wenig unglaubwürdig nach so viel Gestein. An den Uferfelsen explodierte die Brandung zu hoch aufsteigenden Gischtwolken, wie in Zeitlupe gefilmt. Der Himmel eine Fortsetzung des Ozeans mit anderen Mitteln, blaugrau und weiß und windgezaust. »Ach, Mensch«, sagte Jola. »Kennt ihr die Geschichte«, fragte Theo, »wie zwei Schriftsteller am Strand spazieren gehen? Der eine beschwert sich, dass alle guten Bücher schon geschrieben worden seien. Schau mal, ruft da der andere und zeigt aufs Meer hinaus, da kommt die letzte Welle!« Jola lachte kurz, ich gar nicht. Das mineralische Schweigen gewann immer. Nach einigen Minuten Fahrt erreichten wir Lahora.
Den Eingang des Orts markierte eine Bauruine, ein Betonquader auf Natursteinfundament, dessen leere Fensterhöhlen über das Meer schauten. Die Schotterpiste verwandelte sich in einen rutschigen Sandstreifen, der steil ins Dorf hinabführte. Falls »Dorf« das richtige Wort war für eine Gruppe von dreißig unbewohnten Häusern.
Während ich darüber nachdenke, wie man Lahora am besten beschreibt, fällt mir auf, dass ich über die Insel und alles, was sich auf ihr befindet, in der Vergangenheitsform spreche. Kaum drei Monate ist es her, dass ich mit Theo und Jola zum ersten Mal nach Lahora fuhr. Wie üblich hielt ich auf der Klippe am oberen Ende des Orts, damit meine Kunden die Aussicht genießen konnten. Ich erklärte, dass Lahora, anders als viele Reiseführer behaupteten, keineswegs ein altes Fischerdorf sei. Vielmehr handele es sich um eine Ansammlung von Wochenendhäusern, erbaut von wohlhabenden Spaniern, die in Tinajo bereits ein schönes Anwesen besaßen, nur eben ohne Meerblick. Die Inselregierung, fuhr ich fort, habe den Bauplatz inmitten eines der größten Vulkangebiete freigegeben, ohne sich um die Erschließung zu kümmern. Lahora besitze keinen Bauplan. Keine Straßennamen. Keine Kanalisation. Genau genommen besitze Lahora außer mir und Antje auch keine Einwohner. Lahora sei eine Mischung aus Bauruine und Geisterstadt, eine Variation auf die unklare Grenze zwischen Noch-nicht-fertig und Schon-wieder-verfallen.
Tatsächlich hatten die Spanier längst aufgehört, an ihren halb fertigen Häuschen herumzubasteln, und saßen stattdessen auf ihren mit Schwemmholz eingezäunten Terrassen, während der salzige Wind den Putz von den Wänden nagte. Hölzerne Kabeltrommeln dienten als Tische, gestapelte Baupaletten als Sitzbänke. Lahora war ein Endpunkt. Ein Ort des Stillstands. Möbliert mit Gegenständen, die anderswo längst auf dem Müll gelandet wären. Das Ende der Welt. Wir saßen im Auto und schauten über die flachen Dächer, auf denen Wassertanks, Solarzellen und Satellitenschüsseln versammelt waren, bis hinunter zur ersten Häuserreihe, die bei Flut fast mit den Füßen im Wasser stand. An diesem Ort, versprach ich, würden sie einzigartige Ruhe finden. Die Eigentümer der Häuser kämen, wenn überhaupt, nur an den Wochenenden. Zum Abschluss meiner kleinen Ansprache verkündete ich zwei Regeln für den Aufenthalt: Nicht schwimmen und nicht spazieren gehen. Die kleine Bucht sei bei jeder Wetterlage ein Hexenkessel, und die Vulkanfelder brächen unbelehrbaren Wanderern regelmäßig die Knöchel. In Lahora könne man sitzen, übers Meer schauen und die nördlich vorgelagerten Inseln betrachten, die wie schlafende Tiere im Dunst zwischen Wasser und Himmel kauerten. Außerdem seien sie schließlich zum Tauchen hier.
Täglich würden wir zu den besten Tauchplätzen der Insel fahren, und wenn sie zusätzlich ein paar Sehenswürdigkeiten besuchen wollten, stünde ich wie verabredet als Chauffeur und Reiseführer zur Verfügung. Sie hörten gar nicht zu. Sie hielten sich an den Händen, betrachteten Dorf und Ozean und wirkten vollständig versunken. Sie fragten nicht wie andere Kunden, warum ich mich an einem so entlegenen Ort niedergelassen habe. Sie plapperten nicht von früheren Tauchabenteuern. Als Jola mir das Gesicht zuwandte und die Sonnenbrille abnahm, waren ihre Augen feucht, was, wie ich glaubte, vom Wind herrührte, der durchs offene Seitenfenster fuhr. »Ausgesprochen schön hier«, sagte sie. Ich fröstelte und ließ den Motor an. Heute kommt es mir vor, als hätte sich dieses erste Kennenlernen vor einer halben Ewigkeit abgespielt, in einem anderen Jahrhundert oder fremden Universum. Obwohl ich, während ich das schreibe, noch immer durchs Fenster den Atlantik sehe, besitzt die Insel keine Gegenwart mehr. Ich lebe buchstäblich aus gepackten Koffern. Am Hafen von Arrecife wartet ein Container mit meiner gesamten Ausrüstung auf die Verschiffung nach Thailand, wo ein Deutscher aus Stuttgart auf irgendeiner Palmeninsel mit weißen Stränden eine Tauchbasis eröffnen will. Der zweite Container mit privaten Sachen ist fast leer geblieben. Als ich überlegte, was ich in Deutschland gebrauchen könnte, fiel mir kaum etwas ein.
Was haben Shorts, Sandalen, Bullaugen von gesunkenen Schiffen und ein selbst gefangener, präparierter Schwertfisch im Ruhrgebiet verloren? Der einzig passende Ort für all das ist die Vergangenheit. Langsam rollten wir die Piste hinunter und bogen an der kleinen Mauer, die mit rührender Anmaßung Atlantik und Festland voneinander trennte, links ab. Mein Anwesen bildete das Ende des Orts. An einem Sandplatz standen sich die beiden Häuser in Steinwurfweite schräg gegenüber: die zweigeschossige, mit großzügiger Dachterrasse versehene »Residencia «, in der ich gemeinsam mit Antje lebte, und die »Casa Raya«, das etwas kleinere Feriendomizil. Beiden Gebäuden hatte man ihren Platz in die schwarzen Uferfelsen hineingesprengt. Sie standen erhöht auf Natursteinsockeln, denen die Gischt nichts anhaben konnte. Ich hatte sie günstig erworben und aufwändig saniert, und Antje hatte in den Gärten rings um die Häuser wahre Wunder bewirkt. Tagelang hatte sie mit dem Bauunternehmer um die richtige Aushubmenge gestritten, Pläne für die Bewässerung gezeichnet und auf dem Anfahren von speziellem Boden bestanden. Gewissenhaft untersuchte sie Windbelastung, Sonneneinfall und die Ausbreitungsrichtung von Wurzeln. Mit den Jahren war am Rand der Steinwüste eine Oase entstanden, deren Bewässerung mich ein Vermögen kostete. Flamboyant, Hibiscus und Oleander blühten das ganze Jahr. Massen von Bougainvilleen warfen ihre Farbkaskaden über die Mauern, darüber streckten zwei Norfolktannen ihre dickfingrigen Nadelfächer in die Höhe. Am äußersten Ende Lahoras brannte die Blütenpracht ein Loch in die karge Umgebung. »Das gibt's doch nicht«, sagte Theo, schüttelte den Kopf und lachte leise, als könnte er seinen Augen nicht trauen. Jola hatte die Sonnenbrille wieder aufgesetzt und schwieg. Es gab Kunden, die Lahora nicht mochten, aber niemanden, dem die Casa Raya nicht gefiel.
Der schlichte weiße Würfel mit blau gestrichenen Fensterläden verfügte nur über ein Schlafzimmer, Bad und Wohnzimmer mit Kochnische, hatte aber trotz seiner geringen Größe etwas Majestätisches an sich. Unterhalb der Treppe, die zur Eingangstür hinaufführte, warf sich der Atlantik gegen die Lavafelsen. Weniger wütend als routiniert; er machte das seit ein paar Millionen Jahren. Alle zwei Minuten schaukelte sich das Wasser in der Bucht auf, bis eine zwanzig Meter hohe Fontäne in den Himmel schoss. Unglaublich, dass ein solches Schauspiel nicht das Geringste mit uns Menschen zu tun hatte. Nach ihrem Aufenthalt in der Casa schrieben die Gäste aus Deutschland, sie hätten das mythische Tosen noch tagelang im Ohr gehabt. Es war ein Geräusch, das einen bewohnte. Antje saß bereits auf der Treppe zur Casa und wartete. Auf der Motorhaube ihres weißen Citroëns schlief ihr Cocker Todd. Der einzige Hund im Universum, der freiwillig auf einem heißen Blech in der prallen Sonne lag. Auf diese Weise wollte er verhindern, dass man ohne ihn wegfuhr. Glaubte Antje. Als sie uns kommen sah, sprang sie auf und winkte. Ihr Kleid ein leuchtender Fleck. Sie besaß eine ganze Sammlung bunter Baumwollkleider, jedes mit anderem Muster. Dazu eine Batterie Flip-Flops in passenden Farben.
An diesem Tag galoppierten grüne Pferdchen auf rotem Grund über ihren Körper. Als sie Jola die Hand gab, sah das aus, als hätte man zwei Frauen aus verschiedenen Filmen in einem Trickbild zusammengeschnitten. Theo starrte aufs Meer, die Hände in den Hosentaschen. Ich stellte das Gepäck auf die staubige Erde. Antje hob die Hand zum Dank. Wir hatten uns kaum begrüßt. Ich mochte es nicht, wenn sie mich in Gegenwart anderer Menschen berührte. Obwohl wir seit Jahren zusammenlebten, kam es mir immer noch komisch vor, dass wir ein Paar sein sollten. Jedenfalls in der Öffentlichkeit. Während ich die leeren Tauchflaschen vom Vormittag in die Garage der Residencia schleppte, wo sich die Füllstation befand, führte Antje unsere Gäste ins Ferienhaus. Die Unterbringung der Kunden gehörte zu ihren Zuständigkeiten. Außer der Casa gab es noch einige Ferienapartments in Puerto del Carmen, die sie für andere Eigentümer verwaltete. Die meisten ihrer Gäste waren meine Tauchschüler. Antje buchte, übergab Schlüssel, rechnete ab, machte sauber, pflegte Gärten, beaufsichtigte Handwerker. Nebenher führte sie das Büro meiner Tauchschule, aktualisierte die Homepage und erledigte den Papierkram der Tauchverbände. Nach unserer Ankunft auf der Insel hatte sie keine zwei Jahre gebraucht, um sich unentbehrlich zu machen. Selbst mit der Mañana- Mentalität der Inselspanier kam sie zurecht. Ich warf die benutzten Tauchanzüge in die Waschanlage im Garten und ging ins Haus. Plötzlich verspürte ich Lust auf einen Aperitif. Campari auf Eis. Normalerweise trank ich nur, wenn ich musste. Im Flugzeug, auf Hochzeiten oder an Silvester. Der Campari bezog sich irgendwie auf Jola und Theo.
Ich roch und schmeckte das Getränk, ohne zu wissen, ob Antje es vorrätig hatte. Im Kühlschrank fand ich eine Flasche, goss reichlich ein und freute mich daran, wie die Eiswürfel knackten. Das Glas trug ich hinaus auf die untere Terrasse. Wenn man den Stuhl ganz dicht an die Brüstung stellte, konnte man quer über den Sandplatz ins Wohnzimmerfenster der Casa sehen. Gerade wurden die Vorhänge aufgezogen. Antjes buntes Kleid erschien hinter der Scheibe. Im Hintergrund sah ich Jola und Theo nachdenklich die Küchenzeile betrachten. Vermutlich waren sie Besseres gewöhnt. Oder sie fragten sich, was sie hier überhaupt kochen sollten, wo es doch in Lahora nicht einmal einen Kaugummiautomaten gab.
An diesem ersten Abend würde Antje sie zum Essen einladen und morgen nach dem Tauchen mit ihnen einkaufen fahren. So machten wir es immer mit Gästen in der Casa. Drüben erklärte Antje Herd, Mikrowelle und Waschmaschine. Theo schien zuzuhören, während sich Jola aufs Sofa fallen ließ. Ihr Kopf hüpfte im Fenster auf und nieder; wahrscheinlich prüfte sie die Federung. Ich war versucht, mir auszumalen, wie Theo sie über den Esstisch warf, ihr das Kleid hochschob - und löschte die Vorstellung gleich wieder. Kundinnen waren tabu. Ich arbeitete in einer Branche, in der man Badehosen als Arbeitskleidung trug.
Jolas Tagebuch, erster Tag Samstag, 12. November. Nachmittags. Unglaublicher Ort. Weiße Fassaden mit verrammelten Fensterläden. Pralle Sonne und schwarzer Sand. Jeden Augenblick kann Zorro um die Ecke biegen. Man will sofort ein Duell abhalten. Die Luft schmeckt salzig. Ich find's genial hier, aber weil Theo es auch mag, muss ich natürlich das Gegenteil behaupten. Die erhabene Ästhetik des Kargen! Alles klar, alter Mann. Entspann dich doch einfach mal. Die Welt wird nicht schöner, wenn du deine Poesie drüber kippst. Auch nicht größer, wichtiger oder besser. An der Welt prallst du einfach ab. Wie das Meer an den Felsen zersprühen deine Worte und fließen in dich selbst zurück. In zehntausend Jahren hättest du vielleicht eine kleine Ecke rund geschliffen, aber so alt wirst du nicht. Du am allerwenigsten. Aber ich halte den Mund. Spreche nicht über Literatur und nicht vom Sterben. Wir geben uns Mühe. Das wird ein schöner Urlaub. Ich werde ihn nicht provozieren, und er wird sich nicht provozieren lassen. Waffenstillstand. Na ja, Urlaub: Eigentlich bin ich hier, weil ich diese Rolle will. Ich brauche die Rolle. Lotte ist meine letzte Chance. Ich habe Lottes Foto aus dem Buch gerissen und im Schlafzimmer übers Bett gepinnt. Ich könnte sie die ganze Zeit anschauen. Das Mädchen auf dem Meeresgrund. Wie sie sich in rotem Badekostüm und altmodischer Taucherausrüstung an einem Wrack festhält.
© Verlagsgruppe Random House
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Autoren-Porträt von Juli Zeh
Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Studium des Europa- und Völkerrechts, Promotion. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman »Adler und Engel« (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013), dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015) und dem Bruno-Kreisky-Preis (2017) sowie dem Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln (2019). 2018 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Im selben Jahr wurde sie zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Juli Zeh
- 2014, 1, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442745691
- ISBN-13: 9783442745692
- Erscheinungsdatum: 13.01.2014
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