Ohne Geld bis ans Ende der Welt
Eine Abenteuerreise
Ohne einen Cent von Berlin bis in die Antarktis? Kann man das schaffen? Michael Wigge hat's versucht: Als Matrose über den ''großen Teich'' nach Kanada, mit dem Fahrrad durch Ohio u.m.
Und immer auf der Suche nach freundlichen Menschen, um...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ohne Geld bis ans Ende der Welt “
Ohne einen Cent von Berlin bis in die Antarktis? Kann man das schaffen? Michael Wigge hat's versucht: Als Matrose über den ''großen Teich'' nach Kanada, mit dem Fahrrad durch Ohio u.m.
Und immer auf der Suche nach freundlichen Menschen, um etwas zu essen und einen Platz zum Schlafen zu bekommen.
Klappentext zu „Ohne Geld bis ans Ende der Welt “
»Michael Wigge ist wahnsinnig, mutig und freundlich - die allerbesten Voraussetzungen für ein gutes Buch.« Sarah KuttnerKann man das schaffen? Ohne einen Cent in der Tasche von Berlin bis in die Antarktis reisen? Michael Wigge hat es erprobt: zum Nachmachen nur für Abenteurer mit sehr viel Humor empfohlen - aber zum Nachlesen ein Riesenspaß für alle.Am Anfang sieht es nach einem Kinderspiel aus: In Belgien wird er auf dem Schiff, das ihn nach Kanada bringen soll, freundlich begrüßt und in eine Luxuskabine geführt - bis sich rausstellt, dass er kein zahlender Passagier ist. Ab da heißt es Schiffsgeländer streichen, Container inspizieren, Dosen zählen. Und Karaoke singen mit den Filipinos an Bord. Über Montreal gelangt er in die USA. Dort übernachtet er in einem Amish-Dorf (in einer Scheune) und bekommt eine Bibel geschenkt - und ein Fahrrad. Damit durchquert er Ohio, bis er es schließlich gegen ein Busticket nach New Mexico eintauschen kann. In einem uralten Mustang fährt er über die Route 66 nach Las Vegas, wo er in einem Hotel übernachten kann. Aber nach einer Woche geht es weiter: Nach Los Angeles und San Francisco (dann kommt ein unvorhergesehener, aber nicht unwillkommener Schlenker nach Hawaii dazu), durch Mexiko, Mittelamerika und den ganzen südamerikanischen Kontinent bis in die Antarktis. Dabei bleibt ihm wenig erspart, denn jeden Tag muss er auf fremde Leute zugehen, um etwas zu essen und zu trinken und um einen Platz zum Schlafen zu bekommen.Michael Wigge erzählt von Couch-Surfern, Freeganism-Anhängern und amerikanischen Eisenbahn-Vagabunden, die eigentlich seit John Steinbeck als ausgestorben gelten. Er nimmt den Leser mit auf eine ungewöhnliche und unterhaltsame Reise, die beweist, dass die Welt doch nicht schlecht und vieles möglich ist, wenn man ein klares Ziel hat.
Lese-Probe zu „Ohne Geld bis ans Ende der Welt “
Ohne Geld bis ans Ende der Welt von Michael Wigge1
Alles ist anders Berlin - Antwerpen
Es ist der 21. Juni, der längste Tag des Jahres. Das sagt nicht nur der Kalender, ich spüre es am eigenen Körper. Seit über drei Stunden stehe ich an einer Autobahnauf fahrt und versuche, weiter in Richtung Köln zu kommen. In fünf Monaten will ich es ohne einen Cent in der Tasche von hier bis in die Antarktis geschafft haben.
Bei 35 000 Kilometern zurückzulegender Distanz finde ich »Ende der Welt« einen passenden Namen für mein Ziel. Aus meinem Bekanntenkreis gab es die unterschiedlichsten Rückmeldungen bezüglich meines Trips. Die Meinungen reichten von »Cool!« (bester Kumpel), über »Apropos ohne Geld. Wie sieht es denn eigentlich mit Ihrem Dispo aus, Herr Wigge?« (Kundenberater meiner Bank) bis hin zu »Hmmm. Wenn du runtergehst, nimmste bitte den Müll mit!« (Mitbewohnerin). Aber auch damit lebe ich gut. Zumindest dachte ich das bis heute.
Der 21. Juni ist auch der heißeste Tag des Jahres, zumindest kommt es mir so vor. Die Hitze lässt mich zusätzlich zu der Ausrüstung auf meinem Rücken noch mehr schwitzen. Aber nicht nur die Sonne lacht. Mein Pappschild mit der Aufschrift »Ende der Welt« lässt jedem der vorbeifahrenden Autofahrer ein Lächeln über das Gesicht huschen. Ob es freundlich, mitleidig oder hämisch gemeint ist, ich weiß es nicht. Es ist mir auch egal. Mein Gehirn käst unter der Sonnenhitze, und ich bin mit meinen Gedanken bereits in der weitaus kühleren Antarktis. Irgendwann rauscht das 2420. Auto an mir vorbei. Ich habe nachgezählt, dass jede Minute circa elf Autos an mir vorbeifahren. Macht bei 220 Minuten 2420 Autos.
Glaubt man dem »Lonely Planet«-Reiseführer, gilt Deutschland als »tramper
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freundliches« Land. Ein Druckfehler, da bin ich mir sicher. Gerade als ich mit dem Gedanken spiele, mich an die entgegengesetzte Auffahrt zu stellen und wieder zurückzutrampen, hält ein roter Kastenwagen. Das Fahrerfenster kurbelt sich herunter, und eine männliche Stimme raunzt mir entgegen: »Willste mit, oder wat?«
Nun sitze ich also auf dem Rücksitz von Arndt und Marius, die gerade von einem Parteitag der Linken aus Berlin kommen. Nichts kann mich jetzt auf meinem Weg nach Köln noch aufhalten. Fast nichts: Meine Blase drückt, und ich muss aufs Klo. Als Marius an einem Rastplatz hält, renne ich so schnell ich kann zur Herrentoilette, werde aber kurz vor dem Ziel erbarmungslos ausgebremst. Der Zugang wird von einem Drehkreuz versperrt, und das lässt sich nur mit 50 Cent überwinden.
Vor der Reise habe ich mir alle Szenarien überlegt, wie ich umsonst esse, schlafe und reise, aber nicht, wie ich kostenlos pinkeln kann. Eigentlich sollte so etwas doch kostenlos sein. Ich entdecke eine Klofrau und versuche, mit meinem Charme ans Ziel zu kommen.
»Verzeihen Sie, ich müsste sehr dringend Ihre Toilette benutzen. Leider habe ich überhaupt kein Geld«, lege ich mein Schicksal in ihre Hände.
»Dann geh arbeiten!«, sagt sie ungerührt.
»Bitte. Es ist ein Notfall!«, versuche ich es noch einmal, aber sie beharrt auf ihrem Standpunkt. Nichts zu machen. Also bleibt nur die Notlösung. Sehr erleichtert gehe ich aus dem angrenzenden Gebüsch der Raststätte zurück zu Marius und Arndt. Als ich ihnen von meinem Erlebnis erzähle, fühlen sie sich in ihrem Klassenkampf bestätigt.
»So etwas gäbe es im Sozialismus nicht!«, wettert Marius. Vielleicht hat er recht, denke ich. Vielleicht ist nicht alles schlecht im Sozialismus. Endlich kommen wir in Köln an. Die Stadt, in der ich sechs Jahre gelebt und gearbeitet habe, ist die erste Station auf meiner Reise. Von hier aus geht es weiter nach Belgien, von wo mich ein Containerschiff über den Atlantik nach Kanada bringen wird. Da das Schiff erst in fünf Tagen in See stechen wird, kann ich den Zwischenstopp nutzen, um ein paar alte Freunde zu besuchen. Nicht ganz ohne Hintergedanken, denn auf diese Weise kann ich die nächsten Nächte umsonst übernachten. Hardy wohnt mit seiner Freundin in einem Schrebergartenhaus an der Stadtgrenze. Als ich bei ihm an der Wohnungstür klingele, freut er sich, mich wiederzusehen, und bietet mir sein Sofa als Übernachtungsmöglichkeit an.
Während ich ihm von den Ereignissen meines ersten Tages erzähle, wird meine Stimme von meinem Bauch über tönt. Reisen bildet, macht aber auch hungrig. Leider ist Hardy nicht auf meinen Überraschungsbesuch vorbereitet, sein Kühlschrank ist leer. Gemeinsam überlegen wir, wo wir um diese Zeit noch etwas Essbares auftreiben können. Natürlich gibt es in Köln Supermärkte, die auch abends noch geöffnet haben. Das wäre die einfachste Lösung, aber da ich mich ohne Geld durchschlage und Hardys Gastfreundschaft nicht überstrapazieren will, habe ich eine andere Idee: »Dumpster Diving«, ein Trend, der aus den USA nach Deutschland gekommen ist.
Dabei geht es darum, die Müllcontainer von Supermärkten nach Lebensmitteln zu durchsuchen, die nicht mehr verkauft werden können, weil das Verfallsdatum abgelaufen ist oder sie nicht mehr gut aussehen.
Ich fahre mit der S-Bahn in die Innenstadt. Kostenlos, aber nicht schwarz. Wie in vielen Städten bieten auch die Kölner Verkehrsbetriebe Studenten oder Besitzern eines Jobtickets die Möglichkeit, öffentliche »Fahrgemeinschaften« zu gründen und andere Leute umsonst mit ihrem Monatsticket mitzunehmen. Allerdings erst nach 19 Uhr, also zu einer Zeit, in der die meisten Geschäfte der Stadt schließen. Genau die richtige Zeit für meinen geplanten »Einkaufsbummel«.
Ich mache mich auf den Weg zu einem großen Supermarkt in der Nähe des Stadtgartens und will herausfinden, ob »Dumpster Diving« auch in Köln möglich ist. Wie ein Einbrecher schleiche ich mich, bewaffnet mit einer Taschenlampe, um das Gebäude und stehe vor dem verschlossenen Tor des Hofes. Von hier kann ich die Müllcontainer bereits sehen, und angefeuert durch meinen knurrenden Magen, schaffe ich es tatsächlich, über das zwei Meter hohe Hindernis zu klettern. Ich leuchte in den ersten Container und erschrecke mich zu Tode. In dem Licht meiner Taschenlampe entdecke ich das Gesicht eines Mannes, der offenbar auch nach Essbarem sucht.
»Hey, hinten anstellen!«, schnauzt er mich an. Peter, so sein Name, studiert in Köln Sozialarbeit. Seit Jahren besorgt er sich auf diese Art seine Lebensmittel, nicht aus Geldknappheit, sondern aus ideologischer Ablehnung des Konsums.
»>Freeganism< ist entstanden aus >free< wie umsonst und >Veganism< wie Veganer«, erklärt Peter. »In Köln gibt es eine richtige Freeganer-Szene. Wir treffen uns regelmäßig und kochen zusammen.« Im Monat kommt er mit 200 Euro aus. Die braucht er hauptsächlich für Versicherungen. Essen holt er sich aus Containern und er lebt in einem Bauwagen.
Als sein Rucksack voll ist, überlässt Peter mir den Container. Während ich Joghurt, Wurst, Brot, Käse, Milch und Gummibärchen in meine Tasche packe, erfahre ich von Peter, dass das »Containern« im Gegensatz zu anderen Ländern in Deutschland illegal ist.
»In Deutschland hat sogar Müll einen Besitzer. Und rechtlich ist das, was wir hier machen, Diebstahl.« Tatsächlich wurde vor ein paar Jahren eine Frau in Köln zu Sozialarbeit verurteilt, weil sie sich aus einem Supermarktcontainer mit Joghurts versorgt hatte. Peter und ich haben in dieser Nacht Glück: Wir werden nicht erwischt, und unsere Ausbeute ist groß. Und auch Hardy staunt nicht schlecht, als ich ihn mit zwei Plastiktüten voller Essen überrasche. Am nächsten Tag stelle ich mich in die Kölner Fußgängerzone mit einem Schild »Butler gegen Zugticket«. Schließlich gibt es ja auch noch eine Zeit nach meinem Kölnaufenthalt.
Um mein Angebot für die Passanten reizvoll zu machen, habe ich mich als original englischer Butler gekleidet: Fliege, weißes Hemd mit Stehkragen, Weste, schwarze Hose und weiße Handschuhe alles habe ich vor meiner Abreise in einem Berliner Secondhandladen für gerade mal 15 Euro erstanden. Die Passanten grinsen nur müde. Dem Kölner Humor hätte ich da schon etwas mehr zugetraut, aber wahrscheinlich sind die Bürger der Medienstadt angesichts unzähliger Aktionen mit versteckten Kameras und lustigen Reportern nicht mehr so leicht zu überraschen. Nach der ersten erfolglosen Stunde spreche ich Passanten direkt an.
»Ein Zugticket nach Belgien gegen den besten Butler der Welt!«, sage ich selbstbewusst zu einer älteren Kölnerin.
»Heut ist kein Karneval, Jung!«, erwidert sie und geht unbeeindruckt weiter. So vergehen noch mehrere peinliche Konfrontationen zwischen Butler und Passanten, bis ich Harald anspreche. Er ist 49, braun gebrannt und trägt ein weißes, schulterfreies Netzhemd, das in die Hose gesteckt ist. Dazu trägt er Schlangenlederstiefel. Sein leicht lichtes Haar ist lang und blond und wird teilweise durch ein Stirnband verdeckt. Meine Idee findet er super, für den Rest des Tages bucht er mich als seinen persönlichen Butler.
Als wir bei ihm ankommen, fällt mein Blick als Erstes auf einen roten Ferrari, der vor seinem Haus steht oder sagen wir besser: vor dem Anwesen. Harald erzählt mir, dass er den Wagen in den Neunzigern für 400 000 DM gekauft habe. Ich bin kein Autofreak, aber ein echter Ferrari beeindruckt mich doch. Dann drückt mir Harald Schwamm und Lappen in die Hand, damit ich »das Ding mal wieder so richtig auf Zack« bringe. Als ich den Putzlappen an die Felge drücke, um sie wieder zum Glänzen zu bringen, bekommt Harald die Krise.
»Es gibt Ferraris, die wurden schon kaputt geputzt, mach es vorsichtig und nie zu lange auf einer Stelle«, lernt er mich an. Hoffentlich werde ich hier nicht noch auf mehrere Hunderttausend Euro verklagt, denke ich mir. Ein Butlerleben ist vielleicht doch ein unkalkulierbares Risiko. Zwei Stunden später führt mich Harald in seine Garage, die einen abgetrennten Teil eines öffentlichen Parkhauses ausmacht. Darin stehen weitere glänzend rote Lamborghinis, Corvettes, Cadillacs und viele andere Traumautos. Träume ich, oder bin ich bei der russischen Mafia gelandet?, frage ich mich still.
Harald fährt ein Cadillac Cabrio aus den Siebzigern heraus, das sicher fünf Meter lang ist. Ich chauffiere Harald damit durch die Kölner Innenstadt. Kurven sind mit dem Ding jedes Mal eine besondere Herausforderung.
Aber trotz aller Schwierigkeiten parke ich Haralds Cadillac erfolgreich ein, und wir dinieren in einem schicken Restaurant. Besser gesagt, er diniert und ich schenke ihm den Wein nach. Immer wieder kommen Frauen zu unserem Tisch, denen man ein bewegtes Leben an den Gesichtern ansehen kann. Sie würden Harald am liebsten die Schlangenlederstiefel küssen. Durch mich schauen sie hindurch. So vergeht der Tag als Butler ziemlich amüsant, aber leider erfahre ich auch nicht richtig, wie Harald so reich geworden ist.
Er sagt, dass er kein Geld habe, sondern nur von Wertgegenständen lebe. Das habe ich an den zwanzig Sportwagen in der Tiefgarage eindrucksvoll gesehen. Am Ende des Tages lädt mich Harald für die folgende Woche nach Marbella in Spanien ein, wo ich mich gleich ins gemachte Nest setzen könne, sagt er. So neugierig mich diese Aussage macht, so sehr drängt doch die Zeit: Ich verabschiede mich und bekomme 55 Euro für meinen Butlerdienst.
Das reicht genau für eine Fahrkarte nach Antwerpen. Die Suche nach einer kostenlosen Überfahrt hat lange gedauert, da das EU-Recht solche Matrosenromantik verbietet. Zum Schluss hatte ich Glück. Peter Döhle, dessen Reederei Touristen die Möglichkeit bietet, auf Containerschiffen mitzufahren, fand mein Projekt ziemlich spannend; deshalb darf ich kostenlos mitfahren. Im Zug nach Belgien kaufe ich mir kein Ticket, sondern verstecke mich lieber auf der Toilette. Ich sehe schon vor mir, wie ich in Antwerpen triumphal mit 55 Euro aus dem Zug steige.
»Dafür kann ich erst mal richtig einen draufmachen«, denke ich mir. Aber da klopft es bereits energisch an die Toilettentür, und ich muss beim Schaffner nachzahlen. Er schlägt zum normalen Tarif noch eine Sonderstrafgebühr drauf, und so komme ich nur nach Brüssel und habe lediglich einen Euro übrig. Alles lief so gut, aber ich wollte mal wieder schlauer als schlau sein, und deshalb stehe ich bei über 30 Grad in Brüssel her um und habe erst mal keine Idee, wie ich die letzte Strecke nach Antwerpen zurücklegen soll. Der Rucksack drückt immer schwerer auf meinen Schultern.
Mir fällt nur eine Lösung ein: Ich nehme den nächsten Zug nach Antwerpen und wende den Toten-Winkel-Trick an. Ich gehe sofort in das letzte Abteil, das gerade mal drei mal vier Meter groß ist und nur sechs Klappsitze hat. In den meisten Bummelzügen werden dort Fahrräder abgestellt.
Meinen Rucksack stelle ich in die linke Ecke in Richtung der anderen Abteile hin. Ich selbst stelle mich in die rechte Ecke, wiederum in Richtung der anderen Abteile. In der Regel werfen die Schaffner nur einen kurzen Blick durch das Glasfenster der Tür und machen sich nicht die Mühe, auch den toten Winkel zu kontrollieren. Ich verbringe die Fahrt angespannt in der rechten Ecke, bis plötzlich doch die Tür aufgeht.
»Jetzt bin ich dran«, denke ich erschrocken. Aber durch die Tür kommt nur die Servicekraft mit dem Kaffeewagen. Der junge Kaf feeausschenker sieht mich dicht gedrängt in der rechten Ecke stehen. Wir schauen uns wortlos mehrere Sekunden an, dann tue ich so, als ob ich einfach nur so dastehe, und schaue aus dem Fenster. Der Junge mit dem Kaffeewagen macht sich in der anderen Ecke des Miniabteils eine Limonade auf und schaut immer wieder zu mir her über.
Er weiß genau, was gespielt wird. Nach einigen Minuten schiebt er den Kaffeewagen wieder aus dem Abteil heraus und kann sich ein Grinsen kaum verkneifen. Als ich in Antwerpen ankomme, fühle ich mich durch die fast einstündige Anspannung ziemlich erschöpft, bin aber überglücklich über meinen Erfolg. Jetzt brauche ich unbedingt wieder etwas zu essen und nutze die Zeit für einen Versuch.
Wenn ich in fünf Geschäften nach kostenlosen Lebensmitteln frage, weil ich ohne Geld ans Ende der Welt reisen möchte, wie viele werden mir etwas geben?
Als Erstes gehe ich in ein nettes Café, das von einem jungen Typen geführt wird. Er findet meine Reise klasse und schenkt mir einen Kaffee und einen Muffin. Die lateinamerikanische Musik im Hintergrund lässt meine Vorfreude auf die Reise durch den amerikanischen Kontinent steigen. Als Nächstes gehe ich in ein Hotel und fülle meine Trinkflasche mit zwei Litern Leitungswasser auf. Die Verkäuferin des Fischgeschäfts lehnt meine Anfrage ab, da der Chef entscheiden müsse.
Die Angestellten der Bäckerei nebenan überschlagen sich aber regelrecht: Pizzastücke, Brötchen, Brot und süße Teilchen fliegen mir nur so zu. Alle drei haben einen riesigen Spaß, als sie überlegen, wer von ihnen dafür nun mit mir reisen dürfe. Als Letztes bekomme ich beim Obststand noch zwei Äpfel gratis. Vier von fünf Fragen wurden positiv beantwortet, das lässt doch hoffen.
© 2010 by Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
Nun sitze ich also auf dem Rücksitz von Arndt und Marius, die gerade von einem Parteitag der Linken aus Berlin kommen. Nichts kann mich jetzt auf meinem Weg nach Köln noch aufhalten. Fast nichts: Meine Blase drückt, und ich muss aufs Klo. Als Marius an einem Rastplatz hält, renne ich so schnell ich kann zur Herrentoilette, werde aber kurz vor dem Ziel erbarmungslos ausgebremst. Der Zugang wird von einem Drehkreuz versperrt, und das lässt sich nur mit 50 Cent überwinden.
Vor der Reise habe ich mir alle Szenarien überlegt, wie ich umsonst esse, schlafe und reise, aber nicht, wie ich kostenlos pinkeln kann. Eigentlich sollte so etwas doch kostenlos sein. Ich entdecke eine Klofrau und versuche, mit meinem Charme ans Ziel zu kommen.
»Verzeihen Sie, ich müsste sehr dringend Ihre Toilette benutzen. Leider habe ich überhaupt kein Geld«, lege ich mein Schicksal in ihre Hände.
»Dann geh arbeiten!«, sagt sie ungerührt.
»Bitte. Es ist ein Notfall!«, versuche ich es noch einmal, aber sie beharrt auf ihrem Standpunkt. Nichts zu machen. Also bleibt nur die Notlösung. Sehr erleichtert gehe ich aus dem angrenzenden Gebüsch der Raststätte zurück zu Marius und Arndt. Als ich ihnen von meinem Erlebnis erzähle, fühlen sie sich in ihrem Klassenkampf bestätigt.
»So etwas gäbe es im Sozialismus nicht!«, wettert Marius. Vielleicht hat er recht, denke ich. Vielleicht ist nicht alles schlecht im Sozialismus. Endlich kommen wir in Köln an. Die Stadt, in der ich sechs Jahre gelebt und gearbeitet habe, ist die erste Station auf meiner Reise. Von hier aus geht es weiter nach Belgien, von wo mich ein Containerschiff über den Atlantik nach Kanada bringen wird. Da das Schiff erst in fünf Tagen in See stechen wird, kann ich den Zwischenstopp nutzen, um ein paar alte Freunde zu besuchen. Nicht ganz ohne Hintergedanken, denn auf diese Weise kann ich die nächsten Nächte umsonst übernachten. Hardy wohnt mit seiner Freundin in einem Schrebergartenhaus an der Stadtgrenze. Als ich bei ihm an der Wohnungstür klingele, freut er sich, mich wiederzusehen, und bietet mir sein Sofa als Übernachtungsmöglichkeit an.
Während ich ihm von den Ereignissen meines ersten Tages erzähle, wird meine Stimme von meinem Bauch über tönt. Reisen bildet, macht aber auch hungrig. Leider ist Hardy nicht auf meinen Überraschungsbesuch vorbereitet, sein Kühlschrank ist leer. Gemeinsam überlegen wir, wo wir um diese Zeit noch etwas Essbares auftreiben können. Natürlich gibt es in Köln Supermärkte, die auch abends noch geöffnet haben. Das wäre die einfachste Lösung, aber da ich mich ohne Geld durchschlage und Hardys Gastfreundschaft nicht überstrapazieren will, habe ich eine andere Idee: »Dumpster Diving«, ein Trend, der aus den USA nach Deutschland gekommen ist.
Dabei geht es darum, die Müllcontainer von Supermärkten nach Lebensmitteln zu durchsuchen, die nicht mehr verkauft werden können, weil das Verfallsdatum abgelaufen ist oder sie nicht mehr gut aussehen.
Ich fahre mit der S-Bahn in die Innenstadt. Kostenlos, aber nicht schwarz. Wie in vielen Städten bieten auch die Kölner Verkehrsbetriebe Studenten oder Besitzern eines Jobtickets die Möglichkeit, öffentliche »Fahrgemeinschaften« zu gründen und andere Leute umsonst mit ihrem Monatsticket mitzunehmen. Allerdings erst nach 19 Uhr, also zu einer Zeit, in der die meisten Geschäfte der Stadt schließen. Genau die richtige Zeit für meinen geplanten »Einkaufsbummel«.
Ich mache mich auf den Weg zu einem großen Supermarkt in der Nähe des Stadtgartens und will herausfinden, ob »Dumpster Diving« auch in Köln möglich ist. Wie ein Einbrecher schleiche ich mich, bewaffnet mit einer Taschenlampe, um das Gebäude und stehe vor dem verschlossenen Tor des Hofes. Von hier kann ich die Müllcontainer bereits sehen, und angefeuert durch meinen knurrenden Magen, schaffe ich es tatsächlich, über das zwei Meter hohe Hindernis zu klettern. Ich leuchte in den ersten Container und erschrecke mich zu Tode. In dem Licht meiner Taschenlampe entdecke ich das Gesicht eines Mannes, der offenbar auch nach Essbarem sucht.
»Hey, hinten anstellen!«, schnauzt er mich an. Peter, so sein Name, studiert in Köln Sozialarbeit. Seit Jahren besorgt er sich auf diese Art seine Lebensmittel, nicht aus Geldknappheit, sondern aus ideologischer Ablehnung des Konsums.
»>Freeganism< ist entstanden aus >free< wie umsonst und >Veganism< wie Veganer«, erklärt Peter. »In Köln gibt es eine richtige Freeganer-Szene. Wir treffen uns regelmäßig und kochen zusammen.« Im Monat kommt er mit 200 Euro aus. Die braucht er hauptsächlich für Versicherungen. Essen holt er sich aus Containern und er lebt in einem Bauwagen.
Als sein Rucksack voll ist, überlässt Peter mir den Container. Während ich Joghurt, Wurst, Brot, Käse, Milch und Gummibärchen in meine Tasche packe, erfahre ich von Peter, dass das »Containern« im Gegensatz zu anderen Ländern in Deutschland illegal ist.
»In Deutschland hat sogar Müll einen Besitzer. Und rechtlich ist das, was wir hier machen, Diebstahl.« Tatsächlich wurde vor ein paar Jahren eine Frau in Köln zu Sozialarbeit verurteilt, weil sie sich aus einem Supermarktcontainer mit Joghurts versorgt hatte. Peter und ich haben in dieser Nacht Glück: Wir werden nicht erwischt, und unsere Ausbeute ist groß. Und auch Hardy staunt nicht schlecht, als ich ihn mit zwei Plastiktüten voller Essen überrasche. Am nächsten Tag stelle ich mich in die Kölner Fußgängerzone mit einem Schild »Butler gegen Zugticket«. Schließlich gibt es ja auch noch eine Zeit nach meinem Kölnaufenthalt.
Um mein Angebot für die Passanten reizvoll zu machen, habe ich mich als original englischer Butler gekleidet: Fliege, weißes Hemd mit Stehkragen, Weste, schwarze Hose und weiße Handschuhe alles habe ich vor meiner Abreise in einem Berliner Secondhandladen für gerade mal 15 Euro erstanden. Die Passanten grinsen nur müde. Dem Kölner Humor hätte ich da schon etwas mehr zugetraut, aber wahrscheinlich sind die Bürger der Medienstadt angesichts unzähliger Aktionen mit versteckten Kameras und lustigen Reportern nicht mehr so leicht zu überraschen. Nach der ersten erfolglosen Stunde spreche ich Passanten direkt an.
»Ein Zugticket nach Belgien gegen den besten Butler der Welt!«, sage ich selbstbewusst zu einer älteren Kölnerin.
»Heut ist kein Karneval, Jung!«, erwidert sie und geht unbeeindruckt weiter. So vergehen noch mehrere peinliche Konfrontationen zwischen Butler und Passanten, bis ich Harald anspreche. Er ist 49, braun gebrannt und trägt ein weißes, schulterfreies Netzhemd, das in die Hose gesteckt ist. Dazu trägt er Schlangenlederstiefel. Sein leicht lichtes Haar ist lang und blond und wird teilweise durch ein Stirnband verdeckt. Meine Idee findet er super, für den Rest des Tages bucht er mich als seinen persönlichen Butler.
Als wir bei ihm ankommen, fällt mein Blick als Erstes auf einen roten Ferrari, der vor seinem Haus steht oder sagen wir besser: vor dem Anwesen. Harald erzählt mir, dass er den Wagen in den Neunzigern für 400 000 DM gekauft habe. Ich bin kein Autofreak, aber ein echter Ferrari beeindruckt mich doch. Dann drückt mir Harald Schwamm und Lappen in die Hand, damit ich »das Ding mal wieder so richtig auf Zack« bringe. Als ich den Putzlappen an die Felge drücke, um sie wieder zum Glänzen zu bringen, bekommt Harald die Krise.
»Es gibt Ferraris, die wurden schon kaputt geputzt, mach es vorsichtig und nie zu lange auf einer Stelle«, lernt er mich an. Hoffentlich werde ich hier nicht noch auf mehrere Hunderttausend Euro verklagt, denke ich mir. Ein Butlerleben ist vielleicht doch ein unkalkulierbares Risiko. Zwei Stunden später führt mich Harald in seine Garage, die einen abgetrennten Teil eines öffentlichen Parkhauses ausmacht. Darin stehen weitere glänzend rote Lamborghinis, Corvettes, Cadillacs und viele andere Traumautos. Träume ich, oder bin ich bei der russischen Mafia gelandet?, frage ich mich still.
Harald fährt ein Cadillac Cabrio aus den Siebzigern heraus, das sicher fünf Meter lang ist. Ich chauffiere Harald damit durch die Kölner Innenstadt. Kurven sind mit dem Ding jedes Mal eine besondere Herausforderung.
Aber trotz aller Schwierigkeiten parke ich Haralds Cadillac erfolgreich ein, und wir dinieren in einem schicken Restaurant. Besser gesagt, er diniert und ich schenke ihm den Wein nach. Immer wieder kommen Frauen zu unserem Tisch, denen man ein bewegtes Leben an den Gesichtern ansehen kann. Sie würden Harald am liebsten die Schlangenlederstiefel küssen. Durch mich schauen sie hindurch. So vergeht der Tag als Butler ziemlich amüsant, aber leider erfahre ich auch nicht richtig, wie Harald so reich geworden ist.
Er sagt, dass er kein Geld habe, sondern nur von Wertgegenständen lebe. Das habe ich an den zwanzig Sportwagen in der Tiefgarage eindrucksvoll gesehen. Am Ende des Tages lädt mich Harald für die folgende Woche nach Marbella in Spanien ein, wo ich mich gleich ins gemachte Nest setzen könne, sagt er. So neugierig mich diese Aussage macht, so sehr drängt doch die Zeit: Ich verabschiede mich und bekomme 55 Euro für meinen Butlerdienst.
Das reicht genau für eine Fahrkarte nach Antwerpen. Die Suche nach einer kostenlosen Überfahrt hat lange gedauert, da das EU-Recht solche Matrosenromantik verbietet. Zum Schluss hatte ich Glück. Peter Döhle, dessen Reederei Touristen die Möglichkeit bietet, auf Containerschiffen mitzufahren, fand mein Projekt ziemlich spannend; deshalb darf ich kostenlos mitfahren. Im Zug nach Belgien kaufe ich mir kein Ticket, sondern verstecke mich lieber auf der Toilette. Ich sehe schon vor mir, wie ich in Antwerpen triumphal mit 55 Euro aus dem Zug steige.
»Dafür kann ich erst mal richtig einen draufmachen«, denke ich mir. Aber da klopft es bereits energisch an die Toilettentür, und ich muss beim Schaffner nachzahlen. Er schlägt zum normalen Tarif noch eine Sonderstrafgebühr drauf, und so komme ich nur nach Brüssel und habe lediglich einen Euro übrig. Alles lief so gut, aber ich wollte mal wieder schlauer als schlau sein, und deshalb stehe ich bei über 30 Grad in Brüssel her um und habe erst mal keine Idee, wie ich die letzte Strecke nach Antwerpen zurücklegen soll. Der Rucksack drückt immer schwerer auf meinen Schultern.
Mir fällt nur eine Lösung ein: Ich nehme den nächsten Zug nach Antwerpen und wende den Toten-Winkel-Trick an. Ich gehe sofort in das letzte Abteil, das gerade mal drei mal vier Meter groß ist und nur sechs Klappsitze hat. In den meisten Bummelzügen werden dort Fahrräder abgestellt.
Meinen Rucksack stelle ich in die linke Ecke in Richtung der anderen Abteile hin. Ich selbst stelle mich in die rechte Ecke, wiederum in Richtung der anderen Abteile. In der Regel werfen die Schaffner nur einen kurzen Blick durch das Glasfenster der Tür und machen sich nicht die Mühe, auch den toten Winkel zu kontrollieren. Ich verbringe die Fahrt angespannt in der rechten Ecke, bis plötzlich doch die Tür aufgeht.
»Jetzt bin ich dran«, denke ich erschrocken. Aber durch die Tür kommt nur die Servicekraft mit dem Kaffeewagen. Der junge Kaf feeausschenker sieht mich dicht gedrängt in der rechten Ecke stehen. Wir schauen uns wortlos mehrere Sekunden an, dann tue ich so, als ob ich einfach nur so dastehe, und schaue aus dem Fenster. Der Junge mit dem Kaffeewagen macht sich in der anderen Ecke des Miniabteils eine Limonade auf und schaut immer wieder zu mir her über.
Er weiß genau, was gespielt wird. Nach einigen Minuten schiebt er den Kaffeewagen wieder aus dem Abteil heraus und kann sich ein Grinsen kaum verkneifen. Als ich in Antwerpen ankomme, fühle ich mich durch die fast einstündige Anspannung ziemlich erschöpft, bin aber überglücklich über meinen Erfolg. Jetzt brauche ich unbedingt wieder etwas zu essen und nutze die Zeit für einen Versuch.
Wenn ich in fünf Geschäften nach kostenlosen Lebensmitteln frage, weil ich ohne Geld ans Ende der Welt reisen möchte, wie viele werden mir etwas geben?
Als Erstes gehe ich in ein nettes Café, das von einem jungen Typen geführt wird. Er findet meine Reise klasse und schenkt mir einen Kaffee und einen Muffin. Die lateinamerikanische Musik im Hintergrund lässt meine Vorfreude auf die Reise durch den amerikanischen Kontinent steigen. Als Nächstes gehe ich in ein Hotel und fülle meine Trinkflasche mit zwei Litern Leitungswasser auf. Die Verkäuferin des Fischgeschäfts lehnt meine Anfrage ab, da der Chef entscheiden müsse.
Die Angestellten der Bäckerei nebenan überschlagen sich aber regelrecht: Pizzastücke, Brötchen, Brot und süße Teilchen fliegen mir nur so zu. Alle drei haben einen riesigen Spaß, als sie überlegen, wer von ihnen dafür nun mit mir reisen dürfe. Als Letztes bekomme ich beim Obststand noch zwei Äpfel gratis. Vier von fünf Fragen wurden positiv beantwortet, das lässt doch hoffen.
© 2010 by Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
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Autoren-Porträt von Michael Wigge
Michael Wigge, geboren 1976, studierte Film in London. Von dort aus moderierte er 2002 die VIVA2-Sendung London Calling. Seither berichtet er aus aller Welt, u.a. für VIVA aus der Justizvollzugsanstalt in Köln, für die ARD aus Spanien, für GEO aus Kanada und für die DEUTSCHE WELLE aus Heidelberg. Michael Wigge lebt heute in Berlin, ist aber meistens unterwegs. Für seine unterhaltsamen Reportagen wurde er mehrfach ausgezeichnet. 2002 stellte Michael Wigge einen Weltrekord im Langstrecken-Esel-Reiten auf.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michael Wigge
- 2010, 13. Auflage, 202 Seiten, 16 farbige Abbildungen, Maße: 12,5 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462041819
- ISBN-13: 9783462041811
- Erscheinungsdatum: 20.05.2010
Rezension zu „Ohne Geld bis ans Ende der Welt “
"Michael Wigge ist der Indiana Jones unserer Generation." Simon Gosejohann
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