One
Die einzige Chance
Kurz nach dem Abitur gerät Samuel Pinaz in den Albtraum seines Lebens. Der Sohn eines erfolgreichen Mathematikers bricht von Hongkong nach Frankfurt auf, als ein bestialischer Mord seine Zukunftspläne durchkreuzt. Deutschland befindet sich im...
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Produktinformationen zu „One “
Klappentext zu „One “
Kurz nach dem Abitur gerät Samuel Pinaz in den Albtraum seines Lebens. Der Sohn eines erfolgreichen Mathematikers bricht von Hongkong nach Frankfurt auf, als ein bestialischer Mord seine Zukunftspläne durchkreuzt. Deutschland befindet sich im Ausnahmezustand.Demonstranten legen das öffentliche Leben lahm. Handynetze brechen zusammen.
Da begegnet der 19-jährige Samuel Fabienne. Sie gehört zu einer Protestbewegung,
die das Finanzsystem des zerrissenen Europas mit einer Revolution in die Knie zwingen will. Als ein weiterer Mord geschieht, begreift Samuel, dass sein Vater der Nächste auf der Liste des Killers ist ... Ein gesellschaftlich und politisch hochbrisanter Thriller über eine Revolution, die mit modernsten Mitteln geführt wird und jeden Tag beginnen könnte.
Lese-Probe zu „One “
One von Tobias ElsäßerEins
Hongkong | 23 Grad | Bedeckt
Das Klingeln war unangenehm laut und schrill. Vincent Pinaz saß vor dem Mahagonischreibtisch in seinem Arbeitszimmer und zuckte zusammen. Er hatte den plärrenden Klingelton noch nicht oft gehört und er hasste ihn. Als »selbsterklärend« hatte der Techniker die Telefonanlage angepriesen. Lächerlich. Um diesen Apparat zu bedienen, brauchte man nicht weniger als ein Diplom. Das Display zeigte flackernde Ziffern, aber keinen der abgespeicherten Namen. Wahrscheinlich war das Ding jetzt schon kaputt. Natürlich war es das. Damit verdienten die Hersteller ja ihr Geld. Mit Serviceleistungen, die man nur deshalb in Anspruch nahm, weil die Geräte nach kürzester Zeit ein undurchsichtiges Eigenleben entwickelten. Vincent schloss die Augen und atmete tief ein. Funktionier schon, du blöde Maschine! Als er die Augen wieder öffnete, spielte das Display immer noch verrückt und das erhoffte Wunder blieb aus. Es gab keinen Anrufbeantworter, auf den man hätte sprechen können. So viel zum Thema Fortschritt. Ein Anrufbeantworter sei zu gefährlich, hatte der Techniker gesagt und etwas von einem Trojaner gefaselt, der jede Silbe aufzeichnete, sobald er das System infiziert hatte. Nur Anrufer, die von der Software erkannt wurden, durften eine Nachricht hinterlassen. Die anderen flogen aus der Leitung, sollte Vincent nicht spätestens nach dem fünften Klingeln rangehen. Was er nicht tat. Das Klingeln hörte auf. Der Alarm in seinem Kopf verschwand und die Stille kehrte ins Haus zurück. Nur das Brummen des Aquariums war noch zu hören.
... mehr
Vincent wandte sich dem leeren Blatt zu, das vor ihm lag. In einer Zeit, in der ein Großteil der Menschheit über Netzwerke kommunizierte, kam er sich beim Anblick des dicken elfenbeinfarbenen Papiers wie ein alter Narr vor. Er wollte einen Brief schreiben und hatte sich für den schwarzen Montblanc-Füller entschieden, mit dem er für gewöhnlich wichtige Verträge unterzeichnete, doch jetzt, da er zum ersten Wort ansetzte, begriff er, dass seine Wahl falsch gewesen war. Schließlich war dieser Brief an Samuel, seinen einzigen Sohn, gerichtet und nicht an einen x-beliebigen Geschäftspartner. Es ging nicht um Geld, nicht darum, Risiken zu minimieren, Gewinne zu steigern und die Kunden mit blühenden Zukunftsvisionen bei Laune zu halten. Es ging um ein Stück Wahrheit und es ging um ... Er unterbrach sich. Er wollte das Wort nicht einmal denken. Es lag ihm auf der Zunge.Am liebsten hätte er es ausgespuckt, um es loszuwerden und für immer aus seinem Wortschatz zu verbannen. Seine Hände zitterten.
»Stell dich nicht so an«, ermahnte er sich flüsternd. »Das ist kein Abschied, du alter Trottel.«
Die Lincoln-Stretchlimousine schlängelte sich vom Peak hinunter in den Großstadtschlund von Hongkong Island. Bereit dazu, geschluckt zu werden, unterzutauchen im blinkenden Neonlichtermeer, das jeden willkommen hieß, der dafür bezahlen konnte.
Das Knistern und Knacken der Eiswürfel im Wodkaglas mischte sich mit dem Sound einer mittelmäßig begabten Indie-Pop-Band namens Circle Division1, die es als Zombie- Marionetten in die hiesigen Hitlisten geschafft hatte. Samuel Pinaz gähnte und drehte den Lautsprecher des Entertainmentsystems lauter. Er schenkte dem Lichtspiel der Megastadt und den Menschen, die sie wie Fischrogen zu gebären schien, keine Beachtung. Nicht mehr. Er hatte sich daran gewöhnt, wie man sich an alles gewöhnt, was man zu oft sieht. Der Geist stumpft ab. Die Augen melden dem Gehirn, dass es nichts Neues zu entdecken gibt, und schalten auf Stand-by. Samuel schmunzelte. Er dachte an eine Geschichte, die ihm seine Mutter erzählt hatte, als er noch ein kleines Kind war. »Die Erde dreht sich nur, solange die Menschen, die darauf gehen, dieselbe Richtung einschlagen. Sonst gäbe es weder Tag und Nacht noch Sommer und Winter, Glück und Freiheit.« Das hatte sie gesagt, als sie die ersten beiden Jahre in Peking verbrachten und Samuel mit dem militärischen Drill an der Schule nicht klargekommen war. Ein merkwürdiger Satz, den er bis heute nicht richtig verstanden hatte. Die beruhigende Wirkung, die diese Worte damals hätten haben sollen, war nutzlos verpufft. Und jetzt, in Anbetracht der dunklen Gestalten, die mit gehetztem Blick kreuz und quer durch die Straßen eilten, um sich von Rolltreppen und Fahrstühlen an ihren Bestimmungsort bringen zu lassen, kam der Satz ihm einfach nur falsch vor. Jeder hatte sein eigenes Ziel, jeder seinen eigenen Plan, wohin die Reise ging. Wieso sollte sein Glück von dem der anderen abhängen? Wieso die Freiheit? Sobald er in London war, würde er seine Mutter mit ihrer Weisheit konfrontieren. Sie liebte es zu diskutieren. Sie liebte es, alles und jeden zu hinterfragen.
Hongkong war anders als Peking. Nicht so dreckig, nicht so laut, nicht so überfüllt, aber auch irgendwie langweilig, unecht und geradlinig. Eine Kulisse, die sich nicht darum scherte, wer sie für seine Zwecke missbrauchte. Nach vier Jahren gab es kaum noch etwas, das Samuel an der Perle des Orients, wie es unpassenderweise in jedem Reiseführer stand, erstaunte. Selbst an die schwüle Hitze hatte er sich gewöhnt. Nur den Geruch nach Abwasser, Fisch und menschlichen Ausdünstungen, den konnte er nicht ausblenden. Dieser Geruch fraß sich durch jeden Filter, saugte sich an Kleidungsstücken fest und verstopfte die Poren der Haut, die sich mit Pusteln und Ekzemen dagegen wehrte. Bei Smog musste man sich die dünne Staub- und Dreckschicht zweimal am Tag vom Leib schrubben. Früher oder später fand man sich trotzdem in der Queen's Road wieder, um sich einer kostspieligen Laserbehandlung zu unterziehen. Nur bei Starkregen roch die Luft nicht nach Essen und Abgasen. Doch sobald man einen Tropfen in dem Mund bekam, explodierten die widerlichen Ausscheidungen der Millionenmetropole auf der Zunge und man musste unwillkürlich würgen.
Der Beat wurde lauter. Samuel trank zwei Tequila-Shots und fühlte sich besser, erleichtert, zuversichtlicher. Morgen, nein jetzt, korrigierte er sich in Gedanken, beginnt dein neues Leben.
»Das musst du aufnehmen!«, rief er über die Musik hinweg. Er hatte sich eine dicke Cohiba angesteckt und versuchte nun, möglichst cool an der Zigarre zu ziehen. Insgeheim fühlte er sich jedoch mehr wie ein Kind, das noch am Rockzipfel seiner Mutter hing, und nicht wie die käferartigen Geschäftsmänner, die er imitieren wollte. »Los, mach schon«, sagte er paffend und ungeduldig.
»Ich nehm aber nicht alles auf, was du heute Nacht noch treibst.« Widerwillig zog der schwarzhaarige Junge gegenüber sein Handy heraus. Samuel setzte sich breitbeinig hin und machte ein grimmiges Gesicht. Für einen kurzen Moment wurde ihm die Lächerlichkeit seines Auftritts bewusst. Sein Vater, Vince, mit einem scharfen, zischelnden S, wie er ihn im Streit immer nannte, würde ihn hassen, wenn er ihn so sehen könnte. Mit Geld anzugeben war etwas, das er zutiefst verabscheute. Genau wie überflüssigen Kommerz und überteuertes Essen, wobei unter diese Rubrik so ziemlich jedes Essen fiel, das es nicht für ein paar Dollar an der Garküche um die Ecke zu kaufen gab.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Vincent, wie sich der Vorhang aufbauschte, aber der Luftzug brachte kaum Abkühlung. Mit einem tiefen Seufzer kommentierte er das Quietschen der Terrassentür. Wie oft musste er Emilia denn noch erklären, dass es auf der Insel genügend Tiere gab, die nur auf so eine Gelegenheit warteten? Die Wildhüter kamen ja kaum noch hinterher, ungebetene Besucher von der Siedlung fernzuhalten. Vincent wollte mal Emilias Gesicht sehen, wenn sie beim Kochen von einer Fünf-Meter-Python überrascht wurde. Sie bekam ja schon Panik, wenn eine harmlose Spinne ihren Weg kreuzte.
»Der Kater«, würde sie morgen antworten, wenn er sie auf die Tür ansprach. Immer der alte Kater. Gut, ermahnte er sich. Ganz unrecht hatte sie ja nicht. Seit ein paar Wochen hatte Badawi aus irgendeinem Grund Schwierigkeiten, den elektronischen Mechanismus für die Katzenklappe zu betätigen, aber deshalb die Tür offen zu lassen, war auch keine Lösung.
Ein Schatten, groß wie ein Tiger, huschte über den zitternden Vorhangstoff und blieb stehen. »Die Tür ist offen«, wollte Vincent schon rufen, ließ es aber sein. Wahrscheinlich wäre es das Beste, Badawi nachts im Haus zu behalten. Die Zeiten, in denen er noch auf Beutejagd ging, waren ohnehin vorbei.
Vincent drückte einen Schalter. Der Strahler auf der Veranda war mit einem Infrarotsensor gekoppelt. Jetzt war er deaktiviert, das Licht erlosch und mit ihm verschwand auch der Schatten. Ein Schleifen, ein Tapsen, dann hörte man, wie der Vorhang über die Dielen strich. Badawi schlich träge herein. Er humpelte um den Schreibtisch herum und hob den buschigen Kopf. Aus trüben Katzenaugen starrte er Vincent an. Dämlich, aber auch irgendwie vorwurfsvoll, gerade so, als wollte er Vincent zu verstehen geben, dass sein Verhalten lächerlich war. Es war das eines sechzigjährigen Mannes, der nicht damit klarkam, dass der Sohn die Ratschläge seines ach so weisen Vaters in den Wind schlug. Badawi ließ sich auf dem Teppich vor dem Sekretär nieder, rollte sich zusammen und schlief im selben Moment ein. Vincent lächelte schwach. »Du hast es gut. Musstest nie Entscheidungen treffen. Tage kommen und gehen, und dir ist es vermutlich scheißegal.«
Scheißegal. Vincent musste schmunzeln. Wann hatte er dieses Wort das letzte Mal gehört, geschweige denn gesagt? Es musste ewig her sein. Vielleicht in seiner Jugend. Als seine Adoptiveltern unbedingt wollten, dass er auf ein Konservatorium ging, um Konzertpianist zu werden. Rebelliert hatte er, war tagelang ziellos durch München gestreunt, nur um seinen Willen durchzusetzen und mit dem Rucksack ans andere Ende der Welt zu reisen. Hatte er das schon wieder vergessen? Ging es ihm wie den meisten Eltern, die irgendwann vergaßen, selbst einmal jung gewesen zu sein? War aus ihm ein alter engstirniger Kotzbrocken geworden? Hatte er vor lauter Zahlen-Hin-und-Herschieberei den Anschluss an die Wirklichkeit verpasst?
Erneut setzte er den Füllhalter an. Er hatte den Eindruck, eine Unregelmäßigkeit im Zirpen der Grillen zu erkennen.
Als hätten sie sich darauf verständigt, kurz innezuhalten. Lass dich ruhig ablenken, ermahnte er sich selbst und versuchte, mit dem ersten Satz zu beginnen, aber der erste Satz kam nicht. Eigentlich sollte der Brief ein Glückwunschschreiben für Samuel werden. Zum bestandenen Abitur. Aber nach allem, was die letzten Monate vorgefallen war, nach den vielen Streitereien, den ständigen Meinungsverschiedenheiten, den unausgesprochenen Vorwürfen, die in der Luft hingen wie der zähe Smog über der Stadt, wäre es gelogen, so zu tun, als sei alles in Ordnung. Und Lügen gehörten nicht in sein Privatleben.
Badawi fing an zu schnurren. Wahrscheinlich spürte der Kater, dass Vincent wütend wurde. Auf sich selbst. Auf seine Unfähigkeit, ein guter Vater zu sein. Durch das gekippte Fenster drang das Rascheln der Blätter, dann ein Knacken. Welches Tier hatte sich dieses Mal in den Garten verirrt? Er stand auf, schob den geblähten Vorhang zur Seite und trat hinaus auf die Veranda, wo er sich eine Zigarette ansteckte. Dann spähte er in die Dunkelheit. Das Licht vom Arbeitszimmer flirrte über dem dicken Gras. Nichts. Vielleicht hatte sich der ungebetene Gast im Schatten des Geräteschuppens versteckt. Nachher würde Vincent den Sensor wieder einschalten. Zumindest die größeren Tiere ließen sich vom harten Flutlicht abschrecken.
»Nimm den Wodka«, sagte der schwarzhaarige Junge, als sie vor einer Ampel anhielten. Samuel griff nach der Flasche Grey Goose, schraubte den Verschluss ab und prostete damit in die Kamera. Der Wagen fuhr an. Samuel schlug mit den Zähnen gegen die Flaschenöffnung. »Scheiße!« Er rieb sich mit dem Handrücken über den Mund. Sein Kumpel pochte gegen die Trennscheibe. Am Steuer saß ein gedrungener Mann mit Mütze, Anzug und zerschlissenen Radfahrer-Handschuhen.
»Hey, kannst du vielleicht ein bisschen sanfter abbremsen! «, blaffte der Junge in holprigem Mandarin. Die Musik blendete aus. Der Chauffeur drehte sich um und entschuldigte sich auf Kantonesisch. Mit dem linken Arm versuchte er, den Bildschirm in der Mittelkonsole zu verdecken, über den gerade der Abspann einer Telenovela flimmerte. »Wegen diesem Soap-Müll bringt der uns beinahe um«, sagte der Junge. Samuel legte die Zigarre in den Aschenbecher und wischte sich den Mund ab. Er kontrollierte seine Zähne im beleuchteten Spiegel. Sie sahen makellos aus. Genau wie das leicht gebräunte Gesicht und die großen graublauen Augen. Die hatte ihm seine Mutter vererbt. Er versuchte, den Gedanken an den Streit mit seinem Vater zu verdrängen. Wieso hatte er immer ein schlechtes Gewissen, wenn er sich mit ihm gestritten hatte? Es war wirklich das Beste, von hier wegzuziehen. Er trank einen Schluck Wodka. »Nimm den Leuten ihre beknackten Telenovelas und sie gehen drauf.«
Der Wagen bremste sanft ab. Der Fahrer stieg aus. Die Seitentüren öffneten sich. Zwei Beinpaare, die in eleganten High Heels verschwanden, schoben sich vor die Beleuchtung eines Schnellimbisses. Zwanzig Kilometer südlich, in Shenzhen, hätten die zierlichen Figuren der beiden Mädchen wahrscheinlich zu minderjährigen Konkubinen gehört, doch an diesem Abend trugen sie die hübschen Gesichter von Kata und Su. Samuel fand sie beide attraktiv. Die langen blonden Haare von Kata und ihr blasses Gesicht fielen selbst in Hongkong auf. Sie wirkte wie die Elfe aus einem Fantasyroman. Lieben, richtig lieben, konnte er sie trotzdem nicht. Irgendetwas fehlte. Eine Eigenschaft, die er nicht benennen konnte. Äußerlich jedenfalls gab es nichts auszusetzen. Sie waren ein Paar geworden. Einfach so, nach einer Party. Sie hatten sich geküsst und von überallher konnte man das Flüstern hören: »Die passen so gut zusammen. Die sind so ein hübsches Paar.«
Samuel nahm Katas Hand, als sie neben ihm auf den Sitz glitt. Sie gab ihm einen Kuss. Er schmeckte den Champagner auf ihren Lippen. So hatte er sich seine erste Liebe nicht vorgestellt. Aber vielleicht war die Liebe, die große Liebe, wie sie in kitschigen Filmen gezeigt wurde, auch nur eine Illusion.
»Hey, was ist mit dir?«, fragte Kata und wich zurück.
»Sorry.« Samuels Lächeln wirkte aufgesetzt. »War nur in Gedanken.«
»Eine andere Frau?« Sie kniff die Augen zusammen.
»Quatsch.« Er zog sie heran, küsste sie lange und zärtlich, bis das Rattern einer kaputten Snaredrum den nächsten Song ankündigte. Zwar mochte Samuel den Hype nicht, den man um die Band mit den Marionetten machte, aber der Sound war außergewöhnlich. Er transportierte
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Vincent wandte sich dem leeren Blatt zu, das vor ihm lag. In einer Zeit, in der ein Großteil der Menschheit über Netzwerke kommunizierte, kam er sich beim Anblick des dicken elfenbeinfarbenen Papiers wie ein alter Narr vor. Er wollte einen Brief schreiben und hatte sich für den schwarzen Montblanc-Füller entschieden, mit dem er für gewöhnlich wichtige Verträge unterzeichnete, doch jetzt, da er zum ersten Wort ansetzte, begriff er, dass seine Wahl falsch gewesen war. Schließlich war dieser Brief an Samuel, seinen einzigen Sohn, gerichtet und nicht an einen x-beliebigen Geschäftspartner. Es ging nicht um Geld, nicht darum, Risiken zu minimieren, Gewinne zu steigern und die Kunden mit blühenden Zukunftsvisionen bei Laune zu halten. Es ging um ein Stück Wahrheit und es ging um ... Er unterbrach sich. Er wollte das Wort nicht einmal denken. Es lag ihm auf der Zunge.Am liebsten hätte er es ausgespuckt, um es loszuwerden und für immer aus seinem Wortschatz zu verbannen. Seine Hände zitterten.
»Stell dich nicht so an«, ermahnte er sich flüsternd. »Das ist kein Abschied, du alter Trottel.«
Die Lincoln-Stretchlimousine schlängelte sich vom Peak hinunter in den Großstadtschlund von Hongkong Island. Bereit dazu, geschluckt zu werden, unterzutauchen im blinkenden Neonlichtermeer, das jeden willkommen hieß, der dafür bezahlen konnte.
Das Knistern und Knacken der Eiswürfel im Wodkaglas mischte sich mit dem Sound einer mittelmäßig begabten Indie-Pop-Band namens Circle Division1, die es als Zombie- Marionetten in die hiesigen Hitlisten geschafft hatte. Samuel Pinaz gähnte und drehte den Lautsprecher des Entertainmentsystems lauter. Er schenkte dem Lichtspiel der Megastadt und den Menschen, die sie wie Fischrogen zu gebären schien, keine Beachtung. Nicht mehr. Er hatte sich daran gewöhnt, wie man sich an alles gewöhnt, was man zu oft sieht. Der Geist stumpft ab. Die Augen melden dem Gehirn, dass es nichts Neues zu entdecken gibt, und schalten auf Stand-by. Samuel schmunzelte. Er dachte an eine Geschichte, die ihm seine Mutter erzählt hatte, als er noch ein kleines Kind war. »Die Erde dreht sich nur, solange die Menschen, die darauf gehen, dieselbe Richtung einschlagen. Sonst gäbe es weder Tag und Nacht noch Sommer und Winter, Glück und Freiheit.« Das hatte sie gesagt, als sie die ersten beiden Jahre in Peking verbrachten und Samuel mit dem militärischen Drill an der Schule nicht klargekommen war. Ein merkwürdiger Satz, den er bis heute nicht richtig verstanden hatte. Die beruhigende Wirkung, die diese Worte damals hätten haben sollen, war nutzlos verpufft. Und jetzt, in Anbetracht der dunklen Gestalten, die mit gehetztem Blick kreuz und quer durch die Straßen eilten, um sich von Rolltreppen und Fahrstühlen an ihren Bestimmungsort bringen zu lassen, kam der Satz ihm einfach nur falsch vor. Jeder hatte sein eigenes Ziel, jeder seinen eigenen Plan, wohin die Reise ging. Wieso sollte sein Glück von dem der anderen abhängen? Wieso die Freiheit? Sobald er in London war, würde er seine Mutter mit ihrer Weisheit konfrontieren. Sie liebte es zu diskutieren. Sie liebte es, alles und jeden zu hinterfragen.
Hongkong war anders als Peking. Nicht so dreckig, nicht so laut, nicht so überfüllt, aber auch irgendwie langweilig, unecht und geradlinig. Eine Kulisse, die sich nicht darum scherte, wer sie für seine Zwecke missbrauchte. Nach vier Jahren gab es kaum noch etwas, das Samuel an der Perle des Orients, wie es unpassenderweise in jedem Reiseführer stand, erstaunte. Selbst an die schwüle Hitze hatte er sich gewöhnt. Nur den Geruch nach Abwasser, Fisch und menschlichen Ausdünstungen, den konnte er nicht ausblenden. Dieser Geruch fraß sich durch jeden Filter, saugte sich an Kleidungsstücken fest und verstopfte die Poren der Haut, die sich mit Pusteln und Ekzemen dagegen wehrte. Bei Smog musste man sich die dünne Staub- und Dreckschicht zweimal am Tag vom Leib schrubben. Früher oder später fand man sich trotzdem in der Queen's Road wieder, um sich einer kostspieligen Laserbehandlung zu unterziehen. Nur bei Starkregen roch die Luft nicht nach Essen und Abgasen. Doch sobald man einen Tropfen in dem Mund bekam, explodierten die widerlichen Ausscheidungen der Millionenmetropole auf der Zunge und man musste unwillkürlich würgen.
Der Beat wurde lauter. Samuel trank zwei Tequila-Shots und fühlte sich besser, erleichtert, zuversichtlicher. Morgen, nein jetzt, korrigierte er sich in Gedanken, beginnt dein neues Leben.
»Das musst du aufnehmen!«, rief er über die Musik hinweg. Er hatte sich eine dicke Cohiba angesteckt und versuchte nun, möglichst cool an der Zigarre zu ziehen. Insgeheim fühlte er sich jedoch mehr wie ein Kind, das noch am Rockzipfel seiner Mutter hing, und nicht wie die käferartigen Geschäftsmänner, die er imitieren wollte. »Los, mach schon«, sagte er paffend und ungeduldig.
»Ich nehm aber nicht alles auf, was du heute Nacht noch treibst.« Widerwillig zog der schwarzhaarige Junge gegenüber sein Handy heraus. Samuel setzte sich breitbeinig hin und machte ein grimmiges Gesicht. Für einen kurzen Moment wurde ihm die Lächerlichkeit seines Auftritts bewusst. Sein Vater, Vince, mit einem scharfen, zischelnden S, wie er ihn im Streit immer nannte, würde ihn hassen, wenn er ihn so sehen könnte. Mit Geld anzugeben war etwas, das er zutiefst verabscheute. Genau wie überflüssigen Kommerz und überteuertes Essen, wobei unter diese Rubrik so ziemlich jedes Essen fiel, das es nicht für ein paar Dollar an der Garküche um die Ecke zu kaufen gab.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Vincent, wie sich der Vorhang aufbauschte, aber der Luftzug brachte kaum Abkühlung. Mit einem tiefen Seufzer kommentierte er das Quietschen der Terrassentür. Wie oft musste er Emilia denn noch erklären, dass es auf der Insel genügend Tiere gab, die nur auf so eine Gelegenheit warteten? Die Wildhüter kamen ja kaum noch hinterher, ungebetene Besucher von der Siedlung fernzuhalten. Vincent wollte mal Emilias Gesicht sehen, wenn sie beim Kochen von einer Fünf-Meter-Python überrascht wurde. Sie bekam ja schon Panik, wenn eine harmlose Spinne ihren Weg kreuzte.
»Der Kater«, würde sie morgen antworten, wenn er sie auf die Tür ansprach. Immer der alte Kater. Gut, ermahnte er sich. Ganz unrecht hatte sie ja nicht. Seit ein paar Wochen hatte Badawi aus irgendeinem Grund Schwierigkeiten, den elektronischen Mechanismus für die Katzenklappe zu betätigen, aber deshalb die Tür offen zu lassen, war auch keine Lösung.
Ein Schatten, groß wie ein Tiger, huschte über den zitternden Vorhangstoff und blieb stehen. »Die Tür ist offen«, wollte Vincent schon rufen, ließ es aber sein. Wahrscheinlich wäre es das Beste, Badawi nachts im Haus zu behalten. Die Zeiten, in denen er noch auf Beutejagd ging, waren ohnehin vorbei.
Vincent drückte einen Schalter. Der Strahler auf der Veranda war mit einem Infrarotsensor gekoppelt. Jetzt war er deaktiviert, das Licht erlosch und mit ihm verschwand auch der Schatten. Ein Schleifen, ein Tapsen, dann hörte man, wie der Vorhang über die Dielen strich. Badawi schlich träge herein. Er humpelte um den Schreibtisch herum und hob den buschigen Kopf. Aus trüben Katzenaugen starrte er Vincent an. Dämlich, aber auch irgendwie vorwurfsvoll, gerade so, als wollte er Vincent zu verstehen geben, dass sein Verhalten lächerlich war. Es war das eines sechzigjährigen Mannes, der nicht damit klarkam, dass der Sohn die Ratschläge seines ach so weisen Vaters in den Wind schlug. Badawi ließ sich auf dem Teppich vor dem Sekretär nieder, rollte sich zusammen und schlief im selben Moment ein. Vincent lächelte schwach. »Du hast es gut. Musstest nie Entscheidungen treffen. Tage kommen und gehen, und dir ist es vermutlich scheißegal.«
Scheißegal. Vincent musste schmunzeln. Wann hatte er dieses Wort das letzte Mal gehört, geschweige denn gesagt? Es musste ewig her sein. Vielleicht in seiner Jugend. Als seine Adoptiveltern unbedingt wollten, dass er auf ein Konservatorium ging, um Konzertpianist zu werden. Rebelliert hatte er, war tagelang ziellos durch München gestreunt, nur um seinen Willen durchzusetzen und mit dem Rucksack ans andere Ende der Welt zu reisen. Hatte er das schon wieder vergessen? Ging es ihm wie den meisten Eltern, die irgendwann vergaßen, selbst einmal jung gewesen zu sein? War aus ihm ein alter engstirniger Kotzbrocken geworden? Hatte er vor lauter Zahlen-Hin-und-Herschieberei den Anschluss an die Wirklichkeit verpasst?
Erneut setzte er den Füllhalter an. Er hatte den Eindruck, eine Unregelmäßigkeit im Zirpen der Grillen zu erkennen.
Als hätten sie sich darauf verständigt, kurz innezuhalten. Lass dich ruhig ablenken, ermahnte er sich selbst und versuchte, mit dem ersten Satz zu beginnen, aber der erste Satz kam nicht. Eigentlich sollte der Brief ein Glückwunschschreiben für Samuel werden. Zum bestandenen Abitur. Aber nach allem, was die letzten Monate vorgefallen war, nach den vielen Streitereien, den ständigen Meinungsverschiedenheiten, den unausgesprochenen Vorwürfen, die in der Luft hingen wie der zähe Smog über der Stadt, wäre es gelogen, so zu tun, als sei alles in Ordnung. Und Lügen gehörten nicht in sein Privatleben.
Badawi fing an zu schnurren. Wahrscheinlich spürte der Kater, dass Vincent wütend wurde. Auf sich selbst. Auf seine Unfähigkeit, ein guter Vater zu sein. Durch das gekippte Fenster drang das Rascheln der Blätter, dann ein Knacken. Welches Tier hatte sich dieses Mal in den Garten verirrt? Er stand auf, schob den geblähten Vorhang zur Seite und trat hinaus auf die Veranda, wo er sich eine Zigarette ansteckte. Dann spähte er in die Dunkelheit. Das Licht vom Arbeitszimmer flirrte über dem dicken Gras. Nichts. Vielleicht hatte sich der ungebetene Gast im Schatten des Geräteschuppens versteckt. Nachher würde Vincent den Sensor wieder einschalten. Zumindest die größeren Tiere ließen sich vom harten Flutlicht abschrecken.
»Nimm den Wodka«, sagte der schwarzhaarige Junge, als sie vor einer Ampel anhielten. Samuel griff nach der Flasche Grey Goose, schraubte den Verschluss ab und prostete damit in die Kamera. Der Wagen fuhr an. Samuel schlug mit den Zähnen gegen die Flaschenöffnung. »Scheiße!« Er rieb sich mit dem Handrücken über den Mund. Sein Kumpel pochte gegen die Trennscheibe. Am Steuer saß ein gedrungener Mann mit Mütze, Anzug und zerschlissenen Radfahrer-Handschuhen.
»Hey, kannst du vielleicht ein bisschen sanfter abbremsen! «, blaffte der Junge in holprigem Mandarin. Die Musik blendete aus. Der Chauffeur drehte sich um und entschuldigte sich auf Kantonesisch. Mit dem linken Arm versuchte er, den Bildschirm in der Mittelkonsole zu verdecken, über den gerade der Abspann einer Telenovela flimmerte. »Wegen diesem Soap-Müll bringt der uns beinahe um«, sagte der Junge. Samuel legte die Zigarre in den Aschenbecher und wischte sich den Mund ab. Er kontrollierte seine Zähne im beleuchteten Spiegel. Sie sahen makellos aus. Genau wie das leicht gebräunte Gesicht und die großen graublauen Augen. Die hatte ihm seine Mutter vererbt. Er versuchte, den Gedanken an den Streit mit seinem Vater zu verdrängen. Wieso hatte er immer ein schlechtes Gewissen, wenn er sich mit ihm gestritten hatte? Es war wirklich das Beste, von hier wegzuziehen. Er trank einen Schluck Wodka. »Nimm den Leuten ihre beknackten Telenovelas und sie gehen drauf.«
Der Wagen bremste sanft ab. Der Fahrer stieg aus. Die Seitentüren öffneten sich. Zwei Beinpaare, die in eleganten High Heels verschwanden, schoben sich vor die Beleuchtung eines Schnellimbisses. Zwanzig Kilometer südlich, in Shenzhen, hätten die zierlichen Figuren der beiden Mädchen wahrscheinlich zu minderjährigen Konkubinen gehört, doch an diesem Abend trugen sie die hübschen Gesichter von Kata und Su. Samuel fand sie beide attraktiv. Die langen blonden Haare von Kata und ihr blasses Gesicht fielen selbst in Hongkong auf. Sie wirkte wie die Elfe aus einem Fantasyroman. Lieben, richtig lieben, konnte er sie trotzdem nicht. Irgendetwas fehlte. Eine Eigenschaft, die er nicht benennen konnte. Äußerlich jedenfalls gab es nichts auszusetzen. Sie waren ein Paar geworden. Einfach so, nach einer Party. Sie hatten sich geküsst und von überallher konnte man das Flüstern hören: »Die passen so gut zusammen. Die sind so ein hübsches Paar.«
Samuel nahm Katas Hand, als sie neben ihm auf den Sitz glitt. Sie gab ihm einen Kuss. Er schmeckte den Champagner auf ihren Lippen. So hatte er sich seine erste Liebe nicht vorgestellt. Aber vielleicht war die Liebe, die große Liebe, wie sie in kitschigen Filmen gezeigt wurde, auch nur eine Illusion.
»Hey, was ist mit dir?«, fragte Kata und wich zurück.
»Sorry.« Samuels Lächeln wirkte aufgesetzt. »War nur in Gedanken.«
»Eine andere Frau?« Sie kniff die Augen zusammen.
»Quatsch.« Er zog sie heran, küsste sie lange und zärtlich, bis das Rattern einer kaputten Snaredrum den nächsten Song ankündigte. Zwar mochte Samuel den Hype nicht, den man um die Band mit den Marionetten machte, aber der Sound war außergewöhnlich. Er transportierte
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Autoren-Porträt von Tobias Elsäßer
Tobias Elsäßer, geboren 1973, arbeitet als freier Journalist, Autor und Gesangslehrer. Darüber hinaus leitet er Schreibwerkstätten und Songwriter-Workshops für Jugendliche und schreibt Drehbücher.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tobias Elsäßer
- Altersempfehlung: 14 - 17 Jahre
- 2013, 400 Seiten, Maße: 14,4 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: FISCHER Sauerländer
- ISBN-10: 3737367124
- ISBN-13: 9783737367127
- Erscheinungsdatum: 26.09.2013
Rezension zu „One “
Tobias Elsäßers neuer Roman ist ein interessanter Thriller über eine Revolution, die mit modernsten Mitteln geführt wird und jeden Tag beginnen könnte. Doris Wassermann Westfalen-Blatt 20131117
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