Blutige Rosen / Optimum Bd.1
Thriller
Vom ersten Tag in der Daniel-Nathans-Akademie an spürt Rica, dass hier etwas Seltsames vor sich geht. Alle Schüler stehen unter strenger Aufsicht. Die meisten von ihnen sind ungewöhnlich begabt. Einige Jugendliche neigen ohne erkennbaren Grund zu...
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Produktinformationen zu „Blutige Rosen / Optimum Bd.1 “
Klappentext zu „Blutige Rosen / Optimum Bd.1 “
Vom ersten Tag in der Daniel-Nathans-Akademie an spürt Rica, dass hier etwas Seltsames vor sich geht. Alle Schüler stehen unter strenger Aufsicht. Die meisten von ihnen sind ungewöhnlich begabt. Einige Jugendliche neigen ohne erkennbaren Grund zu Gewaltausbrüchen, manche scheinen die Gefühle und Gedanken anderer beeinflussen zu können. Was geht hier vor sich? Als im Rosengarten ein Mädchen tot aufgefunden wird, beginnt Rica, Nachforschungen über die Eliteschule anzustellen, und bringt sich damit selbst in größte Gefahr ...
Lese-Probe zu „Blutige Rosen / Optimum Bd.1 “
Optimum Blutige Rosen von Veronika Bicker Kapitel eins
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Am Ende der Welt Kapitel eins Am Ende der Welt K K omm schon, so schlimm ist es auch wieder nicht!« Rica starrte aus dem Seitenfenster und fragte sich, was bitte schön nicht so schlimm sein sollte. Weit und breit war nichts zu sehen, außer Bäumen, und Bäumen und Bäumen. Und - ach ja - ein riesiges Metallgittertor, das die Einfahrt zu einem Gebäude versperrte. Rica hasste Bäume. Gut, eigentlich nicht Bäume im Speziellen, so im Stadtpark waren sie ganz okay, aber diese Bäume hier waren etwas ganz anderes. Weil es außer ihnen hier so rein gar nichts zu geben schien.
Ihre Mutter lächelte nervös, bremste den Wagen vor dem Tor und ließ ihr Fenster herunter. Aus einem kleinen Häuschen neben dem Tor trat ein Mann in Uniform an das Auto heran. Er lächelte breit. Rica verzog das Gesicht und wandte sich demonstrativ von ihm ab.
»Guten Tag. Ich nehme an, Sie sind Frau Lentz?« Er machte eine Pause, als wartete er auf eine Reaktion. Als keine kam, räusperte er sich. »Und Ihre Tochter Ricarda?« An seinem Tonfall hörte Rica, dass er versuchte, Blickkontakt zu ihr aufzunehmen, doch sie sah stur aus dem Fenster.
»Ich habe vorhin angerufen.« Ihre Mutter klang ein bisschen atemlos und nicht halb so optimistisch wie noch vor ein paar Stunden, als sie Rica weismachen wollte, wie toll hier alles werden würde. »Es hieß, wir können heute schon in die Wohnung? Das wäre wirklich wunderbar, da Rica doch morgen schon in die Schule soll, und andernfalls wäre alles ein wenig hektisch.« Rica konnte das Lächeln in der Stimme ihrer Mutter hören. Ein unschuldiges Mädchenlächeln, das sie gern aufsetzte, wenn sie Männern das Gefühl geben wollte, dass sie ihr überlegen waren. Und die meisten Männer fuhren auch noch voll darauf ab.
»Klar geht das. Der Schlüssel ist hier für Sie hinterlegt worden. Wenn Sie mir noch Ihren Ausweis zeigen würden ...«
Papierrascheln, das Klimpern von Kleingeld in den Tiefen der Handtasche, ein paar gemurmelte Worte ihrer Mutter, dann fand offensichtlich die Schlüsselübergabe statt. Rica tat weiterhin so, als würde sie ignorieren, was sich neben ihr abspielte, auch wenn die Aussicht auf die Bäume auf ihrer Seite allmählich etwas langweilig wurde. Ein rotes Eichhörnchen hüpfte im Unterholz herum, richtete sich einmal kurz auf und sah neugierig zum Auto herüber, bevor es mit großen Sprüngen auf dem nächsten Baum verschwand. Gegen ihren Willen entlockte das Tierchen Rica ein halbes Lächeln.
»Sie wissen, wohin?« Die Stimme des Wachmannes holte Rica wieder in die Gegenwart zurück.
»Ich habe mir die Wohnung schon angesehen, danke.« Jetzt, da alles zu ihrer Zufriedenheit verlaufen war, hörte sich der Ton ihrer Mutter wieder selbstbewusst und professionell an. Keine Spur mehr von dem kleinen, unsicheren Mädchen, das sich verlaufen hat und dringend Hilfe benötigt. Wieder musste Rica lächeln. Meine Mutter ist ein Biest, dachte sie.
Der Wagen setzte sich in Bewegung. Das Metalltor war beiseitegeglitten, ohne einen Laut von sich zu geben, unter den Reifen knirschten ein paar Krümel Kies, die vom Seitenstreifen auf den Asphalt gekullert waren. Einige Augenblicke lang waren wieder nur Bäume zu sehen, dann jedoch tauchte das Auto aus dem Schatten des Wäldchens, und Rica musste einen überraschten Ausruf unterdrücken.
Die Auffahrt wand sich einen grasbewachsenen Hügel hinauf, auf dessen Kuppe ein Schloss thronte. Zumindest sah es im ersten Moment aus wie ein Schloss. Die weiß getünchte Fassade schimmerte im Sonnenlicht, und rechts und links gab es kleine Türmchen, die sich in einen mit watteweißen Wolken übersäten Himmel streckten. Ein paar gepflegte alte Kastanien und Beete voller bunter Sommerblumen zierten die Vorderseite gleich neben einem modernen und gar nicht so übel aussehenden Skateplatz und einer wirklich beeindruckenden Kletterwand. Ein paar Jugendliche lungerten am Rand des Platzes herum und sahen einem Skater bei seiner Performance zu. Rica wandte den Kopf, um besser sehen zu können, doch da bog ihre Mutter auch schon auf einen Seitenweg ab, der von dem Gebäude fort und - wieder einmal - auf einen kleinen Wald zu führte.
»Gefällt's dir?« Ricas Mutter hatte mitbekommen, wie Rica ihren Hals verdrehte, um noch einmal einen Blick auf das kleine Schloss und die Skater davor zu werfen. Ein so ungewöhnliches Bild, dass sie sich wünschte, ihre Kamera zur Hand zu haben. Doch die lag gut verstaut auf dem Boden ihres Rucksacks.
Ertappt drehte Rica sich nach vorn, sie konnte das Grinsen auf dem Gesicht ihrer Mutter nur zu gut sehen.
»Es gefällt dir«, stellte diese fest. »Siehst du, alles gar nicht so schlimm. Ich bin mir sicher, wir leben uns hier gut ein.«
»Trotzdem«, murmelte Rica, merkte, dass sie sich anhörte wie ein trotziges Kleinkind, und seufzte. »Ich wünschte nur, es wäre nicht so weit weg von ... allem.« Von Yannik, hatte sie sagen wollen. Von Yannick und Lena und Claire und all den anderen. Aber das hatte sie nun wirklich schon oft genug zum Besten gegeben, und ihre Mutter würde genauso wenig darauf eingehen wie die Dutzend Male zuvor.
»Ist ja erst mal nur ein Schuljahr. Du kommst schon früh genug zurück zu deinen Freundinnen.« Ricas Mutter versuchte ein aufmunterndes Lächeln, doch ganz gelang ihr das nicht. Sie wusste selbst, was sich in einem Jahr alles verändern konnte.
Ob Yannik auf mich wartet, wie er versprochen hat?
»Schon okay«, brummte Rica. Sie konnte es sowieso nicht ändern, warum also nicht versuchen, Frieden zu schließen?
Wieder bog der Wagen um eine scharfe Kurve, und erneut tauchte ein Gebäude vor ihnen auf. Dieses war viel moderner als das Schlösschen, ein mehrstöckiger Kasten mit roten Klinkersteinen an der Fassade, einigen Garagen und einem kleinen Parkplatz daneben. Rica fand, das Haus sah so aus, als sei es aus einer Großstadt hierherversetzt worden. So wie ich.
Ihre Mutter lenkte das Auto auf einen der Parkplätze und stellte den Motor aus. Dann wandte sie sich mit erwartungsvollem Gesicht Rica zu.
»Wollen wir uns die Wohnung ansehen?«
Mit einem Seufzen griff Rica nach ihrem kleinen Rucksack und öffnete die Wagentür. Ein Schwall warmer Luft schlug ihr entgegen.
Gleichzeitig strömten Geräusche und Gerüche auf sie ein, als hätte sie sich aus einer Isolationskammer unvermittelt in die Wirklichkeit begeben. Die Luft roch nach warmem Asphalt und gemähtem Gras, und natürlich nach Bäumen. Ein harziger, nicht unangenehmer Duft, und Rica konnte nicht anders, als einmal tief durchzuatmen. Von irgendwoher war das Geschrei von jüngeren Kindern zu hören, und in den dichten Zweigen der Bäume zwitscherten ein paar Vögel.
Vielleicht ist es auf dem Land doch gar nicht so schlimm, dachte Rica und schob den Gurt des Rucksacks über ihre Schulter.
»Ma?«
»Was ist?« Ihre Mutter beugte sich hinter dem Auto hervor. Sie hatte schon den Kofferraum geöffnet und war gerade dabei, Reisetaschen auszuladen. Die wenigen Möbel, die sie mitgenommen hatten, würden später mit einem Kleintransporter nachgeliefert werden, vielleicht morgen. Wichtig war das nicht, denn die Apartments, die hier für Lehrer und Erzieher gestellt wurden, waren ohnehin möbliert.
»Ich will mich ein bisschen umsehen.« Rica schlüpfte in den zweiten Rucksackgurt.
»Aber wir haben noch gar nicht ausgepackt. Und die Wohnung - «
»Ich bekomme die Wohnung schon noch früh genug zu sehen.« Ricas Tonfall war patziger, als sie beabsichtigt hatte. Sie versuchte, es durch ein Lächeln auszugleichen, und machte mit der Rechten eine weit ausholende Bewegung, die die ganze Umgebung einschloss. »Das Licht ist jetzt gut. Ich würde gern ein paar Bilder machen. Ich muss unbedingt Lena zeigen, wie es hier aussieht.« Sie verlegte sich auf ihren Hundeblick. »Bitte, Ma, ich hab versprochen, dass ich ihr gleich schreibe, wenn ich hier bin. Und dass ich Fotos mache.« Nichts dergleichen hatte sie getan, doch ihrer Mutter lag zu viel an Ricas »Sozialleben«, wie sie es nannte, um sich dem Argument zu widersetzen.
»Also gut. Aber sei bald wieder da, ja? Du solltest dich für morgen vorbereiten. Immerhin ist das dein erster Tag hier an der neuen Schule.«
Als ob es da viel vorzubereiten gab. Rica würde ja ohnehin mit einer neuen Klasse, einem neuen Schuljahr und vermutlich auch ganz neuen Fächern hier anfangen. Wer wusste schon, was sie in diesem Elitebunker so lehrten. Vermutlich Wirtschaftsinformatik oder so einen Müll. Dennoch blieb Rica noch einen Moment stehen, um ihrer Mutter die Gelegenheit zu geben, ihre üblichen Sprüche zu ergänzen. »Bleib nicht zu lange weg! Pass auf, mit wem du redest! Ruf an, wenn du später heimkommst!« Aber Rica wartete vergebens. Ihre Mutter lächelte nur und nickte ihr zu.
»Nun geh schon!«
Und da verstand sie. Es gab keinen Grund, sie hier zur Vorsicht zu ermahnen. Das hier war nicht die Großstadt. Hier war Rica umgeben von einem hohen Metallzaun, der alle potenziellen Gewalttäter draußen halten würde, und es gab auch keinen Ort, wohin sie gehen und dann zu lange wegbleiben konnte. Ich bin in einem hübschen Käfig gelandet, und ihr ist das nur recht, dachte Rica. Sie will nicht, dass ich auch noch verschwinde.
Sie seufzte und wandte sich ab. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wohin sie gehen sollte, sie kannte sich hier überhaupt nicht aus. Schließlich entschloss sie sich für die Richtung, aus der sie die Kinderstimmen hörte. Wer weiß, vielleicht gab es dort einen Sportplatz oder so was. Zumindest gab es da Menschen, die jünger als zwanzig waren. Viel jünger, so wie es sich anhörte. Aber gut, man konnte nicht alles haben.
Ein grasiger Pfad führte von dem Klinkergebäude weg den Hang hinunter. Er war überschattet von einem Gewirr dichter Zweige und wirkte ein wenig wie ein grüner Tunnel. Rica blieb an seiner Mündung stehen und betrachtete ihn einen Moment lang versonnen. Sie überlegte, ob sie ihre geliebte Kamera hervorkramen und ein Bild von diesem unwirklichen Tunnel schießen sollte. Ein Tor in die Anderswelt, dachte sie. Doch sie entschied sich gegen die Kamera. Sie war noch ein ganzes Jahr lang hier, mindestens. Der grüne Tunnel konnte eine Weile warten, bis er fotografiert wurde.
Sie folgte dem Pfad bergab, und die Kinderstimmen wurden lauter. Jetzt vernahm Rica auch die eine oder andere tiefere Stimme, keine Lehrer oder sonstige Erwachsene. Jugendliche. Vielleicht Trainer, vielleicht auch einfach ein paar ältere, die die Kids vom Sportplatz vertreiben wollten. Rica beschleunigte ihre Schritte.
Der Pfad öffnete sich auf einen seichten Grashang, der leicht abfiel, bis er in eine ebene Fläche überging, auf der sich tatsächlich hübsch aufgereiht vier Tennisplätze, ein Fußballfeld und eine Aschebahn befanden. Rica hielt inne, um sich die ganze Szenerie in Ruhe anzusehen. Das Fußballfeld war übersät mit Kindern - Unterstufler, vielleicht elf oder zwölf Jahre alt -, die lautstark und ausgelassen Völkerball spielten. Zwei der Tennisplätze waren ebenfalls besetzt, einer von zwei unfassbar hübschen Mädchen mit langen Beinen unter ihren Tennisröckchen und unwahrscheinlich blonden Haaren, der andere von einem gemischten Paar. Eine Gruppe Jugendlicher hatte zwei Bänke zwischen den beiden Plätzen in Beschlag genommen, und sie taten so, als ob sie das Spiel des gemischten Pärchens beobachteten. Dabei warfen zumindest die Jungen immer wieder sehnsüchtige Blicke zu den blonden Mädchen hinüber. Typisch.
Rica grinste.
Die drei Jungs hockten dicht beieinander, kumpelhaft, scheinbar tief ins Gespräch vertieft. Ein Stück weiter die beiden Mädchen, die nicht so richtig dazuzugehören schienen, aber auch nicht vollkommen ausgeschlossen waren. Sie saßen auf der Lehne der zweiten Bank, hielten ihren Blick fest auf das Spielfeld mit dem gemischten Pärchen gerichtet und warfen den Jungs ab und zu eine Bemerkung zu.
Rica setzte sich wieder in Bewegung, den Hang hinunter und direkt auf die Gruppe zu. Eines der Mädchen entdeckte sie als Erste. Sie hatte lange, auffällig rote Haare, die ihr in einer weichen Mähne den Rücken hinunterfielen, und trug Jeans und eine geblümte Bluse. Ein bisschen zu brav für Ricas Geschmack. Die andere war deutlich auffälliger. Sie hatte eine pechschwarze Igelfrisur. Wahrscheinlich gefärbt. Mit Gel waren ihre kurzen Haare zu kleinen Spitzen gezupft, und sie hatte zu ihrer Jeans ein leuchtend pinkfarbenes, eng anliegendes T-Shirt angezogen. Nicht ganz der Aufzug, in dem sich Rica hätte sehen lassen wollen, aber immerhin nahe genug dran.
Die Rothaarige stieß der Pinkfarbenen einen Ellbogen in die Seite und deutete auf Rica. Gemeinsam starrten ihr die beiden Mädchen entgegen, als wäre sie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Na ja, vielleicht war das für diese Landeier ja auch so. Reiß dich zusammen, Rica, du weißt doch gar nicht, woher sie stammen. Nur weil sie auf diese Schule gehen. Und außerdem: Du klingst wie eine arrogante Zicke, falls du es noch nicht bemerkt hast.
»Hey«, begrüßte die Rothaarige Rica. Sie lächelte schüchtern. »Bist du neu hier?« In ihrer Stimme lag ein ganz leichter Akzent, den Rica nicht einordnen konnte. Jedenfalls glaubte sie nicht, dass er hier in den Schwarzwald gehörte.
Rica zuckte mit den Schultern, legte den Kopf schief und sah die Mädchen so lange fragend an, bis diese verstanden und ein Stück auf der Lehne beiseiterutschten, sodass Rica sich zu ihnen setzen konnte. Sie hockte sich neben die Rothaarige und konnte einen leichten, süßen Duft wahrnehmen, der von ihr ausging. Irgendein besonderes Shampoo wahrscheinlich. Es war Rica zu blumig, aber sie musste gestehen, dass es zu diesem Mädchen passte.
»Meine Ma wird hier unterrichten«, beantwortete sie die Frage. »Da musste ich wohl mit.«
»Ah.« Offensichtlich waren der Rothaarigen die Worte ausgegangen. Sie blickte auf ihre Füße und wand ihre Finger umeinander, als hätte Rica ihr eine schwierige Prüfungsfrage gestellt, auf die sie keine Antwort wusste.
Die Schwarzhaarige beugte sich vor und streckte Rica ihre Hand hin. »Ich bin Jo. Das ist Eliza.« Sie sprach beides englisch aus.
»Rica«, sagte Rica und griff nach Jos Hand. Am Handgelenk des Mädchens konnte sie einige schmale Linien erkennen. Blasse Narben, quer zum Arm verlaufend. Allerdings waren die Narben dünn und kaum noch zu sehen. Alte Wunden. Ob sie deswegen hier ist? Ob ihre Eltern sie unter Aufsicht haben wollten?
Rica hob ihren Blick und sah Jo ins Gesicht. Es wirkte hart und ein bisschen kantig, aber vielleicht war das auch nur ihr wild entschlossener Ausdruck. Im Gegensatz zu Eliza, die in Ricas Alter sein mochte, war Jo schon älter. Vielleicht bereits volljährig.
»Willkommen im Irrenhaus, Rica«, sagte Jo und lachte. Eliza guckte vollkommen entsetzt und boxte ihr wieder mit dem Ellbogen in die Seite.
»Sag so was doch nicht!«, murmelte sie. Gleichzeitig warf sie einen Blick über die Schulter zurück, als erwarte sie, dass dort gleich jemand auftauchte und sie zur Rede stellte.
»Wieso? Wir haben sogar unsere eigene Therapeutin.« Jo malte mit den Fingerspitzen Anführungszeichen in die Luft, als sie das letzte Wort sagte. Sehr überzeugt sah sie nicht aus.
Rica brauchte einen Moment, bevor ihr etwas darauf einfiel. »Da müsst ihr ja ziemlich irre sein, hier«, erwiderte sie. Sie hatte gehofft, es genau so locker hinwerfen zu können wie Jo, aber so richtig gelang ihr das nicht. Ihre Stimme hörte sich in ihren Ohren verzerrt und falsch an. Wohin bin ich hier nur geraten?
Jo zuckte mit den Schultern.
»Nicht alle von uns so irre wie Josefine«, entgegnete Eliza leise, aber bestimmt. Sie zog den Namen extra in die Länge, um ihn noch lächerlicher klingen zu lassen. Jo schnitt eine Grimasse, schwieg aber und wandte sich wieder dem Spielfeld zu. Die drei Jungs auf der anderen Bank taten so, als hätten sie überhaupt nicht bemerkt, dass sich noch ein Mädchen zu den beiden anderen auf der Bank gesellt hatte. Sie hatten die Köpfe zu den beiden Blondinen umgedreht und raunten sich gegenseitig halblaute Kommentare zu. Wahrscheinlich über die Form der Hintern.
»Wie ist es hier denn so?«, fragte Rica Eliza.
Eliza zuckte mit den Schultern. »Wenn du im Vergleich zu anderen Schulen meinst - keine Ahnung. Bin schon so lange hier, wie ich denken kann. Mein Pa ist total oft zu Hause in England, und meine Ma begleitet ihn dann. Schätze, darum haben sie keine Zeit, sich um mich zu kümmern. Deswegen bin ich hier.«
England. Das erklärte den Namen und den leichten Akzent. Doch bevor Rica etwas sagen konnte, unterbrach Jo sie.
»Du bist hier, weil du ein verdammtes Genie bist, Liz. So wie wir alle.«
Eliza zuckte leicht zusammen. »Ach was«, murmelte sie. »Ich bin kein Genie.«
»Nein? Geh mal an eine normale Schule und frag herum, wie viele Leute in deinem Alter fließend Latein, Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch und Japanisch sprechen!«, fuhr Jo sie an. »Oder frag nach ihren Mathenoten. Oder danach, ob sie die Börsenkurse erklären und sinnvoll interpretieren können.«
Eliza lächelte entschuldigend, sagte aber nichts. Rica schluckte.
»Muss man hier so viele Sprachen sprechen können?«, wollte sie wissen. Sie hatte eigentlich geglaubt, dass sie mit ihrem Englisch und Französisch schon ganz gut dabei war. Ein paar Mitschüler an ihrer alten Schule konnten nicht mal richtig Englisch sprechen und verstehen.
Eliza schüttelte den Kopf. »Nur wenn du magst«, erwiderte sie. »Ich interessiere mich eben für Sprachen. Da habe ich ein paar Extrakurse belegt.«
»Ein paar?« Jo schnaubte so laut, dass die drei Jungs nun doch herübersahen. Sie taten so, als hätten sie Rica gerade erst entdeckt, und grinsten, halb anerkennend, halb anzüglich.
»He, Ringelblume!«, rief einer von ihnen. »Wo haben sie dich denn gepflückt?«
Rica warf nur einen kurzen Blick auf ihre pink-schwarz geringelten Leggings, bevor sie sich vorbeugte und dem Kerl ins Gesicht grinste. »Könnte ich dir sagen«, gab sie zurück, »aber ich will dir keinen Schock versetzen. Ich hab gelernt, man soll den Eingeborenen nicht die eigene Kultur aufzwingen.«
Jo lachte, und selbst Eliza grinste schüchtern. Der Junge - ein großer Kerl mit mittelbraunem, kunstvoll zerzaustem Haar - schien zu überlegen, ob er sauer sein sollte oder nicht. Schließlich zuckte er mit den Schultern und entschloss sich, ebenfalls zu lachen.
»Torben«, rief er ihr zu, offensichtlich der Überzeugung, dass das reichte. Dann zeigte er auf die beiden links und rechts von sich. »Robin und Kai.«
Rica war kurz versucht, die drei einfach nicht weiter zu beachten, doch dann nickte sie Torben zu.
»Ich bin Rica.«
Über den scheinbar unüberbrückbaren Abgrund zwischen den zwei Sitzbänken hinweg sahen sie sich an. Jeder versuchte, den anderen einzuschätzen. Rica wusste nicht, zu welchem Schluss die Jungs kamen, sie jedenfalls war ganz zufrieden. Die drei wirkten in Ordnung. Nicht halb solche Snobs, wie sie es von dieser Schule erwartet hätte. Der Junge rechts von Torben - Robin? - sah sogar ganz gut aus mit seinem karamellfarbenen Haar und den verstreuten Sommersprossen um die Nase herum. Nicht dass sie das zu interessieren hatte, immerhin wartete zu Hause noch Yannik auf sie, aber trotzdem ... Man durfte ja wohl ein bisschen gucken. Das konnte ihr doch keiner übel nehmen.
Nach der langen gegenseitigen Musterung richteten sowohl Rica als auch die Jungs ihre Aufmerksamkeit wieder aufs Spielfeld, wo sich das Pärchen inzwischen über das Netz hinweg die Hand schüttelte. Rica sah ihnen dabei zu, als sei es das Spannendste, was ihr in der letzten Zeit untergekommen war.
»Was meintest du damit - ihr seid hier alle Genies?«, fragte sie Jo.
»Sind wir halt.« Jo legte den Kopf schief und grinste, aber es sah nicht sehr echt aus. »Glaubst du mir etwa nicht?« Sie klang auf einmal irgendwie aggressiv. Unwillkürlich rückte Rica ein Stück auf der Bank nach außen und wäre beinah von der Kante gerutscht.
»Hab ich damit nicht sagen wollen«, patzte sie zurück, um ihre plötzliche Unsicherheit zu überspielen. »Aber das klingt schon ein bisschen seltsam und - «
»Josefine?« Eine Erwachsenenstimme unterbrach die Unterhaltung.
Alle Blicke schnellten in dieselbe Richtung, sogar die beiden Tennisspieler sahen auf. Eine Frau näherte sich auf dem gepflasterten Fußweg, der zwischen den Tennisplätzen entlanglief. Sie trug ein elegantes cremefarbenes Kostüm mit einer blauen Bluse und hatte das dunkelbraune Haar hochgesteckt. Ihre Haut wies eine perfekte Bräunung auf, und ihr Gang war so selbstbewusst, als könne ihr die Welt nichts anhaben. Rica hatte noch nie jemanden gesehen, der mehr Selbstsicherheit ausstrahlte. Und auch noch nie jemanden, der sie auf Anhieb so eingeschüchtert hätte.
»Josefine«, wiederholte die Frau und blieb vor der Bank stehen. Sie betrachtete die Füße der drei Mädchen auf der Sitzfläche argwöhnisch und zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. Sie wollte offensichtlich gerade etwas dazu sagen und blickte auf, doch da entdeckte sie Rica - und ihr Gesicht schien zu erstarren. Anders konnte Rica es gar nicht beschreiben. Der Ausdruck auf den Zügen der Fremden wurde steif und noch unechter als zuvor. Rica kam es so vor, als wolle die Frau sie mit ihren Augen durchleuchten.
»Ja, Frau Jansen?« Jo klang nun noch rebellischer und ein klein wenig ärgerlich.
Die Frau reagierte allerdings überhaupt nicht darauf. Es war, als habe sie Jo gar nicht gehört. Sie starrte weiterhin Rica an, als sei diese eine Erscheinung von einem anderen Planeten. Rica wusste nicht recht, was sie tun sollte. Verlegen sah sie zur Seite, dann kam ihr das unhöflich vor, und sie wandte sich wieder dem Gesicht der Frau zu. Noch immer schien diese völlig fassungslos zu sein.
»Ähm ... Guten Tag«, versuchte Rica es schließlich, damit wenigstens irgendjemand etwas sagte. Selbst die Jungs blickten inzwischen zu ihnen herüber, und Eliza hatte sich neben Rica so klein gemacht, als wolle sie am liebsten im Erdboden versinken.
»Ich bin neu hier an der Schule«, fuhr Rica fort, um ihre Anwesenheit zu erklären. »Meine Mutter hat eine Stelle hier angenommen. Vielleicht haben Sie von ihr gehört. Frau Lentz.«
Die Frau schluckte und schien sich allmählich wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Natürlich. Du musst Ricarda sein. Ricarda ... Lentz.« Sie machte eine seltsam lange Pause vor Ricas Nachnamen, als könne sie nicht recht glauben, dass dieser zu ihr gehörte.
»Genau.« Rica bemühte sich, ihrer Stimme so etwas wie unbeschwerte Fröhlichkeit zu verleihen, und sie strahlte die fremde Frau an. Wenn die nur endlich verschwinden würde. Sie hatte doch ohnehin zu Jo gewollt, oder?
»Ricarda Lentz«, wiederholte die Frau etwas leiser. »Sag mal, Ricarda, kennst du einen Thomas Rausner?«
Verwirrt schüttelte Rica den Kopf. Den Namen hatte sie noch nie gehört. Worauf wollte diese Frau hinaus?
»Bist du dir sicher? Hat deine Mutter ihn nicht vielleicht mal erwähnt?« Etwas Röte hatte sich in die Wangen der Frau geschlichen, und in ihren Augen lag nun ein fiebriger Glanz.
Rica schüttelte erneut den Kopf. »Sollte ich?«, fügte sie hinzu.
Die Frau schien zu überlegen. Dann atmete sie tief durch, und ein leichtes Lächeln stahl sich auf ihre Züge. »Nein ... Nein, nicht unbedingt. Vielleicht habe ich mich auch geirrt. Es tut mir leid, wenn ich dich irgendwie verwirrt haben sollte, Ricarda. Aber ich bin mir sicher, wir sehen uns dann bald, wenn du unsere Schule besuchst. Vielleicht möchtest du ja mal auf einen Kaffee vorbeikommen oder so etwas.«
Rica hatte nicht die geringste Lust, mit einer Lehrerin Kaffee zu trinken, aber das konnte sie ihr natürlich nicht ins Gesicht sagen. So machte sie nur eine unbestimmte Kopfbewegung, die zwischen einem Nicken, einem Kopfschütteln und einem Schulterzucken alles bedeuten konnte, und lächelte zurück.
Endlich wandte die Frau sich von ihr ab und wieder Jo zu. »Wir hatten einen Termin, Josefine, hast du ihn vergessen?«, fragte sie streng.
Jo verzog das Gesicht. »Mir geht es gut, ich brauche keine Sitzung, ehrlich.«
»Ich glaube nicht, dass du beurteilen kannst, was für dich am besten ist, Josefine«, erwiderte die Frau und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe jetzt Zeit. Wenn du also bitte mitkommen möchtest in mein Büro ...«
Jo sah so aus, als hätte sie so ziemlich alles lieber getan als das, aber nach einem hilflosen Blick zu Eliza und Rica beschloss sie wohl, dass sie hier keine Hilfe zu erwarten hatte. Sie seufzte, stand auf und sprang von der Bank. »Bringen wir's hinter uns, Frau Doktor«, schnaubte sie und drehte sich so rasch von den anderen weg, dass Rica beinah nicht aufgefallen wäre, wie seltsam ihre Augen glänzten. Sie blinzelte. Weinte Jo etwa? Doch im nächsten Moment stapfte Jo schon mit Riesenschritten den Weg entlang, und Frau Jansen beeilte sich, ihr zu folgen.
Rica schnappte nach Luft. »Wer war das denn?«, fragte sie.
Eliza schenkte ihr einen unergründlichen Blick. »Das war Frau Jansen«, meinte sie leise. »Die Schultherapeutin.«
Und was in aller Welt wollte sie von mir? Rica hütete sich allerdings, diese Frage laut auszusprechen.
© 2012 INK verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Am Ende der Welt Kapitel eins Am Ende der Welt K K omm schon, so schlimm ist es auch wieder nicht!« Rica starrte aus dem Seitenfenster und fragte sich, was bitte schön nicht so schlimm sein sollte. Weit und breit war nichts zu sehen, außer Bäumen, und Bäumen und Bäumen. Und - ach ja - ein riesiges Metallgittertor, das die Einfahrt zu einem Gebäude versperrte. Rica hasste Bäume. Gut, eigentlich nicht Bäume im Speziellen, so im Stadtpark waren sie ganz okay, aber diese Bäume hier waren etwas ganz anderes. Weil es außer ihnen hier so rein gar nichts zu geben schien.
Ihre Mutter lächelte nervös, bremste den Wagen vor dem Tor und ließ ihr Fenster herunter. Aus einem kleinen Häuschen neben dem Tor trat ein Mann in Uniform an das Auto heran. Er lächelte breit. Rica verzog das Gesicht und wandte sich demonstrativ von ihm ab.
»Guten Tag. Ich nehme an, Sie sind Frau Lentz?« Er machte eine Pause, als wartete er auf eine Reaktion. Als keine kam, räusperte er sich. »Und Ihre Tochter Ricarda?« An seinem Tonfall hörte Rica, dass er versuchte, Blickkontakt zu ihr aufzunehmen, doch sie sah stur aus dem Fenster.
»Ich habe vorhin angerufen.« Ihre Mutter klang ein bisschen atemlos und nicht halb so optimistisch wie noch vor ein paar Stunden, als sie Rica weismachen wollte, wie toll hier alles werden würde. »Es hieß, wir können heute schon in die Wohnung? Das wäre wirklich wunderbar, da Rica doch morgen schon in die Schule soll, und andernfalls wäre alles ein wenig hektisch.« Rica konnte das Lächeln in der Stimme ihrer Mutter hören. Ein unschuldiges Mädchenlächeln, das sie gern aufsetzte, wenn sie Männern das Gefühl geben wollte, dass sie ihr überlegen waren. Und die meisten Männer fuhren auch noch voll darauf ab.
»Klar geht das. Der Schlüssel ist hier für Sie hinterlegt worden. Wenn Sie mir noch Ihren Ausweis zeigen würden ...«
Papierrascheln, das Klimpern von Kleingeld in den Tiefen der Handtasche, ein paar gemurmelte Worte ihrer Mutter, dann fand offensichtlich die Schlüsselübergabe statt. Rica tat weiterhin so, als würde sie ignorieren, was sich neben ihr abspielte, auch wenn die Aussicht auf die Bäume auf ihrer Seite allmählich etwas langweilig wurde. Ein rotes Eichhörnchen hüpfte im Unterholz herum, richtete sich einmal kurz auf und sah neugierig zum Auto herüber, bevor es mit großen Sprüngen auf dem nächsten Baum verschwand. Gegen ihren Willen entlockte das Tierchen Rica ein halbes Lächeln.
»Sie wissen, wohin?« Die Stimme des Wachmannes holte Rica wieder in die Gegenwart zurück.
»Ich habe mir die Wohnung schon angesehen, danke.« Jetzt, da alles zu ihrer Zufriedenheit verlaufen war, hörte sich der Ton ihrer Mutter wieder selbstbewusst und professionell an. Keine Spur mehr von dem kleinen, unsicheren Mädchen, das sich verlaufen hat und dringend Hilfe benötigt. Wieder musste Rica lächeln. Meine Mutter ist ein Biest, dachte sie.
Der Wagen setzte sich in Bewegung. Das Metalltor war beiseitegeglitten, ohne einen Laut von sich zu geben, unter den Reifen knirschten ein paar Krümel Kies, die vom Seitenstreifen auf den Asphalt gekullert waren. Einige Augenblicke lang waren wieder nur Bäume zu sehen, dann jedoch tauchte das Auto aus dem Schatten des Wäldchens, und Rica musste einen überraschten Ausruf unterdrücken.
Die Auffahrt wand sich einen grasbewachsenen Hügel hinauf, auf dessen Kuppe ein Schloss thronte. Zumindest sah es im ersten Moment aus wie ein Schloss. Die weiß getünchte Fassade schimmerte im Sonnenlicht, und rechts und links gab es kleine Türmchen, die sich in einen mit watteweißen Wolken übersäten Himmel streckten. Ein paar gepflegte alte Kastanien und Beete voller bunter Sommerblumen zierten die Vorderseite gleich neben einem modernen und gar nicht so übel aussehenden Skateplatz und einer wirklich beeindruckenden Kletterwand. Ein paar Jugendliche lungerten am Rand des Platzes herum und sahen einem Skater bei seiner Performance zu. Rica wandte den Kopf, um besser sehen zu können, doch da bog ihre Mutter auch schon auf einen Seitenweg ab, der von dem Gebäude fort und - wieder einmal - auf einen kleinen Wald zu führte.
»Gefällt's dir?« Ricas Mutter hatte mitbekommen, wie Rica ihren Hals verdrehte, um noch einmal einen Blick auf das kleine Schloss und die Skater davor zu werfen. Ein so ungewöhnliches Bild, dass sie sich wünschte, ihre Kamera zur Hand zu haben. Doch die lag gut verstaut auf dem Boden ihres Rucksacks.
Ertappt drehte Rica sich nach vorn, sie konnte das Grinsen auf dem Gesicht ihrer Mutter nur zu gut sehen.
»Es gefällt dir«, stellte diese fest. »Siehst du, alles gar nicht so schlimm. Ich bin mir sicher, wir leben uns hier gut ein.«
»Trotzdem«, murmelte Rica, merkte, dass sie sich anhörte wie ein trotziges Kleinkind, und seufzte. »Ich wünschte nur, es wäre nicht so weit weg von ... allem.« Von Yannik, hatte sie sagen wollen. Von Yannick und Lena und Claire und all den anderen. Aber das hatte sie nun wirklich schon oft genug zum Besten gegeben, und ihre Mutter würde genauso wenig darauf eingehen wie die Dutzend Male zuvor.
»Ist ja erst mal nur ein Schuljahr. Du kommst schon früh genug zurück zu deinen Freundinnen.« Ricas Mutter versuchte ein aufmunterndes Lächeln, doch ganz gelang ihr das nicht. Sie wusste selbst, was sich in einem Jahr alles verändern konnte.
Ob Yannik auf mich wartet, wie er versprochen hat?
»Schon okay«, brummte Rica. Sie konnte es sowieso nicht ändern, warum also nicht versuchen, Frieden zu schließen?
Wieder bog der Wagen um eine scharfe Kurve, und erneut tauchte ein Gebäude vor ihnen auf. Dieses war viel moderner als das Schlösschen, ein mehrstöckiger Kasten mit roten Klinkersteinen an der Fassade, einigen Garagen und einem kleinen Parkplatz daneben. Rica fand, das Haus sah so aus, als sei es aus einer Großstadt hierherversetzt worden. So wie ich.
Ihre Mutter lenkte das Auto auf einen der Parkplätze und stellte den Motor aus. Dann wandte sie sich mit erwartungsvollem Gesicht Rica zu.
»Wollen wir uns die Wohnung ansehen?«
Mit einem Seufzen griff Rica nach ihrem kleinen Rucksack und öffnete die Wagentür. Ein Schwall warmer Luft schlug ihr entgegen.
Gleichzeitig strömten Geräusche und Gerüche auf sie ein, als hätte sie sich aus einer Isolationskammer unvermittelt in die Wirklichkeit begeben. Die Luft roch nach warmem Asphalt und gemähtem Gras, und natürlich nach Bäumen. Ein harziger, nicht unangenehmer Duft, und Rica konnte nicht anders, als einmal tief durchzuatmen. Von irgendwoher war das Geschrei von jüngeren Kindern zu hören, und in den dichten Zweigen der Bäume zwitscherten ein paar Vögel.
Vielleicht ist es auf dem Land doch gar nicht so schlimm, dachte Rica und schob den Gurt des Rucksacks über ihre Schulter.
»Ma?«
»Was ist?« Ihre Mutter beugte sich hinter dem Auto hervor. Sie hatte schon den Kofferraum geöffnet und war gerade dabei, Reisetaschen auszuladen. Die wenigen Möbel, die sie mitgenommen hatten, würden später mit einem Kleintransporter nachgeliefert werden, vielleicht morgen. Wichtig war das nicht, denn die Apartments, die hier für Lehrer und Erzieher gestellt wurden, waren ohnehin möbliert.
»Ich will mich ein bisschen umsehen.« Rica schlüpfte in den zweiten Rucksackgurt.
»Aber wir haben noch gar nicht ausgepackt. Und die Wohnung - «
»Ich bekomme die Wohnung schon noch früh genug zu sehen.« Ricas Tonfall war patziger, als sie beabsichtigt hatte. Sie versuchte, es durch ein Lächeln auszugleichen, und machte mit der Rechten eine weit ausholende Bewegung, die die ganze Umgebung einschloss. »Das Licht ist jetzt gut. Ich würde gern ein paar Bilder machen. Ich muss unbedingt Lena zeigen, wie es hier aussieht.« Sie verlegte sich auf ihren Hundeblick. »Bitte, Ma, ich hab versprochen, dass ich ihr gleich schreibe, wenn ich hier bin. Und dass ich Fotos mache.« Nichts dergleichen hatte sie getan, doch ihrer Mutter lag zu viel an Ricas »Sozialleben«, wie sie es nannte, um sich dem Argument zu widersetzen.
»Also gut. Aber sei bald wieder da, ja? Du solltest dich für morgen vorbereiten. Immerhin ist das dein erster Tag hier an der neuen Schule.«
Als ob es da viel vorzubereiten gab. Rica würde ja ohnehin mit einer neuen Klasse, einem neuen Schuljahr und vermutlich auch ganz neuen Fächern hier anfangen. Wer wusste schon, was sie in diesem Elitebunker so lehrten. Vermutlich Wirtschaftsinformatik oder so einen Müll. Dennoch blieb Rica noch einen Moment stehen, um ihrer Mutter die Gelegenheit zu geben, ihre üblichen Sprüche zu ergänzen. »Bleib nicht zu lange weg! Pass auf, mit wem du redest! Ruf an, wenn du später heimkommst!« Aber Rica wartete vergebens. Ihre Mutter lächelte nur und nickte ihr zu.
»Nun geh schon!«
Und da verstand sie. Es gab keinen Grund, sie hier zur Vorsicht zu ermahnen. Das hier war nicht die Großstadt. Hier war Rica umgeben von einem hohen Metallzaun, der alle potenziellen Gewalttäter draußen halten würde, und es gab auch keinen Ort, wohin sie gehen und dann zu lange wegbleiben konnte. Ich bin in einem hübschen Käfig gelandet, und ihr ist das nur recht, dachte Rica. Sie will nicht, dass ich auch noch verschwinde.
Sie seufzte und wandte sich ab. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wohin sie gehen sollte, sie kannte sich hier überhaupt nicht aus. Schließlich entschloss sie sich für die Richtung, aus der sie die Kinderstimmen hörte. Wer weiß, vielleicht gab es dort einen Sportplatz oder so was. Zumindest gab es da Menschen, die jünger als zwanzig waren. Viel jünger, so wie es sich anhörte. Aber gut, man konnte nicht alles haben.
Ein grasiger Pfad führte von dem Klinkergebäude weg den Hang hinunter. Er war überschattet von einem Gewirr dichter Zweige und wirkte ein wenig wie ein grüner Tunnel. Rica blieb an seiner Mündung stehen und betrachtete ihn einen Moment lang versonnen. Sie überlegte, ob sie ihre geliebte Kamera hervorkramen und ein Bild von diesem unwirklichen Tunnel schießen sollte. Ein Tor in die Anderswelt, dachte sie. Doch sie entschied sich gegen die Kamera. Sie war noch ein ganzes Jahr lang hier, mindestens. Der grüne Tunnel konnte eine Weile warten, bis er fotografiert wurde.
Sie folgte dem Pfad bergab, und die Kinderstimmen wurden lauter. Jetzt vernahm Rica auch die eine oder andere tiefere Stimme, keine Lehrer oder sonstige Erwachsene. Jugendliche. Vielleicht Trainer, vielleicht auch einfach ein paar ältere, die die Kids vom Sportplatz vertreiben wollten. Rica beschleunigte ihre Schritte.
Der Pfad öffnete sich auf einen seichten Grashang, der leicht abfiel, bis er in eine ebene Fläche überging, auf der sich tatsächlich hübsch aufgereiht vier Tennisplätze, ein Fußballfeld und eine Aschebahn befanden. Rica hielt inne, um sich die ganze Szenerie in Ruhe anzusehen. Das Fußballfeld war übersät mit Kindern - Unterstufler, vielleicht elf oder zwölf Jahre alt -, die lautstark und ausgelassen Völkerball spielten. Zwei der Tennisplätze waren ebenfalls besetzt, einer von zwei unfassbar hübschen Mädchen mit langen Beinen unter ihren Tennisröckchen und unwahrscheinlich blonden Haaren, der andere von einem gemischten Paar. Eine Gruppe Jugendlicher hatte zwei Bänke zwischen den beiden Plätzen in Beschlag genommen, und sie taten so, als ob sie das Spiel des gemischten Pärchens beobachteten. Dabei warfen zumindest die Jungen immer wieder sehnsüchtige Blicke zu den blonden Mädchen hinüber. Typisch.
Rica grinste.
Die drei Jungs hockten dicht beieinander, kumpelhaft, scheinbar tief ins Gespräch vertieft. Ein Stück weiter die beiden Mädchen, die nicht so richtig dazuzugehören schienen, aber auch nicht vollkommen ausgeschlossen waren. Sie saßen auf der Lehne der zweiten Bank, hielten ihren Blick fest auf das Spielfeld mit dem gemischten Pärchen gerichtet und warfen den Jungs ab und zu eine Bemerkung zu.
Rica setzte sich wieder in Bewegung, den Hang hinunter und direkt auf die Gruppe zu. Eines der Mädchen entdeckte sie als Erste. Sie hatte lange, auffällig rote Haare, die ihr in einer weichen Mähne den Rücken hinunterfielen, und trug Jeans und eine geblümte Bluse. Ein bisschen zu brav für Ricas Geschmack. Die andere war deutlich auffälliger. Sie hatte eine pechschwarze Igelfrisur. Wahrscheinlich gefärbt. Mit Gel waren ihre kurzen Haare zu kleinen Spitzen gezupft, und sie hatte zu ihrer Jeans ein leuchtend pinkfarbenes, eng anliegendes T-Shirt angezogen. Nicht ganz der Aufzug, in dem sich Rica hätte sehen lassen wollen, aber immerhin nahe genug dran.
Die Rothaarige stieß der Pinkfarbenen einen Ellbogen in die Seite und deutete auf Rica. Gemeinsam starrten ihr die beiden Mädchen entgegen, als wäre sie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Na ja, vielleicht war das für diese Landeier ja auch so. Reiß dich zusammen, Rica, du weißt doch gar nicht, woher sie stammen. Nur weil sie auf diese Schule gehen. Und außerdem: Du klingst wie eine arrogante Zicke, falls du es noch nicht bemerkt hast.
»Hey«, begrüßte die Rothaarige Rica. Sie lächelte schüchtern. »Bist du neu hier?« In ihrer Stimme lag ein ganz leichter Akzent, den Rica nicht einordnen konnte. Jedenfalls glaubte sie nicht, dass er hier in den Schwarzwald gehörte.
Rica zuckte mit den Schultern, legte den Kopf schief und sah die Mädchen so lange fragend an, bis diese verstanden und ein Stück auf der Lehne beiseiterutschten, sodass Rica sich zu ihnen setzen konnte. Sie hockte sich neben die Rothaarige und konnte einen leichten, süßen Duft wahrnehmen, der von ihr ausging. Irgendein besonderes Shampoo wahrscheinlich. Es war Rica zu blumig, aber sie musste gestehen, dass es zu diesem Mädchen passte.
»Meine Ma wird hier unterrichten«, beantwortete sie die Frage. »Da musste ich wohl mit.«
»Ah.« Offensichtlich waren der Rothaarigen die Worte ausgegangen. Sie blickte auf ihre Füße und wand ihre Finger umeinander, als hätte Rica ihr eine schwierige Prüfungsfrage gestellt, auf die sie keine Antwort wusste.
Die Schwarzhaarige beugte sich vor und streckte Rica ihre Hand hin. »Ich bin Jo. Das ist Eliza.« Sie sprach beides englisch aus.
»Rica«, sagte Rica und griff nach Jos Hand. Am Handgelenk des Mädchens konnte sie einige schmale Linien erkennen. Blasse Narben, quer zum Arm verlaufend. Allerdings waren die Narben dünn und kaum noch zu sehen. Alte Wunden. Ob sie deswegen hier ist? Ob ihre Eltern sie unter Aufsicht haben wollten?
Rica hob ihren Blick und sah Jo ins Gesicht. Es wirkte hart und ein bisschen kantig, aber vielleicht war das auch nur ihr wild entschlossener Ausdruck. Im Gegensatz zu Eliza, die in Ricas Alter sein mochte, war Jo schon älter. Vielleicht bereits volljährig.
»Willkommen im Irrenhaus, Rica«, sagte Jo und lachte. Eliza guckte vollkommen entsetzt und boxte ihr wieder mit dem Ellbogen in die Seite.
»Sag so was doch nicht!«, murmelte sie. Gleichzeitig warf sie einen Blick über die Schulter zurück, als erwarte sie, dass dort gleich jemand auftauchte und sie zur Rede stellte.
»Wieso? Wir haben sogar unsere eigene Therapeutin.« Jo malte mit den Fingerspitzen Anführungszeichen in die Luft, als sie das letzte Wort sagte. Sehr überzeugt sah sie nicht aus.
Rica brauchte einen Moment, bevor ihr etwas darauf einfiel. »Da müsst ihr ja ziemlich irre sein, hier«, erwiderte sie. Sie hatte gehofft, es genau so locker hinwerfen zu können wie Jo, aber so richtig gelang ihr das nicht. Ihre Stimme hörte sich in ihren Ohren verzerrt und falsch an. Wohin bin ich hier nur geraten?
Jo zuckte mit den Schultern.
»Nicht alle von uns so irre wie Josefine«, entgegnete Eliza leise, aber bestimmt. Sie zog den Namen extra in die Länge, um ihn noch lächerlicher klingen zu lassen. Jo schnitt eine Grimasse, schwieg aber und wandte sich wieder dem Spielfeld zu. Die drei Jungs auf der anderen Bank taten so, als hätten sie überhaupt nicht bemerkt, dass sich noch ein Mädchen zu den beiden anderen auf der Bank gesellt hatte. Sie hatten die Köpfe zu den beiden Blondinen umgedreht und raunten sich gegenseitig halblaute Kommentare zu. Wahrscheinlich über die Form der Hintern.
»Wie ist es hier denn so?«, fragte Rica Eliza.
Eliza zuckte mit den Schultern. »Wenn du im Vergleich zu anderen Schulen meinst - keine Ahnung. Bin schon so lange hier, wie ich denken kann. Mein Pa ist total oft zu Hause in England, und meine Ma begleitet ihn dann. Schätze, darum haben sie keine Zeit, sich um mich zu kümmern. Deswegen bin ich hier.«
England. Das erklärte den Namen und den leichten Akzent. Doch bevor Rica etwas sagen konnte, unterbrach Jo sie.
»Du bist hier, weil du ein verdammtes Genie bist, Liz. So wie wir alle.«
Eliza zuckte leicht zusammen. »Ach was«, murmelte sie. »Ich bin kein Genie.«
»Nein? Geh mal an eine normale Schule und frag herum, wie viele Leute in deinem Alter fließend Latein, Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch und Japanisch sprechen!«, fuhr Jo sie an. »Oder frag nach ihren Mathenoten. Oder danach, ob sie die Börsenkurse erklären und sinnvoll interpretieren können.«
Eliza lächelte entschuldigend, sagte aber nichts. Rica schluckte.
»Muss man hier so viele Sprachen sprechen können?«, wollte sie wissen. Sie hatte eigentlich geglaubt, dass sie mit ihrem Englisch und Französisch schon ganz gut dabei war. Ein paar Mitschüler an ihrer alten Schule konnten nicht mal richtig Englisch sprechen und verstehen.
Eliza schüttelte den Kopf. »Nur wenn du magst«, erwiderte sie. »Ich interessiere mich eben für Sprachen. Da habe ich ein paar Extrakurse belegt.«
»Ein paar?« Jo schnaubte so laut, dass die drei Jungs nun doch herübersahen. Sie taten so, als hätten sie Rica gerade erst entdeckt, und grinsten, halb anerkennend, halb anzüglich.
»He, Ringelblume!«, rief einer von ihnen. »Wo haben sie dich denn gepflückt?«
Rica warf nur einen kurzen Blick auf ihre pink-schwarz geringelten Leggings, bevor sie sich vorbeugte und dem Kerl ins Gesicht grinste. »Könnte ich dir sagen«, gab sie zurück, »aber ich will dir keinen Schock versetzen. Ich hab gelernt, man soll den Eingeborenen nicht die eigene Kultur aufzwingen.«
Jo lachte, und selbst Eliza grinste schüchtern. Der Junge - ein großer Kerl mit mittelbraunem, kunstvoll zerzaustem Haar - schien zu überlegen, ob er sauer sein sollte oder nicht. Schließlich zuckte er mit den Schultern und entschloss sich, ebenfalls zu lachen.
»Torben«, rief er ihr zu, offensichtlich der Überzeugung, dass das reichte. Dann zeigte er auf die beiden links und rechts von sich. »Robin und Kai.«
Rica war kurz versucht, die drei einfach nicht weiter zu beachten, doch dann nickte sie Torben zu.
»Ich bin Rica.«
Über den scheinbar unüberbrückbaren Abgrund zwischen den zwei Sitzbänken hinweg sahen sie sich an. Jeder versuchte, den anderen einzuschätzen. Rica wusste nicht, zu welchem Schluss die Jungs kamen, sie jedenfalls war ganz zufrieden. Die drei wirkten in Ordnung. Nicht halb solche Snobs, wie sie es von dieser Schule erwartet hätte. Der Junge rechts von Torben - Robin? - sah sogar ganz gut aus mit seinem karamellfarbenen Haar und den verstreuten Sommersprossen um die Nase herum. Nicht dass sie das zu interessieren hatte, immerhin wartete zu Hause noch Yannik auf sie, aber trotzdem ... Man durfte ja wohl ein bisschen gucken. Das konnte ihr doch keiner übel nehmen.
Nach der langen gegenseitigen Musterung richteten sowohl Rica als auch die Jungs ihre Aufmerksamkeit wieder aufs Spielfeld, wo sich das Pärchen inzwischen über das Netz hinweg die Hand schüttelte. Rica sah ihnen dabei zu, als sei es das Spannendste, was ihr in der letzten Zeit untergekommen war.
»Was meintest du damit - ihr seid hier alle Genies?«, fragte sie Jo.
»Sind wir halt.« Jo legte den Kopf schief und grinste, aber es sah nicht sehr echt aus. »Glaubst du mir etwa nicht?« Sie klang auf einmal irgendwie aggressiv. Unwillkürlich rückte Rica ein Stück auf der Bank nach außen und wäre beinah von der Kante gerutscht.
»Hab ich damit nicht sagen wollen«, patzte sie zurück, um ihre plötzliche Unsicherheit zu überspielen. »Aber das klingt schon ein bisschen seltsam und - «
»Josefine?« Eine Erwachsenenstimme unterbrach die Unterhaltung.
Alle Blicke schnellten in dieselbe Richtung, sogar die beiden Tennisspieler sahen auf. Eine Frau näherte sich auf dem gepflasterten Fußweg, der zwischen den Tennisplätzen entlanglief. Sie trug ein elegantes cremefarbenes Kostüm mit einer blauen Bluse und hatte das dunkelbraune Haar hochgesteckt. Ihre Haut wies eine perfekte Bräunung auf, und ihr Gang war so selbstbewusst, als könne ihr die Welt nichts anhaben. Rica hatte noch nie jemanden gesehen, der mehr Selbstsicherheit ausstrahlte. Und auch noch nie jemanden, der sie auf Anhieb so eingeschüchtert hätte.
»Josefine«, wiederholte die Frau und blieb vor der Bank stehen. Sie betrachtete die Füße der drei Mädchen auf der Sitzfläche argwöhnisch und zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. Sie wollte offensichtlich gerade etwas dazu sagen und blickte auf, doch da entdeckte sie Rica - und ihr Gesicht schien zu erstarren. Anders konnte Rica es gar nicht beschreiben. Der Ausdruck auf den Zügen der Fremden wurde steif und noch unechter als zuvor. Rica kam es so vor, als wolle die Frau sie mit ihren Augen durchleuchten.
»Ja, Frau Jansen?« Jo klang nun noch rebellischer und ein klein wenig ärgerlich.
Die Frau reagierte allerdings überhaupt nicht darauf. Es war, als habe sie Jo gar nicht gehört. Sie starrte weiterhin Rica an, als sei diese eine Erscheinung von einem anderen Planeten. Rica wusste nicht recht, was sie tun sollte. Verlegen sah sie zur Seite, dann kam ihr das unhöflich vor, und sie wandte sich wieder dem Gesicht der Frau zu. Noch immer schien diese völlig fassungslos zu sein.
»Ähm ... Guten Tag«, versuchte Rica es schließlich, damit wenigstens irgendjemand etwas sagte. Selbst die Jungs blickten inzwischen zu ihnen herüber, und Eliza hatte sich neben Rica so klein gemacht, als wolle sie am liebsten im Erdboden versinken.
»Ich bin neu hier an der Schule«, fuhr Rica fort, um ihre Anwesenheit zu erklären. »Meine Mutter hat eine Stelle hier angenommen. Vielleicht haben Sie von ihr gehört. Frau Lentz.«
Die Frau schluckte und schien sich allmählich wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Natürlich. Du musst Ricarda sein. Ricarda ... Lentz.« Sie machte eine seltsam lange Pause vor Ricas Nachnamen, als könne sie nicht recht glauben, dass dieser zu ihr gehörte.
»Genau.« Rica bemühte sich, ihrer Stimme so etwas wie unbeschwerte Fröhlichkeit zu verleihen, und sie strahlte die fremde Frau an. Wenn die nur endlich verschwinden würde. Sie hatte doch ohnehin zu Jo gewollt, oder?
»Ricarda Lentz«, wiederholte die Frau etwas leiser. »Sag mal, Ricarda, kennst du einen Thomas Rausner?«
Verwirrt schüttelte Rica den Kopf. Den Namen hatte sie noch nie gehört. Worauf wollte diese Frau hinaus?
»Bist du dir sicher? Hat deine Mutter ihn nicht vielleicht mal erwähnt?« Etwas Röte hatte sich in die Wangen der Frau geschlichen, und in ihren Augen lag nun ein fiebriger Glanz.
Rica schüttelte erneut den Kopf. »Sollte ich?«, fügte sie hinzu.
Die Frau schien zu überlegen. Dann atmete sie tief durch, und ein leichtes Lächeln stahl sich auf ihre Züge. »Nein ... Nein, nicht unbedingt. Vielleicht habe ich mich auch geirrt. Es tut mir leid, wenn ich dich irgendwie verwirrt haben sollte, Ricarda. Aber ich bin mir sicher, wir sehen uns dann bald, wenn du unsere Schule besuchst. Vielleicht möchtest du ja mal auf einen Kaffee vorbeikommen oder so etwas.«
Rica hatte nicht die geringste Lust, mit einer Lehrerin Kaffee zu trinken, aber das konnte sie ihr natürlich nicht ins Gesicht sagen. So machte sie nur eine unbestimmte Kopfbewegung, die zwischen einem Nicken, einem Kopfschütteln und einem Schulterzucken alles bedeuten konnte, und lächelte zurück.
Endlich wandte die Frau sich von ihr ab und wieder Jo zu. »Wir hatten einen Termin, Josefine, hast du ihn vergessen?«, fragte sie streng.
Jo verzog das Gesicht. »Mir geht es gut, ich brauche keine Sitzung, ehrlich.«
»Ich glaube nicht, dass du beurteilen kannst, was für dich am besten ist, Josefine«, erwiderte die Frau und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe jetzt Zeit. Wenn du also bitte mitkommen möchtest in mein Büro ...«
Jo sah so aus, als hätte sie so ziemlich alles lieber getan als das, aber nach einem hilflosen Blick zu Eliza und Rica beschloss sie wohl, dass sie hier keine Hilfe zu erwarten hatte. Sie seufzte, stand auf und sprang von der Bank. »Bringen wir's hinter uns, Frau Doktor«, schnaubte sie und drehte sich so rasch von den anderen weg, dass Rica beinah nicht aufgefallen wäre, wie seltsam ihre Augen glänzten. Sie blinzelte. Weinte Jo etwa? Doch im nächsten Moment stapfte Jo schon mit Riesenschritten den Weg entlang, und Frau Jansen beeilte sich, ihr zu folgen.
Rica schnappte nach Luft. »Wer war das denn?«, fragte sie.
Eliza schenkte ihr einen unergründlichen Blick. »Das war Frau Jansen«, meinte sie leise. »Die Schultherapeutin.«
Und was in aller Welt wollte sie von mir? Rica hütete sich allerdings, diese Frage laut auszusprechen.
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Autoren-Porträt von Veronika Bicker
Veronika Bicker, 1978 in Karlsruhe geboren, entdeckte schon während ihrer Schulzeit, wie viel Spaß es ihr macht, spannende Ideen auszutüfteln und diese in Worte zu fassen. In ihrer Studienzeit veröffentlichte sie bereits mehrere Kurzgeschichten in Anthologien und widmet sich heute nun ausschließlich dem Schreiben und ihren Büchern.
Bibliographische Angaben
- Autor: Veronika Bicker
- Altersempfehlung: 14 - 17 Jahre
- 2012, 2. Aufl., 352 Seiten, Maße: 13,5 x 21,7 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Ink
- ISBN-10: 3863960440
- ISBN-13: 9783863960445
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