Ohne jeden Zweifel
Thriller
Daniels Mutter Tilde leide unter Wahnvorstellungen und müsse in die Psychiatrie eingeliefert werden - behauptet jedenfalls Daniels Vater. Doch Tilde, die aus Schweden zu ihrem Sohn nach London flieht, erzählt eine ganz andere Geschichte: eine von vertuschten Verbrechen.
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Produktinformationen zu „Ohne jeden Zweifel “
Daniels Mutter Tilde leide unter Wahnvorstellungen und müsse in die Psychiatrie eingeliefert werden - behauptet jedenfalls Daniels Vater. Doch Tilde, die aus Schweden zu ihrem Sohn nach London flieht, erzählt eine ganz andere Geschichte: eine von vertuschten Verbrechen.
Klappentext zu „Ohne jeden Zweifel “
Der neue Bestseller von einem der brillantesten Spannungsautoren weltweitFür Daniel ist die Nachricht ein Schock: Seine Mutter, die seit einigen Monaten mit ihrem Mann in Schweden lebt, wurde in die Psychiatrie eingeliefert. Tilde leide unter Verfolgungsangst und Wahnvorstellungen, behauptet Daniels Vater. Doch Tilde selbst, die aus Schweden zu ihrem Sohn nach London flieht, erzählt eine ganz andere Geschichte. Eine von vertuschten Verbrechen in einer eingeschworenen kleinen Gemeinschaft und dem Verschwinden einer jungen Frau in jener abgelegenen Gegend Schwedens. Doch niemand will ihr glauben. Nun ist Daniel ihre letzte Hoffnung. Tilde schildert ihm die Ereignisse der vergangenen Monate, immer in der Angst, dass auch er an ihrem Verstand zweifeln könnte ...
"Ich habe dieses Buch in zwei gierigen Sätzen verschlungen. Tom Rob Smith hat einen wahrhaft ungewöhnlichen, erschreckenden Thriller geschrieben." Jojo Moyes
"In ganz seltenen Fällen gelingt einem Autor der Drahtseilakt, einen Spannungsroman zu schreiben, der die Grenzen des Genres weit hinter sich lässt. 'Ohne jeden Zweifel' ist so ein Werk. Mit seiner innovativen Struktur und seinem einzigartigen Stil ist es ein außergewöhnlicher Triumph." Jeffery Deaver
"Der beste fremdsprachige Schwedenkrimi des Jahres." Elmar Krekeler, Die Welt
"Eine oberflächlich fast simpler, bis in ihr Mark hinein aber durchdifferenzierte Geschichte von Verrat, Unwahrheit und Wahnsinn." Elmar Krekeler, Die Welt
"Erschreckend, hypnotisierend und absolut fesselnd. Sie werden in diesem Jahr keinen besseren Thriller lesen." Mark Billingham
"Topthriller vom Großmeister der Spannung. Kann man nicht mehr aus Hand legen!" Annabelle (CH)
"Geschickt spielt Tom Rob Smith in seinem Thriller mit brüchigen Idyllen, gebrochenem Vertrauen und zerbrochenen Biografien." Stuttgarter Zeitung
"Düster und spannend!" Hamburger Morgenpost/plan 7
"Einer der gelungensten Thriller in diesem Herbst." M.v.Schwarzkopf, NDR 1
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"Der Ambivalenz zwischen Glauben und Zweifel kann man sich nicht entziehen." Ingeborg Sperl, Der Standard (A)
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Lese-Probe zu „Ohne jeden Zweifel “
Ohne jeden Zweifel von Tom Rob SmithAus dem Englischen von Eva Kemper
BIS ZU DEM ANRUF war es ein ganz normaler Tag gewesen. Ich ging mit Einkäufen beladen zu meiner Wohnung gleich südlich der Themse in Bermondsey. Es war ein drückend heißer Augustabend, und als das Handy klingelte, überlegte ich, es einfach zu ignorieren, weil ich nur noch nach Hause und duschen wollte. Aber meine Neugier war stärker, also ging ich langsamer, zog das Handy aus der Tasche und hielt es mir ans Ohr. Schweiß perlte auf das Display. Es war mein Vater. Vor Kurzem erst war er nach Schweden gezogen, und der Anruf war ungewöhnlich - er benutzte sein Handy ohnehin nur selten, und ein Anruf nach London war teuer. Mein Vater weinte. Ich blieb wie angewurzelt stehen und ließ die Einkaufstüte fallen. Ich hatte ihn noch nie weinen gehört. Meine Eltern hatten sich nie vor mir gestritten oder waren wegen irgendwas aus der Haut gefahren. Bei uns hatte es keine bösen Streits oder tränenreichen Szenen gegeben. Ich sagte:
»Dad?«
»Deine Mutter ... Es geht ihr nicht gut.«
»Ist sie krank?«
»Es ist so traurig.«
»Traurig, weil sie krank ist? Wie krank? Was hat sie denn?«
Dad weinte immer noch. Ich konnte nur stumm warten, bis er erklärte: »Sie bildet sich Dinge ein - wirklich schlimme Dinge.« Es war so seltsam und kam so unerwartet, dass sie ein psychisches Problem haben sollte, dass ich mich erst einmal hinhocken und mit einer Hand auf dem warmen, rissigen Gehweg abstützen musste. Aus der heruntergeknallten Einkaufstüte sickerte Tomatensoße auf den Beton. Nach einem Moment fragte ich:
»Wie lange schon?«
»Den ganzen Sommer über.«
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Seit Monaten, und ich hatte nichts davon gewusst - ich hatte ahnungslos hier in London gesessen, während mein Dad mir nach alter Tradition alles verschwieg. Er erriet meine Gedanken und fügte hinzu:
»Ich war sicher, ich könnte ihr helfen. Vielleicht habe ich zu lange gewartet, aber die Symptome haben sich erst nach und nach gezeigt - am Anfang war sie nur etwas überreizt und hat manchmal komische Dinge gesagt, aber so sind wir alle mal. Dann folgten Anschuldigungen. Sie behauptet, sie hätte Beweise, sie redet von Indizien und Verdächtigen, aber das sind alles Lügen und Unsinn.«
Dad hatte aufgehört zu weinen, er sprach lauter, nachdrücklicher, als müsse er sich verteidigen. Er stockte nicht mehr, und in seiner Stimme lag mehr als nur Traurigkeit.
»Ich habe gehofft, es würde vorbeigehen, sie müsste sich vielleicht nur an das Leben in Schweden und auf einem Bauernhof gewöhnen. Aber es wurde immer schlimmer. Und jetzt ...«
Meine Eltern gehörten einer Generation an, die nur bei Verletzungen zum Arzt ging, die man mit eigenen Augen sehen oder mit dem Finger ertasten konnte. Einen Fremden mit intimen Details aus ihrem Leben zu belasten war unvorstellbar.
»Dad, sie war doch hoffentlich beim Arzt?«
»Er glaubt, sie würde an einer akuten Psychose leiden. Daniel ...«
Mum und Dad waren die einzigen Menschen, die meinen Namen nicht zu Dan abkürzten.
»Deine Mum ist im Krankenhaus. Ich musste sie einweisen lassen.«
Als ich das hörte, öffnete ich den Mund, um etwas zu sagen, aber ich hatte keine Ahnung, was, und am Ende blieb ich stumm.
»Daniel?«
»Ja?«
»Hast du gehört?«
»Ja, habe ich.«
Ein verbeulter Wagen fuhr vorbei, wurde langsamer, damit der Fahrer mich angaffen konnte, blieb aber nicht stehen. Ich sah auf meine Uhr. Es war acht Uhr abends, heute würde ich keinen Flug mehr bekommen - ich würde morgen früh fliegen. Statt mich meinen Gefühlen zu überlassen, zwang ich mich zu funktionieren. Wir unterhielten uns noch eine Weile. Nach den ersten aufwühlenden Minuten wurden wir wie immer - beherrscht und verhalten. Ich sagte:
»Ich buche für morgen früh einen Flug. Danach rufe ich dich wieder an. Bist du auf dem Hof? Oder im Krankenhaus? «
Er war auf dem Hof.
Als wir uns verabschiedet hatten, holte ich alle Sachen einzeln aus der Einkaufstüte und reihte sie auf dem Bordstein auf, bis ich das gesprungene Glas Tomatensoße fand. Vorsichtig entfernte ich die Scherben, die nur noch vom Etikett zusammengehalten wurden. Ich warf sie in einen Abfalleimer in der Nähe, bevor ich mit Papiertüchern die restliche Soße von meinen Einkäufen wischte. Es wirkte vielleicht unnötig - Scheiß auf die Tüte, meine Mutter ist krank -, aber diese schlichten Handgriffe hatten für mich etwas Tröstliches. Schließlich nahm ich die Tüte und legte mit schnelleren Schritten den restlichen Weg nach Hause zurück, in den obersten Stock einer ehemaligen Fabrik, die jetzt in mehrere Wohnungen unterteilt war. Ich stellte mich unter die kalte Dusche und dachte darüber nach, ob ich weinen sollte - wäre das jetzt angebracht?, überlegte ich, als ginge es darum, sich eine Zigarette anzuzünden. Musste ich das als Sohn nicht sogar? Aber Tränen sollten von selbst fließen, womit ich mich schwertue. Ich zögere, bevor ich Gefühle zeige. Auf Fremde wirke ich reserviert. In diesem Fall zögerte ich allerdings nicht aus Vorsicht, sondern weil ich es nicht glauben konnte. Auf eine Situation, die ich nicht verstand, konnte ich nicht emotional reagieren. Ich würde nicht weinen. Dafür gab es zu viele offene Fragen.
Nach dem Duschen ging ich an meinem Computer die Mails durch, die mir meine Mum in den letzten fünf Monaten geschrieben hatte, und suchte nach Hinweisen, die mir vielleicht entgangen waren. Ich hatte meine Eltern nicht mehr gesehen, seit sie im April nach Schweden gezogen waren. Bei ihrer Abschiedsparty hatten wir auf ihren gemütlichen Ruhe stand angestoßen. Alle Gäste hatten vor ihrem alten Haus gestanden und ihnen fröhlich nachgewinkt. Ich habe keine Geschwister, auch keine Onkel oder Tanten, wenn ich »Familie« sage, meine ich uns drei, Mum, Dad und mich - ein Dreieck, wie ein Teil eines Sternzeichens, drei helle Sterne nah beieinander, umgeben von weitem, leerem Raum. Wir hatten nie groß darüber gesprochen, dass wir keine Verwandten hatten. Es gab nur Andeutungen - meine Eltern hatten keine leichte Kindheit gehabt, waren von ihren eigenen Eltern entfremdet, und sicher stritten sie sich vor allem deshalb nie vor mir, weil sie mir eine andere Kindheit bereiten wollten. Es ging ihnen nicht um die feine englische Art. Sie sparten nie an Liebe oder Freude, solche Gefühle drückten sie bei jeder Gelegenheit aus. Die guten Zeiten wurden gefeiert, in weniger guten gaben sie sich optimistisch. Deshalb glauben manche, ich hätte ein behütetes Leben geführt - ich habe nur die guten Zeiten gesehen. Das Schlechte wurde verborgen. Und ich spielte mit. Ich bohrte nie nach. Diese Abschiedsparty gehörte zu den guten Zeiten. Die Gäste jubelten, als meine Eltern zu ihrem großen Abenteuer aufbrachen, mit dem meine Mum in das Land zurückkehrte, das sie mit sechzehn verlassen hatte.
In der ersten Zeit auf dem abgelegenen Hof am südlichen Zipfel Schwedens hatte meine Mum regelmäßig Mails geschickt. Darin beschrieb sie, wie wunderbar das Leben dort war, wie schön die ländliche Gegend, wie freundlich die Menschen. Wenn sie einen Hinweis enthielten, dass etwas nicht stimmte, war er sehr dezent, und ich hatte ihn nicht verstanden. Mit den Wochen wurden ihre Mails kürzer, die begeisterten Zeilen weniger. Ich hatte das als positives Zeichen gedeutet. Ich hatte gedacht, meine Mum habe sich eingewöhnt und sei einfach zu beschäftigt. Ihre letzte Mail an mich erschien auf dem Monitor:
Daniel!
Mehr nicht, nur mein Name, ein Ausrufezeichen - ich hatte kurz geantwortet, die Mail sei nicht richtig durchgegangen und sie solle sie bitte noch einmal schicken. Ich hatte diese kurze Nachricht als Übertragungsfehler abgetan und keinen Gedanken daran verschwendet, sie könnte ein Hilferuf gewesen sein.
Ich sah unseren gesamten Briefwechsel durch, irritiert, dass ich so blind gewesen war, und überlegte besorgt, was ich vielleicht sonst noch übersehen hatte. Aber es gab keine verräterischen Anzeichen, keine Fantasiegespinste, ihr Stil war nicht ungewöhnlich, und sie schrieb größtenteils auf Englisch, weil ich zu meiner Schande das meiste Schwedisch, das sie mir als Kind beigebracht hatte, längst vergessen hatte. Eine der Mails enthielt zwei große Anhänge, aber keinen Text. Es waren Fotos. Ich musste sie mir schon angesehen haben, konnte mich jedoch nicht an sie erinnern. Auf dem Monitor öffnete sich das erste Foto - eine desolate Scheune mit rostigem Stahldach, ein grauer Himmel, davor ein abgestellter Traktor. Beim Hineinzoomen erkannte ich, dass sich die Fotografin - meine Mum - zum Teil im Fenster der Scheune spiegelte. Ihr Gesicht wurde vom Blitz überstrahlt, so dass es aussah, als würde ihr Kopf in weiße Lichtspitzen zerspringen. Auf dem zweiten Bild unterhielt sich mein Vater vor ihrem Bauern haus mit einem groß gewachsenen Fremden. Mein Vater schien nicht gemerkt zu haben, dass er fotografiert wurde. Durch die große Entfernung wirkte es eher wie ein Überwachungsfoto als wie ein Familienschnappschuss. Beide passten nicht zu den Beschreibungen, es sei alles so schön, obwohl ich das in meiner Antwort natürlich nicht erwähnt hatte. Ich hatte nur geschrieben, ich würde mich darauf freuen, den Hof selbst zu sehen. Was gelogen war. Ich hatte keine Lust auf einen Besuch und hatte mich mit vagen Halbwahrheiten herausgeredet und ihn vom Frühsommer auf den Spätsommer und schließlich auf den Frühherbst verschoben.
Tatsächlich schob ich es hinaus, weil ich Angst hatte. Ich hatte meinen Eltern nicht erzählt, dass ich mit meinem Partner zusammenlebte und wir uns seit drei Jahren kannten. Ich spielte ihnen schon so lange etwas vor, dass ich überzeugt war, es würde meine Familie zerstören, wenn ich reinen Tisch machte. Auf der Uni hatte ich mich mit Mädchen verabredet, meine Eltern hatten meine Freundinnen bekocht und sich immer über meine Wahl gefreut - die Mädchen waren schön, witzig und klug. Aber mein Herz schlug nicht schneller, wenn sie sich auszogen, und beim Sex konzentrierte ich mich fachmännisch auf die anstehende Aufgabe, weil ich dachte, wenn ich ihnen Lust bereitete, konnte ich nicht schwul sein. Erst als ich nicht mehr zu Hause wohnte, akzeptierte ich die Wahrheit und erzählte es meinen Freunden, nur meinen Eltern nicht. Nicht, weil ich mich schämte, sondern aus gut gemeinter Feigheit. Ich hatte schreckliche Angst, es würde die Erinnerungen an meine Kindheit verderben. Meine Eltern hatten sich solche Mühe gegeben, um ein glückliches Heim zu schaffen, sie hatten Opfer gebracht, hatten sich geschworen, immer ruhig zu bleiben und mir ein harmonisches Zuhause zu bieten, und es hatte keine Ausrutscher gegeben, keinen einzigen, und dafür liebte ich sie.Wenn sie die Wahrheit hörten, würden sie mit Sicherheit glauben, sie hätten versagt. Sie würden an die ganzen Lügen denken, die ich ihnen erzählt haben musste. Sie würden sich ausmalen, ich wäre einsam und gequält gewesen, man hätte mich gemobbt und sich über mich lustig gemacht, obwohl das alles nicht stimmte. Meine Jugend war problemlos verlaufen. Der Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein war für mich ein Spaziergang gewesen - meine hellblonden Haare verloren nur leicht ihren Glanz, meine blauen Augen strahlten wie früher, und das gute Aussehen brachte unverdiente Beliebtheit mit sich. Ich glitt problemlos durch diese Jahre. Auch mein Geheimnis belastete mich nicht besonders. Es machte mich nicht traurig. Ich grübelte einfach nicht groß darüber nach. Kurz gesagt: Ich hätte es nicht ertragen, wenn meine Eltern gedacht hätten, dass ich an ihrer Liebe zweifelte. Es erschien mir ihnen gegenüber so unfair. Ich konnte richtig hören, wie ich verzweifelt sagte, ohne es selbst zu glauben:
»Das ändert nichts!«
Ich war sicher, dass sie meinen Partner mit offenen Armen aufnehmen und sich über unsere Beziehung freuen würden, wie sie sich über alles gefreut hatten, aber ein Hauch Traurigkeit würde bleiben. Die Erinnerung an eine perfekte Kindheit würde sterben, und wir würden um sie trauern wie um einen geliebten Menschen. Und so hatte ich meine Reise nach Schweden nur verschoben, weil ich meinem Partner versprochen hatte, ich würde meinen Eltern bei dieser Gelegenheit die Wahrheit sagen, nach all den Jahren würde ich ihnen endlich sagen, wie der Mann hieß, mit dem ich lebte.
Als Mark an diesem Abend nach Hause kam und sah, dass ich am Computer Flüge nach Schweden heraussuchte, lächelte er, bevor ich etwas sagen konnte. Er dachte, die Lügen hätten ein Ende. Ich schaltete nicht schnell genug, und so blieb mir nichts anderes übrig, als die Dinge sofort richtigzustellen. Ich benutzte den Euphemismus meines Vaters:
»Meine Mum ist krank.«
Es tat mir weh, wie Mark darauf reagierte, wie er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Er war elf Jahre älter als ich, gerade vierzig geworden, und das hier war seine Wohnung, die er sich als erfolgreicher Firmenanwalt leisten konnte. Ich bemühte mich, meinen Teil zu der Beziehung beizutragen, und zahlte so viel Miete, wie ich mir leisten konnte. Aber ehrlich gesagt war das nicht viel. Ich arbeitete als freischaffender Designer für eine Firma, die Hausdächer zu Gärten umbaute, und Geld kam nur herein, wenn ich einen Auftrag hatte. Und die blieben während der Wirtschaftsflaute aus. Was sah er in mir? Ich schätzte, dass er sich nach dem beschaulichen Leben sehnte, in dem ich Experte war. Ich diskutierte nicht ständig herum. Ich suchte keinen Streit. So wie meine Eltern tat ich, was ich konnte, um aus unserem Zuhause eine Zuflucht vor der Welt zu machen. Mark war zehn Jahre lang mit einer Frau verheiratet gewesen, die Ehe hatte mit einer schmutzigen Scheidung geendet. Seine Exfrau behauptete, er habe ihr die besten Jahre ihres Lebens gestohlen, sie habe ihre Liebe an ihn verschwendet und würde jetzt mit Mitte dreißig keinen richtigen Partner mehr finden. Mark gab ihr recht, und die Schuld belastete ihn sehr. Ich wusste nicht, ob er dieses Gefühl je loswerden konnte. Fotos aus seinen Zwanzigern zeigen ihn voller Energie und Selbstvertrauen, ganz geschniegelt in seinen teuren Anzügen - damals trainierte er noch oft im Fitnessstudio, er hatte breite Schultern und kräftige Arme. Er besuchte Stripclubs und plante hemmungslose Junggesellenabschiede für seine Kollegen. Er lachte laut über Witze und schlug den Leuten kräftig auf die Schulter. Jetzt lachte er nicht mehr so. Während der Scheidung hatten sich seine Eltern auf die Seite seiner Exfrau geschlagen. Vor allem Marks Vater fühlte sich von ihm abgestoßen. Sie redeten nicht mehr miteinander. Seine Mum schickte uns Weihnachtskarten mit Musik, als wollte sie mehr sagen, wüsste aber nicht, wie. Sein Dad unterschrieb nie. Zum Teil fragte ich mich, ob Mark meine Eltern als eine Art zweite Chance sah. Natürlich konnte er mit Fug und Recht verlangen, dass sie von ihm erfahren sollten. Er fand sich mit der Wartezeit nur ab, weil er selbst so lange gebraucht hatte, um sich zu outen, und glaubte, er dürfte bei diesem Thema keine Forderungen stellen. In gewisser Weise nutzte ich das sicher aus. Es verschaffte mir Luft. Dadurch konnte ich die Wahrheit immer wieder hinausschieben.
Ohne Arbeit in Aussicht war es kein Problem, so kurzfristig nach Schweden zu fliegen. Ich wusste nur noch nicht, wie ich mir das Ticket leisten sollte. Mark bezahlen zu lassen, kam gar nicht in Frage, wenn ich meinen Eltern noch nicht einmal von ihm erzählt hatte. Ich nahm mein letztes Erspartes, überzog meinen Dispo und rief meinen Vater mit den Einzelheiten an, nachdem ich den Flug gebucht hatte. Der erste passende Flieger hob um halb zehn am nächsten Morgen in Heathrow ab und sollte mittags in Göteborg landen. Mein Vater redete kaum, er klang erschöpft und niedergeschlagen. Ich war besorgt, ob er allein auf dem abgelegenen Hof zurechtkam, und fragte, was er machte. Er antwortete:
»Ich räume auf. Sie hat alle Schubladen und Schränke durchwühlt.«
»Was hat sie denn gesucht?«
»Keine Ahnung. Ich begreife es nicht. Daniel, sie hat an die Wände geschrieben.«
Ich fragte, was sie geschrieben hatte, aber er meinte:
»Das ist unwichtig.«
Ich wusste schon, dass ich kein Auge zumachen würde. In meinem Kopf spulte sich immer wieder eine Erinnerung an Mum ab, von unserer Reise nach Schweden vor zwanzig Jahren, als wir allein auf einer der kleinen Schäreninseln nördlich von Göteborg waren. Wir saßen nebeneinander auf einem Felsen und streckten die Füße ins Meer. In einiger Ferne durchfurchte ein Frachtschiff das tiefe Wasser auf dem Weg zum offenen Meer, und wir sahen zu, wie die Bugwelle näher kam, ein Kräuseln auf der sonst glatten Oberfläche. Wir saßen ganz still da, hielten uns an der Hand und warteten auf das unvermeidliche Auftreffen der Welle, die auf dem flacheren Wasser anschwoll, bis sie sich an unserem Felsen brach und uns völlig durchnässte. Diese Erinnerung hatte ich ausgesucht, weil meine Mum und ich uns zu dieser Zeit besonders nahgestanden hatten; ich hätte damals nie eine wichtige Entscheidung getroffen, ohne sie mit ihr zu besprechen.
Am nächsten Morgen bestand Mark darauf, mich nach Heathrow zu fahren, obwohl wir beide wussten, dass öffentliche Verkehrsmittel schneller gewesen wären. Als wir im Stau stecken blieben, beschwerte ich mich nicht oder sah auch nur auf die Uhr, weil ich wusste, wie sehr Mark sich wünschte, er könnte mitkommen, und ich es ihm unmöglich gemacht hatte, mehr zu tun, als mich zu fahren. Er setzte mich in der Kurzhaltezone ab und umarmte mich. Zu meiner Überraschung war er den Tränen nahe - ich spürte die unterdrückten Schluchzer in seiner Brust -, aber er hatte sich sofort wieder im Griff. Ich beruhigte ihn, er müsse mich wirklich nicht zum Gate begleiten, und so verabschiedeten wir uns draußen.
Mit dem Flugticket und dem Pass in der Hand wollte ich gerade einchecken, als mein Handy klingelte - es war mein Dad, er rief aufgeregt:
»Daniel, sie ist nicht hier!«
»Wo ist sie nicht, Dad?«
»Im Krankenhaus! Sie haben sie entlassen. Gestern habe ich sie hingebracht.Von selbst wäre sie nicht gegangen. Aber sie hat nicht widersprochen, deshalb gilt die Einweisung als freiwillig. Als ich dann weg war, hat sie die Ärzte überredet, sie zu entlassen.«
»Mum hat sie überredet? Du hast doch erzählt, die Ärzte hätten bei ihr eine Psychose diagnostiziert.«
Mein Dad antwortete nicht. Ich hakte nach:
»Haben sie die Entlassung nicht mit dir besprochen?«
Leise sagte er:
»Sie muss sie gebeten haben, nicht mit mir zu reden.«
»Warum sollte sie das machen?«
»Weil ihre Anschuldigungen auch mich betreffen.«
Hastig fügte er hinzu:
»Was sie behauptet, stimmt alles nicht.«
Jetzt schwieg ich. Ich hätte ihn gerne nach diesen Anschuldigungen gefragt, brachte es aber nicht fertig. Ich hockte mich auf meinen Koffer, stützte den Kopf in die Hand und winkte den Leuten hinter mir, sie sollten vorgehen.
»Hat sie ein Handy?«
»Ihres hat sie vor ein paar Wochen zerschlagen. Sie traut Handys nicht.«
Die Vorstellung, wie meine sparsame Mutter ohne Sinn und Verstand ein Handy zerstörte, ließ mich stocken. Was mein Vater beschrieb, passte nicht zu dem Menschen, den ich kannte.
»Geld?«
»Wahrscheinlich ein bisschen - sie hat ihre große Umhängetasche dabei. Die lässt sie nicht aus den Augen.«
»Was ist darin?«
»Allerhand Krempel, den sie für wichtig hält. Sie behauptet, es wären Beweise.«
»Wie hat sie das Krankenhaus verlassen?«
»Nicht mal das wollten sie mir sagen. Sie könnte überall sein!«
Jetzt stieg zum ersten Mal Panik in mir auf. Ich sagte:
»Du und Mum habt gemeinsame Konten. Du könntest die Bank anrufen und nach neuen Abbuchungen fragen. Sie über ihre Karte finden.«
Dads Schweigen verriet mir, dass er noch nie mit der Bank telefoniert hatte; Geldangelegenheiten hatte er immer meiner Mutter überlassen.Weil sie mit einem Händchen für Zahlen und der nötigen Geduld gesegnet war, um stundenlang Quittungen und Rechnungen zusammenzutragen, hatte sie in dem Gartengeschäft, das ihnen gemeinsam gehörte, die Bücher geführt, die Rechnungen bezahlt und jedes Jahr die Steuererklärung abgegeben. Ich konnte mich noch an ihr altmodisches Hauptbuch erinnern, als es noch keine Tabellenkalkulation gab. Sie hatte mit dem Stift so fest aufgedrückt, dass die Zahlen auf der Rückseite wie Brailleschrift hervorgetreten waren.
»Dad, frag bei der Bank nach, und ruf mich sofort wieder an.«
Während ich wartete, verließ ich die Schlange und das Terminal, lief draußen zwischen den Rauchern auf und ab und stellte mir dabei Mum irgendwo allein in Schweden vor.Wieder klingelte mein Handy. Ich war überrascht, dass Dad den Anruf so schnell erledigt hatte, allerdings war es nicht Dad.
»Daniel, hör mir gut zu ...«
Es war meine Mum.
»Ich bin an einem Münztelefon und habe nicht viel Geld. Bestimmt hat dein Vater mit dir gesprochen. Jedes Wort von diesem Mann ist eine Lüge. Ich bin nicht verrückt. Ich brauche keinen Arzt. Ich brauche die Polizei. Ich fliege gleich nach London. Hol mich in Heathrow ab, am Terminal ...«
Zum ersten Mal machte sie eine Pause, um auf ihrem Ticket nachzusehen. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, brachte aber nur ein jämmerliches »Mum!« heraus.
»Sag nichts, Daniel, ich habe nur ganz wenig Zeit. Das Flugzeug landet an Terminal Eins. In zwei Stunden bin ich da.Wenn dein Vater anruft, vergiss nicht ...«
Die Verbindung brach ab.
Ich rief das Münztelefon an in der Hoffnung, meine Mum würde sich melden, aber niemand nahm ab. Als ich es noch einmal versuchen wollte, rief mein Dad an. Ohne Vorrede legte er los. Es klang, als würde er ablesen.
»Um zwanzig nach sieben heute Morgen hat sie vierhundert Pfund am Flughafen Göteborg ausgegeben. Bei Scandinavian Airlines. Sie war früh genug für den ersten Flug nach Heathrow da. Daniel, sie ist auf dem Weg zu dir! Daniel?«
»Ja.«
Warum erzählte ich ihm nicht, dass Mum gerade angerufen hatte und ich schon wusste, dass sie kam? Glaubte ich ihr? Sie hatte bestimmt und resolut geklungen. Ich hatte unsinniges Gefasel erwartet, keine klaren Informationen und knappen Sätze. Ich wusste nicht, was los war. Es wäre mir aggressiv und streitsüchtig vorgekommen, ihre Anschuldigung zu wiederholen, dass mein Dad ein Lügner war. Stammelnd antwortete ich:
»Ich warte hier auf sie. Wann fliegst du her?«
»Gar nicht.«
»Du bleibst in Schweden?«
»Wenn sie glaubt, dass ich hier bin, wird sie sich schneller wieder beruhigen. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, ich würde sie verfolgen. Wenn ich hierbleibe, gibt dir das mehr Zeit. Du musst ihr klarmachen, dass sie Hilfe braucht. Ich kann ihr nicht helfen. Sie lässt mich nicht. Bring sie zu einem Arzt. Das dürfte dir eher gelingen, wenn sie sich nicht meinetwegen Sorgen macht.«
Ich konnte seiner Erklärung nicht folgen.
»Ich rufe dich an, wenn sie hier ist. Dann überlegen wir weiter.«
Ich hatte keine Ahnung, wie ich die Lage deuten sollte. Warum hatten die Ärzte meine Mutter entlassen, wenn sie an einem psychotischen Schub litt? Selbst wenn man sie wegen einer juristischen Formalität nicht im Krankenhaus festhalten konnte, hätten die Ärzte mit meinem Dad reden müssen, aber sie hatten sich geweigert und ihn als Feind behandelt und ihr so geholfen, vor ihm zu fliehen. Auf andere Leute wirkte sie offenbar normal. Jemand von der Fluggesellschaft hatte ihr ein Ticket verkauft, die Flughafenpolizei hatte sie durch die Sicherheitskontrolle gelassen - niemand hatte sie aufgehalten. Langsam fragte ich mich, was sie an die Wände geschrieben hatte, und ich wurde den Gedanken an dieses Foto nicht los, auf dem Dad sich mit einem Fremden unterhielt.
Daniel!
In meinem Kopf klang das jetzt wie ein Hilfeschrei.
Die Anzeige aktualisierte sich, Mums Flugzeug war gelandet. Die Automatiktüren gingen auf. Ich lief zur Absperrung und sah mir die Gepäckaufkleber der neu eingetroffenen Fluggäste an. Wenig später trudelten die ersten Passagiere aus Göteborg ein. Vorweg die Geschäftsleute, die nach den laminierten Plastikschildern mit ihren Namen darauf Ausschau hielten, dann folgten die Pärchen und schließlich die Familien mit sperrigen, aufeinandergetürmten Gepäckstücken. Meine Mum war nirgends zu sehen, obwohl sie ein ordentliches Gehtempo hatte und ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie Gepäck aufgegeben hatte. Ein älterer Mann, sicher einer der letzten Reisenden aus Göteborg, zockelte an mir vorbei. Ich überlegte ernsthaft, meinen Vater anzurufen und ihm zu sagen, dass etwas schiefgelaufen sei, als die riesigen Türen mit einem Zischen auseinanderfuhren und meine Mum auftauchte.
Ihr Blick war auf den Boden geheftet, als würde sie einer Brotkrumenspur folgen. Über einer Schulter trug sie eine abgewetzte Ledertasche, die vollgestopft und sichtlich schwer war. Ich hatte die Tasche noch nie gesehen, so etwas kaufte meine Mutter normalerweise nicht. Ihre Kleidung sah genauso mitgenommen aus wie ihre Tasche. Ihre Schuhe waren abgestoßen. Die Hose war an den Knien zerknittert. An ihrer Bluse fehlte ein Knopf. Meine Mutter neigte dazu, sich eher zu elegant zu kleiden, fürs Restaurant, fürs Theater, sogar für die Arbeit hatte sie sich immer schick gemacht, obwohl es nicht nötig war, weil sie und mein Dad eine Gärtnerei im Norden Londons besessen hatten. Das T-förmige Grundstück zwischen stattlichen weißen Häusern mit Stuckfassade hatten sie Anfang der Siebziger gekauft, als die Grundstücke in London günstig waren. Während mein Dad zerrissene Jeans, klobige Stiefel und weite Pullover trug und selbst gedrehte Zigaretten rauchte, hatte meine Mum immer gestärkte weiße Blusen bevorzugt und dazu Wollhosen im Winter und Baumwollhosen im Sommer. Wenn die Kunden sie auf ihr makelloses Bürooutfit ansprachen und fragten, wie sie so sauber bleiben konnte, obwohl sie genauso mitanpackte wie mein Vater, lachte sie nur und zuckte treuherzig mit den Schultern, als wollte sie sagen: »Keine Ahnung!« Dabei achtete sie bewusst darauf. Im Hinterzimmer hing immer saubere Kleidung zum Wechseln. Als Gesicht des Ladens, erklärte sie mir, müsse man immer den Schein wahren.
Ich ließ meine Mum weitergehen, weil ich sehen wollte, ob sie mich bemerken würde. Sie war deutlich dünner als bei unserem Abschied im April und sah schon ungesund aus. Ihre Hose hing ihr so locker und formlos von den Hüften, dass ich an eine angezogene Holzpuppe denken musste. Sie schien keine natürlichen Kurven mehr zu haben und wirkte eher wie eine hastig hingeworfene Zeichnung als wie meine echte Mum. Ihre kurzen blonden Haare sahen nass aus, sie waren glatt zurückgekämmt, aber nicht mit Wachs oder Gel, sondern mit Wasser. Sie musste kurz auf der Toilette gewesen sein, nachdem sie das Flugzeug verlassen hatte, um sich herzurichten und die Haare zu kämmen. Sie hatte immer jünger gewirkt, als sie war, aber in den letzten Monaten war ihr Gesicht gealtert. Nicht nur ihrer Kleidung, auch ihrer Haut konnte man ihre missliche Lage ansehen. Dunkle Schatten lagen auf ihren Wangen. Die Falten unter ihren Augen hatten sich tiefer gegraben. Dafür strahlten ihre wässrig blauen Augen heller als je zuvor. Als ich um die Absperrung herumtrat, hielt mich mein Instinkt davon ab, sie zu berühren; ich fürchtete, sie könnte aufschreien.
»Mum.«
Erschrocken blickte sie auf, aber als sie sah, dass ich es war, ihr Sohn, lächelte sie triumphierend:
»Daniel.«
Sie sprach meinen Namen so aus wie früher, wenn ich sie stolz gemacht hatte, mit stiller, tiefer Freude. Als wir uns umarmten, lehnte sie eine Wange gegen meine Brust. Dann löste sie sich von mir und hielt meine Hände, und ich strich mit einem Daumen über ihre Finger. Ihre Haut war rau, die Nägel eingerissen und ungepflegt. Sie flüsterte:
»Es ist vorbei. Ich bin in Sicherheit.«
Ich merkte sofort, dass ihr Verstand hellwach war, als ihr mein Gepäck auffiel:
»Was machen denn deine Koffer hier?«
»Dad hat gestern Abend angerufen und gesagt, du wärst im Krankenhaus ...«
Sie unterbrach mich: »Sag nicht Krankenhaus. Das war eine Anstalt. Er hat mich ins Irrenhaus gebracht. Er meinte, da würde ich hingehören, eingesperrt mit Leuten, die wie die Tiere heulen. Dann hat er dich angerufen und dir das Gleiche erzählt. Deine Mum ist verrückt. Oder nicht?«
Ich wusste nicht recht, wie ich auf ihr wütend provozierendes Verhalten reagieren sollte, und brauchte einen Moment, um zu antworten:
»Als du angerufen hast, wollte ich gerade nach Schweden fliegen.«
»Heißt das, du hast ihm geglaubt?«
»Warum sollte ich nicht?«
»Darauf hat er sich verlassen.«
»Sag mir, was hier los ist.«
»Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht mit den ganzen Leuten in der Nähe. Wir müssen von Anfang an aufpassen. Wir dürfen keinen Fehler machen. Frag bitte nicht, ja? Noch nicht.«
Sie wirkte seltsam förmlich, jede Silbe wurde überdeutlich ausgesprochen, jeder Punkt betont. Ich willigte ein:
»Keine Fragen.«
Dankbar drückte sie mir die Hand und bat sanft:
»Bring mich nach Hause.«
In England hatte sie kein Zuhause mehr. Sie hatte ihr Haus verkauft und war auf den Hof in Schweden gezogen, der ihr letztes und glücklichstes Heim werden sollte. Sie meinte wohl meine Wohnung, Marks Wohnung, dabei wusste sie noch nicht einmal, dass es ihn gab.
Beim Warten auf Mums Flugzeug hatte ich schon mit Mark gesprochen. Er machte sich Sorgen, vor allem, weil sie nicht mehr unter ärztlicher Aufsicht stand. Ich würde auf mich allein gestellt sein. Ich versprach, ihn auf dem Laufenden zu halten. Meinen Dad hatte ich auch anrufen wollen, aber mit meiner Mum neben mir ging das nicht. Ich wagte nicht, sie allein zu lassen, und hatte Angst, ich könnte parteiisch wirken, wenn ich Dad offen Bescheid sagte, und das durfte ich nicht riskieren - vielleicht würde sie mir dann auch misstrauen oder sogar weglaufen. Hätte mein Dad das nicht erwähnt, hätte ich es mir nie vorstellen können. Der Gedanke jagte mir eine Heidenangst ein. Ich steckte eine Hand in die Tasche und schaltete mein Handy stumm.
Mum blieb dicht neben mir, als ich Fahrkarten in die Innenstadt kaufte. Ich musterte sie oft und versuchte mit meinem Lächeln zu verbergen, dass ich sie genau im Auge behielt. Manchmal hielt sie meine Hand, was sie nicht mehr getan hatte, seit ich ein Kind war. Ich wollte mich möglichst neutral verhalten, keine vorschnellen Schlüsse ziehen und mir ihre Geschichte unvoreingenommen anhören. Bisher hatte ich nie zu meiner Mutter oder zu meinem Vater halten müssen, weil die beiden mich nie in eine Situation gebracht hatten, in der das nötig war. Alles in allem stand ich meiner Mum ein wenig näher, weil sie stärker in meinen Alltag eingebunden gewesen war. Mein Dad hatte sich immer damit begnügt, sich ihrem Urteil anzuschließen.
Im Zug wählte Mum die hintersten Plätze des Wagens und lehnte sich gegen das Fenster. Auf diesem Platz, wurde mir klar, hatte sie den besten Blick. Niemand konnte sich anschleichen. Sie nahm ihre Umhängetasche auf den Schoß und hielt sie gut fest, wie ein Bote ein lebenswichtiges Paket.
Ich fragte:
»Ist das alles, was du dabeihast?«
Ernst klopfte sie auf die Tasche:
»Das sind die Beweise, dass ich nicht verrückt bin. Beweise für Verbrechen, die vertuscht werden sollen.«
Diese Wörter hatten so wenig mit dem normalen Leben zu tun, dass sie seltsam klangen. Aber meine Mum hatte sie ganz ernst gesagt. Ich fragte:
»Darf ich mal sehen?«
»Nicht hier.«
Sie legte einen Finger an die Lippen, um mir zu zeigen, dass wir in der Öffentlichkeit nicht darüber reden sollten. Die Geste war befremdlich und unnötig. Obwohl wir schon eine halbe Stunde miteinander verbracht hatten, war ich mir über ihren Geisteszustand nicht sicher. Ich hatte gedacht, ich würde sofort erkennen, ob etwas nicht mit ihr stimmte. Sie hatte sich verändert, äußerlich und auch in ihrer Persönlichkeit. Aber ich konnte nicht sagen, ob es daran lag, dass tatsächlich etwas geschehen war, oder ob sich alles nur in ihrem Kopf abgespielt hatte. Das würde stark davon abhängen, was sie aus ihrer Tasche holen würde, welche Beweise sie hatte.
Als der Zug in die Paddington Station einfuhr und wir aussteigen wollten, befiel Mum plötzlich Panik, und sie hielt mich am Arm fest:
»Versprich mir, dass du dir alles, was ich sage, unvoreingenommen anhörst. Mehr will ich gar nicht. Versprich mir das, deswegen bin ich zu dir gekommen. Versprich es mir!«
Ich legte meine Hand auf ihre. Sie zitterte aus Furcht, ich könnte nicht auf ihrer Seite stehen.
»Ich verspreche es.«
Als wir nebeneinander im Fond eines Taxis saßen, die Hände verschlungen wie ein durchgebranntes Liebespaar, fiel mir ihr Atem auf. Er roch schwach metallisch und erinnerte mich an geriebenen Stahl, falls es so etwas gab. Um ihre Lippen zog sich eine schmale blaue Linie, als wäre sie extremer Kälte ausgesetzt gewesen. Meine Mum erriet meine Gedanken, öffnete den Mund und zeigte mir ihre Zunge. Die Spitze war so schwarz wie Sepiatinte. Sie sagte:
»Gift.«
Bevor ich ihre bestürzende Behauptung hinterfragen konnte, schüttelte sie den Kopf und erinnerte mich mit einer Geste Richtung Taxifahrer daran, dass sie nicht offen darüber reden wollte. Ich fragte mich, welche Untersuchungen die Ärzte in Schweden vorgenommen und welche Gifte sie gefunden hatten, falls es überhaupt welche gab. Und vor allem fragte ich mich, wen meine Mum verdächtigte, sie vergiftet zu haben, aber diese Fragen würden warten müssen.
Das Taxi hielt vor meiner Wohnung, nur ein paar hundert Meter von der Stelle entfernt, an der mir gestern Abend die Einkaufstüte heruntergefallen war. Meine Mum hatte mich noch nie besucht, weil ich immer vorgeschoben hatte, ein Besuch von den Eltern sei zu peinlich, wenn man einen Mitbewohner hatte. Keine Ahnung, warum sie mir eine so lahme Lüge abgekauft hatten oder wie ich so etwas überhaupt sagen konnte. Anfangs wollte ich mich noch an meine erfundene Geschichte halten, um meine Mum nicht mit eigenen Offenbarungen abzulenken. Erst vor der Wohnung wurde mir klar, wie offensichtlich es war, dass es nur ein Schlafzimmer gab. Das zweite hatten wir als Arbeitszimmer eingerichtet. Ich schloss die Tür auf und lief vor. Weil meine Mum sich immer die Schuhe auszog, bevor sie eine Wohnung betrat, hatte ich genug Zeit, um die Türen zum Schlafzimmer und Arbeitszimmer zu schließen. Ich ging zu ihr zurück.
»Ich wollte nur sehen, ob jemand zu Hause ist. Aber die Luft ist rein, wir sind allein.«
Meine Mum war erleichtert. Trotzdem blieb sie vor den geschlossenen Türen stehen. Sie hätte gern selbst nachgesehen. Ich legte einen Arm um sie, führte sie nach oben und sagte:
»Außer uns ist niemand hier, versprochen.«
In der offenen Wohnküche, dem Herzstück von Marks Wohnung, war meine Mum vom ersten Blick auf mein neues Zuhause beeindruckt. Mark hatte seinen Stil immer als minimalistisch beschrieben, der Blick auf die Stadt sollte der Wohnung Charakter verleihen. Bis ich einzog, standen kaum Möbel in der Wohnung. Sie wirkte auch nicht stylish, sondern leer und traurig. Mark hatte hier geschlafen und gegessen, aber nicht gelebt. Nach und nach machte ich Vorschläge. Er musste seine Sachen doch nicht verstecken. Man konnte sie aus ihren Kartons holen. Ich beobachtete, wie meine Mum erstaunlich genau nachvollzog, was mein Einfluss war. Sie nahm ein Buch, das sie mir geschenkt hatte, aus dem Regal. Ich platzte heraus:
»Die Wohnung gehört mir nicht.«
Jahrelang waren mir die Lügen leicht und schnell über die Lippen gekommen, aber heute schmerzten sie so wie ein verstauchter Knöchel beim Rennen. Mum nahm meine Hand und bat:
»Zeig mir den Garten.«
Mark hatte die Firma, für die ich arbeite, angeheuert, um einen Dachgarten zu entwerfen und anzulegen. Er hatte behauptet, dass er so etwas schon immer haben wollte, aber tatsächlich war es ein Gefallen für mich, eine Art Mäzenatentum. Meine Eltern hatten sich immer über meine Berufswahl gewundert, sie hatten gedacht, ich würde etwas anderes machen als sie. Beide waren mit sechzehn von der Schule abgegangen, während ich studiert hatte und am Ende fast den gleichen Job machte wie sie ihr ganzes Leben lang, nur mit einer offiziellen Abschlussurkunde und zwanzigtausend Pfund Schulden. Aber ich hatte meine ganze Kindheit zwischen Grünpflanzen und Blumen verbracht, von meinen Eltern den grünen Daumen geerbt, und wenn ich einmal Arbeit bekam, machte sie mich glücklich.
Hier draußen auf dem Dach zwischen den Pflanzen, mit dem Blick auf London konnte man leicht vergessen, dass etwas nicht stimmte. Am liebsten wäre ich ewig hiergeblieben und hätte gemeinsam mit ihr schweigend die Sonne genossen. Aber ich merkte, dass meine Mum sich nicht für den Garten interessierte, sie sah sich den Grundriss des Dachs an, die Feuertreppen, mögliche Fluchtwege. Nach einem Blick auf ihre Uhr wurde sie sehr ungeduldig.
»Wir haben nicht viel Zeit.«
Bevor ich mir ihre Version der Geschichte anhörte, bot ich ihr etwas zu essen an. Mum lehnte höflich ab, sie wollte weitermachen:
»Ich muss dir so viel erzählen.«
Ich bestand darauf. Bei allem, was unklar war, stand eines fest: Sie hatte abgenommen. Ich konnte nicht herausfinden, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte - meine Mum antwortete bei dem Thema nur ausweichend -, also bereitete ich für sie einen Smoothie aus Bananen, Erdbeeren und Honig zu, während sie neben mir stand und zusah.
»Du vertraust mir doch, oder?«
Sie wirkte extrem vorsichtig und misstrauisch, ich durfte nur Obst nehmen, dass sie sich vorher genau angesehen hatte. Um zu zeigen, dass die Mischung ungefährlich war, trank ich davon, bevor ich ihr das Glas reichte. Sie nahm nur einen winzigen Schluck. Als sie meinen Blick aufschnappte, merkte sie, dass die Situation auch ein Test für ihren Geisteszustand war. Ihre Haltung schlug um, und sie trank in langen, hastigen Zügen. Als das Glas geleert war, sagte sie: »Ich muss mal ins Bad.«
Ich befürchtete, sie wollte sich übergeben, aber ich konnte schlecht mitgehen.
»Es ist unten.«
Als sie die Küche verließ, drückte sie die Tasche, die sie die ganze Zeit nicht abgelegt hatte, an sich.
Ich zog mein Handy aus der Tasche und sah über dreißig Anrufe in Abwesenheit von Dad. Ich rief ihn an und flüsterte: »Dad, sie ist hier, es geht ihr gut. Ich kann jetzt nicht reden ...«
Er unterbrach mich: »Warte! Das meiste weißt du noch gar nicht.«
Es war riskant, jetzt mit ihm zu sprechen, und ich hatte Angst, erwischt zu werden. Ich drehte mich um und wollte zur Treppe gehen, damit ich hörte, wenn Mum zurückkam, aber sie war schon wieder oben, stand in der Tür und beobachtete mich. So schnell konnte sie nicht im Bad gewesen sein. Offenbar hatte sie gelogen und sich selbst einen kleinen Test überlegt, um zu sehen, was ich in der Zeit machen würde. Falls es wirklich ein Test war, hatte ich versagt. Sie starrte mich an, wie ich es bei ihr noch nie gesehen hatte. Ich war nicht mehr ihr Sohn, sondern eine Bedrohung - ein Feind. Am Handy sagte mein Dad:
»Daniel?«
Ich saß zwischen beiden in der Klemme. Mum fragte:
»Das ist er, oder?«
Alle Förmlichkeit war verpufft - sie klang vorwurfsvoll und aggressiv. Mein Dad hörte ihre Stimme im Hintergrund:
»Ist sie da?«
Ich konnte mich nicht rühren, ich war so unentschlossen, dass ich wie gelähmt das Handy ans Ohr drückte und Mum ansah. Mein Dad sagte:
»Daniel, es kann sein, dass sie gewalttätig wird.«
Als ich das hörte, schüttelte ich den Kopf - nein, das glaubte ich nicht. Meine Mum hatte noch nie im Leben jemandem wehgetan. Dad irrte sich. Oder er log. Mum kam näher und zeigte auf das Handy:
»Wenn du noch ein Wort zu ihm sagst, gehe ich.«
Während Dads Stimme noch aus dem Hörer drang, unterbrach ich das Gespräch.
Als würde ich ihr eine Waffe aushändigen, streckte ich Mum das Handy entgegen. Meine Stimme kippte, als ich zu meiner Verteidigung erklärte: »Ich habe versprochen, Dad anzurufen, wenn du angekommen bist. Nur damit er weiß, dass es dir gut geht. Genauso, wie ich versprochen habe, dich anzuhören. Bitte, Mum, setzen wir uns doch. Du wolltest mir deine Geschichte erzählen. Ich will zuhören.«
»Die Ärzte haben mich untersucht. Hat er dir das erzählt? Sie haben mich untersucht, haben mir zugehört, und dann haben sie mich gehen lassen. Die Profis haben mir geglaubt. Seine Version der Geschichte haben sie nicht geglaubt.«
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Seit Monaten, und ich hatte nichts davon gewusst - ich hatte ahnungslos hier in London gesessen, während mein Dad mir nach alter Tradition alles verschwieg. Er erriet meine Gedanken und fügte hinzu:
»Ich war sicher, ich könnte ihr helfen. Vielleicht habe ich zu lange gewartet, aber die Symptome haben sich erst nach und nach gezeigt - am Anfang war sie nur etwas überreizt und hat manchmal komische Dinge gesagt, aber so sind wir alle mal. Dann folgten Anschuldigungen. Sie behauptet, sie hätte Beweise, sie redet von Indizien und Verdächtigen, aber das sind alles Lügen und Unsinn.«
Dad hatte aufgehört zu weinen, er sprach lauter, nachdrücklicher, als müsse er sich verteidigen. Er stockte nicht mehr, und in seiner Stimme lag mehr als nur Traurigkeit.
»Ich habe gehofft, es würde vorbeigehen, sie müsste sich vielleicht nur an das Leben in Schweden und auf einem Bauernhof gewöhnen. Aber es wurde immer schlimmer. Und jetzt ...«
Meine Eltern gehörten einer Generation an, die nur bei Verletzungen zum Arzt ging, die man mit eigenen Augen sehen oder mit dem Finger ertasten konnte. Einen Fremden mit intimen Details aus ihrem Leben zu belasten war unvorstellbar.
»Dad, sie war doch hoffentlich beim Arzt?«
»Er glaubt, sie würde an einer akuten Psychose leiden. Daniel ...«
Mum und Dad waren die einzigen Menschen, die meinen Namen nicht zu Dan abkürzten.
»Deine Mum ist im Krankenhaus. Ich musste sie einweisen lassen.«
Als ich das hörte, öffnete ich den Mund, um etwas zu sagen, aber ich hatte keine Ahnung, was, und am Ende blieb ich stumm.
»Daniel?«
»Ja?«
»Hast du gehört?«
»Ja, habe ich.«
Ein verbeulter Wagen fuhr vorbei, wurde langsamer, damit der Fahrer mich angaffen konnte, blieb aber nicht stehen. Ich sah auf meine Uhr. Es war acht Uhr abends, heute würde ich keinen Flug mehr bekommen - ich würde morgen früh fliegen. Statt mich meinen Gefühlen zu überlassen, zwang ich mich zu funktionieren. Wir unterhielten uns noch eine Weile. Nach den ersten aufwühlenden Minuten wurden wir wie immer - beherrscht und verhalten. Ich sagte:
»Ich buche für morgen früh einen Flug. Danach rufe ich dich wieder an. Bist du auf dem Hof? Oder im Krankenhaus? «
Er war auf dem Hof.
Als wir uns verabschiedet hatten, holte ich alle Sachen einzeln aus der Einkaufstüte und reihte sie auf dem Bordstein auf, bis ich das gesprungene Glas Tomatensoße fand. Vorsichtig entfernte ich die Scherben, die nur noch vom Etikett zusammengehalten wurden. Ich warf sie in einen Abfalleimer in der Nähe, bevor ich mit Papiertüchern die restliche Soße von meinen Einkäufen wischte. Es wirkte vielleicht unnötig - Scheiß auf die Tüte, meine Mutter ist krank -, aber diese schlichten Handgriffe hatten für mich etwas Tröstliches. Schließlich nahm ich die Tüte und legte mit schnelleren Schritten den restlichen Weg nach Hause zurück, in den obersten Stock einer ehemaligen Fabrik, die jetzt in mehrere Wohnungen unterteilt war. Ich stellte mich unter die kalte Dusche und dachte darüber nach, ob ich weinen sollte - wäre das jetzt angebracht?, überlegte ich, als ginge es darum, sich eine Zigarette anzuzünden. Musste ich das als Sohn nicht sogar? Aber Tränen sollten von selbst fließen, womit ich mich schwertue. Ich zögere, bevor ich Gefühle zeige. Auf Fremde wirke ich reserviert. In diesem Fall zögerte ich allerdings nicht aus Vorsicht, sondern weil ich es nicht glauben konnte. Auf eine Situation, die ich nicht verstand, konnte ich nicht emotional reagieren. Ich würde nicht weinen. Dafür gab es zu viele offene Fragen.
Nach dem Duschen ging ich an meinem Computer die Mails durch, die mir meine Mum in den letzten fünf Monaten geschrieben hatte, und suchte nach Hinweisen, die mir vielleicht entgangen waren. Ich hatte meine Eltern nicht mehr gesehen, seit sie im April nach Schweden gezogen waren. Bei ihrer Abschiedsparty hatten wir auf ihren gemütlichen Ruhe stand angestoßen. Alle Gäste hatten vor ihrem alten Haus gestanden und ihnen fröhlich nachgewinkt. Ich habe keine Geschwister, auch keine Onkel oder Tanten, wenn ich »Familie« sage, meine ich uns drei, Mum, Dad und mich - ein Dreieck, wie ein Teil eines Sternzeichens, drei helle Sterne nah beieinander, umgeben von weitem, leerem Raum. Wir hatten nie groß darüber gesprochen, dass wir keine Verwandten hatten. Es gab nur Andeutungen - meine Eltern hatten keine leichte Kindheit gehabt, waren von ihren eigenen Eltern entfremdet, und sicher stritten sie sich vor allem deshalb nie vor mir, weil sie mir eine andere Kindheit bereiten wollten. Es ging ihnen nicht um die feine englische Art. Sie sparten nie an Liebe oder Freude, solche Gefühle drückten sie bei jeder Gelegenheit aus. Die guten Zeiten wurden gefeiert, in weniger guten gaben sie sich optimistisch. Deshalb glauben manche, ich hätte ein behütetes Leben geführt - ich habe nur die guten Zeiten gesehen. Das Schlechte wurde verborgen. Und ich spielte mit. Ich bohrte nie nach. Diese Abschiedsparty gehörte zu den guten Zeiten. Die Gäste jubelten, als meine Eltern zu ihrem großen Abenteuer aufbrachen, mit dem meine Mum in das Land zurückkehrte, das sie mit sechzehn verlassen hatte.
In der ersten Zeit auf dem abgelegenen Hof am südlichen Zipfel Schwedens hatte meine Mum regelmäßig Mails geschickt. Darin beschrieb sie, wie wunderbar das Leben dort war, wie schön die ländliche Gegend, wie freundlich die Menschen. Wenn sie einen Hinweis enthielten, dass etwas nicht stimmte, war er sehr dezent, und ich hatte ihn nicht verstanden. Mit den Wochen wurden ihre Mails kürzer, die begeisterten Zeilen weniger. Ich hatte das als positives Zeichen gedeutet. Ich hatte gedacht, meine Mum habe sich eingewöhnt und sei einfach zu beschäftigt. Ihre letzte Mail an mich erschien auf dem Monitor:
Daniel!
Mehr nicht, nur mein Name, ein Ausrufezeichen - ich hatte kurz geantwortet, die Mail sei nicht richtig durchgegangen und sie solle sie bitte noch einmal schicken. Ich hatte diese kurze Nachricht als Übertragungsfehler abgetan und keinen Gedanken daran verschwendet, sie könnte ein Hilferuf gewesen sein.
Ich sah unseren gesamten Briefwechsel durch, irritiert, dass ich so blind gewesen war, und überlegte besorgt, was ich vielleicht sonst noch übersehen hatte. Aber es gab keine verräterischen Anzeichen, keine Fantasiegespinste, ihr Stil war nicht ungewöhnlich, und sie schrieb größtenteils auf Englisch, weil ich zu meiner Schande das meiste Schwedisch, das sie mir als Kind beigebracht hatte, längst vergessen hatte. Eine der Mails enthielt zwei große Anhänge, aber keinen Text. Es waren Fotos. Ich musste sie mir schon angesehen haben, konnte mich jedoch nicht an sie erinnern. Auf dem Monitor öffnete sich das erste Foto - eine desolate Scheune mit rostigem Stahldach, ein grauer Himmel, davor ein abgestellter Traktor. Beim Hineinzoomen erkannte ich, dass sich die Fotografin - meine Mum - zum Teil im Fenster der Scheune spiegelte. Ihr Gesicht wurde vom Blitz überstrahlt, so dass es aussah, als würde ihr Kopf in weiße Lichtspitzen zerspringen. Auf dem zweiten Bild unterhielt sich mein Vater vor ihrem Bauern haus mit einem groß gewachsenen Fremden. Mein Vater schien nicht gemerkt zu haben, dass er fotografiert wurde. Durch die große Entfernung wirkte es eher wie ein Überwachungsfoto als wie ein Familienschnappschuss. Beide passten nicht zu den Beschreibungen, es sei alles so schön, obwohl ich das in meiner Antwort natürlich nicht erwähnt hatte. Ich hatte nur geschrieben, ich würde mich darauf freuen, den Hof selbst zu sehen. Was gelogen war. Ich hatte keine Lust auf einen Besuch und hatte mich mit vagen Halbwahrheiten herausgeredet und ihn vom Frühsommer auf den Spätsommer und schließlich auf den Frühherbst verschoben.
Tatsächlich schob ich es hinaus, weil ich Angst hatte. Ich hatte meinen Eltern nicht erzählt, dass ich mit meinem Partner zusammenlebte und wir uns seit drei Jahren kannten. Ich spielte ihnen schon so lange etwas vor, dass ich überzeugt war, es würde meine Familie zerstören, wenn ich reinen Tisch machte. Auf der Uni hatte ich mich mit Mädchen verabredet, meine Eltern hatten meine Freundinnen bekocht und sich immer über meine Wahl gefreut - die Mädchen waren schön, witzig und klug. Aber mein Herz schlug nicht schneller, wenn sie sich auszogen, und beim Sex konzentrierte ich mich fachmännisch auf die anstehende Aufgabe, weil ich dachte, wenn ich ihnen Lust bereitete, konnte ich nicht schwul sein. Erst als ich nicht mehr zu Hause wohnte, akzeptierte ich die Wahrheit und erzählte es meinen Freunden, nur meinen Eltern nicht. Nicht, weil ich mich schämte, sondern aus gut gemeinter Feigheit. Ich hatte schreckliche Angst, es würde die Erinnerungen an meine Kindheit verderben. Meine Eltern hatten sich solche Mühe gegeben, um ein glückliches Heim zu schaffen, sie hatten Opfer gebracht, hatten sich geschworen, immer ruhig zu bleiben und mir ein harmonisches Zuhause zu bieten, und es hatte keine Ausrutscher gegeben, keinen einzigen, und dafür liebte ich sie.Wenn sie die Wahrheit hörten, würden sie mit Sicherheit glauben, sie hätten versagt. Sie würden an die ganzen Lügen denken, die ich ihnen erzählt haben musste. Sie würden sich ausmalen, ich wäre einsam und gequält gewesen, man hätte mich gemobbt und sich über mich lustig gemacht, obwohl das alles nicht stimmte. Meine Jugend war problemlos verlaufen. Der Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein war für mich ein Spaziergang gewesen - meine hellblonden Haare verloren nur leicht ihren Glanz, meine blauen Augen strahlten wie früher, und das gute Aussehen brachte unverdiente Beliebtheit mit sich. Ich glitt problemlos durch diese Jahre. Auch mein Geheimnis belastete mich nicht besonders. Es machte mich nicht traurig. Ich grübelte einfach nicht groß darüber nach. Kurz gesagt: Ich hätte es nicht ertragen, wenn meine Eltern gedacht hätten, dass ich an ihrer Liebe zweifelte. Es erschien mir ihnen gegenüber so unfair. Ich konnte richtig hören, wie ich verzweifelt sagte, ohne es selbst zu glauben:
»Das ändert nichts!«
Ich war sicher, dass sie meinen Partner mit offenen Armen aufnehmen und sich über unsere Beziehung freuen würden, wie sie sich über alles gefreut hatten, aber ein Hauch Traurigkeit würde bleiben. Die Erinnerung an eine perfekte Kindheit würde sterben, und wir würden um sie trauern wie um einen geliebten Menschen. Und so hatte ich meine Reise nach Schweden nur verschoben, weil ich meinem Partner versprochen hatte, ich würde meinen Eltern bei dieser Gelegenheit die Wahrheit sagen, nach all den Jahren würde ich ihnen endlich sagen, wie der Mann hieß, mit dem ich lebte.
Als Mark an diesem Abend nach Hause kam und sah, dass ich am Computer Flüge nach Schweden heraussuchte, lächelte er, bevor ich etwas sagen konnte. Er dachte, die Lügen hätten ein Ende. Ich schaltete nicht schnell genug, und so blieb mir nichts anderes übrig, als die Dinge sofort richtigzustellen. Ich benutzte den Euphemismus meines Vaters:
»Meine Mum ist krank.«
Es tat mir weh, wie Mark darauf reagierte, wie er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Er war elf Jahre älter als ich, gerade vierzig geworden, und das hier war seine Wohnung, die er sich als erfolgreicher Firmenanwalt leisten konnte. Ich bemühte mich, meinen Teil zu der Beziehung beizutragen, und zahlte so viel Miete, wie ich mir leisten konnte. Aber ehrlich gesagt war das nicht viel. Ich arbeitete als freischaffender Designer für eine Firma, die Hausdächer zu Gärten umbaute, und Geld kam nur herein, wenn ich einen Auftrag hatte. Und die blieben während der Wirtschaftsflaute aus. Was sah er in mir? Ich schätzte, dass er sich nach dem beschaulichen Leben sehnte, in dem ich Experte war. Ich diskutierte nicht ständig herum. Ich suchte keinen Streit. So wie meine Eltern tat ich, was ich konnte, um aus unserem Zuhause eine Zuflucht vor der Welt zu machen. Mark war zehn Jahre lang mit einer Frau verheiratet gewesen, die Ehe hatte mit einer schmutzigen Scheidung geendet. Seine Exfrau behauptete, er habe ihr die besten Jahre ihres Lebens gestohlen, sie habe ihre Liebe an ihn verschwendet und würde jetzt mit Mitte dreißig keinen richtigen Partner mehr finden. Mark gab ihr recht, und die Schuld belastete ihn sehr. Ich wusste nicht, ob er dieses Gefühl je loswerden konnte. Fotos aus seinen Zwanzigern zeigen ihn voller Energie und Selbstvertrauen, ganz geschniegelt in seinen teuren Anzügen - damals trainierte er noch oft im Fitnessstudio, er hatte breite Schultern und kräftige Arme. Er besuchte Stripclubs und plante hemmungslose Junggesellenabschiede für seine Kollegen. Er lachte laut über Witze und schlug den Leuten kräftig auf die Schulter. Jetzt lachte er nicht mehr so. Während der Scheidung hatten sich seine Eltern auf die Seite seiner Exfrau geschlagen. Vor allem Marks Vater fühlte sich von ihm abgestoßen. Sie redeten nicht mehr miteinander. Seine Mum schickte uns Weihnachtskarten mit Musik, als wollte sie mehr sagen, wüsste aber nicht, wie. Sein Dad unterschrieb nie. Zum Teil fragte ich mich, ob Mark meine Eltern als eine Art zweite Chance sah. Natürlich konnte er mit Fug und Recht verlangen, dass sie von ihm erfahren sollten. Er fand sich mit der Wartezeit nur ab, weil er selbst so lange gebraucht hatte, um sich zu outen, und glaubte, er dürfte bei diesem Thema keine Forderungen stellen. In gewisser Weise nutzte ich das sicher aus. Es verschaffte mir Luft. Dadurch konnte ich die Wahrheit immer wieder hinausschieben.
Ohne Arbeit in Aussicht war es kein Problem, so kurzfristig nach Schweden zu fliegen. Ich wusste nur noch nicht, wie ich mir das Ticket leisten sollte. Mark bezahlen zu lassen, kam gar nicht in Frage, wenn ich meinen Eltern noch nicht einmal von ihm erzählt hatte. Ich nahm mein letztes Erspartes, überzog meinen Dispo und rief meinen Vater mit den Einzelheiten an, nachdem ich den Flug gebucht hatte. Der erste passende Flieger hob um halb zehn am nächsten Morgen in Heathrow ab und sollte mittags in Göteborg landen. Mein Vater redete kaum, er klang erschöpft und niedergeschlagen. Ich war besorgt, ob er allein auf dem abgelegenen Hof zurechtkam, und fragte, was er machte. Er antwortete:
»Ich räume auf. Sie hat alle Schubladen und Schränke durchwühlt.«
»Was hat sie denn gesucht?«
»Keine Ahnung. Ich begreife es nicht. Daniel, sie hat an die Wände geschrieben.«
Ich fragte, was sie geschrieben hatte, aber er meinte:
»Das ist unwichtig.«
Ich wusste schon, dass ich kein Auge zumachen würde. In meinem Kopf spulte sich immer wieder eine Erinnerung an Mum ab, von unserer Reise nach Schweden vor zwanzig Jahren, als wir allein auf einer der kleinen Schäreninseln nördlich von Göteborg waren. Wir saßen nebeneinander auf einem Felsen und streckten die Füße ins Meer. In einiger Ferne durchfurchte ein Frachtschiff das tiefe Wasser auf dem Weg zum offenen Meer, und wir sahen zu, wie die Bugwelle näher kam, ein Kräuseln auf der sonst glatten Oberfläche. Wir saßen ganz still da, hielten uns an der Hand und warteten auf das unvermeidliche Auftreffen der Welle, die auf dem flacheren Wasser anschwoll, bis sie sich an unserem Felsen brach und uns völlig durchnässte. Diese Erinnerung hatte ich ausgesucht, weil meine Mum und ich uns zu dieser Zeit besonders nahgestanden hatten; ich hätte damals nie eine wichtige Entscheidung getroffen, ohne sie mit ihr zu besprechen.
Am nächsten Morgen bestand Mark darauf, mich nach Heathrow zu fahren, obwohl wir beide wussten, dass öffentliche Verkehrsmittel schneller gewesen wären. Als wir im Stau stecken blieben, beschwerte ich mich nicht oder sah auch nur auf die Uhr, weil ich wusste, wie sehr Mark sich wünschte, er könnte mitkommen, und ich es ihm unmöglich gemacht hatte, mehr zu tun, als mich zu fahren. Er setzte mich in der Kurzhaltezone ab und umarmte mich. Zu meiner Überraschung war er den Tränen nahe - ich spürte die unterdrückten Schluchzer in seiner Brust -, aber er hatte sich sofort wieder im Griff. Ich beruhigte ihn, er müsse mich wirklich nicht zum Gate begleiten, und so verabschiedeten wir uns draußen.
Mit dem Flugticket und dem Pass in der Hand wollte ich gerade einchecken, als mein Handy klingelte - es war mein Dad, er rief aufgeregt:
»Daniel, sie ist nicht hier!«
»Wo ist sie nicht, Dad?«
»Im Krankenhaus! Sie haben sie entlassen. Gestern habe ich sie hingebracht.Von selbst wäre sie nicht gegangen. Aber sie hat nicht widersprochen, deshalb gilt die Einweisung als freiwillig. Als ich dann weg war, hat sie die Ärzte überredet, sie zu entlassen.«
»Mum hat sie überredet? Du hast doch erzählt, die Ärzte hätten bei ihr eine Psychose diagnostiziert.«
Mein Dad antwortete nicht. Ich hakte nach:
»Haben sie die Entlassung nicht mit dir besprochen?«
Leise sagte er:
»Sie muss sie gebeten haben, nicht mit mir zu reden.«
»Warum sollte sie das machen?«
»Weil ihre Anschuldigungen auch mich betreffen.«
Hastig fügte er hinzu:
»Was sie behauptet, stimmt alles nicht.«
Jetzt schwieg ich. Ich hätte ihn gerne nach diesen Anschuldigungen gefragt, brachte es aber nicht fertig. Ich hockte mich auf meinen Koffer, stützte den Kopf in die Hand und winkte den Leuten hinter mir, sie sollten vorgehen.
»Hat sie ein Handy?«
»Ihres hat sie vor ein paar Wochen zerschlagen. Sie traut Handys nicht.«
Die Vorstellung, wie meine sparsame Mutter ohne Sinn und Verstand ein Handy zerstörte, ließ mich stocken. Was mein Vater beschrieb, passte nicht zu dem Menschen, den ich kannte.
»Geld?«
»Wahrscheinlich ein bisschen - sie hat ihre große Umhängetasche dabei. Die lässt sie nicht aus den Augen.«
»Was ist darin?«
»Allerhand Krempel, den sie für wichtig hält. Sie behauptet, es wären Beweise.«
»Wie hat sie das Krankenhaus verlassen?«
»Nicht mal das wollten sie mir sagen. Sie könnte überall sein!«
Jetzt stieg zum ersten Mal Panik in mir auf. Ich sagte:
»Du und Mum habt gemeinsame Konten. Du könntest die Bank anrufen und nach neuen Abbuchungen fragen. Sie über ihre Karte finden.«
Dads Schweigen verriet mir, dass er noch nie mit der Bank telefoniert hatte; Geldangelegenheiten hatte er immer meiner Mutter überlassen.Weil sie mit einem Händchen für Zahlen und der nötigen Geduld gesegnet war, um stundenlang Quittungen und Rechnungen zusammenzutragen, hatte sie in dem Gartengeschäft, das ihnen gemeinsam gehörte, die Bücher geführt, die Rechnungen bezahlt und jedes Jahr die Steuererklärung abgegeben. Ich konnte mich noch an ihr altmodisches Hauptbuch erinnern, als es noch keine Tabellenkalkulation gab. Sie hatte mit dem Stift so fest aufgedrückt, dass die Zahlen auf der Rückseite wie Brailleschrift hervorgetreten waren.
»Dad, frag bei der Bank nach, und ruf mich sofort wieder an.«
Während ich wartete, verließ ich die Schlange und das Terminal, lief draußen zwischen den Rauchern auf und ab und stellte mir dabei Mum irgendwo allein in Schweden vor.Wieder klingelte mein Handy. Ich war überrascht, dass Dad den Anruf so schnell erledigt hatte, allerdings war es nicht Dad.
»Daniel, hör mir gut zu ...«
Es war meine Mum.
»Ich bin an einem Münztelefon und habe nicht viel Geld. Bestimmt hat dein Vater mit dir gesprochen. Jedes Wort von diesem Mann ist eine Lüge. Ich bin nicht verrückt. Ich brauche keinen Arzt. Ich brauche die Polizei. Ich fliege gleich nach London. Hol mich in Heathrow ab, am Terminal ...«
Zum ersten Mal machte sie eine Pause, um auf ihrem Ticket nachzusehen. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, brachte aber nur ein jämmerliches »Mum!« heraus.
»Sag nichts, Daniel, ich habe nur ganz wenig Zeit. Das Flugzeug landet an Terminal Eins. In zwei Stunden bin ich da.Wenn dein Vater anruft, vergiss nicht ...«
Die Verbindung brach ab.
Ich rief das Münztelefon an in der Hoffnung, meine Mum würde sich melden, aber niemand nahm ab. Als ich es noch einmal versuchen wollte, rief mein Dad an. Ohne Vorrede legte er los. Es klang, als würde er ablesen.
»Um zwanzig nach sieben heute Morgen hat sie vierhundert Pfund am Flughafen Göteborg ausgegeben. Bei Scandinavian Airlines. Sie war früh genug für den ersten Flug nach Heathrow da. Daniel, sie ist auf dem Weg zu dir! Daniel?«
»Ja.«
Warum erzählte ich ihm nicht, dass Mum gerade angerufen hatte und ich schon wusste, dass sie kam? Glaubte ich ihr? Sie hatte bestimmt und resolut geklungen. Ich hatte unsinniges Gefasel erwartet, keine klaren Informationen und knappen Sätze. Ich wusste nicht, was los war. Es wäre mir aggressiv und streitsüchtig vorgekommen, ihre Anschuldigung zu wiederholen, dass mein Dad ein Lügner war. Stammelnd antwortete ich:
»Ich warte hier auf sie. Wann fliegst du her?«
»Gar nicht.«
»Du bleibst in Schweden?«
»Wenn sie glaubt, dass ich hier bin, wird sie sich schneller wieder beruhigen. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, ich würde sie verfolgen. Wenn ich hierbleibe, gibt dir das mehr Zeit. Du musst ihr klarmachen, dass sie Hilfe braucht. Ich kann ihr nicht helfen. Sie lässt mich nicht. Bring sie zu einem Arzt. Das dürfte dir eher gelingen, wenn sie sich nicht meinetwegen Sorgen macht.«
Ich konnte seiner Erklärung nicht folgen.
»Ich rufe dich an, wenn sie hier ist. Dann überlegen wir weiter.«
Ich hatte keine Ahnung, wie ich die Lage deuten sollte. Warum hatten die Ärzte meine Mutter entlassen, wenn sie an einem psychotischen Schub litt? Selbst wenn man sie wegen einer juristischen Formalität nicht im Krankenhaus festhalten konnte, hätten die Ärzte mit meinem Dad reden müssen, aber sie hatten sich geweigert und ihn als Feind behandelt und ihr so geholfen, vor ihm zu fliehen. Auf andere Leute wirkte sie offenbar normal. Jemand von der Fluggesellschaft hatte ihr ein Ticket verkauft, die Flughafenpolizei hatte sie durch die Sicherheitskontrolle gelassen - niemand hatte sie aufgehalten. Langsam fragte ich mich, was sie an die Wände geschrieben hatte, und ich wurde den Gedanken an dieses Foto nicht los, auf dem Dad sich mit einem Fremden unterhielt.
Daniel!
In meinem Kopf klang das jetzt wie ein Hilfeschrei.
Die Anzeige aktualisierte sich, Mums Flugzeug war gelandet. Die Automatiktüren gingen auf. Ich lief zur Absperrung und sah mir die Gepäckaufkleber der neu eingetroffenen Fluggäste an. Wenig später trudelten die ersten Passagiere aus Göteborg ein. Vorweg die Geschäftsleute, die nach den laminierten Plastikschildern mit ihren Namen darauf Ausschau hielten, dann folgten die Pärchen und schließlich die Familien mit sperrigen, aufeinandergetürmten Gepäckstücken. Meine Mum war nirgends zu sehen, obwohl sie ein ordentliches Gehtempo hatte und ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie Gepäck aufgegeben hatte. Ein älterer Mann, sicher einer der letzten Reisenden aus Göteborg, zockelte an mir vorbei. Ich überlegte ernsthaft, meinen Vater anzurufen und ihm zu sagen, dass etwas schiefgelaufen sei, als die riesigen Türen mit einem Zischen auseinanderfuhren und meine Mum auftauchte.
Ihr Blick war auf den Boden geheftet, als würde sie einer Brotkrumenspur folgen. Über einer Schulter trug sie eine abgewetzte Ledertasche, die vollgestopft und sichtlich schwer war. Ich hatte die Tasche noch nie gesehen, so etwas kaufte meine Mutter normalerweise nicht. Ihre Kleidung sah genauso mitgenommen aus wie ihre Tasche. Ihre Schuhe waren abgestoßen. Die Hose war an den Knien zerknittert. An ihrer Bluse fehlte ein Knopf. Meine Mutter neigte dazu, sich eher zu elegant zu kleiden, fürs Restaurant, fürs Theater, sogar für die Arbeit hatte sie sich immer schick gemacht, obwohl es nicht nötig war, weil sie und mein Dad eine Gärtnerei im Norden Londons besessen hatten. Das T-förmige Grundstück zwischen stattlichen weißen Häusern mit Stuckfassade hatten sie Anfang der Siebziger gekauft, als die Grundstücke in London günstig waren. Während mein Dad zerrissene Jeans, klobige Stiefel und weite Pullover trug und selbst gedrehte Zigaretten rauchte, hatte meine Mum immer gestärkte weiße Blusen bevorzugt und dazu Wollhosen im Winter und Baumwollhosen im Sommer. Wenn die Kunden sie auf ihr makelloses Bürooutfit ansprachen und fragten, wie sie so sauber bleiben konnte, obwohl sie genauso mitanpackte wie mein Vater, lachte sie nur und zuckte treuherzig mit den Schultern, als wollte sie sagen: »Keine Ahnung!« Dabei achtete sie bewusst darauf. Im Hinterzimmer hing immer saubere Kleidung zum Wechseln. Als Gesicht des Ladens, erklärte sie mir, müsse man immer den Schein wahren.
Ich ließ meine Mum weitergehen, weil ich sehen wollte, ob sie mich bemerken würde. Sie war deutlich dünner als bei unserem Abschied im April und sah schon ungesund aus. Ihre Hose hing ihr so locker und formlos von den Hüften, dass ich an eine angezogene Holzpuppe denken musste. Sie schien keine natürlichen Kurven mehr zu haben und wirkte eher wie eine hastig hingeworfene Zeichnung als wie meine echte Mum. Ihre kurzen blonden Haare sahen nass aus, sie waren glatt zurückgekämmt, aber nicht mit Wachs oder Gel, sondern mit Wasser. Sie musste kurz auf der Toilette gewesen sein, nachdem sie das Flugzeug verlassen hatte, um sich herzurichten und die Haare zu kämmen. Sie hatte immer jünger gewirkt, als sie war, aber in den letzten Monaten war ihr Gesicht gealtert. Nicht nur ihrer Kleidung, auch ihrer Haut konnte man ihre missliche Lage ansehen. Dunkle Schatten lagen auf ihren Wangen. Die Falten unter ihren Augen hatten sich tiefer gegraben. Dafür strahlten ihre wässrig blauen Augen heller als je zuvor. Als ich um die Absperrung herumtrat, hielt mich mein Instinkt davon ab, sie zu berühren; ich fürchtete, sie könnte aufschreien.
»Mum.«
Erschrocken blickte sie auf, aber als sie sah, dass ich es war, ihr Sohn, lächelte sie triumphierend:
»Daniel.«
Sie sprach meinen Namen so aus wie früher, wenn ich sie stolz gemacht hatte, mit stiller, tiefer Freude. Als wir uns umarmten, lehnte sie eine Wange gegen meine Brust. Dann löste sie sich von mir und hielt meine Hände, und ich strich mit einem Daumen über ihre Finger. Ihre Haut war rau, die Nägel eingerissen und ungepflegt. Sie flüsterte:
»Es ist vorbei. Ich bin in Sicherheit.«
Ich merkte sofort, dass ihr Verstand hellwach war, als ihr mein Gepäck auffiel:
»Was machen denn deine Koffer hier?«
»Dad hat gestern Abend angerufen und gesagt, du wärst im Krankenhaus ...«
Sie unterbrach mich: »Sag nicht Krankenhaus. Das war eine Anstalt. Er hat mich ins Irrenhaus gebracht. Er meinte, da würde ich hingehören, eingesperrt mit Leuten, die wie die Tiere heulen. Dann hat er dich angerufen und dir das Gleiche erzählt. Deine Mum ist verrückt. Oder nicht?«
Ich wusste nicht recht, wie ich auf ihr wütend provozierendes Verhalten reagieren sollte, und brauchte einen Moment, um zu antworten:
»Als du angerufen hast, wollte ich gerade nach Schweden fliegen.«
»Heißt das, du hast ihm geglaubt?«
»Warum sollte ich nicht?«
»Darauf hat er sich verlassen.«
»Sag mir, was hier los ist.«
»Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht mit den ganzen Leuten in der Nähe. Wir müssen von Anfang an aufpassen. Wir dürfen keinen Fehler machen. Frag bitte nicht, ja? Noch nicht.«
Sie wirkte seltsam förmlich, jede Silbe wurde überdeutlich ausgesprochen, jeder Punkt betont. Ich willigte ein:
»Keine Fragen.«
Dankbar drückte sie mir die Hand und bat sanft:
»Bring mich nach Hause.«
In England hatte sie kein Zuhause mehr. Sie hatte ihr Haus verkauft und war auf den Hof in Schweden gezogen, der ihr letztes und glücklichstes Heim werden sollte. Sie meinte wohl meine Wohnung, Marks Wohnung, dabei wusste sie noch nicht einmal, dass es ihn gab.
Beim Warten auf Mums Flugzeug hatte ich schon mit Mark gesprochen. Er machte sich Sorgen, vor allem, weil sie nicht mehr unter ärztlicher Aufsicht stand. Ich würde auf mich allein gestellt sein. Ich versprach, ihn auf dem Laufenden zu halten. Meinen Dad hatte ich auch anrufen wollen, aber mit meiner Mum neben mir ging das nicht. Ich wagte nicht, sie allein zu lassen, und hatte Angst, ich könnte parteiisch wirken, wenn ich Dad offen Bescheid sagte, und das durfte ich nicht riskieren - vielleicht würde sie mir dann auch misstrauen oder sogar weglaufen. Hätte mein Dad das nicht erwähnt, hätte ich es mir nie vorstellen können. Der Gedanke jagte mir eine Heidenangst ein. Ich steckte eine Hand in die Tasche und schaltete mein Handy stumm.
Mum blieb dicht neben mir, als ich Fahrkarten in die Innenstadt kaufte. Ich musterte sie oft und versuchte mit meinem Lächeln zu verbergen, dass ich sie genau im Auge behielt. Manchmal hielt sie meine Hand, was sie nicht mehr getan hatte, seit ich ein Kind war. Ich wollte mich möglichst neutral verhalten, keine vorschnellen Schlüsse ziehen und mir ihre Geschichte unvoreingenommen anhören. Bisher hatte ich nie zu meiner Mutter oder zu meinem Vater halten müssen, weil die beiden mich nie in eine Situation gebracht hatten, in der das nötig war. Alles in allem stand ich meiner Mum ein wenig näher, weil sie stärker in meinen Alltag eingebunden gewesen war. Mein Dad hatte sich immer damit begnügt, sich ihrem Urteil anzuschließen.
Im Zug wählte Mum die hintersten Plätze des Wagens und lehnte sich gegen das Fenster. Auf diesem Platz, wurde mir klar, hatte sie den besten Blick. Niemand konnte sich anschleichen. Sie nahm ihre Umhängetasche auf den Schoß und hielt sie gut fest, wie ein Bote ein lebenswichtiges Paket.
Ich fragte:
»Ist das alles, was du dabeihast?«
Ernst klopfte sie auf die Tasche:
»Das sind die Beweise, dass ich nicht verrückt bin. Beweise für Verbrechen, die vertuscht werden sollen.«
Diese Wörter hatten so wenig mit dem normalen Leben zu tun, dass sie seltsam klangen. Aber meine Mum hatte sie ganz ernst gesagt. Ich fragte:
»Darf ich mal sehen?«
»Nicht hier.«
Sie legte einen Finger an die Lippen, um mir zu zeigen, dass wir in der Öffentlichkeit nicht darüber reden sollten. Die Geste war befremdlich und unnötig. Obwohl wir schon eine halbe Stunde miteinander verbracht hatten, war ich mir über ihren Geisteszustand nicht sicher. Ich hatte gedacht, ich würde sofort erkennen, ob etwas nicht mit ihr stimmte. Sie hatte sich verändert, äußerlich und auch in ihrer Persönlichkeit. Aber ich konnte nicht sagen, ob es daran lag, dass tatsächlich etwas geschehen war, oder ob sich alles nur in ihrem Kopf abgespielt hatte. Das würde stark davon abhängen, was sie aus ihrer Tasche holen würde, welche Beweise sie hatte.
Als der Zug in die Paddington Station einfuhr und wir aussteigen wollten, befiel Mum plötzlich Panik, und sie hielt mich am Arm fest:
»Versprich mir, dass du dir alles, was ich sage, unvoreingenommen anhörst. Mehr will ich gar nicht. Versprich mir das, deswegen bin ich zu dir gekommen. Versprich es mir!«
Ich legte meine Hand auf ihre. Sie zitterte aus Furcht, ich könnte nicht auf ihrer Seite stehen.
»Ich verspreche es.«
Als wir nebeneinander im Fond eines Taxis saßen, die Hände verschlungen wie ein durchgebranntes Liebespaar, fiel mir ihr Atem auf. Er roch schwach metallisch und erinnerte mich an geriebenen Stahl, falls es so etwas gab. Um ihre Lippen zog sich eine schmale blaue Linie, als wäre sie extremer Kälte ausgesetzt gewesen. Meine Mum erriet meine Gedanken, öffnete den Mund und zeigte mir ihre Zunge. Die Spitze war so schwarz wie Sepiatinte. Sie sagte:
»Gift.«
Bevor ich ihre bestürzende Behauptung hinterfragen konnte, schüttelte sie den Kopf und erinnerte mich mit einer Geste Richtung Taxifahrer daran, dass sie nicht offen darüber reden wollte. Ich fragte mich, welche Untersuchungen die Ärzte in Schweden vorgenommen und welche Gifte sie gefunden hatten, falls es überhaupt welche gab. Und vor allem fragte ich mich, wen meine Mum verdächtigte, sie vergiftet zu haben, aber diese Fragen würden warten müssen.
Das Taxi hielt vor meiner Wohnung, nur ein paar hundert Meter von der Stelle entfernt, an der mir gestern Abend die Einkaufstüte heruntergefallen war. Meine Mum hatte mich noch nie besucht, weil ich immer vorgeschoben hatte, ein Besuch von den Eltern sei zu peinlich, wenn man einen Mitbewohner hatte. Keine Ahnung, warum sie mir eine so lahme Lüge abgekauft hatten oder wie ich so etwas überhaupt sagen konnte. Anfangs wollte ich mich noch an meine erfundene Geschichte halten, um meine Mum nicht mit eigenen Offenbarungen abzulenken. Erst vor der Wohnung wurde mir klar, wie offensichtlich es war, dass es nur ein Schlafzimmer gab. Das zweite hatten wir als Arbeitszimmer eingerichtet. Ich schloss die Tür auf und lief vor. Weil meine Mum sich immer die Schuhe auszog, bevor sie eine Wohnung betrat, hatte ich genug Zeit, um die Türen zum Schlafzimmer und Arbeitszimmer zu schließen. Ich ging zu ihr zurück.
»Ich wollte nur sehen, ob jemand zu Hause ist. Aber die Luft ist rein, wir sind allein.«
Meine Mum war erleichtert. Trotzdem blieb sie vor den geschlossenen Türen stehen. Sie hätte gern selbst nachgesehen. Ich legte einen Arm um sie, führte sie nach oben und sagte:
»Außer uns ist niemand hier, versprochen.«
In der offenen Wohnküche, dem Herzstück von Marks Wohnung, war meine Mum vom ersten Blick auf mein neues Zuhause beeindruckt. Mark hatte seinen Stil immer als minimalistisch beschrieben, der Blick auf die Stadt sollte der Wohnung Charakter verleihen. Bis ich einzog, standen kaum Möbel in der Wohnung. Sie wirkte auch nicht stylish, sondern leer und traurig. Mark hatte hier geschlafen und gegessen, aber nicht gelebt. Nach und nach machte ich Vorschläge. Er musste seine Sachen doch nicht verstecken. Man konnte sie aus ihren Kartons holen. Ich beobachtete, wie meine Mum erstaunlich genau nachvollzog, was mein Einfluss war. Sie nahm ein Buch, das sie mir geschenkt hatte, aus dem Regal. Ich platzte heraus:
»Die Wohnung gehört mir nicht.«
Jahrelang waren mir die Lügen leicht und schnell über die Lippen gekommen, aber heute schmerzten sie so wie ein verstauchter Knöchel beim Rennen. Mum nahm meine Hand und bat:
»Zeig mir den Garten.«
Mark hatte die Firma, für die ich arbeite, angeheuert, um einen Dachgarten zu entwerfen und anzulegen. Er hatte behauptet, dass er so etwas schon immer haben wollte, aber tatsächlich war es ein Gefallen für mich, eine Art Mäzenatentum. Meine Eltern hatten sich immer über meine Berufswahl gewundert, sie hatten gedacht, ich würde etwas anderes machen als sie. Beide waren mit sechzehn von der Schule abgegangen, während ich studiert hatte und am Ende fast den gleichen Job machte wie sie ihr ganzes Leben lang, nur mit einer offiziellen Abschlussurkunde und zwanzigtausend Pfund Schulden. Aber ich hatte meine ganze Kindheit zwischen Grünpflanzen und Blumen verbracht, von meinen Eltern den grünen Daumen geerbt, und wenn ich einmal Arbeit bekam, machte sie mich glücklich.
Hier draußen auf dem Dach zwischen den Pflanzen, mit dem Blick auf London konnte man leicht vergessen, dass etwas nicht stimmte. Am liebsten wäre ich ewig hiergeblieben und hätte gemeinsam mit ihr schweigend die Sonne genossen. Aber ich merkte, dass meine Mum sich nicht für den Garten interessierte, sie sah sich den Grundriss des Dachs an, die Feuertreppen, mögliche Fluchtwege. Nach einem Blick auf ihre Uhr wurde sie sehr ungeduldig.
»Wir haben nicht viel Zeit.«
Bevor ich mir ihre Version der Geschichte anhörte, bot ich ihr etwas zu essen an. Mum lehnte höflich ab, sie wollte weitermachen:
»Ich muss dir so viel erzählen.«
Ich bestand darauf. Bei allem, was unklar war, stand eines fest: Sie hatte abgenommen. Ich konnte nicht herausfinden, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte - meine Mum antwortete bei dem Thema nur ausweichend -, also bereitete ich für sie einen Smoothie aus Bananen, Erdbeeren und Honig zu, während sie neben mir stand und zusah.
»Du vertraust mir doch, oder?«
Sie wirkte extrem vorsichtig und misstrauisch, ich durfte nur Obst nehmen, dass sie sich vorher genau angesehen hatte. Um zu zeigen, dass die Mischung ungefährlich war, trank ich davon, bevor ich ihr das Glas reichte. Sie nahm nur einen winzigen Schluck. Als sie meinen Blick aufschnappte, merkte sie, dass die Situation auch ein Test für ihren Geisteszustand war. Ihre Haltung schlug um, und sie trank in langen, hastigen Zügen. Als das Glas geleert war, sagte sie: »Ich muss mal ins Bad.«
Ich befürchtete, sie wollte sich übergeben, aber ich konnte schlecht mitgehen.
»Es ist unten.«
Als sie die Küche verließ, drückte sie die Tasche, die sie die ganze Zeit nicht abgelegt hatte, an sich.
Ich zog mein Handy aus der Tasche und sah über dreißig Anrufe in Abwesenheit von Dad. Ich rief ihn an und flüsterte: »Dad, sie ist hier, es geht ihr gut. Ich kann jetzt nicht reden ...«
Er unterbrach mich: »Warte! Das meiste weißt du noch gar nicht.«
Es war riskant, jetzt mit ihm zu sprechen, und ich hatte Angst, erwischt zu werden. Ich drehte mich um und wollte zur Treppe gehen, damit ich hörte, wenn Mum zurückkam, aber sie war schon wieder oben, stand in der Tür und beobachtete mich. So schnell konnte sie nicht im Bad gewesen sein. Offenbar hatte sie gelogen und sich selbst einen kleinen Test überlegt, um zu sehen, was ich in der Zeit machen würde. Falls es wirklich ein Test war, hatte ich versagt. Sie starrte mich an, wie ich es bei ihr noch nie gesehen hatte. Ich war nicht mehr ihr Sohn, sondern eine Bedrohung - ein Feind. Am Handy sagte mein Dad:
»Daniel?«
Ich saß zwischen beiden in der Klemme. Mum fragte:
»Das ist er, oder?«
Alle Förmlichkeit war verpufft - sie klang vorwurfsvoll und aggressiv. Mein Dad hörte ihre Stimme im Hintergrund:
»Ist sie da?«
Ich konnte mich nicht rühren, ich war so unentschlossen, dass ich wie gelähmt das Handy ans Ohr drückte und Mum ansah. Mein Dad sagte:
»Daniel, es kann sein, dass sie gewalttätig wird.«
Als ich das hörte, schüttelte ich den Kopf - nein, das glaubte ich nicht. Meine Mum hatte noch nie im Leben jemandem wehgetan. Dad irrte sich. Oder er log. Mum kam näher und zeigte auf das Handy:
»Wenn du noch ein Wort zu ihm sagst, gehe ich.«
Während Dads Stimme noch aus dem Hörer drang, unterbrach ich das Gespräch.
Als würde ich ihr eine Waffe aushändigen, streckte ich Mum das Handy entgegen. Meine Stimme kippte, als ich zu meiner Verteidigung erklärte: »Ich habe versprochen, Dad anzurufen, wenn du angekommen bist. Nur damit er weiß, dass es dir gut geht. Genauso, wie ich versprochen habe, dich anzuhören. Bitte, Mum, setzen wir uns doch. Du wolltest mir deine Geschichte erzählen. Ich will zuhören.«
»Die Ärzte haben mich untersucht. Hat er dir das erzählt? Sie haben mich untersucht, haben mir zugehört, und dann haben sie mich gehen lassen. Die Profis haben mir geglaubt. Seine Version der Geschichte haben sie nicht geglaubt.«
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
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Autoren-Porträt von Tom Rob Smith
Tom R. Smith, geb. 1979 als Sohn einer schwedischen Mutter und eines englischen Vaters in London, lebt heute noch dort. Er studierte in Cambridge und Italien und arbeitete anschließend als Drehbuchautor. Mit seinem Debüt 'Kind 44' gelang Tom Rob Smith auf Anhieb ein internationaler Bestseller. Der in der Stalin-Ära angesiedelte Thriller basierte auf dem wahren Fall des Serienkillers Andrej Chikatilo wurde bisher in 30 Sprachen übersetzt. Nach 'Kind 44' und 'Kolyma' schloss der Autor seine Trilogie um den Geheimdienstoffizier Leo Demidow mit dem 'Roman Agent 6' ab.Eva Kemper studierte in Düsseldorf Literaturübersetzen und wohnt und arbeitet in Hattingen/Ruhr. Zu ihren Übersetzungen aus dem Englischen gehören u. a. Werke von Peter Carey, Sara Gruen und Junot Díaz.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tom Rob Smith
- 2013, 1, 384 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Kemper, Eva
- Übersetzer: Eva Kemper
- Verlag: MANHATTAN
- ISBN-10: 3442546788
- ISBN-13: 9783442546787
- Erscheinungsdatum: 14.10.2013
Rezension zu „Ohne jeden Zweifel “
"In ganz seltenen Fällen gelingt einem Autor der Drahtseilakt, einen Spannungsroman zu schreiben, der die Grenzen des Genres weit hinter sich lässt. 'Ohne jeden Zweifel' ist so ein Werk. Ähnlich wie Peter Høegs 'Fräulein Smillas Gespür für Schnee' und John le Carrés 'Ein blendender Spion' choreografiert die Geschichte auf brillante Weise den Zusammenstoß von Gegenwart und Familienhistorie. Tom Rob Smith schlägt hier eine völlig neue Richtung in seinem Schreiben ein, aber seine Erzählkunst ist so fein geschliffen wie nur je in diesem Roman, der zugleich Pageturner und sezierender Blick in das Leben des Protagonisten und seiner Familie ist. Mit seiner innovativen Struktur und seinem einzigartigen Stil ist 'Ohne jeden Zweifel' ein außergewöhnlicher Triumph." -- Jeffery Deaver
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