Oktober und wer wir selbst sind
Roman
Schon Herbst? In Peter Kurzecks viertem Buch seiner großen autobiographisch-poetischen Chronik geht der Erzähler mit Frau und Kind am Bahndamm entlang. Immer auf den Horizont zu und mit den Augen die Ferne suchen. Überall Kinder. Lassen Drachen steigen....
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Produktinformationen zu „Oktober und wer wir selbst sind “
Klappentext zu „Oktober und wer wir selbst sind “
Schon Herbst? In Peter Kurzecks viertem Buch seiner großen autobiographisch-poetischen Chronik geht der Erzähler mit Frau und Kind am Bahndamm entlang. Immer auf den Horizont zu und mit den Augen die Ferne suchen. Überall Kinder. Lassen Drachen steigen. Müssen rennen im Wind. Aber wo sind die Indianerwiesen hin, die noch kürzlich hier waren?Das Jahr 1983. Frankfurt am Main. »Ein Herbst, durch den wir gehen, als sei er ein einziger langer Tag. Man geht und denkt, man weiß genau, wer man ist - und dann kommt man abends heim und das Telefon klingelt.«
Lese-Probe zu „Oktober und wer wir selbst sind “
Oktober und wer wir selbst sind von Peter Kurzeck
Daß also auch dieser wie jeder Sommer, sagst du dir. Mußt du dir sagen. Wider jede Vernunft. Vergangen. Ein Ende. Aus und vorbei. Mit rechten Dingen. Wie kann er vorbei sein? Am Abend Carina ins Bett bringen (jetzt hast du ein Kind) und dann weiter schreiben. Das Jahr 1983. Im Juni vierzig geworden und fristgerecht meine Arbeit verloren, eine unersetzliche Halbtags- Stelle in einem Antiquariat, und mit meinem dritten Buch angefangen. Über das Dorf meiner Kindheit. Staufenberg im Kreis Gießen. Jetzt schreibst du wieder, sagt Sibylle am Abend zu mir.
Du schreibst jeden Tag und dann wirst du bald wieder für drei Jahre zum Gespenst. Diesmal nicht, sagte ich und gleich kam mir vor, als ob sie das seit dem Sommer schon jeden Abend zu mir sagt. Erst noch die späte Sonne ewigkeitsgolden auf den Fenstern, Dächern und Giebeln, dann in den Abend hinein lang prunkvolle Dämmerungen in immer tieferen Farben und jetzt immer länger die Nacht ums Haus. Herbst. Wird jetzt jeden Tag früher dunkel. Carina ist vier. Vor zwei Wochen ihr Geburtstag und dann war sie krank. Ohrenschmerzen, Husten, Fieber, eine Frankfurter Halsentzündung. Naßkalt und jeden Tag Regen. So früh schon der Herbst? Und kein Nachsommer? Kein Nachsommer dieses Jahr? Und dann ist Carina wieder gesund und kann alle Bilderbücher auswendig.
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Nicht nur ihre eigenen, auch die aus der Bibliothek. Schon gestern kein Fiebermehr. Es hat aufgehört zu regnen und am dritten Tag mittagsziehen wir ihr alle warmen Sachen an, die wir für sie haben. Strumpfhosen, Wollsocken, eine polizeigrüne Mantelstoffhose. Von Pascale einen selbstgestrickten bunten Pullover (alle Lieblingsfarben in diesem einen Pullover!). Sind die Schuhe nichtschon zu klein? Eine dicke rote Bommelmütze wie für eine Schneeballschlacht in einem Bilderbuch. Und zum ersten mal nach dem Sommer auch wieder ihren Anorak. Aus dem Second- handladen. Erst mußten wir die Ärmel umschlagen, so groß. Und jetzt kann man froh sein, wenn er noch eine Weile paßt. Grün und ein buntes Zierbörtchen mit einem Indianermuster. Eher noch ein Eskimomuster. Magische Zeichen. Sibylle eine rote Cordhose und einen dicken bunten Pullover. Und bückt sich und bindet Carina von sich einen Schal um. Ein großes indisches Tuch. Blau? Hellblau? Türkis und mit Silberfäden.
Damit man auch an trüben Tagen die Ferne nicht aus den Augen verliert. Und für sich selbst auch so ein indisches Tuch, ein gelbes. Gelb oder orange? Gelb, aber mit hellroten Kringeln. Eine Schrift, eine fremde Schrift. Große bunte Tücher und leicht wieder Wind. Dann an einem türkischen Obststand auf der Leipziger Straße jeder einen Apfel. Zum Aussuchen. Rot oder gelb oder grün? Und jetzt haben wir die Farben beisammen für einen Herbstspaziergang. Jetzt kommt die Sonne durch. Seit Tagen, seit Wochen zum ersten mal. Eine blasse Herbstmittagssonne. Und statt am Ende der Leipziger Straße umzukehren, gehen wir immer weiter. Gehen bis zu dem alten Weg bei den Schrebergärten am Bahndamm. Pfützen auf dem Weg. Am Bahndamm mannshoch das Gras. Gras, Rainfarn, Brennnesseln, Disteln, Ginster, Hagebutten, Weißdorn und Schlehen. Und Brombeerhecken.
Die letzten Brombeeren. Die letzten und dann die allerletzten. Der Sommer, sagte ich zu Sibylle und Carina, wißt ihr den Sommer noch? Vor uns her fliegen Vögel auf, kleine Vögel, die schnelldurch die Luft schwirren. Und Elstern am Weg. Halten Abstand und bleiben doch in unserer Nähe. Wüßten gern, was wir hierwollen, die Elstern. Den Taunus sieht man und Wolkenschattenüber dem Taunus. Und wenn man sich umdreht - die Stadt. Am Horizont, als ob sie uns nachkommen will. Vorläufig zum Stehen gekommen. Wir auch. Am Rand der bewohnten Welt. Hätten auf diesem Weg auf die Ginnheimer Wiese, hätten an Ginnheim und Eschersheim vorbei und immer weiter den Bahndamm entlang gehen können. Masten, Leitungsdraht, Vögel. Die Elstern. Immer wieder S-Bahnen und Eisenbahnzüge an uns vorbei. Manchmal ein Dröhnen. Die Autobahn, Flug- zeuge. Bei Bonames Pferdeweiden, die Nidda, ein Teich. Wie auf einem alten Bild liegt Bonames in den Wiesen. Hinter Har- heim und Berkersheim Obstgärten, Felder, der Wind. Wieder Herbst. Und weit weg Kinder. Lassen Drachen steigen. Müssen rennen im Wind.
Rennen mit den Drachen am Rand des Himmels entlang. Und lassen sich dann von den Drachen mit in die Luft ziehen. Hoch hinauf. Bis in die Wolken. Sollten nicht zu weit, sagt Sibylle. Carinas erster Tag. Lieber bald umkehren! Wolken ziehen. Wieder die Sonne. Ist eben ein Zug vorbei? Wir stehen in der Sonne. Auf einmal wie taub. Umso deutlicher gleich das Bild. Steppengras, Stadtrand- und Bahndammgestrüpp. Herbstfarben. Alles schwankt, alles weht. Gelb, braun und schwarz. Von der Zeit und vom Sommer verbrannt. Die ganze vernarbte zerschlagene Landschaft, jedes Blatt, jeder Halm, jeder Stein fängt in der Sonne zaghaft zu lächeln an. Zaghaft, verhärmt und schief und doch wie die Sonne selbst. So hell ist das Licht, daß wir alle drei blinzeln. Erst blinzeln und dann die Augen schmal. Wie Eskimos, wie Mongolen. Das Gras weht, die Halstücher flattern. Ein Herbstbild. An Carinas Anorak das Börtchen mit dem Eskimomuster und wie die Farben leuchten. Als sei die Zeit angehalten! Als ob das Muster uns etwas sagen will! Und dann unser Heimweg. Zurück in die Stadt.
Die Elstern mit bis zu den ersten Häusern. Vor ein paar Jahren noch konnte man hinter den Schrebergärten über Wiesen, die aussahen, als ob sie keinem gehören. Niemandsland, Steppe, Prärie. Indianerland für die Kinder von Bockenheim, Ginnheim und vom Industriehof. Indianerland und zum Ball- spielen auch. Und damit sie den Taunus sehen und die Jahreszeiten. Und stehen und müssen dem Wind und den Zügen nachsehen. Den Zügen, den Vögeln, den Wolken nach mit dem Blick. Und beim Spielen sich heiser schreien wie die Krähen. Und ein Feuerchen machen, damit sie wissen, wie man ein Feuerchen macht und Kartoffeln brät in der Asche. Ein Stück Brot, einen Apfel mit. Und erst in der Dämmerung heim. Heim im Dunkeln. Sogar bis aus Hausen und Eschersheim sind die Kinderhierher auf die Wiesen gekommen. Und jetzt sind da Sportplätze. Rasen, Kieswege, Verbotsschilder, Tafeln, Nummern, ein Tennisplatz, eine Aschenbahn, Flutlicht und Drahtzäune, die ein Vermögen kosten. Alles zu. Abgeschlossen und unbetretbar. Und der Wassergraben?
Ein Rinnsal, lebendig, ein Bach. Frösche drin. Kaulquappen. Sogar Riedgras und Schilf und Binsen. Und ist weg. Unauffindbar. Zugeschüttet, erwürgt oder unter- irdisch. Für immer in einem Kerker. Auf dem Heimweg noch Milch und Obst kaufen und in die Zweigstelle der Stadtbibliothek. Neue Bilderbücher für Carina(sie sucht sie sich selbst aus!). Sehen ob sie in der Bibliothek nicht endlich die Jahrestage 4 bekommen haben und den dritten Band von Studs Lonigan von Farrell. Und weil wieder Oktober ist, die Gedichte von Dylan Thomas glücklich mit heim. Sein Geburtstagsgedicht. Und am Abend den Tag als Bild. Mit Eifer, mit Buntstiften. Carina vier Jahre alt. Zwei Wochen nach ihrem Geburtstag. Der erste Tag, als sie wieder ganz gesund. Alles mit auf das Bild drauf. Auch nicht die Herbstfelder hinter dem Horizont vergessen. Feldwege, Böschungen, kleine Straßen zwischen den Autobahnen. Wiesen mit Kühen und Pferden. Die Kirchtürme von Bonames, von Berkersheim und Bad Vilbel. Und die Kinder, die mit ihren Drachen hoch durch die Luftsegeln. Sind die Herbstferien schon vorbei? Oder kommen erst noch, aber sowieso viel zu kurz. Hoch in den Wolken die Kin- der. Den Main sehen sie, den Rhein und die Donau.
Das Königreich Böhmen. Die Alpen, den Balkan, den Bosporus - und dahinter das ganze Land bis nach Indien und China. Und ganz weit hinten chinesische Kinder mit chinesischen Mützen und chinesischen Drachen. Und haben auch bunte Börtchen an ihren Jacken. Die auch mit aufs Bild. Carinas rote Bommelmütze - und mal auch den Wind! Der Wind, der geht schwer. Der Wind und die Wolken und Wolkenschatten. Muß alles mit auf das Bild. Abend. Alle Lampen an. Sibylle in Pullover und Strumpfhose. Beißt in einen Apfel. Gute Äpfel, sagt sie. Könnten noch Bratäpfel machen, wenn Carina lang aufbleibt und du nicht gleichwieder zu schreiben anfängst. Ein Kirschenjahr war es auch, sagte ich. Herbst, Abend, Nacht ums Haus und die Heizung summt. Buntstifte. Bleistiftspitzer. Hell das Licht. Carina neben mir auf dem Sessel. Schon im Schlafanzug (ein Schlafanzug mit Marienkäfern), schon seit zwei Stunden im Schlafanzug und kein bißchen müde. Halb auf meinem Schoß. Schwebt über dem Bild. Und Peta, mal auch das Häschen dazu, sagt sie und hat zum ersten Mal abends keinen Husten mehr. Das Häschen, was einmal da weggerannt ist, wie wir es noch schnell gesehen haben. Aber das war doch schon vor Ostern, sagte ich. Ja, sagt sie und kommt zwecks Überzeugungskraft mit ihrem Gesicht ganz nah an mein Gesicht.
Ja, soll aber trotzdem mit drauf! Mal drei Häschen, Peta. Und sie sollen aber nicht wegrennen. Sollst sie malen, wie wenn sie zu uns hingucken alle drei. Wie wenn sie am liebsten gleich kommen wollen! Abend. Eine Dachwohnung mit großen Fenstern. In Frankfurt am Main in Bockenheim in der Jordanstraße. Zwei Zimmer, Bad, Flur, eine Stehküche. Vierter Stock. Kein Balkon. Schräge Wände. Sind letzten Sommer vor fünf Jahren hier eingezogen, Sibylle und ich. Carina ist hier geboren. Als wir einzogen, kam die leere Wohnung mir riesengroß vor. Hell und weit. Und ist seither um uns her immer niedriger, enger und kleiner geworden. Paßt bald schon kein einziges weiteres Buch mehr hinein. Und die Fenster in Wirklichkeit längst nicht so groß wie ich sie mir immer ausdenke. Am Abend zu dritt in unserem großen Zimmer. Carina spricht mit den Buntstiften. Sagt jedem Buntstift seine Farbe als Namen. Große alte Sessel aus grauem Samt. Teppiche. Eine rote Stehlampe. Rote Vorhänge an den Fenstern. Sibylle macht die Vorhänge zu. Von Fenster zu Fenster. Auf Zehenspitzen. Als ob sie tanzt. Und ich muß ihr zusehen dabei. Bald jetzt, Ende Oktober, sind es neun Jahre, seit wir uns kennen. Am Abend wird es still in der Jordanstraße. Erst recht, wenn der Sommer vorbei ist. Je später es wird, umso stiller. Ein Herbstabend. Unsere Stimmen. Und auf dem Dachboden fängt sich der Wind. Wieder Oktober. Du kommst aus dem Haus. Am Morgen, noch früh.
Die Straße ist naß. Du kommst aus dem Haus und musst stehenbleiben, so riecht es nach Herbst. Das abgefallene Laub. Gerade eben hast du aus der Nacht deinen Traum noch gewusst und jetzt ist er weg. Du spürst noch, wie er sich entfernt. Ein Luftzug, ein Vorhang, der sich bewegt. Flügel, die sich sacht regen, die Schatten von Flügeln, und dann ist er gegangen. Weg für immer. Die Tür fällt hinter dir zu. Man kommt aus dem Haus. Das Leben ist fremd. Wo ist die Nacht hin? hat Carina einmal morgens vor der Haustür gefragt. Und fragt es seither jeden Morgen in meinem Gedächtnis. Morgens jetzt nicht mehr wie früher zur Arbeit ins Antiquariat, sondern mit Carina in den Kinderladen. Und wollen uns Zeit lassen unterwegs. Der Weg läßt sich Zeit. Erzähl, sagt Carina gleich bei der Haustür zu mir und muß an meiner Hand zerren. Erzähl! Oder ist schon auf der Treppe eigenständig ins Trödeln und Träumen geraten. Die Jordan-, die Merton-, die Dantestraße. Und ab und zu komm sagen, komm! Wollen gern über den Campus, aber auch an der Warte vorbei, mein Kind und ich. Am liebsten beides. Es geht auch. Man kann durch die Homburger und die Adalbertstraße zur Warte und dann auf den Campus oder erst durch die Jordanstraße zur Uni und über den Campus zur Warte - nur gleichzeitig beide Wege geht nicht. Wind auf dem Campus.
Der Brunnen rauscht. Tropfen sprühen. Der Wind nimmt die Tropfenmit. An der Warte ein Taxistand. Haltestellen. Ein Gedränge von Straßenbahnen. Du hast keine Uhr mit, schon fünf und- zwanzig Jahre hast du keine Uhr mit und doch - von allen Seitensehen die Uhren dich an. Zeitungsverkäufer. Der heutige Tag. Bücherstände an der Uni. Eine Blumenfrau aus der Wetterau. Ein Inder baut einen Schmuckstand auf. Er grüßt uns seit anderthalb Jahren und vielleicht werden wir einmal zwei Kinderohr- ringe bei ihm kaufen. Vor uns auf dem Gehsteig mit Uhrwerk- schritten die städtischen Gehsteigtauben. Sollen wir jetzt (in Gedanken woanders) die Bockenheimer Landstraße entlang oder an der Christuskirche aus schwarzen Steinen vorbei und durch den Morgenfrieden der Schwindstraße, als hätten wir einen rechtmäßigen Anteil daran. Als stünde dieser Anteil uns jeden Tag zu. Oder stehen immer noch vor der Haustür und müssen grübeln, was wir vergessen haben. Jeden Morgen in den Kinderladen, als ob man immer wieder durch den eigenen Kopf sich umständlich einen Weg suchen muß. Ein paar Jahre lang in den Kinderladen und ein paar Jahre heim. Drei Bäckerläden am Weg. Croissants und Karlsbader Hörnchen, Rosinenbrötchen, Apfeltaschen und Vanillekringel. Eigentlich kaufen wir uns so kurz nach dem Frühstück nichts beim Bäcker. Schon gar nichts Süßes. Man kann nicht immer nur Kuchenessen. Und wollen auch nicht auf der Straße. Im Gehen. Wenn der Kinderladen schon auf uns wartet. Und denk auch an die Preise. Das Geld. Auch aus Prinzip nicht. Also dem Keinem fall, sagt Carina.
Stellt sich den keinem Fall vielleicht als kugelrundengrauen Mann vor, der es manchmal schafft, einem schnell etwas Gutes wegzunehmen, noch bevor man es hat. Also dem Keinem Fall, sagt sie und weiß Bescheid. Aber manchmal dann eben doch. Muß man jedes Mal ausnahmsweise sagen. Und dann gleich ernsthaft zu sparen anfangen, gleich nach dem Einkauf. Da kaut man dann schon. Croissants kennt Carina aus Frank- reich. Muß man weißt du noch sagen und aufzählen, welche die besten waren. In Marseille, in Martigues, in Barjac. In Arles und in Saintes-Maries. Es gibt mehrere beste. Im Sommer im Süden die Morgen. Noch früh und die Hunde gehen über den Markt. Durch die ganze Stadt gehen sie und sehen in den Kneipen nach, ob jemand drin ist, den sie kennen, Mensch oder Hund. Und ob Zuckerwürfel heruntergefallen sind. Bei eingepackten fressen sie gern die bunten Papierchen mit. Nimm auch ein Karlsbader Hörnchen! Wie könnte ich ein Karlsbader Hörnchen essen, ohne an Karlsbad, an Franzensbad, an Marienbad und an mich als Kind und an meine Mutter zu denken. Muß man erzählen(mit vollem Mund) und kann nicht auf die Krümel achten. Wir müßten gleich hinfahren, sagte ich zu Carina.
Nur erst noch Sibylle abholen und gleich los! Es ist nicht richtig, daß wir jetzt nicht hinfahren. Apfeltaschen als Kind schon gern. Die gibt es in vielen Ländern. Sind anders bei jedem Bäcker. Deshalb muß man sie überall immer wieder probieren und sich alle merken. Die Ladentürglöckchen bei den Bäckern auch immer anders. Die schönsten Ladentürglöckchen gibt es in Holland. Gerade an so einem Herbstmorgen, wenn die Luft kühl und feucht ist, das Pflaster glänzt und der Tag nicht recht anfangen will (nicht weiß, wie er anfangen soll), gerade dann locken uns die Bäckerläden mit ihrem Honiglicht und der Kuchenbackwärme und mit ihrem guten alten Kindheitsgeruch nach frischem Brot und nach Zimt und Vanille. In jedem Bäckerladen eine Uhr an der Wand. Morgenstraßen. Die Herbstluft. Ein Morgen voller Uhren und Ladentürglöckchen. An der nächsten Ecke unser Morgenbriefträger. Immer gefällig und freundlich. Und mit wem steht er da? Zwei bessere Witwenaus der Jungstraße. Die eine mit einem kostbaren frisierten Hündchen.
Lebendig das Hündchen? Lebendig. Die andere ein zuverlässiges Einkaufswägelchen als hilfreichen treuen Begleiter. Beide Damen mit Hut. Zum Einkaufen auf die Leipziger Straße. Zeitig dran. Lebenserfahrung. Hut, Halstuch, Handtasche, Parfüm, Perlenkette und Pelzjacke. Die mit dem Einkaufswägelchen würde am liebsten ausführlich von ihrem Blutdruck jetzt. Blutdruck, Herz, Kreislauf und was der Arzt dazu sagt. Und die mit dem Hündchen von ihrer Brautzeit. Verlobung Mai 1928. Drei Jahre mit Anstand verlobt, dann die Hochzeit. Solche Hochzeiten gibt es heutzutage nicht mehr. Aber jetzt stehen sie hier in der naßkalten grauen Gegenwart mit dem heutigen Morgenbriefträger. Nachrichten aus der Nachbarschaft. Wirtschaft, Sport, Weltpolitik. Da kennt der Briefträger sich überall aus. Und läßt sich auch nicht gern dreinreden. Von keinem. Dienstmütze. Eifer. Steht breitbeinig auf dem Gehsteig. Genau da, wo im Sommer von Mai bis September um diese Uhrzeit hell und warm die Morgensonne hinkommt, jetzt aber nicht mehr. Dienstmütze im Nacken. Als Frankfurter Briefträger und Sportsmannbraucht er das ganze Jahr keinen Mantel. Steht und spricht und breitet die Arme aus, als käme er in einem Buch vor, in dem ihm und der Welt und den Menschen ganz einfach in Ewigkeit nichts geschehen kann. Was ist? sagte ich zu mir selbst.
Warum er- schrickst du gleich so? Obwohl du hier mit deinem Kind gehst! Den Briefträger grüßen, als sei nichts geschehen. Jetzt siehst du, der Karren ist doch kein Einkaufswägelchen, sondern der amtliche Karren des Briefträgers. Keine Post heute! Wer weiß, was er da alles drin hat und mitfährt in seinem amtlichen Karren? Erst dann im Mai wieder jeden Morgen die Sonne hier an der Ecke auf dem städtischen Gehsteig. Manchmal morgens Sibylle ein Stück mit uns mit. Bis zur Haustür. An der Haustür der Abschied und dann noch mit bis an die Ecke der Homburger Straße. Mitgehen, dann winken und dann nochmal angerannt kommen und noch eine Ecke weiter mit. Oder schon mit dem Fahrrad. Carina auf dem Kindersitz (ein besonderer Kindersitz, nach dem wir lang suchen mußten: der einzig richtige!). Sowieso nimmt Sibylle Carina manchmal auf dem Fahrrad mit. Schnell wie der Wind, sagt Carina dann mit Begeisterung.
Aber Vorsicht mit Hals und Ohren. Anorak, Halstuch, Mütze und Kapuze. Richtig zu den Anorak und das Halstuch fest um die Kapuze herum. Und nur nicht zu schnellfahren. Aber jetzt, weil der Herbst so früh kam in diesem Jahr und Carina gerade erst krank war, jetzt wollen wir lieber nur schieben. Gerade in Frankfurt muß man aufpassen, daß die Kin- der nicht den halben Winter erkältet sind. Sibylle schiebt, die Radnaben surren. Carina stumm und andächtig hoch auf ihrem Zauberfahrzeug mit Klingel und Silberspeichen. Zwischen Sonne und Mond entrückt eine Bahn durch den Tag. Und Sibylle und ich bis zum Kinderladen nebeneinander her und müssen den ganzen Weg miteinander sprechen. Müssen uns ansehen, als ob wir uns eben erst, als ob wir uns noch einmal kennenlernen oder wie man sich nach Jahren unverhofft wieder begegnet. Herbst. Ein Herbstmorgen. Mit oder ohne Fahrrad an der Warte vorbei und der Schmuckstandinder freut sich, daß er uns wieder einmal alle drei zusammensieht. Gern bereit, uns seinen Schmuck vor- zuführen. Jederzeit. Selbstredend unverbindlich. Die gesamte Kollektion. Auch wenn von vornherein feststeht, daß wir vor- erst vorläufig nichts kaufen. Sein Stand ist ein Tapeziertisch mit einem nachtschwarzen Tuch drüber. Aber zum Vorführen der Kollektion hat er noch extra ein Stück sommernachtblauen Kollektionsvorführsamt. Halb so groß wie die Bildzeitung. Begeisterung auch. Selbst wenn wir frühestens in einigen Jahren eine Anschaffung in Erwägung ziehen sollten.
Zwei Kinderohrringe oder auch nur einen - er gibt sie auch einzeln ab - ein einzelner einzeln ist auch sehr apart. Ein Inder mit Turban und Taschenrechner. Bei der Vorführung wird er zum Magier. Je nach Wunsch kann man die Ohrringe bei ihm mit Nadel und Sicherheitsverschluß oder mit einem praktischen Clip. Falls noch kein Loch im Ohr. Er zeigt uns beides. Er zeigt uns gern auch die Zauberzange mit der er wahlweise Clip oder Nadelnd wie es gemacht wird. Die Nadel sind aus Silber. Silber ist gut für die menschlichen Ohren. Ob Clip oder Nadel, das kann man beim Kauf dann im letzten Moment noch entscheiden. Auch nachträglich mehrfach noch ändern lassen. In einigen Jahren also. Bis dahin finden wir ihn mit seinem Stand jeden Werktaghier an der Uni. Er freut sich immer, wenn er uns sieht. Wir sollen uns nur jederzeit an ihn wenden. Und wenn wir in Zukunft, in einer fernen Zukunft wirklich einmal einen Ohrring bei ihm kaufen sollten oder ein Halskettchen, Ohrring, Halskettchen, Armband, Fingerring, Brosche oder nur für ein schon vorhandenes Halskettchen massiv ein kleines silbernes Herz, dann gibt er uns natürlich Rabatt, weil er uns dann in dieser Zukunft ja schon jahrelang kennt. Und dann auf der Bockenheimer Landstraße. Entweder alle drei oder nur Carina und ich. Noch der gleiche Morgen.
Ein Werktag, trüb und grau. Herbstlaub, Kastanien. Von allen Seiten die Autos. Immer mehr Bettler auch, Bettler, Säufer und Penner. An der Warte, auf dem Campus, in der Leipziger Straße. Vor den Kaufhäusern. Beim Plus, beim Penny, beim Aldi am Eingang. An allen Bier- und Schnapsbüdchen. Jeden Tag mehr oderkommt es dir nur so vor, weil du einmal angefangen hast, darauf zu achten? Weil du selbst deine Arbeit verloren hast? Weil du jeden Tag mehrmals, weil du immer wieder hier gehst? Mit fünf- zehn mein erstes Glas Wein und dann einundzwanzig Jahre lang nicht mehr nüchtern geworden. Und jetzt, auch wenn du schonlang nicht mehr trinkst, ein Säufer, der aufgehört hat, jetzt siehst du dich immer noch in jedem von ihnen. Siehst dich bei ihnen stehen und trinken und torkeln (die Erde dreht sich) und im Suff räsonieren, weil man im Suff sein Leben lang recht hat. Eine Flasche. Wenigstens noch einen Flachmann. Den letzten Schluck. Weinbrand, Korn, Rumverschnitt.
Und dann die nächste Flasche. Vor viereinhalb Jahren zu trinken aufgehört und das kommt dir noch nicht so lang her vor. Immer noch der gleiche graue Herbstmorgen. Erst Anfang, dann Mitte Oktober. Und jetzt sagt Sibylle zu mir: Ich kann doch Carina morgens auch wieder mitnehmen. Fast der gleiche Weg und du hast mehr Zeit zum Schreiben. Oder hat es schon im August und September immer wieder zu mir gesagt und wiederholt es seither jeden Tag in meinem Gedächtnis. Nein- nein, sagte ich schnell zu Sibylle, auch wenn sie jetzt nicht mehrneben mir geht. Nein, laß mich nur! Muß sowieso morgens aus dem Haus. Muß das Wetter spüren und die Luft kosten. Muß sehen, was aus der Stadt und aus mir und den Bettlern, Säufern und Pennern wird. Und mit Carina in den Tag hinein jeden Morgen und die angefangenen Geschichten alle weiter. Und sehen, welche neuen Geschichten dazu kommen und wo sie uns hinführen. Und jetzt ist Carina neben mir aufgewacht. Im Gehen aufgewacht. Zurückgekehrt aus ihrer Morgengrübelei.
Nimmt meine Hand und sagt: Erzähl, Peta! Erzähl, wie du einmal noch klein warst und ihr habt die Äpfel heimgeholt! Und weil, sagte ich in Gedanken zu Sibylle (und sah mich wieder als Kind in der Dämmerung übers Feld gehen. Auf das Dorf zu. Der Herbst vor der Währungsreform). Weil ich, sagte ich zu ihr und auch zu mir selbst, weil ich sonst immer morgens zur Arbeit gehen mußte. Seit ich vierzehn war. Geld verdienen, statt bei mir selbst sein und schreiben. Seit wann weiß ich das denn, daß der Kinder- laden einer der schönsten Plätze auf der Welt ist und immer, wenn ich hinkomme, bin ich in Eile. Aber will trotzdem immer wieder hinkommen, damit ich dann später weiß, daß ich dort gewesen bin. Damit ich ihn dann wenigstens in meinem Gedächtnis wiederfinde. Selbstgemacht. Illegal. In Frankfurt am Main im Westend ein Kinderladen in einem besetzten Haus. Eben noch kaum erst halb neun und jetzt geht es schon auf zehn.
Durch den Morgen, Carina und ich. Ganz nah schon der Kinderladen, kommt uns entgegen. Merk dir jeden Farbfleck, die Kinder, die Mützen, die Jacken, das Datum, das Spielzeug, den Tag und was du dir dabei gedacht hast. Nicht auf die Tennisbälle treten, die hier überall rumliegen! Ist die Heizung an? Geht die Heizung überhaupt? Dick gelbe Farbe an den Wänden, als sei immer noch Sommer. Kannst du mir die Jacke ausziehen? Sagt die Milena zu mir. Der Reißverschluß geht nicht auf und meine Mama ist schon wieder weg. Meine Mama hat Geld gewonnen, sagt die Meike. Der David ist noch nicht da. Der Domi zeigt mir ein braunes Playmobil-Pferd mit Sattel. Oktober. Ein Werktag. Müde Kinder, die sich am Morgen beeilen mußten. Eilige müde Eltern. Bezugspersonen, Betreuer, die Elterndienstliste, die Putz- dienstliste, die Wer-noch-nicht-bezahlt-hat-Liste für August, für September und für Oktober. Gleich zehn.
Und wie Carina dir nochmal winkt und schon weiß, was sie macht, wenn du weg bist. Das nimmst du alles im Kopf mit. Mit Carina in den Kinderladen, sie hinbringen und dann schnell heim. Zigaretten, Notizzettel, Kugelschreiber. Im Gehen schon zu schreiben anfangen. Viele Stimmen im Kopf. Eine Uhr schlägt. Entweder die Markuskirche zwei Straßen weiter oder aus deiner Kindheit der steingesichtige alte Stadtturm in Staufenberg. Zehn Uhr morgens. Autos hupen. Kühl und feucht ist die Luft. Man kann den Herbst auf der Haut spüren. Daß mit der Post keine Post kommt, heißt noch nicht, daß man gerettet ist. Auch nicht diesen einen einzigen Tag. Heim und gleich weiterschreiben. Mein drittes Buch. Arbeitslos. Mit vierzehn zu arbeiten angefangen und jetzt zum ersten mal arbeitslos. Noch bei keinem Buch hat die Sprache mich so sehr gepackt, wie bei diesem - oder denkst du das jedes- mal wieder?
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Nicht nur ihre eigenen, auch die aus der Bibliothek. Schon gestern kein Fiebermehr. Es hat aufgehört zu regnen und am dritten Tag mittagsziehen wir ihr alle warmen Sachen an, die wir für sie haben. Strumpfhosen, Wollsocken, eine polizeigrüne Mantelstoffhose. Von Pascale einen selbstgestrickten bunten Pullover (alle Lieblingsfarben in diesem einen Pullover!). Sind die Schuhe nichtschon zu klein? Eine dicke rote Bommelmütze wie für eine Schneeballschlacht in einem Bilderbuch. Und zum ersten mal nach dem Sommer auch wieder ihren Anorak. Aus dem Second- handladen. Erst mußten wir die Ärmel umschlagen, so groß. Und jetzt kann man froh sein, wenn er noch eine Weile paßt. Grün und ein buntes Zierbörtchen mit einem Indianermuster. Eher noch ein Eskimomuster. Magische Zeichen. Sibylle eine rote Cordhose und einen dicken bunten Pullover. Und bückt sich und bindet Carina von sich einen Schal um. Ein großes indisches Tuch. Blau? Hellblau? Türkis und mit Silberfäden.
Damit man auch an trüben Tagen die Ferne nicht aus den Augen verliert. Und für sich selbst auch so ein indisches Tuch, ein gelbes. Gelb oder orange? Gelb, aber mit hellroten Kringeln. Eine Schrift, eine fremde Schrift. Große bunte Tücher und leicht wieder Wind. Dann an einem türkischen Obststand auf der Leipziger Straße jeder einen Apfel. Zum Aussuchen. Rot oder gelb oder grün? Und jetzt haben wir die Farben beisammen für einen Herbstspaziergang. Jetzt kommt die Sonne durch. Seit Tagen, seit Wochen zum ersten mal. Eine blasse Herbstmittagssonne. Und statt am Ende der Leipziger Straße umzukehren, gehen wir immer weiter. Gehen bis zu dem alten Weg bei den Schrebergärten am Bahndamm. Pfützen auf dem Weg. Am Bahndamm mannshoch das Gras. Gras, Rainfarn, Brennnesseln, Disteln, Ginster, Hagebutten, Weißdorn und Schlehen. Und Brombeerhecken.
Die letzten Brombeeren. Die letzten und dann die allerletzten. Der Sommer, sagte ich zu Sibylle und Carina, wißt ihr den Sommer noch? Vor uns her fliegen Vögel auf, kleine Vögel, die schnelldurch die Luft schwirren. Und Elstern am Weg. Halten Abstand und bleiben doch in unserer Nähe. Wüßten gern, was wir hierwollen, die Elstern. Den Taunus sieht man und Wolkenschattenüber dem Taunus. Und wenn man sich umdreht - die Stadt. Am Horizont, als ob sie uns nachkommen will. Vorläufig zum Stehen gekommen. Wir auch. Am Rand der bewohnten Welt. Hätten auf diesem Weg auf die Ginnheimer Wiese, hätten an Ginnheim und Eschersheim vorbei und immer weiter den Bahndamm entlang gehen können. Masten, Leitungsdraht, Vögel. Die Elstern. Immer wieder S-Bahnen und Eisenbahnzüge an uns vorbei. Manchmal ein Dröhnen. Die Autobahn, Flug- zeuge. Bei Bonames Pferdeweiden, die Nidda, ein Teich. Wie auf einem alten Bild liegt Bonames in den Wiesen. Hinter Har- heim und Berkersheim Obstgärten, Felder, der Wind. Wieder Herbst. Und weit weg Kinder. Lassen Drachen steigen. Müssen rennen im Wind.
Rennen mit den Drachen am Rand des Himmels entlang. Und lassen sich dann von den Drachen mit in die Luft ziehen. Hoch hinauf. Bis in die Wolken. Sollten nicht zu weit, sagt Sibylle. Carinas erster Tag. Lieber bald umkehren! Wolken ziehen. Wieder die Sonne. Ist eben ein Zug vorbei? Wir stehen in der Sonne. Auf einmal wie taub. Umso deutlicher gleich das Bild. Steppengras, Stadtrand- und Bahndammgestrüpp. Herbstfarben. Alles schwankt, alles weht. Gelb, braun und schwarz. Von der Zeit und vom Sommer verbrannt. Die ganze vernarbte zerschlagene Landschaft, jedes Blatt, jeder Halm, jeder Stein fängt in der Sonne zaghaft zu lächeln an. Zaghaft, verhärmt und schief und doch wie die Sonne selbst. So hell ist das Licht, daß wir alle drei blinzeln. Erst blinzeln und dann die Augen schmal. Wie Eskimos, wie Mongolen. Das Gras weht, die Halstücher flattern. Ein Herbstbild. An Carinas Anorak das Börtchen mit dem Eskimomuster und wie die Farben leuchten. Als sei die Zeit angehalten! Als ob das Muster uns etwas sagen will! Und dann unser Heimweg. Zurück in die Stadt.
Die Elstern mit bis zu den ersten Häusern. Vor ein paar Jahren noch konnte man hinter den Schrebergärten über Wiesen, die aussahen, als ob sie keinem gehören. Niemandsland, Steppe, Prärie. Indianerland für die Kinder von Bockenheim, Ginnheim und vom Industriehof. Indianerland und zum Ball- spielen auch. Und damit sie den Taunus sehen und die Jahreszeiten. Und stehen und müssen dem Wind und den Zügen nachsehen. Den Zügen, den Vögeln, den Wolken nach mit dem Blick. Und beim Spielen sich heiser schreien wie die Krähen. Und ein Feuerchen machen, damit sie wissen, wie man ein Feuerchen macht und Kartoffeln brät in der Asche. Ein Stück Brot, einen Apfel mit. Und erst in der Dämmerung heim. Heim im Dunkeln. Sogar bis aus Hausen und Eschersheim sind die Kinderhierher auf die Wiesen gekommen. Und jetzt sind da Sportplätze. Rasen, Kieswege, Verbotsschilder, Tafeln, Nummern, ein Tennisplatz, eine Aschenbahn, Flutlicht und Drahtzäune, die ein Vermögen kosten. Alles zu. Abgeschlossen und unbetretbar. Und der Wassergraben?
Ein Rinnsal, lebendig, ein Bach. Frösche drin. Kaulquappen. Sogar Riedgras und Schilf und Binsen. Und ist weg. Unauffindbar. Zugeschüttet, erwürgt oder unter- irdisch. Für immer in einem Kerker. Auf dem Heimweg noch Milch und Obst kaufen und in die Zweigstelle der Stadtbibliothek. Neue Bilderbücher für Carina(sie sucht sie sich selbst aus!). Sehen ob sie in der Bibliothek nicht endlich die Jahrestage 4 bekommen haben und den dritten Band von Studs Lonigan von Farrell. Und weil wieder Oktober ist, die Gedichte von Dylan Thomas glücklich mit heim. Sein Geburtstagsgedicht. Und am Abend den Tag als Bild. Mit Eifer, mit Buntstiften. Carina vier Jahre alt. Zwei Wochen nach ihrem Geburtstag. Der erste Tag, als sie wieder ganz gesund. Alles mit auf das Bild drauf. Auch nicht die Herbstfelder hinter dem Horizont vergessen. Feldwege, Böschungen, kleine Straßen zwischen den Autobahnen. Wiesen mit Kühen und Pferden. Die Kirchtürme von Bonames, von Berkersheim und Bad Vilbel. Und die Kinder, die mit ihren Drachen hoch durch die Luftsegeln. Sind die Herbstferien schon vorbei? Oder kommen erst noch, aber sowieso viel zu kurz. Hoch in den Wolken die Kin- der. Den Main sehen sie, den Rhein und die Donau.
Das Königreich Böhmen. Die Alpen, den Balkan, den Bosporus - und dahinter das ganze Land bis nach Indien und China. Und ganz weit hinten chinesische Kinder mit chinesischen Mützen und chinesischen Drachen. Und haben auch bunte Börtchen an ihren Jacken. Die auch mit aufs Bild. Carinas rote Bommelmütze - und mal auch den Wind! Der Wind, der geht schwer. Der Wind und die Wolken und Wolkenschatten. Muß alles mit auf das Bild. Abend. Alle Lampen an. Sibylle in Pullover und Strumpfhose. Beißt in einen Apfel. Gute Äpfel, sagt sie. Könnten noch Bratäpfel machen, wenn Carina lang aufbleibt und du nicht gleichwieder zu schreiben anfängst. Ein Kirschenjahr war es auch, sagte ich. Herbst, Abend, Nacht ums Haus und die Heizung summt. Buntstifte. Bleistiftspitzer. Hell das Licht. Carina neben mir auf dem Sessel. Schon im Schlafanzug (ein Schlafanzug mit Marienkäfern), schon seit zwei Stunden im Schlafanzug und kein bißchen müde. Halb auf meinem Schoß. Schwebt über dem Bild. Und Peta, mal auch das Häschen dazu, sagt sie und hat zum ersten Mal abends keinen Husten mehr. Das Häschen, was einmal da weggerannt ist, wie wir es noch schnell gesehen haben. Aber das war doch schon vor Ostern, sagte ich. Ja, sagt sie und kommt zwecks Überzeugungskraft mit ihrem Gesicht ganz nah an mein Gesicht.
Ja, soll aber trotzdem mit drauf! Mal drei Häschen, Peta. Und sie sollen aber nicht wegrennen. Sollst sie malen, wie wenn sie zu uns hingucken alle drei. Wie wenn sie am liebsten gleich kommen wollen! Abend. Eine Dachwohnung mit großen Fenstern. In Frankfurt am Main in Bockenheim in der Jordanstraße. Zwei Zimmer, Bad, Flur, eine Stehküche. Vierter Stock. Kein Balkon. Schräge Wände. Sind letzten Sommer vor fünf Jahren hier eingezogen, Sibylle und ich. Carina ist hier geboren. Als wir einzogen, kam die leere Wohnung mir riesengroß vor. Hell und weit. Und ist seither um uns her immer niedriger, enger und kleiner geworden. Paßt bald schon kein einziges weiteres Buch mehr hinein. Und die Fenster in Wirklichkeit längst nicht so groß wie ich sie mir immer ausdenke. Am Abend zu dritt in unserem großen Zimmer. Carina spricht mit den Buntstiften. Sagt jedem Buntstift seine Farbe als Namen. Große alte Sessel aus grauem Samt. Teppiche. Eine rote Stehlampe. Rote Vorhänge an den Fenstern. Sibylle macht die Vorhänge zu. Von Fenster zu Fenster. Auf Zehenspitzen. Als ob sie tanzt. Und ich muß ihr zusehen dabei. Bald jetzt, Ende Oktober, sind es neun Jahre, seit wir uns kennen. Am Abend wird es still in der Jordanstraße. Erst recht, wenn der Sommer vorbei ist. Je später es wird, umso stiller. Ein Herbstabend. Unsere Stimmen. Und auf dem Dachboden fängt sich der Wind. Wieder Oktober. Du kommst aus dem Haus. Am Morgen, noch früh.
Die Straße ist naß. Du kommst aus dem Haus und musst stehenbleiben, so riecht es nach Herbst. Das abgefallene Laub. Gerade eben hast du aus der Nacht deinen Traum noch gewusst und jetzt ist er weg. Du spürst noch, wie er sich entfernt. Ein Luftzug, ein Vorhang, der sich bewegt. Flügel, die sich sacht regen, die Schatten von Flügeln, und dann ist er gegangen. Weg für immer. Die Tür fällt hinter dir zu. Man kommt aus dem Haus. Das Leben ist fremd. Wo ist die Nacht hin? hat Carina einmal morgens vor der Haustür gefragt. Und fragt es seither jeden Morgen in meinem Gedächtnis. Morgens jetzt nicht mehr wie früher zur Arbeit ins Antiquariat, sondern mit Carina in den Kinderladen. Und wollen uns Zeit lassen unterwegs. Der Weg läßt sich Zeit. Erzähl, sagt Carina gleich bei der Haustür zu mir und muß an meiner Hand zerren. Erzähl! Oder ist schon auf der Treppe eigenständig ins Trödeln und Träumen geraten. Die Jordan-, die Merton-, die Dantestraße. Und ab und zu komm sagen, komm! Wollen gern über den Campus, aber auch an der Warte vorbei, mein Kind und ich. Am liebsten beides. Es geht auch. Man kann durch die Homburger und die Adalbertstraße zur Warte und dann auf den Campus oder erst durch die Jordanstraße zur Uni und über den Campus zur Warte - nur gleichzeitig beide Wege geht nicht. Wind auf dem Campus.
Der Brunnen rauscht. Tropfen sprühen. Der Wind nimmt die Tropfenmit. An der Warte ein Taxistand. Haltestellen. Ein Gedränge von Straßenbahnen. Du hast keine Uhr mit, schon fünf und- zwanzig Jahre hast du keine Uhr mit und doch - von allen Seitensehen die Uhren dich an. Zeitungsverkäufer. Der heutige Tag. Bücherstände an der Uni. Eine Blumenfrau aus der Wetterau. Ein Inder baut einen Schmuckstand auf. Er grüßt uns seit anderthalb Jahren und vielleicht werden wir einmal zwei Kinderohr- ringe bei ihm kaufen. Vor uns auf dem Gehsteig mit Uhrwerk- schritten die städtischen Gehsteigtauben. Sollen wir jetzt (in Gedanken woanders) die Bockenheimer Landstraße entlang oder an der Christuskirche aus schwarzen Steinen vorbei und durch den Morgenfrieden der Schwindstraße, als hätten wir einen rechtmäßigen Anteil daran. Als stünde dieser Anteil uns jeden Tag zu. Oder stehen immer noch vor der Haustür und müssen grübeln, was wir vergessen haben. Jeden Morgen in den Kinderladen, als ob man immer wieder durch den eigenen Kopf sich umständlich einen Weg suchen muß. Ein paar Jahre lang in den Kinderladen und ein paar Jahre heim. Drei Bäckerläden am Weg. Croissants und Karlsbader Hörnchen, Rosinenbrötchen, Apfeltaschen und Vanillekringel. Eigentlich kaufen wir uns so kurz nach dem Frühstück nichts beim Bäcker. Schon gar nichts Süßes. Man kann nicht immer nur Kuchenessen. Und wollen auch nicht auf der Straße. Im Gehen. Wenn der Kinderladen schon auf uns wartet. Und denk auch an die Preise. Das Geld. Auch aus Prinzip nicht. Also dem Keinem fall, sagt Carina.
Stellt sich den keinem Fall vielleicht als kugelrundengrauen Mann vor, der es manchmal schafft, einem schnell etwas Gutes wegzunehmen, noch bevor man es hat. Also dem Keinem Fall, sagt sie und weiß Bescheid. Aber manchmal dann eben doch. Muß man jedes Mal ausnahmsweise sagen. Und dann gleich ernsthaft zu sparen anfangen, gleich nach dem Einkauf. Da kaut man dann schon. Croissants kennt Carina aus Frank- reich. Muß man weißt du noch sagen und aufzählen, welche die besten waren. In Marseille, in Martigues, in Barjac. In Arles und in Saintes-Maries. Es gibt mehrere beste. Im Sommer im Süden die Morgen. Noch früh und die Hunde gehen über den Markt. Durch die ganze Stadt gehen sie und sehen in den Kneipen nach, ob jemand drin ist, den sie kennen, Mensch oder Hund. Und ob Zuckerwürfel heruntergefallen sind. Bei eingepackten fressen sie gern die bunten Papierchen mit. Nimm auch ein Karlsbader Hörnchen! Wie könnte ich ein Karlsbader Hörnchen essen, ohne an Karlsbad, an Franzensbad, an Marienbad und an mich als Kind und an meine Mutter zu denken. Muß man erzählen(mit vollem Mund) und kann nicht auf die Krümel achten. Wir müßten gleich hinfahren, sagte ich zu Carina.
Nur erst noch Sibylle abholen und gleich los! Es ist nicht richtig, daß wir jetzt nicht hinfahren. Apfeltaschen als Kind schon gern. Die gibt es in vielen Ländern. Sind anders bei jedem Bäcker. Deshalb muß man sie überall immer wieder probieren und sich alle merken. Die Ladentürglöckchen bei den Bäckern auch immer anders. Die schönsten Ladentürglöckchen gibt es in Holland. Gerade an so einem Herbstmorgen, wenn die Luft kühl und feucht ist, das Pflaster glänzt und der Tag nicht recht anfangen will (nicht weiß, wie er anfangen soll), gerade dann locken uns die Bäckerläden mit ihrem Honiglicht und der Kuchenbackwärme und mit ihrem guten alten Kindheitsgeruch nach frischem Brot und nach Zimt und Vanille. In jedem Bäckerladen eine Uhr an der Wand. Morgenstraßen. Die Herbstluft. Ein Morgen voller Uhren und Ladentürglöckchen. An der nächsten Ecke unser Morgenbriefträger. Immer gefällig und freundlich. Und mit wem steht er da? Zwei bessere Witwenaus der Jungstraße. Die eine mit einem kostbaren frisierten Hündchen.
Lebendig das Hündchen? Lebendig. Die andere ein zuverlässiges Einkaufswägelchen als hilfreichen treuen Begleiter. Beide Damen mit Hut. Zum Einkaufen auf die Leipziger Straße. Zeitig dran. Lebenserfahrung. Hut, Halstuch, Handtasche, Parfüm, Perlenkette und Pelzjacke. Die mit dem Einkaufswägelchen würde am liebsten ausführlich von ihrem Blutdruck jetzt. Blutdruck, Herz, Kreislauf und was der Arzt dazu sagt. Und die mit dem Hündchen von ihrer Brautzeit. Verlobung Mai 1928. Drei Jahre mit Anstand verlobt, dann die Hochzeit. Solche Hochzeiten gibt es heutzutage nicht mehr. Aber jetzt stehen sie hier in der naßkalten grauen Gegenwart mit dem heutigen Morgenbriefträger. Nachrichten aus der Nachbarschaft. Wirtschaft, Sport, Weltpolitik. Da kennt der Briefträger sich überall aus. Und läßt sich auch nicht gern dreinreden. Von keinem. Dienstmütze. Eifer. Steht breitbeinig auf dem Gehsteig. Genau da, wo im Sommer von Mai bis September um diese Uhrzeit hell und warm die Morgensonne hinkommt, jetzt aber nicht mehr. Dienstmütze im Nacken. Als Frankfurter Briefträger und Sportsmannbraucht er das ganze Jahr keinen Mantel. Steht und spricht und breitet die Arme aus, als käme er in einem Buch vor, in dem ihm und der Welt und den Menschen ganz einfach in Ewigkeit nichts geschehen kann. Was ist? sagte ich zu mir selbst.
Warum er- schrickst du gleich so? Obwohl du hier mit deinem Kind gehst! Den Briefträger grüßen, als sei nichts geschehen. Jetzt siehst du, der Karren ist doch kein Einkaufswägelchen, sondern der amtliche Karren des Briefträgers. Keine Post heute! Wer weiß, was er da alles drin hat und mitfährt in seinem amtlichen Karren? Erst dann im Mai wieder jeden Morgen die Sonne hier an der Ecke auf dem städtischen Gehsteig. Manchmal morgens Sibylle ein Stück mit uns mit. Bis zur Haustür. An der Haustür der Abschied und dann noch mit bis an die Ecke der Homburger Straße. Mitgehen, dann winken und dann nochmal angerannt kommen und noch eine Ecke weiter mit. Oder schon mit dem Fahrrad. Carina auf dem Kindersitz (ein besonderer Kindersitz, nach dem wir lang suchen mußten: der einzig richtige!). Sowieso nimmt Sibylle Carina manchmal auf dem Fahrrad mit. Schnell wie der Wind, sagt Carina dann mit Begeisterung.
Aber Vorsicht mit Hals und Ohren. Anorak, Halstuch, Mütze und Kapuze. Richtig zu den Anorak und das Halstuch fest um die Kapuze herum. Und nur nicht zu schnellfahren. Aber jetzt, weil der Herbst so früh kam in diesem Jahr und Carina gerade erst krank war, jetzt wollen wir lieber nur schieben. Gerade in Frankfurt muß man aufpassen, daß die Kin- der nicht den halben Winter erkältet sind. Sibylle schiebt, die Radnaben surren. Carina stumm und andächtig hoch auf ihrem Zauberfahrzeug mit Klingel und Silberspeichen. Zwischen Sonne und Mond entrückt eine Bahn durch den Tag. Und Sibylle und ich bis zum Kinderladen nebeneinander her und müssen den ganzen Weg miteinander sprechen. Müssen uns ansehen, als ob wir uns eben erst, als ob wir uns noch einmal kennenlernen oder wie man sich nach Jahren unverhofft wieder begegnet. Herbst. Ein Herbstmorgen. Mit oder ohne Fahrrad an der Warte vorbei und der Schmuckstandinder freut sich, daß er uns wieder einmal alle drei zusammensieht. Gern bereit, uns seinen Schmuck vor- zuführen. Jederzeit. Selbstredend unverbindlich. Die gesamte Kollektion. Auch wenn von vornherein feststeht, daß wir vor- erst vorläufig nichts kaufen. Sein Stand ist ein Tapeziertisch mit einem nachtschwarzen Tuch drüber. Aber zum Vorführen der Kollektion hat er noch extra ein Stück sommernachtblauen Kollektionsvorführsamt. Halb so groß wie die Bildzeitung. Begeisterung auch. Selbst wenn wir frühestens in einigen Jahren eine Anschaffung in Erwägung ziehen sollten.
Zwei Kinderohrringe oder auch nur einen - er gibt sie auch einzeln ab - ein einzelner einzeln ist auch sehr apart. Ein Inder mit Turban und Taschenrechner. Bei der Vorführung wird er zum Magier. Je nach Wunsch kann man die Ohrringe bei ihm mit Nadel und Sicherheitsverschluß oder mit einem praktischen Clip. Falls noch kein Loch im Ohr. Er zeigt uns beides. Er zeigt uns gern auch die Zauberzange mit der er wahlweise Clip oder Nadelnd wie es gemacht wird. Die Nadel sind aus Silber. Silber ist gut für die menschlichen Ohren. Ob Clip oder Nadel, das kann man beim Kauf dann im letzten Moment noch entscheiden. Auch nachträglich mehrfach noch ändern lassen. In einigen Jahren also. Bis dahin finden wir ihn mit seinem Stand jeden Werktaghier an der Uni. Er freut sich immer, wenn er uns sieht. Wir sollen uns nur jederzeit an ihn wenden. Und wenn wir in Zukunft, in einer fernen Zukunft wirklich einmal einen Ohrring bei ihm kaufen sollten oder ein Halskettchen, Ohrring, Halskettchen, Armband, Fingerring, Brosche oder nur für ein schon vorhandenes Halskettchen massiv ein kleines silbernes Herz, dann gibt er uns natürlich Rabatt, weil er uns dann in dieser Zukunft ja schon jahrelang kennt. Und dann auf der Bockenheimer Landstraße. Entweder alle drei oder nur Carina und ich. Noch der gleiche Morgen.
Ein Werktag, trüb und grau. Herbstlaub, Kastanien. Von allen Seiten die Autos. Immer mehr Bettler auch, Bettler, Säufer und Penner. An der Warte, auf dem Campus, in der Leipziger Straße. Vor den Kaufhäusern. Beim Plus, beim Penny, beim Aldi am Eingang. An allen Bier- und Schnapsbüdchen. Jeden Tag mehr oderkommt es dir nur so vor, weil du einmal angefangen hast, darauf zu achten? Weil du selbst deine Arbeit verloren hast? Weil du jeden Tag mehrmals, weil du immer wieder hier gehst? Mit fünf- zehn mein erstes Glas Wein und dann einundzwanzig Jahre lang nicht mehr nüchtern geworden. Und jetzt, auch wenn du schonlang nicht mehr trinkst, ein Säufer, der aufgehört hat, jetzt siehst du dich immer noch in jedem von ihnen. Siehst dich bei ihnen stehen und trinken und torkeln (die Erde dreht sich) und im Suff räsonieren, weil man im Suff sein Leben lang recht hat. Eine Flasche. Wenigstens noch einen Flachmann. Den letzten Schluck. Weinbrand, Korn, Rumverschnitt.
Und dann die nächste Flasche. Vor viereinhalb Jahren zu trinken aufgehört und das kommt dir noch nicht so lang her vor. Immer noch der gleiche graue Herbstmorgen. Erst Anfang, dann Mitte Oktober. Und jetzt sagt Sibylle zu mir: Ich kann doch Carina morgens auch wieder mitnehmen. Fast der gleiche Weg und du hast mehr Zeit zum Schreiben. Oder hat es schon im August und September immer wieder zu mir gesagt und wiederholt es seither jeden Tag in meinem Gedächtnis. Nein- nein, sagte ich schnell zu Sibylle, auch wenn sie jetzt nicht mehrneben mir geht. Nein, laß mich nur! Muß sowieso morgens aus dem Haus. Muß das Wetter spüren und die Luft kosten. Muß sehen, was aus der Stadt und aus mir und den Bettlern, Säufern und Pennern wird. Und mit Carina in den Tag hinein jeden Morgen und die angefangenen Geschichten alle weiter. Und sehen, welche neuen Geschichten dazu kommen und wo sie uns hinführen. Und jetzt ist Carina neben mir aufgewacht. Im Gehen aufgewacht. Zurückgekehrt aus ihrer Morgengrübelei.
Nimmt meine Hand und sagt: Erzähl, Peta! Erzähl, wie du einmal noch klein warst und ihr habt die Äpfel heimgeholt! Und weil, sagte ich in Gedanken zu Sibylle (und sah mich wieder als Kind in der Dämmerung übers Feld gehen. Auf das Dorf zu. Der Herbst vor der Währungsreform). Weil ich, sagte ich zu ihr und auch zu mir selbst, weil ich sonst immer morgens zur Arbeit gehen mußte. Seit ich vierzehn war. Geld verdienen, statt bei mir selbst sein und schreiben. Seit wann weiß ich das denn, daß der Kinder- laden einer der schönsten Plätze auf der Welt ist und immer, wenn ich hinkomme, bin ich in Eile. Aber will trotzdem immer wieder hinkommen, damit ich dann später weiß, daß ich dort gewesen bin. Damit ich ihn dann wenigstens in meinem Gedächtnis wiederfinde. Selbstgemacht. Illegal. In Frankfurt am Main im Westend ein Kinderladen in einem besetzten Haus. Eben noch kaum erst halb neun und jetzt geht es schon auf zehn.
Durch den Morgen, Carina und ich. Ganz nah schon der Kinderladen, kommt uns entgegen. Merk dir jeden Farbfleck, die Kinder, die Mützen, die Jacken, das Datum, das Spielzeug, den Tag und was du dir dabei gedacht hast. Nicht auf die Tennisbälle treten, die hier überall rumliegen! Ist die Heizung an? Geht die Heizung überhaupt? Dick gelbe Farbe an den Wänden, als sei immer noch Sommer. Kannst du mir die Jacke ausziehen? Sagt die Milena zu mir. Der Reißverschluß geht nicht auf und meine Mama ist schon wieder weg. Meine Mama hat Geld gewonnen, sagt die Meike. Der David ist noch nicht da. Der Domi zeigt mir ein braunes Playmobil-Pferd mit Sattel. Oktober. Ein Werktag. Müde Kinder, die sich am Morgen beeilen mußten. Eilige müde Eltern. Bezugspersonen, Betreuer, die Elterndienstliste, die Putz- dienstliste, die Wer-noch-nicht-bezahlt-hat-Liste für August, für September und für Oktober. Gleich zehn.
Und wie Carina dir nochmal winkt und schon weiß, was sie macht, wenn du weg bist. Das nimmst du alles im Kopf mit. Mit Carina in den Kinderladen, sie hinbringen und dann schnell heim. Zigaretten, Notizzettel, Kugelschreiber. Im Gehen schon zu schreiben anfangen. Viele Stimmen im Kopf. Eine Uhr schlägt. Entweder die Markuskirche zwei Straßen weiter oder aus deiner Kindheit der steingesichtige alte Stadtturm in Staufenberg. Zehn Uhr morgens. Autos hupen. Kühl und feucht ist die Luft. Man kann den Herbst auf der Haut spüren. Daß mit der Post keine Post kommt, heißt noch nicht, daß man gerettet ist. Auch nicht diesen einen einzigen Tag. Heim und gleich weiterschreiben. Mein drittes Buch. Arbeitslos. Mit vierzehn zu arbeiten angefangen und jetzt zum ersten mal arbeitslos. Noch bei keinem Buch hat die Sprache mich so sehr gepackt, wie bei diesem - oder denkst du das jedes- mal wieder?
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Peter Kurzeck
Peter Kurzeck, geboren 1943 in Böhmen und gestorben 2013 in Frankfurt am Main, wuchs als Flüchtlingskind in Staufenberg bei Gießen auf und lebte anschließend in Frankfurt und Uzès (Südfrankreich). Er ist Autor der Romane »Der Nußbaum gegenüber vom Laden in dem du dein Brot kaufst«, »Das Schwarze Buch«, »Kein Frühling« und »Keiner stirbt«. Von seiner auf viele Bände angelegten Chronik »Das alte Jahrhundert« erschienen bis zu seinem Tod die Romane »Übers Eis«, »Als Gast«, »Ein Kirschkern im März«, »Oktober und wer wir selbst sind« und »Vorabend«. Für sein literarisches Werk wurde Kurzeck mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Georg-Christoph-Lichtenberg-Preis, der Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt am Main, dem Robert-Gernhardt-Preis, dem Grimmelshausen-Preis und dem Werner-Bergengruen-Preis.Literaturpreise:Alfred-Döblin-Preis 1991Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 1999Hans-Erich-Nossack-Preis 2000Stadtschreiberpreis Frankfurt-Bergen-Enkheim 2000/2001Poetik-Lehrstuhl der Universität Gießen, Sommer 2002Preis der Literaturhäuser 2004Kranichsteiner Literaturpreis 2004Ehrengast der Villa Massimo 2006Stipendiat der Hermann-Hesse-Stiftung 2007Georg-Christoph-Lichtenberg-Preis 2007»Hörbuch des Jahres«-Preis der Hörbuchbestenliste 2008Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt am MainRobert-Gernhardt-PreisGrimmelshausen-Preis 2011Werner-Bergengruen-Preis
Bibliographische Angaben
- Autor: Peter Kurzeck
- 2013, 1. Auflage, 224 Seiten, Maße: 12,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596192501
- ISBN-13: 9783596192502
- Erscheinungsdatum: 15.04.2013
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