Ostseesühne / Pia Korittki Bd.9
Kriminalroman
Ein neuer Fall für die Lübecker Kommissarin Pia Korritki: Wer ist der Tote im Feuerlöschteich?
Ein Postbote entdeckt im Teich eines Bauernhofes die halb verweste Leiche eines Mannes. Von den Hofbewohnern fehlt jede Spur....
Ein Postbote entdeckt im Teich eines Bauernhofes die halb verweste Leiche eines Mannes. Von den Hofbewohnern fehlt jede Spur....
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Produktinformationen zu „Ostseesühne / Pia Korittki Bd.9 “
Ein neuer Fall für die Lübecker Kommissarin Pia Korritki: Wer ist der Tote im Feuerlöschteich?
Ein Postbote entdeckt im Teich eines Bauernhofes die halb verweste Leiche eines Mannes. Von den Hofbewohnern fehlt jede Spur. Kommissarin Korritki erfährt, dass es sich um eine Familie mit einem »zurückgebliebenen« Sohn handelt. Außerdem kursiert ein Gerücht: Vor Jahren soll auf diesem Hof ein Mädchen gefangen gehalten worden sein...
Ein Postbote entdeckt im Teich eines Bauernhofes die halb verweste Leiche eines Mannes. Von den Hofbewohnern fehlt jede Spur. Kommissarin Korritki erfährt, dass es sich um eine Familie mit einem »zurückgebliebenen« Sohn handelt. Außerdem kursiert ein Gerücht: Vor Jahren soll auf diesem Hof ein Mädchen gefangen gehalten worden sein...
Klappentext zu „Ostseesühne / Pia Korittki Bd.9 “
Nichts ist tiefer als menschliche Abgründe - ein neuer Fall für Pia KorittkiIm Feuerlöschteich auf einem Bauernhof entdeckt ein Postbote eine halb verweste männliche Leiche. Von den Bewohnern des Hofes, einem Ehepaar und seinem 16-jährigen als zurückgeblieben geltenden Sohn, fehlt jede Spur. Pia Korittki übernimmt die Ermittlungen - und findet heraus, dass vor Jahren ein merkwürdiges Gerücht im Dorf kursierte, dem jedoch nie jemand nachgegangen ist: Auf dem Hof soll damals ein Mädchen gefangen gehalten worden sein ...Der neunte Band der erfolgreichen Krimi-Reihe von Bestsellerautorin Eva Almstädt!
Großformatiges Paperback. Klappenbroschur
Lese-Probe zu „Ostseesühne / Pia Korittki Bd.9 “
Ostseesühne von Eva AlmstädtProlog
Das Laub unter der dünnen Schneedecke knisterte. Im Dämmerlicht näherte sich Ulf Nielsen der Bodenerhebung im Wald. Andere würden es für einen gewöhnlichen Hügel halten, doch ihm verursachte allein die typische Form Herzklopfen. Das Wissen darüber, was es damit auf sich hatte. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe auf das Zifferblatt seiner Uhr. Noch ein paar Minuten bis Sonnenaufgang.
Die meisten seiner Mitmenschen lagen an einem Sonntagmorgen um diese Uhrzeit im warmen Bett. Er hatte Besseres zu tun. Ulf Nielsen lehnte sich gegen einen Baumstamm und nahm seine Spiegelreflexkamera zur Hand. Er wartete auf den magischen Moment, wenn die ersten Sonnenstrahlen auf die Reste der mittelalterlichen Turmhügelburg fallen und sie in seiner Fantasie zum Leben erwecken würden. Die Burg, oder auch Motte, war von einem breiten, immer noch sumpfigen Graben umgeben. So hatte man im 12. Jahrhundert von der natürlichen Schutzlage in den feuchten Niederungen profitiert. Als Lehrer für Erdkunde und Geschichte, und vor allem als Sachbuchautor, hatte er diesen Ort eingehend studiert.
... mehr
Gleich würde die Sonne über der nahen Ostsee aufgehen. Der Himmel hinter den Baumstämmen schimmerte schon lilagrau. Nielsens Herz schlug schneller. In seiner Vorstellung ergänzte er den Hügel durch einen Holzturm und eine Befestigungsanlage rundherum. Es waren mit Erde verfüllte Holzbarrikaden gewesen. Nur in Linau bei Trittau war ihm die Raubritterburg »Linowe« mit Resten eines Steinturms bekannt. Zu der Motte vor ihm, die »Ravensvelde« genannt wurde, hatte eine mit Wall und Graben geschützte Vorburg gehört, doch davon war selbst unter günstigen Lichtverhältnissen nichts mehr zu erkennen. Er stellte sich die Wachen vor, die über die Brüstung schauten und ins Wasser spuckten. In der Ferne klopfte ein Specht. Als die ersten Sonnenstrahlen über den Hügel fielen, nahm Ulf Nielsen die Kamera hoch und fotografierte mit verschiedenen Einstellungen.
Hinter ihm knackte etwas. Er ließ den Fotoapparat sinken und sah über seine Schulter. Allein im Wald fühlt sich ein Mensch nie ganz sicher, dachte er. Bei aller Vernunft behielten Urängste die Oberhand. Doch da war niemand. Es war nur ein Zweig gewesen, der durch den Frost gebrochen war. Er würde um diese Uhrzeit ja kaum Spaziergängern oder gar dem Bauern begegnen.
Ulf Nielsen kannte den Mann, auf dessen Grund und Boden er sich befand: Armin Fuhrmann, ein grober Klotz, den eine ehemalige Ritterburg auf seinem Land nicht die Bohne interessierte. Der es lästig fand, dass er an der Motte nichts verändern durfte. Der auch einen Eiskeller aus dem 17. Jahrhundert, der etwa zweihundert Meter von hier entfernt lag, für ein paar Steine, die er verkaufen konnte, abtragen würde.
Ulf Nielsen erinnerte sich, wie er Armin Fuhrmann und seine Frau vor ein paar Jahren davon überzeugen musste, ihren Sohn von der Hauptschule auf die Förderschule zu schicken. Jeder Mensch hatte ein Anrecht auf eine ihm angemessene und fördernde Bildung, selbst einer, der vor dreißig Jahren noch als Dorftrottel durchgefüttert worden wäre. Dieses Wort hatte er natürlich gegenüber den Eltern nicht in den Mund genommen. Trotzdem war Nielsen von Armin Fuhrmann beschimpft und schließlich auch körperlich bedroht worden. Die Mutter des Jungen hatte ihn nur entsetzt und ängstlich angestarrt. Es hatte zwar eine Weile gedauert, aber Nielsen hatte nicht locker gelassen und seinen Plan mithilfe der Schulleitung und des Jugendamtes schließlich durchgesetzt. Thilo Fuhrmann, so hieß der Junge, musste jetzt auch schon mit der Schule fertig sein. Was er wohl trieb? Nielsen erinnerte sich noch gut an ihn. Ein Kind mit einem auffallend hübschen Gesicht und unheimlichen grünen Augen. Dieser leere Blick, mit dem ihn Thilo während des Unterrichts verfolgt hatte . . . Er fröstelte. Es knackte wieder, scharf und hell, wie ein Schuss in weiter Ferne. Nielsen widerstand dem Drang, sich nochmals umzusehen. Nein, weder ein Raubritter noch der hünenhafte, grobschlächtige Armin Fuhrmann oder sein Sohn würden gleich hinter dem Hügel auftauchen. Er war allein im Wald. Dann fiel ihm ein, dass auch Jäger diese frühe Stunde bevorzugten. Auf der Fahrt mit dem Rad hierher hatte er auf einer Wiese Damwild im dichten Bodennebel äsen sehen. Ein weißes Tier hatte aus der Masse herausgestochen. Der Anblick des seltenen Wildtieres im Zwielicht war unheimlich gewesen. Ein Jäger, den Nielsen kannte, hatte ihm mal erzählt, dass er in vierzig Jahren kein einziges Mal auf weißes Rot-oder Damwild angelegt habe. Das bringe Unglück.
Die Freude an seinen mittelalterlichen Fantasien wollte sich heute nicht so recht einstellen. Es war zu kalt. Seine Gedanken an den schwierigen Jungen, und damit an seinen eigentlichen Beruf, hatten Nielsen zu sehr abgelenkt. Er hängte sich die Kamera über die Schulter und hauchte sich in die Hände. Dann machte er sich zu der Weide auf, an der er sein Fahrrad abgestellt hatte. Zurück in Bad Schwartau wollte er sich ein Frühstück beim Bäcker gönnen. Eine seiner Schülerinnen aus dem Erdkunde-Profil jobbte an den Wochenenden dort. Ulf Nielsen nahm sich vor, mit ihr zu plaudern. Sie war schüchtern, nicht sehr hübsch und hatte anscheinend nicht viele Freunde. In den Pausen sah er sie oft allein herumsitzen und lesen. Sie würde in einem Jahr mit der Schule fertig sein . . .
Er ging schneller. Der Boden war unangenehm weich, Brombeerranken zogen an seinen Hosenbeinen, und er trat in ein mit Wasser gefülltes Loch. Die eisige Brühe drang von oben in seinen linken Wanderschuh. Vor sich sah er nun die Kuppe eines lang gezogenen Hügels, an dessen Nordseite sich die Öffnung des Eiskellers befand. Hinter dem Eiskeller führte der Feldweg bis zum Röperhof, wo die Fuhrmanns lebten. Die großflächigen Dächer von Wohnhaus und Scheune lagen noch hinter dem nächsten Hügelkamm, aber in der Ferne blinkten ein paar Windräder im ersten Morgenlicht. Sie zerstörten Ulf Nielsens geschichtliche Visionen endgültig. Und noch etwas störte ihn: Hinter dem Eiskeller stand nun ein Auto.
Der Bauer? Oder ein Jäger? Hatten sie ihn auf dem Rad vorbeifahren sehen und waren dem vermeintlichen Störenfried gefolgt? Oder hatte jemand etwas im Eiskeller zu tun? Egal, er musste daran vorbeigehen, wenn er zu seinem Fahrrad wollte. Nielsen sah, dass der Boden vor dem Eiskeller aufgewühlt war. Fuß-und auch Schleifspuren in der puderzuckerartigen Schneedecke. Die Spuren konnten nicht vom gestrigen Abend stammen, weil es erst ein paar Stunden vor Sonnenaufgang zu schneien begonnen hatte. Die grob zusammengezimmerte Holztür, die den Eiskeller versperrte, war wie immer geschlossen. Nielsen konnte sich nicht vorstellen, dass jemand in den höhlenartigen Raum ging und die Tür hinter sich zuzog. Also war wohl niemand darin. Aber warum parkte dann das Auto hier? Unschlüssig stand er am Waldrand, bis er merkte, dass er zitterte und kaum noch Gefühl in seinem nassen Fuß hatte. Also weiter.
Im Vorbeigehen sah er, dass an der rostigen Metallöse an der Tür des Eiskellers eine neue Kette und ein neues Vorhängeschloss hingen. Wieder knackte es im Unterholz. Von diesem Moment an hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Doch im Zwielicht des Waldes war niemand zu sehen. Wurde er etwa auf seine alten Tage nervös?
Er würde noch einen Blick auf das Auto am Feldrand werfen, nur der Ordnung halber, und dann zurück nach Bad Schwartau fahren. Als er den Feldweg beinahe erreicht hatte, hörte er ein Trampeln und Rascheln, als bräche ein Wildschwein durch das Unterholz. Er wollte sich umdrehen, doch da spürte er schon einen heftigen Schlag zwischen den Schulterblättern und fiel nach vorn. Er landete in einer Pfütze. So groß ist kein Wildschwein, dachte er noch. Etwas drückte ihn hinunter, in das schwarze Wasser. Er hörte ein Keuchen und versuchte, sich hochzustemmen, doch der Gegendruck war zu stark. Da war eine Hand an seinem Hinterkopf, die in sein Haar verkrallt war und sein Gesicht in das eisige, faulig schmeckende Wasser tauchte. Er versuchte sich aufzurichten, seine Hände griffen in den glitschigen Untergrund. Kurz flackerten Bilder vor ihm auf, Bilder von Raubrittern und blutigen Schlachten, von überfallenen und ermordeten Kaufleuten . . . Da ließ der Druck auf seinen Kopf nach, und Nielsen fuhr, nach Luft schnappend, hoch. Das musste ein Irrtum sein, ein irrwitziger Streich! Er würde nicht in einer Pfütze ertrinken. Gleich würde jemand lachen und ihm hochhelfen, ihm auf die Schulter klopfen. Er würde weiterleben! Doch ein glühender Schmerz am Hinterkopf setzte diesem Gedanken ein Ende: Der Wald, der pulvrige Schnee auf zerwühltem Laub und das schwarze Wasser versanken in Dunkelheit.
1. Kapitel
Pia Korittki stand in ihrer Küche und filetierte eine Apfelsine. Der Fruchtsaft rann ihr über die Finger, und als das Messer aus Versehen in das weiche Fleisch schnitt, spritzte Fruchtsaft auf ihren nackten Bauch.
Sie unterdrückte einen leisen Fluch, denn sie wurde beobachtet. Neben ihr in seinem Kinderstuhl saß ihr Sohn Felix und aß ein Käsebrot. Er blickte sie aufmerksam aus großen, dichtbewimperten Augen an. Pia war nur mit Unterhose und einem schwarzen BH bekleidet. Das Top und der Hosenanzug, den sie zur Gerichtsverhandlung tragen wollte, hingen noch sauber und gebügelt am Schrank. Mit seinen zwei Jahren fand ihr Sohn es noch nicht komisch, wenn sie so herumlief. Wann sie wohl mal wieder ein erwachsener Mann so zu sehen bekommen würde? Ihre letzte Nacht mit Lars lag schon wieder ein paar Wochen zurück. Ein schöner Abend, wunderbarer Sex, und als sie ihn am Morgen darauf gebeten hatte zu gehen, bevor Felix wach wurde, hatte er mit Unverständnis reagiert. Er beschwerte sich, dass sie kaum Zeit für ihn habe. Sie hatte versucht, ihm begreiflich zu machen, dass sie wegen Felix eben vorsichtig sein müsse. Tja, und dann hatte sie noch gesagt, dass es ihr auf die Nerven gehe, wie er immer über ihren Beruf lästere. Er hatte gekontert, dass sie seine Hobbys ja auch nicht gerade gutheiße, woraufhin sie gesagt hatte, dass er schon wegen dieser bescheuerten Hobbys zeitlich mindestens genauso eingeschränkt sei wie sie, von seiner Agentur ganz zu schweigen ... Hatte sie wirklich »bescheuert« gesagt? Er war jedenfalls ziemlich wütend geworden und, wenn sie sich recht erinnerte, wutschnaubend gegangen. Seitdem herrschte Funkstille.
Pia seufzte bei der Erinnerung an den Streit und legte die Orangenscheiben zu den anderen Obststückchen in die Frühstücksdose. Sie verschloss sie mit einem kräftigen Druck ihres Handballens und legte sie in Felix' Rucksack. Obst und Vitamine, gute Mutter!, dachte sie spöttisch. Die Verhandlung vor Gericht heute würde weniger einfach werden.
Pia arbeitete als Kriminaloberkommissarin im Kommissariat 1 der Bezirkskriminalinspektion Lübeck. Heute sollte sie als Zeugin in einem Mordprozess aussagen. Sie war im Sommer an den Ermittlungen in einem Fall auf Fehmarn beteiligt gewesen, der großes Medieninteresse hervorgerufen hatte. Sie hoffte, dass die Presse ihre Aufmerksamkeit inzwischen anderen Ereignissen widmete. Der Täter war überführt und gefasst worden, eine Entführung, die mit der Tat in Zusammenhang stand, glimpflich ausgegangen. Doch Pia hatte damals eine unangenehme Begegnung mit dem Täter in ihrer Küche gehabt. Nicht daran denken! Die Befriedigung darüber, dass er sich heute vor Gericht für seine Taten verantworten musste, dass Jesko Ebel wahrscheinlich verurteilt werden würde, stellte sich nicht ein. Die Täter wurden früher oder später aus der Haft entlassen, spazierten frei herum und erfreuten sich unter Umständen ihres Lebens, während die Opfer für alle Zeiten tot waren oder traumatisiert blieben. Viele fürchteten sich sogar vor einer weiteren Begegnung mit dem Täter.
Pia warf einen Blick auf die Küchenuhr. Sie lag noch gut in der Zeit. Sie wollte Felix um kurz vor halb acht zu seiner Tagesmutter bringen, um dann rechtzeitig um acht im Gericht zu sein. Sie wischte Felix den Mund und die klebrigen Finger mit einem feuchten Waschlappen ab und trug ihn ins Bad, um ihm die Zähne zu putzen.
Felix streichelte ihr Haar. »Milla«, sagte er.
»Mama, nicht Milla«, korrigierte Pia.
»Milla bielen.«
Milla? Pias Mobiltelefon auf der Kommode im Flur vibrierte.
»Korittki.«
»Oh, gut, dass ich dich noch erwische, Pia! Es tut mir leid, aber du kannst Felix heute nicht zu mir bringen. Ich hab über Nacht wahnsinnige Zahnschmerzen bekommen und muss erst mal zum Zahnarzt.«
»Mist!«, entfuhr es Pia. »Ich meine, tut mir leid, dass du krank bist. Ich hab nur gleich einen Gerichtstermin.« Noch während sie sprach, wurde Pia klar, dass es nichts half. Wenn Fiona krank war, war sie krank. Felix begann, auf ihrem Arm zu zappeln, und sie ließ ihn herunter.
»Ja, es kommt immer alles auf einmal«, bestätigte die Tagesmutter. »Du bist leider nicht die Einzige, der das heute gar nicht passt. Hast du nicht einen Babysitter, der einspringen kann?«
»Ich weiß noch nicht, ich werde die beiden gleich mal anrufen. Dir gute Besserung!«
»Danke. Wenigstens konnten sie mich beim Zahnarzt gleich heute Vormittag einschieben. Wir hören uns wieder.«
»Gute Besserung und viel Glück!« Pia unterbrach die Verbindung und starrte auf ihr Telefon, als wüsste das die Lösung des Problems. Glück konnte sie jetzt ebenfalls gut gebrauchen.
Felix, der kein großer Fan des Zähneputzens war, war im Wohnzimmer verschwunden und spielte mit seinen Bausteinen. Pia ging ihr Telefonregister durch und suchte nach einer Alternative. Ihre Eltern waren nicht da. Lars fiel selbstredend aus. Ihre Freundin Susanne Herbold, die gleichzeitig ihre Vermieterin war, arbeitete tagsüber ebenfalls. Zwei ihrer sporadisch einspringenden Babysitter, die sie erreichte, waren auf dem Weg zur Schule oder zur Uni. Und jetzt war es schon Viertel nach sieben. Pia wusste niemanden mehr. Mitnehmen konnte sie Felix auch nicht. Allein die Vorstellung, ihn in die Nähe von Jesko Ebel zu bringen, bereitete ihr Magenschmerzen.
Seit sie ein Kind hatte, war ihr die Trennung von Privat-und Berufsleben wichtiger denn je. Wer also dann? Hinnerk, Felix' Vater? Sie hatten sich schon vor Felix' Geburt getrennt, doch seine Vaterrolle nahm Hinnerk sehr ernst. Er hatte inzwischen einen Studienplatz für Medizin in Lübeck bekommen, nachdem er sein Studium in Ungarn begonnen hatte. Verabredet war, dass er Felix an diesem Samstagvormittag abholte und das Wochenende mit ihm verbrachte. Mit von der Partie wäre seine neue Freundin, von der Pia bisher nur wusste, dass sie Mascha hieß. Sollte sie Hinnerk fragen, ob er spontan einspringen konnte, um ihr zu helfen? Letztlich hatte sie keine andere Wahl. Pünktlich zu einer Gerichtsverhandlung zu erscheinen war ihr dann doch wichtiger als ihr Stolz. Sie musste wohl oder übel über ihren Schatten springen. Zwanzig nach sieben! Hinnerk war ihre letzte Option. Pia spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Wie gut, dass sie noch nicht vollständig angezogen war. Sie wählte Hinnerks Mobilnummer.
Gernot Wiese stand im Wintergarten und beobachtete, wie die Schneeflocken gegen das Glas wehten, schmolzen und dann als Tropfen daran herunterrutschten. Manchmal vereinigten sie sich, meistens überholten sie sich gegenseitig. Eine Parabel auf das menschliche Miteinander. Auch er war gerade heimtückisch überholt worden. Gernot schloss Wetten mit sich selbst darüber ab, welche Tropfen bis unten durchkamen und welche nicht. Wenn der eine hier es bis an den Rahmen schaffte, würde es ein schlimmer Tag werden, unkte er. Wenn nicht, auch. Viel mehr hatte er sowieso nicht zu tun. Nicht einmal draußen herumlaufen konnte man bei diesem scheußlichen Wetter. Durch die nasse Scheibe konnte er in dem trüben Licht gerade noch bis zum Feldrand sehen. Es war kurz vor halb zehn und immer noch nicht richtig hell. Zum Weglaufen. Er musste laut gedacht haben, denn Anneke stand plötzlich hinter ihm und sagte: »Es wird heute nicht mehr heller, Gernot. Kannste vergessen. Arbeitest du heute wieder in deinem Café?« Sie klang aufreizend fröhlich.
Mit dem leeren Kaffeebecher in der Hand drehte er sich zu ihr um. Würdigte sie keiner Antwort. Es hatte neulich schon eine Diskussion darüber gegeben, warum er »vorgab«, im Café zu arbeiten, wo er doch so ein schönes Arbeitszimmer unter dem Dach hatte. Ob er da nur den Frauen hinterhergucken wolle? Er wünschte, Frauen wären sein Problem. Die Frau, mit der er seit acht Jahren verheiratet war, trug ein hellgraues Kostüm mit einer roten Bluse darunter. Sie hatte sich das Haar zu einem Zopf gebunden und sah effizient und erfolgreich aus. Nur die Schuhe passten nicht. Zur Schonung des Echtholzparketts trug sie im Haus nur Gesundheitssandalen. Wenn er besser drauf gewesen wäre, hätte ihn ihr Anblick aufgeheitert. Ihre Pumps würde sie sich erst an der Tür anziehen.
Sie hatten das Haus gemeinsam mit einem Architekten geplant und den Grundriss amerikanisch konzipiert. Durch die Garage gelangte man über einen Vorraum in die Küche. Sehr praktisch. Und natürlich äußerst schick.
Er sah etwas Grellgelbes am Fenster vorbeifahren. Der Postbote brachte immer zuerst den Fuhrmanns auf dem Bauernhof ein Stück die Straße hinunter die Post. Auf dem Rückweg kam er dann zu ihnen, den »Neubürgern«. In Groß Tensin galt man bei den Alteingesessenen auch nach fünfundzwanzig Jahren noch als Neubürger, hatte ihm der Bürgermeister mal jovial erklärt. Nichts für ungut . . .
Heute war es Gernot nur recht, dass der Postbote zuerst die »Alteingesessenen« bedachte. Er erwartete seit Tagen Post von seiner neuen Bank, die Anneke nicht sehen sollte.
»Das war doch unser Briefträger. Der Benjamin fährt auch bei jedem Wetter mit dem Rad«, sagte sie halb belustigt, halb bewundernd. Seit Anneke über vierzig war und Schokoladenkekse die Tendenz hatten, als Hüftgold an ihr kleben zu bleiben, registrierte sie akribisch die körperliche Fitness ihrer Mitmenschen und kommentierte sie auch. Ihr selbst reichte das Reiten als Sport nicht mehr aus. Sie zeigte zusätzlich ein bedenkliches Interesse an Fitnessübungen.
»Und wie immer in kurzen Hosen. Der Spinner«, ergänzte er, bevor sie seine nicht vorhandene Fitness kommentierte.
»Na, immerhin kann er sich das leisten.«
Sie schaute also neuerdings auf die Waden des Briefträgers. Seine, Gernots, waren ja auch nicht mehr so der Hammer.
Anneke wollte sich gerade von ihm verabschieden, hatte dann aber noch irgendetwas vergessen und lief noch mal nach oben in ihr Büro. Etwas für das nächste Meeting, den nächsten Call, die verdammte Geschäftsreise. Er hatte eine Frau geheiratet, die in einer Klamottenboutique arbeitete, und das hatte ihm gefallen. Er hatte sie damals gegenüber seinen arroganten Freunden sogar lauthals verteidigt. »Anneke ist eben nicht so übertrieben ehrgeizig. Dafür ist sie glücklich und zufrieden.« Und nun war sie Einkäuferin einer expandierenden Textilkette, während er in seinem Job als Werbetexter freigesetzt und mit einem Jahresgehalt abgefunden worden war. Finanziell wurde es langsam eng, aber wenn er erst mal seinen Internethandel mit Weinen aus Ostafrika aufgezogen hatte, dann würde sie schon schauen. Würden sie alle schauen. Hauptsache, seine Frau bekam jetzt ihren entzückenden kleinen Arsch vom Gelände, ohne vorher dem Postboten in die Arme zu laufen. Er hörte oben ihre raschen Schritte. Sie suchte noch etwas und hatte wahrscheinlich schon hektische Flecken am Hals. Gernot hingegen schlenderte in aller Ruhe in die offene Wohnküche und stellte seinen Becher auf der Granitarbeitsplatte ab. Heute würde Nicola zum Putzen kommen. Sollte die den wegräumen.
Ein paar Minuten lang stand er einfach so da. Das Küchenfenster war gekippt, deshalb hörte er, dass draußen Fahrradbremsen quietschten. Der Postbote war schon vom Nachbarhof zurück. Zeitgleich kam Anneke die Treppe herunter.
»Ich kümmere mich um die Post. Mach du dich in Ruhe fertig, Schatz!«, rief er ihr zu. Gernot öffnete die Haustür, um die Briefe entgegenzunehmen. Der Postbote war vom Rad gestiegen und beachtete ihn gar nicht. Er schüttelte gedankenverloren den Kopf, sodass sein nasser Zopf hin und her schwang.
»Moin! Ist irgendwas?« Gernot konnte sich keinen Reim auf das seltsame Verhalten des Mannes machen.
»Sorry. Ich weiß nicht. Keine Ahnung.« Der Postbote wühlte fahrig in seiner Posttasche. Kam, ohne etwas in der Hand zu halten, wieder hoch. Dann runzelte er die Stirn. »Würden Sie mir einen Gefallen tun, Herr Wiese?«
»Worum geht's?«
»Kommen Sie mit mir zu den Fuhrmanns? Ich muss da noch mal hin. Das war echt merkwürdig eben.«
»Was ist passiert?«
»Ich hab nach Elsa Fuhrmann gesucht, weil sie mir für ein Paket unterzeichnen sollte, aber sie war nicht da. Ich hab mich ein bisschen auf dem Hof und an den Ställen umgesehen und nach ihr gerufen . . . Ihr Mann wird ja angeblich immer ungemütlich, wenn er extra wegen eines Paketes zur Post fahren muss. Und da hab ich was Komisches gesehen.«
»Was denn gesehen?« Gernot verstand kein Wort.
»Einen Menschen - glaube ich.«
»Ach?«
»Im Feuerlöschteich.«
2. Kapitel
Gernot nahm seinen Wagen, um zum Hof der Fuhrmanns zu gelangen. Der Postbote schwang sich wieder auf sein Fahrrad. Über die Aufregung, dass endlich einmal was passierte, vergaß Gernot sogar, sich von seiner Frau zu verabschieden.
Der Röperhof, auf dem die Fuhrmanns lebten, lag etwas außerhalb des Dorfes an der Landstraße in Richtung Ostsee. Es gab auch einen Fußweg durch die Felder, über den man vom Grundstück der Wieses zu dem Hof gelangen konnte, doch das Verhältnis zu den Nachbarn und entfernten Verwandten war reserviert. Elsa war zwar Gernots Cousine, aber sie standen sich nicht nahe. Das lag unter anderem an Elsas Ehemann, den Gernot nicht leiden konnte. Und der ihn wohl auch nicht. Offiziell mit dem Wagen vorzufahren war ihm deshalb lieber. Und bei dem Schietwetter - es konnte jeden Moment wieder anfangen zu graupeln - sowieso. Das Baugrundstück für ihr Haus hatten er und Anneke vor acht Jahren in einer etwas komplizierten Aktion erworben. Eigentlich war das Grundstück kein Bauland gewesen, doch Armin Fuhrmann hatte das Geld gebraucht und deshalb einfach behauptet, ein Altenteil bauen zu wollen. Das war nämlich als große Ausnahme erlaubt gewesen. Und dann war mithilfe von ein paar Zuwendungen an richtiger Stelle, unter anderem an den Bürgermeister, der gerade angefangene Rohbau in ihren Besitz übergegangen. Ansonsten gab es auf dem Land immer nur Baugrund in ausgewiesenen Neubaugebieten zu kaufen, und das wäre nicht nach Gernots Geschmack gewesen. Da hätte er seinen Nachbarn ja den Salzstreuer von einem Küchenfenster zum nächsten weiterreichen können . . .
Er bog nach wenigen Metern wieder von der Landstraße ab und rumpelte den Sandweg mit den ausgewaschenen Schlaglöchern hinunter in Richtung Röperhof. Die Löcher waren teilweise notdürftig mit Schutt aufgefüllt, um einen sofortigen Achsbruch bei Pkws zu verhindern. Gernot vermutete, dass Armin Fuhrmann sowieso lieber mit seinen Traktoren unterwegs war. Meistens fuhr Elsa den alten Ford. Er hatte gehört, dass sie ihren Führerschein erst vor sechzehn Jahren gemacht hatte.
Die Bäume lichteten sich und gaben den Blick auf die große schwarze Scheune frei, deren Bretter mit Altöl imprägniert worden waren. Das Scheunentor stand offen, sodass er Armins Fuhrpark sehen konnte: zwei Traktoren, verschiedene Anhänger sowie ein alter Unimog.
Gernot umrundete die Scheune und hielt vor dem Wohn- und Stallgebäude an. Die Ställe standen schon lange leer und wurden nur noch als Abstellraum genutzt. Die Fuhrmanns betrieben hauptsächlich Ackerbau. Außerdem grasten ein paar Pferde auf entfernten Koppeln, die an Reitervolk verpachtet waren. Unter anderem auch an seine Frau. Gernot stieg aus seinem Auto und wartete, dass der Postbote ihm folgte. Er ging schon mal in Richtung Wohnhaus, zögerte dann jedoch. Hinter den blitzblanken Fenstern war alles dunkel. Räder knirschten hinter ihm im Kies. Der Postbote sprang vom Rad und lehnte es gegen die Hauswand.
»Niemand da, oder?«
»Sieht so aus. Ihr Auto ist auch nicht da. Sie sind wohl unterwegs «, sagte Gernot.
»Haben Sie noch mal geklingelt?«
»Ich bin auch gerade erst angekommen.«
Der Postbote versuchte es noch einmal mit Klingeln und Klopfen, aber Gernot sah an seiner ungeduldigen Haltung, dass er nicht erwartete, dass noch jemand öffnete.
»Kommen Sie!«, forderte er ihn auf.
Er ging am Stall entlang und steuerte dann auf ein weiteres Nebengebäude aus rotem Backstein zu, das Armin als Werkstatt nutzte. Die grün gestrichenen Tore, von denen die Farbe abblätterte, waren geschlossen. Daneben lag unter ein paar Kastanienbäumen ein beinahe kreisrunder Teich, der wohl mal als Feuerlöschteich und Viehtränke angelegt worden war. An seinem Ufer wuchsen knochenbleiches Schilf und hüfthohes Gras. Das trockene Schilfrohr raschelte im Wind. Früher hatte es einen Steg gegeben, zwei bemooste Pfosten ragten noch aus dem schwarzen Wasser. Auf den ersten Blick bot der Teich ein trostloses, jedoch friedliches Bild. Der Postbote steuerte auf das Ufer zu, blieb dann aber abrupt stehen. »Riechen Sie das auch?«
»Hier stinkt's. Armin hat wohl mal wieder Gülle gefahren.«
Der Postbote schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht.« Er deutete in Richtung Teich. »Sehen Sie das da?«
Gernot kniff die Augen zusammen. Er war zu eitel, um ständig eine Brille zu tragen. Am anderen Ufer des Teichs ragte etwas aus dem Wasser, ein unförmiger Körper, halb vom Schilf verborgen. Unsinn, das waren sicher nur ein paar alte Kleidungsstücke, die der Wind aufgebläht hatte.
»Eine ins Wasser gefallene Vogelscheuche?«, vermutete Gernot, erleichtert, dass ihm das noch eingefallen war.
»Wir sollten lieber nachsehen gehen«, sagte der Postbote, rührte sich aber nicht vom Fleck. »Es könnte doch auch ein Mensch sein.«
Gernot straffte die Schultern und marschierte auf die Stelle zu. Er stakste durch das hohe, feuchte Gras wie ein Storch, trat auf eine Kastanie, wäre beinahe umgeknickt. Er ärgerte sich, dass er gute Lederschuhe trug und keine Gummistiefel. Als er dem Ding näher kam, drückte er seinen Ärmel vor die Nase. Mit der anderen Hand bog er das Schilf auseinander und sah hinunter. Im nächsten Moment gab er einen gurgelnden Laut von sich, taumelte zurück und fiel wenig grazil ins nasse Gras. Ein Gesicht, er hatte ein Gesicht gesehen, vielmehr eine Fratze! Er hatte in das aufgedunsene, wie bläulich marmoriert aussehende Gesicht einer Leiche geblickt.
»Was ist? Alles in Ordnung?« Der Postbote stand plötzlich neben ihm und zog ihn hoch.
»Schauen Sie doch selbst!«, sagte Gernot grob und bereute es fast im selben Moment. Er wusste, dass ihn dieser Anblick sein Leben lang und bis in seine Träume verfolgen würde. Und dem jungen Mann, der jetzt auf die Stelle im Schilf zuging, würde es genauso ergehen. »Bleiben Sie doch lieber weg da! Wir können nichts mehr tun«, sagte er reumütig. Doch der Postbote achtete nicht auf ihn, sondern bog die Halme beiseite. Einen Moment stand er wie erstarrt. Kurz darauf hörte Gernot ihn würgen. Ein Geräusch, das er noch nie hatte aushalten können, ohne ebenfalls mit starker Übelkeit darauf zu reagieren.
Als sie beide wieder am Wegrand standen und sich den Mund mit von Gernot gestifteten Papiertaschentüchern abwischten, sagte der Postbote mit blassen Lippen. »Das ist 'ne echte Leiche, oder? Deswegen stinkt es hier so. Wir täuschen uns nicht?«
»Ich bin mir sicher, dass die echt ist.«
»Tut mir ehrlich leid, Mann, dass ich Sie da mit hineingezogen hab.«
Gernot zuckte mit den Schultern. »Was soll's! Es ist ja nicht Ihre Schuld. Ich ruf dann mal die Polizei.«
Im Sitzungssaal 163 des Lübecker Landgerichts lief der Strafverteidiger des Angeklagten Jesko Ebel gerade zu Hochform auf. »Mein Mandant stand also plötzlich und unerwartet in Ihrer Küche, Frau Korittki?«, fragte er Pia. Er legte eine vernehmliche Portion Unglauben in seine Stimme, gewürzt mit einer Prise Sarkasmus. Der Anwalt war Anfang sechzig und in seinem Geschäft ein alter Hase. Er hatte wässrige Augen, ausgeprägte Tränensäcke und eine rot-blaue Knollennase, die darauf schließen ließ, dass er sowohl seine Erfolge als auch Misserfolge vor Gericht gebührend begoss. Pia kannte die Spielchen während einer Verhandlung, die einzig und allein dem Zweck dienten, die Zeugen zu verunsichern.
»Ja, er stand plötzlich und unerwartet in meiner Küche«, sagte sie laut und deutlich. »Und nein, ich habe Jesko Ebel nicht zu mir nach Hause bestellt. Ich gebe Leuten, die in eine Ermittlung involviert sind, nicht meine Adresse, geschweige denn, dass ich sie zu mir nach Hause einlade.«
»Aber wie ist er dann zu Ihnen hereingekommen?«, fragte der Anwalt mit gespielter Verwunderung.
Pia atmete tief durch. Sie erzählte, wie der Abend bis zu diesem Zeitpunkt verlaufen war. Dass ihr Sohn Felix gerade im Nebenzimmer geschlafen hatte, als sie ein Geräusch in ihrer Wohnung gehört hatte. »Ich ging in die Küche, von wo das Geräusch gekommen war. Jesko Ebel stand hinter der Tür. Die Balkontür war offen. Ich vermute, dass er über den Küchenbalkon hineingekommen ist. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.«
»Sie wohnen«, er tat so, als müsste er in seinen Unterlagen nachsehen, »im zweiten Stock, ist das richtig? Der Balkon befindet sich sieben Meter über dem Erdboden.«
»Der zweite Stock ist korrekt.«
»Ist da eine Leiter oder eine Feuertreppe, die sieben Meter hoch in den zweiten Stock führt?«, fragte der Anwalt, der natürlich wusste, dass dem nicht so war.
»Nein.«
»Und wie soll mein Mandant dann bitte dort hochgekommen sein? Geflogen?« Er sah sich Beifall heischend im Gerichtssaal um.
»Jesko Ebel trug Kletterschuhe, spezielle Handschuhe und Sportkleidung. Ich vermute, dass er an den Verstrebungen der Balkone, die nachträglich an das Haus angebaut worden sind, zu mir hinaufgeklettert ist.«
»Eine hübsche sportliche Leistung. Außergewöhnlich.«
»So außergewöhnlich nun auch wieder nicht.«
»Und warum sollte mein Mandant diese Gefahr und Anstrengung auf sich genommen haben, Frau Kriminaloberkommissarin? « Der Anwalt klang ungläubig.
Pia hätte ihn würgen mögen für seinen Tonfall. Jetzt, da sie die Szene in Gedanken erneut durchlebte, fühlte sie auch wieder die Angst, die sie im vergangenen Sommer wegen seines Mandanten ausgestanden hatte. Um sich und vor allem um ihren Sohn. »Er wollte mich umbringen«, sagte sie fest. »Das war sein Plan.« Pia sah Jesko Ebel ins Gesicht. Sie konnte nicht anders. Er schaute durch sie hindurch, als wäre sie gar nicht da.
»Wie kommen Sie zu dieser ungeheuerlichen Behauptung?«, rief der Anwalt wie in rechtschaffener Empörung.
»Herr Ebel hat es mir gesagt. Und er hatte einen Zimmermannshammer in der Hand. Damit ist er anschließend auf mich losgegangen.«
Als Pia ihre Zeugenaussage beendet hatte und den Sitzungssaal verließ, spürte sie Ebels Blick im Nacken. Ihr war übel vor Wut, und ihre Knie fühlten sich weich an. Die erzwungene Erinnerung an den Abend hatte alle ihre vergangenen Emotionen noch einmal hochkochen lassen. Und sie hatte geglaubt, sie hätte längst mit dem Erlebnis abgeschlossen. Hinnerk war der Meinung, ihr Beruf sei nicht gut für Felix. Sie hatte es als reine Provokation verstanden, den Wunsch, sie zu ärgern oder zu verunsichern, aber nun musste sie einräumen, dass vielleicht auch ein Funke echte Sorge dahintersteckte. Und der Gedanke, dass sie in irgendeiner Weise nicht gut für Felix sein könnte, war überhaupt nicht schön.
Pia verließ das Gerichtsgebäude und vergewisserte sich, dass keine Presseleute in der Nähe waren. Sie prüfte ihr Mobiltelefon. Hinnerk hatte sich nicht gemeldet. Keine größeren Katastrophen an dieser Front. Dafür hatte sie eine Nachricht von ihrem Lieblingskollegen Heinz Broders.
»Frischfleisch, Engelchen«, sagte er gut gelaunt, als sie ihn anrief. Er war der Einzige, der sie so anreden durfte. Zum einen war er schwul, was der Sache die sexuelle Anzüglichkeit nahm. Zum anderen war Broders, der ihr in ihrer Anfangszeit im K1 mit dem größten Misstrauen begegnet war, inzwischen nicht nur ein guter Kollege, sondern auch ein echter Freund geworden.
»Willst du mich zum Grillen einladen, Schatz?«
»Im nächsten Frühjahr vielleicht. Wir haben gerade was Neues reinbekommen. Einen Toten in Groß Tensin an der Ostsee. Nicht so lecker. Er liegt wohl schon ein paar Tage in einem Feuerlöschteich herum.«
3. Kapitel
Gernot Wiese wollte sich von diesem Spektakel so wenig wie möglich entgehen lassen. Endlich passierte mal was! Seine Gedanken kreisten nicht mehr ausschließlich um sein eigenes miserables Dasein. Bis eben hatte er sich um den Postboten kümmern müssen. Der hatte nach ihrer Entdeckung nämlich mit in die Hände gestütztem Kopf auf einem Feldstein gesessen und sich hin-und hergewiegt. Ein peinlicher Anblick bei einem so großen, athletisch aussehenden Mann. Wie alt mochte er sein? Fünfundzwanzig Jahre? Er wirkte jungenhaft mit seinem lächerlichen dunkelblonden Zopf und dem Piercing im Gesicht. Besonders jetzt, da er erschüttert und verunsichert war. Er habe noch nie einen Toten gesehen. Nun, Gernot auch nicht. Trotzdem stand er hier seinen Mann, oder etwa nicht?
Kurz nach seinem Anruf in der Einsatzleitstelle war ein Streifenwagen aus Bad Schwartau eingetroffen. Zwei ungläubig aussehende Beamte, ein jüngerer und ein älterer Mann in Uniform, waren ausgestiegen. Sie hatten sich Gernots Version der Ereignisse angehört und waren dann zum Teich gegangen. Gernot hatte sie dabei beobachtet. Als sie dicht genug dran gewesen waren, um den Verwesungsgeruch wahrzunehmen, hatte der Ältere wissend genickt und dann mit grimmiger Miene einen langen Blick auf die Leiche geworfen. Als Nächstes wurde der Fundort abgesperrt. Der andere Polizist hatte über Funk alles Übrige veranlasst.
»Bei dem Gestank brauchst du keinen Rettungswagen mehr zu rufen, Bernie«, hatte sein älterer Kollege gesagt. »Fäulnis und Verwesung sind sichere Todeszeichen.«
»Für den Toten nicht, aber vielleicht sollte ein Notarzt für den da kommen?«, hatte der Jüngere mit einem Nicken in Richtung des Postboten zurückgegeben.
Als die ersten Kripobeamten in Zivil auf dem Hof erschienen, fühlte Gernot sich wie im Sonntagabend-Tatort. Einerseits wichtig, weil er die Leiche gefunden hatte - so verwirrt und unsicher, wie der Postbote aussah, würde er diese Rolle kaum für sich beanspruchen -, andererseits war er nur unbeteiligter Beobachter. Seltsam, wie Menschen auf eine Tragödie reagieren, dachte er. So wenig Mitgefühl. So viel Neugier und Aufregung. Solange ich nicht weiß, wer da liegt, was für ein Schicksal dahintersteckt, bin ich distanziert. Obwohl . . . Kein schöner Tod, allein an diesem trostlosen Ort und in der Kälte. Und dann so entdeckt zu werden! Makaber entstellt, sodass den Leuten nur noch schlecht wird, wenn sie einen ansehen. Der Rechtsmediziner, der muss es tun. Auch kein angenehmer Job. Wie halten die den Gestank nur aus? Er wird natürlich als Erstes nach der Todesursache forschen. War der Mann ertrunken? In einem Feuerlöschteich auf einem Bauernhof? Vielleicht war es ja ein Herzanfall gewesen, und er war dann dort, wo er stand, einfach umgekippt? Aber was hatte er hier gewollt? Es war nicht Armin Fuhrmann und auch nicht dessen Sohn, in diesem Punkt zumindest war Gernot sich sicher. Die Statur passte nicht. Der Mann, der dort lag, war klein, höchstens mittelgroß und offenbar schmal gewesen, auch wenn die Leiche nun so . . . aufgebläht aussah. Gernot wurde schon wieder schlecht, deshalb beeilte er sich, an etwas anderes zu denken. Er konzentrierte sich wieder auf die Aktionen der Polizei.
Eine Person in diesem Drama erregte sein besonderes Interesse: Sie war recht spät hier aufgetaucht. Die Frau, sie mochte so Anfang dreißig sein, war zusammen mit einem korpulenteren Kollegen mit angegrautem Vollbart angekommen. Sie hatte blondes, halblanges Haar, war groß und schlank und trug für die Witterung und den Anlass unpassende Kleidung: eine schwarze Marlenehose, einen Blazer und einen dünnen Mantel darüber. Eher fürs Büro geeignet, als um damit bei dem Mistwetter auf einem Bauernhof herumzulaufen. Sie umrundete gerade eine Pfütze. Ihre Lederschuhe sahen schon arg durchnässt aus, und ihre Hosenbeine waren schlammbespritzt. Na, da hatten sie immerhin etwas gemein. Inmitten der robust und wetterfest gekleideten Herren - einer hatte sogar Gummistiefel aus dem Kofferraum seines Wagens geholt und angezogen - und der Männer in den weißen Schutzoveralls wirkte die Frau deplatziert. Gernot schien jedoch der Einzige zu sein, dem das auffiel. Die Polizeibeamtin stand mit zwei Männern zusammen und diskutierte angeregt. Dann ging sie zielstrebig zu ihrem Wagen und zog sich einen Schutzanzug über ihre Kleidung. Sie ließ sich von einem der Spurensicherungsleute zu dem Toten begleiten. Gernot fragte sich, ob ihr auch schlecht werden würde oder ob sie abgehärtet war. Ein Feldstecher wäre jetzt gut. Oder Annekes Opernglas.
Der Postbote stand von dem Feldstein auf und sah sich mit neu erwachtem Interesse um. Sein Gesicht hatte wieder Farbe bekommen, und offenbar war auch seine gute Laune zurückgekehrt. »Was für ein Spektakel! Ich sollte jetzt wohl eigentlich meine Tour fortsetzen«, sagte er widerstrebend.
»Die Jungs hier wollen Sie erst noch interviewen«, entgegnete Gernot lässig.
»Ach so. Da werd ich besser mal meinem Chef Bescheid sagen, dass es länger dauert. Waren Sie schon dran?«
Gernot schüttelte den Kopf, ließ aber dabei die Kripobeamtin am Feuerlöschteich nicht aus den Augen. Jetzt beugte sie sich über die Leiche . . .
»Wer so alles bei der Polizei arbeitet!«, sagte der Postbote, der seinem Blick gefolgt war. »Die Blonde dahinten mein ich.«
»Wen denn sonst«, brummte Gernot. »Können Sie erkennen, wie sie reagiert? Ob ihr schlecht wird oder so?«
»Keine Ahnung. Jetzt kommt sie wieder. Nee, sie sieht okay aus. Aber sie ist sauer, würd ich sagen.«
Gernot schwieg. Nun neidete er dem Postboten endgültig seine Jugend, vor allem seine guten Augen. Und die strammen Waden? Quatsch, der Kerl war »Fachkraft für Kurier-, Ex- press-und Postdienstleistungen«, wie es offiziell hieß. Was mochte er da schon verdienen? Mehr als ich momentan, beantwortete Gernot sich die Frage selbst. Was ihn wieder auf seine Probleme zurückwarf. Die Frau sprach noch mit ihren Kollegen von der Kriminalpolizei, dann kam sie mit einem zweiten Beamten direkt auf ihn zu.
»Frau Löbich, Herr Nielsen ist immer noch krank. Können Sie in der zweiten und dritten Stunde die 6a für ihn übernehmen? «
Verärgert registrierte Dina Löbich, dass sie nach wie vor nervös war, wenn die Schuldirektorin sie direkt vor den anderen Kollegen ansprach. Du bist jetzt keine Schülerin mehr, ermahnte sie sich. Sie räusperte sich und sagte: »Tut mir leid, Frau Osterhoff, aber da bin ich auf dem Vertretungsplan schon für die 5c eingeteilt.« Dina Löbich war Referendarin für Erdkunde und Englisch, und seit ihr Kollege Ulf Nielsen krank war, schien man ihr seine sämtlichen Erdkundestunden aufzuhalsen.
»Ich weiß, aber die Klassenräume liegen doch quasi nebeneinander «, entgegnete die Schuldirektorin. »Geben Sie beiden Klassen eine Stillaufgabe und schauen Sie nur, dass sich niemand aus dem Fenster stürzt.«
»Jawohl.« Beinahe hätte sie salutiert. Stillaufgabe! Hatte man je gehört, dass eine Klasse dann still war? Was stand denn in der sechsten Klasse in Erdkunde überhaupt auf dem Lehrplan? Europa? Und unter welchem Stein hatte sich dieser Ulf Nielsen verkrochen?
Der ältere Kollege war ihr an ihrem ersten Tag in der Schule ziemlich dumm gekommen. Wie sie sich denn Respekt verschaffen wolle - sie sehe ja selbst noch aus wie eine Schülerin, hatte er gesagt. Kleiner Scherz am Rande, wenn sie seine Hilfe bräuchte . . . Umso mehr widerstrebte es ihr, ausgerechnet für diesen Kollegen in die Bresche zu springen. Außerdem, und das war jetzt reiner Flurklatsch - Dina verstand sich gut mit der Schulsekretärin -, hatte er noch kein ärztliches Attest eingereicht. Niemand wusste, was der Nielsen schon wieder hatte. Wahrscheinlich nur einen kleinen Schnupfen, mit dem er gemütlich zu Hause saß und wichtig an seinem neuen Buch schrieb: Die Spuren des Mittelalters in unserer Schleswig- Holsteinischen Heimat oder so ähnlich. Sein unsoziales Verhalten auf Kosten seiner Schüler und Kollegen ging ihr ziemlich auf die Nerven. Sie hatte dadurch jetzt nicht einmal mehr Zeit für einen Tee vor der nächsten Doppelstunde, da sie für zwei Klassen Stillaufgaben vorbereiten musste. Und vor dem Fotokopierer hatte sich auch schon wieder eine Schlange gebildet.
»Ich hab ihnen gesagt, sie sollen sich so schnell wie möglich an die Entensheriffs wenden«, berichtete Heinz Broders. Pia und er standen einen Moment am Rand der Absperrung und beobachteten, was weiter am Fundort der Leiche geschah.
»Du meinst, Wasser ist immer gut. Dann ist es am Ende ein Fall für die Wasserschutzpolizei?«, fragte sie spöttisch.
»Du weißt doch: .Frage eins: Ist das meins?‹ Ich fürchte aber, dass wir hier zuständig sind. Die Leiche liegt allerdings schon eine Weile im Wasser. Die fällt uns auseinander, wenn wir sie bewegen. Dafür braucht man nach Adam Riese ein Leichensegel, und das haben wir nicht.«
»Tja, das stimmt. Doch Wilfried Kürschner will erst mal nichts falsch machen und deshalb auch nichts entscheiden. Besonders wenn es sich um einen Mordfall handeln könnte.«
Broders hatte seine Kollegin Pia Korittki vor einer Stunde an der Straße Am Burgtor vor dem Landgericht Lübeck eingesammelt und war mit ihr nach Groß Tensin zum Fundort der Leiche gefahren. Sobald der Verdacht bestand, es mit einem Tötungsdelikt zu tun zu haben, wurde in der Bezirkskriminalinspektion alles aktiviert, was fehlerfrei einen Kugelschreiber in der Hand halten konnte. Horst-Egon Gabler, der Leiter des K1, der eigentlich die Ermittlungen hätte leiten sollen, war ausgerechnet an diesem Morgen nicht im Büro erschienen. Das an sich war schon seltsam. Wenn sie am Beginn einer Mordermittlung standen, war es jedoch geradezu fatal.
»Kümmern wir uns um die ersten Zeugen!«, sagte Pia. Die beiden Männer, die die Polizei informiert hatten, sahen erwartungsvoll zu ihnen herüber.
Einer von ihnen war schätzungsweise Mitte vierzig, trug eine Anzughose und ein gestreiftes Hemd, über das er eine Wachscottonjacke Marke »Landedelmann« gezogen hatte. Sein Haar war licht und klebte feucht an seinem Kopf. Seine Budapester Lederschuhe waren schlammbespritzt. Neben ihm stand ein junger, recht großer Mann in der Uniform eines Postboten. Er trug der kühlen Witterung zum Trotz kurze Hosen, dazu aber derbe Stiefel, hatte eine frische Gesichtsfarbe, und seine langen, dunkelblonden Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden.
Sie gingen auf sie zu. »Wohnen Sie hier?«, fragte Pia Gernot Wiese mit Blick auf den Hof, nachdem sie sich gegenseitig vorgestellt hatten.
»Nicht direkt. Ich bin nur der Nachbar.« Er erklärte, wie er hinzugekommen war.
»Und wer wohnt hier?« Pia deutete zum Wohngebäude hinüber. Sie wunderte sich, dass noch kein aufgebrachter Grundstücksbesitzer in Erscheinung getreten war.
»Die Fuhrmanns mit ihrem Sohn. Aber ihr Auto ist nicht da. Sie müssen weggefahren sein.«
»Kann es sein, dass der Tote einer von ihnen ist?«, wollte Broders wissen.
Gernot schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke nicht.«
»Nun gut, darum kümmern wir uns später«, sagte Pia. »Wir müssen Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen.«
Der Wind hatte aufgefrischt, und die schweren grauen Wolken versprachen die nächsten Regen-oder Graupelschauer. Nach einem Blick zum Himmel beschlossen sie, dass Heinz Broders Gernot Wiese bei ihm zu Hause befragen würde. Sie waren auf dem Weg hierher an dem großen, modernen Holzhaus vorbeigefahren, in dem er wohnte. Pia hingegen nahm für eine erste Befragung des Postboten den Mercedes-Bus der Polizei. Das Fahrzeug wurde hin und wieder für kurze Vernehmungen genutzt. Es war zwar nicht sehr geräumig, aber immerhin bot es eine Sitzmöglichkeit, und es war trocken. Als sie darauf zugingen, schoss ein weißer Audi auf den Hofplatz und kam abrupt vor den anderen Fahrzeugen zum Stehen. Eine magere Hofkatze konnte sich gerade noch rechtzeitig mit einem Satz auf die Mülltonnen in Sicherheit bringen. Pia rollte mit den Augen.
»Ist das Ihr Chef?«, fragte der Postbote.
»Nein. Ich glaube, der neue Staatsanwalt gibt sich die Ehre.«
»Hübscher Wagen - der nun leider schmutzig wird.«
»Er kennt sich hier noch nicht so aus«, antwortete Pia und riss die Schiebetür des vor Dreck starrenden Busses auf. Sie bedauerte, dass einer der beiden Staatsanwälte, mit denen das K1 sonst so gut zusammenarbeitete, in Pension gegangen war. Sie würden sehen, wie es mit dem neuen lief.
Benjamin Bredow bemühte sich, seine braun gebrannten, halb nackten Beine unter dem Klapptisch des Busses zu verstauen. Zwei langbeinige Menschen fanden im Innenraum des Fahrzeugs kaum genug Platz, ohne dass sie sich bei der geringsten Bewegung berührten. Da auch Pia sich nicht in die Ecke quetschen lassen wollte, würde der Machtkampf nicht nur oberhalb, sondern auch unterhalb der Tischplatte stattfinden. Sie hatte eindeutig die schlechtere Wahl getroffen. Draußen hatte der Mann jung und harmlos ausgesehen, doch nun schien er Testosteron auszuatmen. Ich hätte lieber den älteren Mann mit dem großen Haus befragen sollen, dachte Pia.
Sie musterte Benjamin Bredow, ohne etwas zu sagen. Er hatte ein ebenmäßiges, von der Arbeit im Freien gebräuntes Gesicht und leuchtende Augen, die sie irritierend lange ansehen konnten, ohne zu zwinkern oder wegzuschauen. Sein Haar war dunkelblond mit von der Sonne gebleichten Strähnen. Er trug einen Ohrring und ein Piercing in der linken Augenbraue. Seine Hände waren lang, gebräunt und kräftig und lagen vollkommen ruhig auf der grauen Tischplatte. Alles an ihm schrie, dass er zwar als Postbote arbeitete, sich aber nicht in irgendwelche Schubladen pressen lassen wollte. Und so war er in der Schublade derjenigen gelandet, die zwanghaft anders sein wollen und so auch ihre eigene Gruppe bilden.
»Bin ich verdächtig?«, fragte Bredow.
»Jeder, der einen Toten findet, der eines nicht natürlichen Todes gestorben ist, ist verdächtig«, sagte sie nüchtern. Das mit dem nicht natürlichen Tod war allerdings bisher nur eine Vermutung. Sie hatte die Leiche ja eben betrachtet. Der Leichnam wies zwar eine Kopfverletzung auf, aber die konnte auch von einem Sturz oder Tierfraß herrühren. Genaueres würde erst die Obduktion ergeben.
»Oh.« Er kniff die Augen zusammen. »Wie viele Leichen haben Sie denn schon gefunden?«
»Das tut nichts zur Sache.« Fünf, dachte Pia und konnte nicht verhindern, dass sie vor ihrem inneren Auge erschienen. Sie beschloss, den Briefträger vorsichtshalber als Beschuldigten zu vernehmen, damit alle seine Aussagen gegebenenfalls vor Gericht gegen ihn verwertbar waren. Damit hatte er zwar das Recht, zu schweigen und einen Anwalt hinzuzuziehen, aber die meisten Leute sahen zunächst von einem Rechtsbeistand ab.
So auch Bredow. »Ich kenn mich nicht so aus«, sagte er nach der Belehrung. »Brauche ich denn einen Anwalt?« Er tat so, als fände er das amüsant.
»Das müssen Sie entscheiden.« Sie legte ihr Notizbuch auf den Tisch.
»Ich hab nichts zu verbergen. Ich wollte den Fuhrmanns nur ein Paket zustellen.«
»Erzählen Sie einfach der Reihe nach!«, forderte Pia ihn auf. So entschied er selbst, was ihm wichtig erschien und was nicht. Nachhaken konnte sie später immer noch.
»Der Hof der Fuhrmanns liegt auf meiner Zustelltour. Ich hatte heute ein paar Briefe und ein kleines Paket für sie, für das ich eine Unterschrift benötigte. Doch als ich hier ankam, hat mir niemand geöffnet. Ich war zuerst am Hintereingang, wie immer, und hab geklopft. Als keiner kam, hab ich zum Küchenfenster hineingesehen, aber es war niemand da. Dann bin ich zur Vordertür gegangen und habe dort auch noch geklingelt und geklopft. Es hätte ja sein können, dass Elsa gerade oben ist.«
»Elsa?«
»Elsa Fuhrmann. Die Bäuerin.«
»Sie duzen sich?«
»Wir wohnen beide im selben Dorf, da kennt man sich eben.«
»Gibt es ansonsten irgendwelche Verbindungen zwischen Ihnen und Elsa Fuhrmann?«
»Nö. Nichts Besonderes.«
»Wer wohnt denn noch hier auf dem Hof?«
»Ihr Mann, Armin Fuhrmann, und ihr gemeinsamer Sohn. Thilo.«
»Wie alt ist der Sohn?«
Bredow zuckte mit den Schultern. »Ein Teenager . . . Ich kenn ihn kaum.«
»Also gut, was passierte dann?«
»Als mir niemand öffnete, habe ich mich noch ein wenig auf dem Hof umgesehen.«
»Wieso das?« Pia stutzte. Das gehörte gewiss nicht zu seinen Aufgaben. Was hatte ihn dazu motiviert?
Er zögerte. »Ich fahr diese Tour seit zwei Jahren, und bisher war immer jemand von den Fuhrmanns da. Wissen Sie, mit der Zeit kennt man die Gewohnheiten und den Lebenswandel der Leute.«
»Hm.« Pia bedeutete ihm fortzufahren.
»Außerdem . . . Der Armin kann ziemlichen Stress machen. Es hätte ihm nicht gefallen, extra zur Post fahren zu müssen, um ein Paket abzuholen.«
»Was kümmert Sie das?«
»Ich wollte nur nett sein«, sagte er. »Ich hatte da noch nicht gesehen, dass ihr Auto gar nicht da war. Ich dachte, ich treffe Elsa bestimmt in den Ställen oder in der Werkstatt an. Wir klönen immer ein paar Takte. Ich mache den Job nicht wie eine Maschine, wissen Sie. Ich hab mich bewusst dafür entschieden, weil es mir gefällt. Die Bewegung an der frischen Luft und der Kontakt mit Menschen.«
Der Mercedes-Bus erbebte unter einer Windböe. Hagelkörner prasselten gegen die Scheibe und machten die Unterhaltung für einen Moment mühsam. Pia sah, wie ihre Kollegen, die noch draußen arbeiteten, in die offene Scheune flüchteten und sich zwischen die Traktoren quetschten. »Was passierte dann?«, fragte sie etwas lauter.
»Also: Elsa war nicht in der Werkstatt oder so. Und die beiden Männer auch nicht. Ich ging zurück zu meinem Fahrrad, und da musste ich mit einem Mal pinkeln. Das passiert mir normalerweise nicht auf einer Tour. Aber nun ja . . . ich konnte mich schlecht mitten auf den Hof stellen, oder?«
Pia zog eine Augenbraue hoch. Der nächste Nachbar, Wiese oder wie er hieß, wäre auch noch eine Option gewesen.
Benjamin Bredow erriet offenbar ihren Gedanken. »Ich geh nicht bei den Leuten auf meiner Tour pinkeln. Allenfalls noch im Wirtshaus oder eben irgendwo am Knick. Und den Wiese würde ich nie fragen. Der sieht mich immer so von oben herab an. Komischer Kerl.«
»Ich verstehe.«
Er kniff die Augen zusammen, als überlegte er, ob sie ihn veralberte. »Deswegen bin ich ein Stück näher an den Tümpel rangegangen, und, na ja, Sie wissen schon . . . Da hab ich es gerochen. Dieser Gestank geht wirklich durch und durch. Ekelhaft. Ich hab noch darüber nachgedacht, ob ich einfach so abhauen soll. Dann hätte ich mir den ganzen Kram hier erspart. Aber das konnte ich irgendwie auch nicht. Also bin ich ein Stück um den Teich rumgegangen, um nachzusehen. Und da lag dann ja auch was.«
»Was haben Sie genau gesehen?«
»Ehrlich gesagt hab ich nur die Klamotten, ein Hosenbein mit Wanderschuh, gesehen. Das reichte mir. Es war plötzlich unheimlich hier, so ganz allein. Ich hab mich schnellstens auf mein Rad gesetzt und bin zum nächsten Haus gefahren.«
»Warum haben Sie nicht gleich die Polizei gerufen?«
»Ich war mir nicht sicher, was ich gesehen habe. Ich wollte mich doch nicht blamieren . . . also brauchte ich eine Bestätigung. Darum hab ich den Wiese gebeten, noch mal mit herzukommen. «
»Also gut.«
»Ich habe doch nichts falsch gemacht?« Er sah sie misstrauisch an.
»Erzählen Sie weiter!«
Er berichtete, wie er mit Gernot Wiese zurückgekommen war und ihm die Leiche gezeigt hatte. Wie Wiese die Polizei verständigt hatte. »Den Rest kennen Sie ja«, schloss er.
»Wissen Sie, wer der Tote ist?«
»Also, erkennen konnte ich da nicht mehr viel. Auch nicht beim zweiten Mal. Aber wenn ich raten darf: ein Spaziergänger oder Wanderer, seiner Kleidung nach zu urteilen. Der Hof liegt ja an einem ausgezeichneten Wanderweg.«
»Könnte es trotzdem jemand sein, den Sie kennen, Herr Bredow? Vielleicht jemand hier aus diesem Dorf?«
Er schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Also gut, Herr Bredow. Ich werde gleich noch Ihre vollständigen Personalien aufnehmen. Falls wir noch mehr Fragen an Sie haben«, sagte Pia nüchtern.
»Immer gern. Solange Sie mich befragen.« Wieder dieser intensive Blick, der der Situation nicht angemessen war.
»Vorsicht«, sagte Pia warnend. »Manche Wünsche gehen in Erfüllung.«
4. Kapitel
Gernot Wieses Haus war ein modernes Holzhaus, kaugummigrau gestrichen, mit Grasdach und bodentiefen Fenstern. Broders bewunderte den großzügigen Wintergarten, der mal nicht wie nachträglich angeklatscht aussah, sondern sich wohlproportioniert über zwei Stockwerke hinweg bis in das Dach erstreckte.
Gernot Wiese, der dem Kriminalkommissar vorausgefahren war, stolperte eilig hinein, ließ dabei zweimal seinen Schlüsselbund fallen und warf, drinnen angekommen, seine durchnässte Jacke über das Treppengeländer. Er hob den Arm und schnupperte demonstrativ an seinem Ärmel. »Ich rieche immer noch nach Tod«, klagte er.
»Kann schon sein«, sagte Broders. »Aber man bekommt Verwesungsgeruch auch nicht so schnell aus der Nase.«
»Meinen Sie, ich bilde mir das nur ein?«
Broders kam nicht mehr dazu, darauf zu antworten, denn eine Frau trat unvermittelt in die Diele. »Was ist denn los, Gernot? « Sie war adrett gekleidet, mehr fürs Büro als für einen Tag daheim, jedoch in Hausschuhen und mit einem dampfenden Becher in der linken und einem Telefon in der rechten Hand.
»Anneke!« Gernot Wiese starrte sie konsterniert an. »Was machst du denn noch hier?«
»Mein Meeting ist verschoben worden. Ich arbeite heute von zu Hause aus.«
»Nanu?«, stieß Gernot missbilligend hervor.
»Warum? Passt es dir nicht? Ich dachte, du arbeitest neuerdings sowieso lieber im Café. Und wer ist das? Willst du uns nicht vorstellen?«
»Das ist Hauptkommissar Broders aus Lübeck - meine Frau Anneke.«
»Oh«, sagte sie.
»Es ist was passiert: Bei den Fuhrmanns liegt eine Leiche!«
»Oh Gott! Wer ist denn gestorben?« Sie sah erschrocken, aber auch neugierig aus.
»Das wissen wir noch nicht«, sagte Broders.
Gernot Wiese roch noch einmal demonstrativ an seinem Ärmel. Seine Socken waren klatschnass, seine Hosenbeine schlammbespritzt.
»Wenn Sie sich eben umziehen wollen . . .«, schlug Broders vor.
»Ich kümmere mich so lange um den Herrn Kriminalkommissar «, bot Anneke Wiese an. »Kommen Sie, ich mache Ihnen einen Kaffee, während mein Mann duscht.«
Broders war es ganz recht so. Anneke Wiese konnte ihm bestimmt auch einiges über die Nachbarschaft erzählen. Außerdem lockte Broders der angebotene Kaffee. Die Frau führte ihn in den angrenzenden Raum, der zwei Geschosse hoch war, und hantierte sofort an der Kaffeemaschine herum. »Einen Latte macchiato?«
»Gern.« Broders setzte sich an den Tresen auf einen der Barhocker. Ein richtiger Stuhl wäre ihm lieber gewesen, denn seit gestern machte ihm sein Rücken zu schaffen. Er konnte jedoch keinen normalen Stuhl entdecken, also versuchte er, möglichst gerade zu sitzen. »Wie gut kennen Sie die Fuhrmanns?«, fragte er.
»Wer von ihnen ist tot?«
»Wir wissen noch nicht, wer der Tote ist. Anscheinend aber keiner Ihrer Nachbarn. Die Leiche konnte noch nicht identifiziert werden. Wie ist Ihr Verhältnis zu den Fuhrmanns?« Jetzt war sie an der Reihe.
»Ich fürchte, nicht besonders gut. Elsa Fuhrmann ist eine Cousine von Gernot, so sind wir überhaupt erst an dieses Grundstück gekommen. Wir haben es den Fuhrmanns abgekauft, als wir vor acht Jahren das Haus bauen wollten. Damals war mit dem Rohbau gerade begonnen worden. Ich schätze mal, das hat ihnen den Kopf gerettet. Sie standen und stehen wohl finanziell nicht so prickelnd da.«
Aufschlussreicher Beginn - die finanziellen Verhältnisse, dachte Broders. Laut sagte er: »Wir sind mit den Ermittlungen noch ganz am Anfang. Wer genau sind denn überhaupt .die Fuhrmanns‹?«
»Also: Elsa Fuhrmann hat den Röperhof von ihren Eltern geerbt. Sie hieß Röper mit Nachnamen. Ihr Mann, Armin Fuhrmann und sie, bewirtschaften ihn zusammen. Elsas Eltern sind beide schon lange tot. Bis auf meinen Mann haben sie meines Wissens keine Verwandten. Das ist ja auf dem Lande eher ungewöhnlich. Normalerweise ist hier jeder mit jedem verwandt. Sie haben aber einen Sohn. Thilo. Er ist sechzehn oder siebzehn. Mehr weiß ich eigentlich auch nicht.«
»Sie wohnen hier seit . . . acht Jahren?«
»Eher sieben. Das Haus musste ja noch fertig gebaut werden.« Sie reichte ihm seinen Kaffee in einem Glas auf einer Untertasse. Ein kleiner Keks und ein langstieliger Löffel lagen daneben.
Broders biss auf den Keks, und es krachte laut in der stillen Küche. Überhaupt empfand er den Hall im Raum, der sich teilweise bis unter das Glasdach zog, als unangenehm. Er senkte die Stimme. »Ein bisschen mehr ist Ihnen doch sicher bekannt. Wissen Sie, ob die Fuhrmanns verreist sind, oder haben Sie gehört, dass sie verreisen wollten?«
»Die Fuhrmanns verreisen nie«, sagte Anneke Wiese bestimmt.
»Vielleicht sind sie zusammen einkaufen gefahren? Oder zum Arzt?«
»Alle drei? Einkaufen ist hier auf dem Land .Weibersache‹«, sagte Anneke Wiese nun amüsiert. »Und Ärzte sind wohl auch nur was für Weicheier. Für Städter wie uns . . .«
»Hat Ihre Abneigung gegen Ihre Nachbarn einen konkreten Grund?«, fragte Broders im Konversationston.
Sie zögerte ein wenig beschämt. »Nein, eigentlich nicht. Es sind nur so vollkommen verschiedene Lebensauffassungen, die da aufeinanderprallen. Ich hatte das unterschätzt. Als Städter sieht man zuerst nur die tolle Landschaft und die frische Luft. Aber es geht doch letztlich immer um Menschen.«
»Wie wahr! Wie sind die Fuhrmanns? So als Menschen?«
»Wissen Sie, mir sind besonders die zwei Männer, Armin und Thilo, ein bisschen unheimlich. Ich weiß nie, was ich mit ihnen reden soll. Da sind überhaupt keine gemeinsamen Themen, verstehen Sie? Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass ich anstatt mit Ihnen jetzt mit Armin Fuhrmann hier sitzen könnte.« Sie lächelte gewinnend. »Und bei Elsa habe ich das Gefühl, dass sie sich ein wenig vor ihrem Mann fürchtet. Aber wie gesagt, wir kennen uns kaum«, ruderte sie zurück.
»Anneke kennt hier niemanden, bis auf den Briefträger. Und den auch nur, weil sie immer so viel im Internet bestellt.« Gernot Wiese stand, nach Duschgel duftend und in frischer Kleidung, in der Küche.
Das Gesicht seiner Frau lief auf diese Bemerkung hin zu Broders' Erstaunen rosa an, und ihre Augen funkelten. »Meine Freunde leben anderswo als ausgerechnet in Groß Tensin. Das ist doch nicht meine Schuld.«
Er überging ihre Bemerkung und richtete seine Worte nun ausschließlich an den Polizisten. »Können wir jetzt loslegen, Herr Kommissar? Ich hab gleich noch zu tun.«
»Gernot, du hast den Herrn Kriminalkommissar warten lassen, nicht umgekehrt«, sagte sie bissig. Und an Broders gerichtet: »Sind wir fertig, Herr Broders?«
Heinz Broders fühlte sich wie ein Zuschauer bei einem Ping-Pong- Match. Es war spannend, aber auch ermüdend. »Ich denke, fürs Erste schon, Frau Wiese. Und danke für den tollen Kaffee.«
Sie verließ mit wiegenden Hüften die Küche, nicht ahnend, dass bei Broders jegliche diesbezügliche Anstrengung vergeblich war.
»Das war jetzt typisch meine Frau!«, sagte Gernot Wiese. »Ich glaube, sie bereut es manchmal, dass wir hierhergezogen sind.«
»Erzählen Sie mir noch mal, was heute Morgen passiert ist«, forderte Broders ihn auf, nachdem er ihn über seine Rechte belehrt hatte.
Gernot Wiese berichtete konzentriert, wie der Briefträger aufgetaucht war und ihn zu der Leiche geführt hatte. Wie er die Polizei verständigt hatte. »Und dann kamen Sie«, schloss er. »Hilft das weiter?«
»Irgendeine Idee, wer der Tote ist?«
Er schüttelte den Kopf. »Keiner, den ich kenne, würde ich sagen. Obwohl der Leichnam natürlich ziemlich . . . entstellt aussah.«
»Ja. Es ist oft schwer, in so einer Situation noch eine Ähnlichkeit zu einem lebenden Menschen zu erkennen«, bestätigte Broders. »Und was ist mit dem Postboten?«
»Was soll mit ihm sein?«
»Wie hat er reagiert?«
»Nicht so toll, oder? Ich meine, wieso holt er mich dazu?«
»Vielleicht hatte er Angst?«
Gernot Wiese schnaubte. »Braun gebranntes Weichei!«
»Was denken Sie? Wo sind die Bewohner des Hofes, die Fuhrmanns?«, fragte Broders.
»Sie müssten eigentlich da sein«, meinte Wiese nachdenklich. »Sie sind immer da.« Immerhin. Eine Übereinstimmung mit der Aussage seiner Frau.
»Beschreiben Sie sie mal ein wenig!«
»Da gibt es nicht viel zu sagen. Ich bin entfernt mit Elsa verwandt. Sie und ihr Mann sind anständige, nette Leute. Tüchtig. Der Hof ist nicht groß genug, als dass man davon ein gutes Auskommen hätte, doch sie hängen daran. Es ist ihr Leben. Sie hätten uns niemals ein Stück von ihrem Land verkauft, wenn sie nicht finanziell unter Druck gestanden hätten. Wir sind hier nur wohlgelitten . . . Eindringlinge. Aber .leben und sterben lassen‹, sage ich immer.«
Pia sah dem Briefträger hinterher, der sich nach der Befragung auf sein Postrad schwang und mit kräftigen Tritten davonradelte. Ihre Kollegen Manfred Rist und Wilfried Kürschner kamen vom Feuerlöschteich auf sie zu.
»Irgendwas Neues?«, fragte Manfred Rist, bevor Kürschner auch nur den Mund aufmachen konnte.
»Benjamin Bredow, der Postbote, hat mir erzählt, wie er die Leiche gefunden hat. Und die Bewohner dieses Hofes heißen Elsa, Armin und Thilo Fuhrmann, hab ich erfahren. Sind die mittlerweile aufgetaucht?« Sie sah Kürschner an, der die Ermittlung leitete, solange Gabler noch nicht da war.
»Ich hatte gehofft, du hättest inzwischen vielleicht etwas Neues über den Verbleib dieser Leute herausgefunden«, sagte Rist. »Wir kommen nämlich nicht weiter.«
Pia schüttelte den Kopf. »Ich hab gesehen, dass der Staatsanwalt nun da ist. Kann er uns nicht einen Beschluss besorgen, damit wir uns ein bisschen im Haus der Fuhrmanns umschauen können? Vielleicht finden wir einen Hinweis darauf, wo sie hingefahren sind oder wie wir sie erreichen können. «
»Das ist wohl nicht ganz so einfach«, erwiderte Rist bissig. »Die sind vielleicht gerade mal ein Stündchen weg, und schon willst du die Tür aufbrechen und ihr Haus auf den Kopf stellen? «
»Immerhin liegt in ihrem Garten eine Leiche«, entgegnete Pia. Wieder blickte sie erwartungsvoll in Kürschners Richtung.
Der kratzte sich am Kopf und sah von einem zum anderen.
»Ohne Durchsuchungsbeschluss geht da gar nichts«, meinte er unentschlossen. »Aber der Staatsanwalt könnte sofort den zuständigen Richter kontaktieren.«
»Der neue Staatsanwalt ist so ein ganz junger, überkorrekter. Der sieht die gesetzlichen Anforderungen für eine Durchsuchung noch nicht erfüllt.«
»Vielleicht fehlt ihm nur das passende Argument?«, sagte Pia.
»Dann versuch dein Glück!«, antwortete Rist. Wofür haben wir Frauen?, stand unausgesprochen dahinter.
»Versuch macht klug«, sagte Pia ungerührt. »Was habt ihr vor?«
»Auf Dr. Kinneberg warten.«
»Oh, er kommt heute höchst selbst?«, fragte Pia erstaunt.
»Wir schaffen es nicht, die Leiche unbeschadet in die Rechtsmedizin zu schaffen, da soll er lieber hier schon mal einen Blick drauf werfen.«
»Okay, da kommt ja auch der Staatsanwalt. Wie heißt er noch gleich?«
»Jantzen.«
Das kann ja heiter werden, wenn Gabler länger ausfällt!, dachte Pia, während sie den Hofplatz überquerte. Ihr Kollege Manfred Rist war erst vor ein paar Monaten zu ihnen ins K1 gestoßen. Er war ein erfahrener und guter Kriminalist, wenn auch der Charme einer Brechstange, den er zeitweise an den Tag legte, nicht überall gut ankam. Er war Kriminalhauptkommissar, so wie Broders und Kürschner, und hatte eine Weile als verdeckter Ermittler gearbeitet, was ihm einen beinahe romantischen Status einbrachte. In etwa aus dieser Zeit stammte auch Pias erste Bekanntschaft mit ihm. Damals war sie noch ziemlich neu im K1 gewesen, und Broders hatte sich mit ihr einen etwas derben Scherz erlaubt, indem er ihr Rist, der zufällig vorbeigekommen war, als einen Serien-Vergewaltiger vorstellte, der gerade seine Taten gestanden hatte. So einer war damals tatsächlich zur Fahndung ausgeschrieben gewesen, und Pia hatte keinen Grund gesehen, Broders nicht zu glauben. Dann war Rist aufgesprungen und hatte, um sie zu provozieren, einen vermeintlichen Fluchtversuch unternommen. Pia hatte sich dazwischengeworfen und ihm zwischen die Beine getreten, um ihn aufzuhalten. In dem Moment war Broders der Einzige gewesen, der über den missglückten Scherz hatte lachen können. Später, als die Geschichte herumging, hatte sich das ganze Polizeihochhaus bestens amüsiert. Danach hatte Pia Rist ein paar Jahre nicht gesehen und gehofft, dass Gras über den Vorfall gewachsen wäre. Tja, und dann hatte Manfred Rist sich mitsamt seinen Karriere-Ambitionen zum K1 in Lübeck versetzen lassen.
Seine erste Ermittlung im Team war der Mordfall auf Fehmarn gewesen, in deren Folge Pia dem Täter heute vor Gericht gegenübergestanden hatte. Vielleicht wurmte es Rist, dass sie und zwei Kollegen zu der Verhandlung als Zeugen geladen worden waren, er jedoch nicht. Oder hatte das Eis, das sie ihm damals in der Kantine besorgt hatte, nicht alle Schmerzen in den unteren Regionen beseitigen können?
5. Kapitel
Pia verwickelte den Staatsanwalt in ein Gespräch und schlenderte dabei mit ihm in Richtung des Wohnhauses der Fuhrmanns. Auf ihre Fragen hin bestätigte ihr Olaf Jantzen, dass er tatsächlich neu auf seinem Posten und auch neu in Lübeck sei. Ursprünglich stammte er aus Osnabrück. Er war jung und ehrgeizig, mit langen Koteletten und modischer eckiger Brille.
Als sie die Eingangstür des Wohnhauses erreichten, blieb Pia stehen. Von hier aus konnten sie die Polizisten und Fahrzeuge rund um den Fundort, den ganzen Trubel der polizeilichen Ermittlung, nicht mehr sehen. Graue Wolken segelten tief über das ausladende Reetdach des Bauernhauses hinweg. Im Frühling, wenn alles grünte und blühte, mochte sich hier so etwas wie eine ländliche Idylle einstellen. Doch jetzt, im November, umwehte den Ort eine Trostlosigkeit, die durch die Abwesenheit von Menschen noch verstärkt wurde. Kein Fahrzeug auf der Zufahrt, alle Fenster des Wohntraktes verschlossen. Nirgendwo brannte Licht. Es gab nicht einmal Rauch, der aus dem Schornstein aufstieg.
Der Staatsanwalt sah besorgt zum Himmel. Der nächste kräftige Schauer würde die Arbeit mit der neuen Rundum- Videokamera am Fundort behindern. Eine unerwünschte Verzögerung. Jantzen schien einerseits hochmotiviert zu sein, andererseits fühlte er sich in dieser Umgebung sichtlich unwohl. Und in seinem Wollmantel und dem Anzug darunter, ohne Mütze, Handschuhe oder Stiefel, war ihm sicherlich viel zu kalt. Pia ging es nicht besser, so konzentrierte sie sich umso mehr auf ihr Ziel. »Wir haben schon mehrmals geklingelt und sind um das Haus herumgegangen. Es ist definitiv niemand zu Hause«, sagte sie.
»Die kommen sicher bald wieder.«
»Meinen Sie? Ich finde, es sieht eher so aus, als wären die Fuhrmanns schon etwas länger weg.«
»Wie kommen Sie darauf?«
Pia deutete auf die verwaiste Umgebung. Was fehlte, waren die tagtäglichen Spuren menschlichen Lebens. Gummistiefel auf der Fußmatte, ein gekipptes Toilettenfenster . . . Außerdem lagen durchnässte Reklamezettel auf dem Treppenabsatz herum. Warum hatte sie nicht eher daran gedacht? Sie ging zum Briefkasten und sah hinein. Er war voll mit Post. »Der wurde wohl schon ein paar Tage nicht mehr geleert«, sagte sie. Pia ärgerte sich, dass sie den Postboten nicht danach gefragt hatte. Sie hatte sich darauf konzentriert, wie es dazu gekommen war, dass er die Leiche gefunden hatte.
Olaf Jantzen sah ihr über die Schulter. »Das ist in der Tat ein Hinweis. Sollten die wirklich schon länger weg sein? Müssen auf so einem Bauernhof nicht fortwährend Tiere versorgt werden? «
»Die Ställe sind leer. Bisher hab ich hier nur ein paar Katzen herumstreunen sehen.«
Er runzelte die Stirn.
»Der Briefträger kennt die Leute hier schon lange. Er sagt, die sind sonst nie weg. Es ist eine außergewöhnliche Situation, auf die wir umgehend reagieren müssen.«
»Grundsätzlich stimme ich Ihnen zu, wenn da nicht leider noch das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung wäre ...«
»Wir haben es aber höchstwahrscheinlich mit einem Kapitalverbrechen zu tun. In so einer Ermittlung zählen Stunden, vielleicht sogar Minuten. Selbst wenn die Bewohner nicht direkt etwas mit dem Mord zu tun haben, brauchen wir sie dennoch als Auskunftspersonen.«
»Wenn die schon länger weg sind, wissen sie womöglich gar nichts.«
»Wie sollen wir rausfinden, was sie wissen und was nicht, wenn wir nicht mit ihnen sprechen können?«
»Also gut.« Der Staatsanwalt setzte eine entschlossene Miene auf. »Ich werde Ihnen einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss besorgen. Ansonsten kommen wir hier ja nicht weiter.« Olaf Jantzen stutzte, als ein weiteres Auto auf den Hofplatz fuhr. »Na, wer kommt denn da? Hat sich das Ganze womöglich doch erledigt?«
Pia schüttelte den Kopf. »Das ist der Rechtsmediziner aus Lübeck. Enno Kinneberg.«
»Ach so.«
»Sie besorgen uns einen Beschluss?«, vergewisserte Pia sich. Die Atmosphäre in der Nähe des Wohnhauses war bedrückend.
»Sagte ich das nicht? Sie entschuldigen mich, Frau Korittki? Und . . . keine voreiligen Aktionen!«
Sie nickte amüsiert. Befürchtete er, sie würde jetzt die Tür eintreten, um sich im Haus umzusehen? Eilte ihr etwa ein gewisser Ruf voraus? Na ja, sie wollte schon da rein. Aber wenn Jantzen so jung und dynamisch war, wie er sich gab, würde die Erlaubnis des Richters nicht lange auf sich warten lassen. Trotzdem konnte es ein langer Tag werden.
Apropos . . . Pia stellte sich in den Windschatten des Eingangs und kontrollierte ihr Telefon. Theoretisch wusste sie, dass Felix bei seinem Vater gut aufgehoben war. Wahrscheinlich wurde er wieder nach Strich und Faden verwöhnt. Trotzdem hatte sie das Gefühl, sich nicht richtig zu verhalten. Erst der Gerichtstermin, jetzt die neu angelaufene Ermittlung . . . Hinnerk hatte ihr gesagt, er würde sich den ganzen Tag um Felix kümmern. Doch wie lang war sein ganzer Tag? Sie wählte seine neue Festnetznummer in der Wohnung, die er zusammen mit Mascha bezogen hatte. Er klang ein wenig atemlos. »Wie geht es euch, alles klar so weit?«, fragte sie, sofort alarmiert.
»Natürlich. Felix spielt mit meiner alten Holzeisenbahn, und ich überlege, was ich uns zum Mittagessen kochen soll.«
»Mittagessen klingt gut«, sagte Pia, der auch schon wieder der Magen knurrte. »Wie lange hast du denn heute Zeit? Ich weiß ja, es war nicht so eingeplant.«
»Du kannst so lange arbeiten, wie du willst. Sag mir nur rechtzeitig Bescheid, wann du Felix wieder abholst!«
»Es kann dauern. Wir haben einen Toten in einem Feuerlöschteich. Wahrscheinlich Mord, aber das steht noch nicht fest.«
»Dafür lebst du doch, Pia.«
Sie beendeten das Gespräch recht abrupt, weil Felix nach Hinnerk rief. Trotz des heutigen Freifahrtscheins, oder vielleicht auch gerade deswegen, fühlte Pia sich unwohl, als sie zurück zu den anderen ging. Stimmte es? Lebte sie für Mord und Totschlag? Für den Thrill und die Herausforderung, dass die Bösen bestraft und die Guten letztlich Gerechtigkeit erfahren sollten? Auch wenn sie wusste, wie vergeblich der Kampf - im Großen und Ganzen betrachtet - war? Machte sie sich etwas vor?
»Ist Blau jetzt das neue Rot?«, fragte Broders, als Pia wieder
zum Einsatzwagen kam.
»Wieso?« Sie sah an sich herunter.
»Deine Lippen sind blau.«
»Mir ist kalt. Ich bin für einen Gerichtstermin angezogen, nicht fürs Wintercampen.«
»Kalt ist immer schlecht«, sagte Broders und dachte an seinen verspannten Rücken. »Kürschner hat gerade ein paar Leute losgeschickt, die im Dorf von Tür zu Tür gehen sollen. Wir beide haben das Glückslos gezogen.«
»Und das wäre?«
»Informative Befragung im Wirtshaus - kommst du mit?«
Das war typisch Broders. Doch als einer der Dienstältesten im Kommissariat konnte er sich das natürlich mal herausnehmen. Pia wollte zustimmend grinsen, merkte aber, dass ihre Gesichtsmuskeln eingefroren waren. »Hauptsache, die haben ihren Herd schon angefeuert.«
Als Dina Löbich ihre sechste Schulstunde beendete, hatte sie ein unschönes Pfeifen im Ohr. Sie räumte ihre Unterlagen in die Ledertasche, die sie schon seit ihrer Schulzeit mit sich herumschleppte, und schulterte sie. Ein Gewicht, als hätte sie die gesamte Schulbibliothek darin, dabei waren es nur siebenundfünfzig Hefte. Sie hatte heute in zwei Klassen die Hausaufgaben eingesammelt. Es ging auf die Weihnachtsferien zu, und Dina Löbich benötigte noch Anhaltspunkte für die mündlichen Noten. In der 8c gab es Schüler, deren Namen sie noch nicht mal sicher zuordnen konnte. Wie sollte sie sie dann benoten? Sie hatte mit den besten Vorsätzen hier angefangen, doch es war einfach zu viel. Ihre Schüler waren Gott sei Dank schon lärmend und grölend aus dem Klassenraum gestürzt. Ihre Schritte und pubertären Stimmen verhallten nach und nach in den langen Gängen. Zurück blieb der Geruch nach überschüssigen Hormonen und zu warm gewordenen Füßen. Die 8c galt als eine besonders unruhige und schwierige Klasse. Es war Ulf Nielsens Klasse. Eigentlich kein Wunder, dass der Mann hin und wieder krankfeierte.
Dina Löbich mochte ihn trotzdem nicht besonders. Als sie ihn vor ein paar Wochen mal danach gefragt hatte, wo denn die Musikräume zu finden seien, hatte er ihr einen Vortrag über richtige Vorbereitung gehalten. Dabei war sie keine Musiklehrerin. Sie hatte nur jemanden gesucht. Und wenn man sich nicht vorsah, verpasste Nielsen einem auch noch eine Sonderlektion in Sachen Heimatkunde. »Die Spuren der Steinzeitjäger im Stellmoorer Tunneltal« oder so ähnlich.
Aber sonderbar war es schon, dass er seit vier Tagen nicht in der Schule aufgetaucht war, ohne sich abzumelden. Sie hatte vorhin extra noch mal im Sekretariat nachgefragt, ob Nielsen sich inzwischen gemeldet habe. Dann hatte sie sich erkundigt, ob er allein lebe. Es konnte doch sein, dass Ulf Nielsen in seiner Wohnung umgekippt war. Vielleicht lag er da jetzt tot oder sterbend herum, und keiner merkte es. Wie alt mochte Nielsen sein? Für Dina Löbich, frisch von der Uni, schien er kurz vor der Pensionierung zu stehen.
Sie hatte seine Adresse im Telefonbuch gefunden. Er wohnte in Bad Schwartau. Es würde nicht lange dauern, auf dem Rückweg bei ihm vorbeizuschauen, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Mehr, als sich lächerlich machen, konnte sie nicht. Ihre »soziale Ader«, wie ihre Freundinnen es nannten, hatte sie schon manches Mal in Schwierigkeiten gebracht. Doch damit kam sie klar. Ihre Eltern waren Pastoren. Es lag ihr ja vielleicht in den Genen. Wenn man heutzutage Lehrerin werden wollte, musste man sowieso masochistisch veranlagt sein . . . Sie bog also auf dem Heimweg von ihrer gewohnten Route ab und ließ sich von ihrem Navigationsgerät zu Nielsens Adresse leiten.
Vor einem der Mehrfamilienhäuser steuerte sie in eine freie Parkbucht und schaltete den Motor aus. Jetzt kamen ihr erste Zweifel. Was wollte sie hier? Sie war nur seine Kollegin, noch dazu eine neue. Aber außer ihr schien sich ja niemand darum zu kümmern, was mit Nielsen los war. Dina Löbich wusste, dass man ihr ihr Verhalten auch ganz anders auslegen konnte: Neugier, der Wunsch, einen Krankfeiernden bloßzustellen. Im schlimmsten Fall hielten das einige für eine billige Anmache . . . Bei Ulf Nielsen? Sie verdrehte die Augen und stieg aus. Was getan werden musste, musste eben getan werden, egal, was die Leute dachten. Sie hörte sich in Gedanken schon genauso an wie ihre Mutter.
Dina ging die Haustüren ab, bis sie vor der richtigen stand, und drückte auf die Klingel neben dem Namensschild Nielsen. Es war als Einziges mit einer dieser altmodischen Etikett-Prägemaschinen hergestellt worden.
Nichts passierte. Was nun?
Sie war kurz davor, unverrichteter Dinge zu gehen, als eine ältere Frau mit einem Einkaufstrolley an die Tür kam.
»Entschuldigen Sie bitte! Wohnen Sie hier? Ich bin auf der Suche nach Herrn Nielsen«, sagte Dina Löbich.
»Dem Lehrer? Den hab ich aber schon länger nicht mehr gesehen. Vielleicht ist er im Urlaub.«
»Ich bin eine Kollegin von ihm. Die Sache ist die: Eigentlich hätte er diese Woche unterrichten müssen, doch er ist seit ein paar Tagen nicht in der Schule erschienen. Er hat sich aber auch nicht krankgemeldet.«
Dina sah direkt, wie es hinter der Stirn der Frau zu arbeiten begann. Und sie schien zu dem gleichen Schluss zu kommen wie Dina. »Oje«, sagte sie. »Er wohnt direkt über mir. Und ich hab nichts mehr von ihm gehört seit . . . Samstag? Was machen wir denn nun?«
»Die Polizei verständigen?«, schlug Dina vor.
»Also, ich weiß nicht. Wenn er nun nur verreist ist?«
»Es sind aber keine Ferien. Hat vielleicht jemand einen Schlüssel zu seiner Wohnung und kann mal nachsehen?«
»Ich nicht.« Sie schüttelte abwehrend den Kopf. »Und ich würde da auch nicht reingehen.« Wieder Kopfschütteln.
»Gibt es einen Hausmeister?«
»Ach, der!« Sie winkte ab.
Es wunderte Dina überhaupt nicht, dass sie wieder mal diejenige war, die ihr Telefon hervorzog, um bei der Polizei anzurufen.
Das Wirtshaus hieß Lindenhof. Acht imposante Baumstümpfe, aufgereiht vor der Längsseite des Hauses, die der Straße zugewandt war, zeigten, dass das durchaus einmal ein passender Name gewesen war. Das Haus war margarinegelb, die Fensterrahmen schokoladenbraun gestrichen. Hinter jedem Fenster stand ein Topf mit einer orangeroten Geranie.
»Brav. So soll es sein«, murmelte Broders und stieg die drei Stufen hinauf.
Sie passierten einen imposanten Zigarettenautomaten und einen Heizkörper mit einem Seidenblumengesteck darauf. Irgendwo musste ein Raucherraum sein, denn es roch nach kaltem Zigarettenqualm, untermalt mit einer Note von frischem Fett. Zu beiden Seiten ging es in eine Gaststube, wie man durch die braun getönten Butzenscheiben in den Türen erkennen konnte, doch der linke Gastraum hatte einen Bartresen. Auf den steuerte Pia zu.
Es war noch nichts los, und so dauerte es auch ein paar Sekunden, bis jemand aus der Küche hinter den Tresen trat.
Pia stellte ihren Kollegen und sich vor und fragte, ob sie schon was zu essen bekommen könnten.
Der Wirt kniff die Augen zusammen. »Schon?« Er sah auf die Uhr. »Ich frag mal meine Madame, ob sie noch was für euch hat.« Es war kurz nach zwei.
»Die Küche ist wohl schon wieder kalt«, vermutete Broders und schwang sich auf einen der Barhocker. »Aber sieben Bier ersetzen ja bekanntlich eine Mahlzeit. Was gibt's denn frisch vom Fass?«
»Ich trag dich hier nicht raus, Broders«, sagte Pia. Das waren ja ganz neue Marotten.
»Das nennt sich Frustsaufen«, antwortete er. »Warum immer nur die anderen, warum nicht mal ich? Ich hab gerade ganz schön was auszustehen.«
Der Wirt steckte den Kopf durch die Tür: »Labskaus oder Matjes mit Bratkartoffeln. Ansonsten Holsteiner Katenschinken auf Brot ...«
»Wir nehmen zweimal den Matjes«, rief Broders, bevor Pia auch nur reagieren konnte.
Sie bestellten Apfelschorle und Wasser dazu.
»Warmes Essen nur am Tisch«, ordnete der Wirt an.
Broders ließ sich das nicht zweimal sagen und ging zu den Tischen hinüber, wo er sich auf einen der gepolsterten Stühle sinken ließ. Er verzog das Gesicht.
»Was ist los?«
»Autsch. Nur mal wieder mein Rücken.«
»Fall du uns nicht auch noch aus!« Pia warf ihm einen besorgten Blick zu.
Broders schüttelte abwehrend den Kopf.
»Ihr zwei seid auf dem Röperhof zugange, nich' wahr?«, erkundigte sich der Wirt. »Hab schon gehört. Ein Toter im Teich . . . tz, tz. Da kommt ja gleich das ganze Dorf unter die Räder.«
»Von wem haben Sie das gehört?«
»Von unserem Postboten. Der Bredow brauchte akut was Stärkendes, nachdem ihr mit ihm durch wart.«
Pia fragte sich, ob sie zu hart vorgegangen war, fand aber in ihrer Erinnerung nichts, das diese These stützte. »Braucht der öfter was .Stärkendes‹?«
»Nein, nur ausnahmsweise. Und wer braucht das nicht hin und wieder?«
»Wie wahr!«, sagte Broders zu Pia.
»Und was hast du gerade auszustehen?«, fragte sie ihn, als der Wirt wieder verschwunden war.
»Ich sag nur WG.«
»Du wohnst doch allein.«
»Aber nicht am Wochenende. Und inzwischen bin ich auch unter der Woche mal bei Ralph. Der hat zwar die größere Wohnung, doch nur ein Badezimmer. Und wenn sein siebzehnjähriger Sohn noch da ist - nebst Freundin! -, dann brauchen wir einen .Badplan‹, um morgens fertig zu werden.«
»Klingt doch vernünftig.«
»Pah! Mir haben sie die Zeit zwischen fünf Uhr fünfzig und sechs Uhr zwanzig zugeteilt.«
»Ja, und?«
»Da bin ich aber noch lange nicht fertig!«
Pia musste grinsen. »So ist das mit Kindern. Man muss zurückstecken.«
»Die neue Freundin von Elias braucht fast eine Stunde im Badezimmer. Und der Knabe noch länger.«
»Da bin ich aber froh, dass das bei Felix noch ein bisschen hin ist. Warum wohnt Ralph nicht mit bei dir? Da habt ihr eure Ruhe.«
»Ach.« Er winkte ab. »Meine Mutter lebt doch im selben Haus wie ich.«
»Ja und?«
»Sie . . . Also theoretisch weiß sie das mit mir und Ralph. Aber ich bin nicht sicher, ob sie ihn auch kennenlernen möchte.«
»Broders. Du solltest deiner Mutter wenigstens die Chance geben, deinen Lebenspartner kennenzulernen.«
Er schnaubte durch die Nase.
Pia fragte sich, wie fundiert das Wissen seiner Mutter tatsächlich war. Immerhin hatte das gesamte Kommissariat Kenntnis davon, dass Broders sie einmal in der Woche mit einem Papptablett voller Kuchenstücke besuchte. Der Mittwochabend war ihm heilig. Worüber sprachen sie dann immer? Wusste die Frau am Ende noch nicht einmal, dass ihr Sohn schwul war?
Nach dem Verzehr der Matjesfilets in Sahnesoße und der Berge knuspriger Bratkartoffeln fühlte Pia sich satt und müde. Es kostete sie Überwindung, den Wirt zu bitten, sich für den abschließenden Kaffee einen Moment zu ihnen zu setzen. Sie konnten die Gelegenheit, die wohl erste Informationsquelle des Ortes anzuzapfen, nicht außer Acht lassen.
Der Wirt kratzte sich den beinahe kahlen Schädel, sah kurz zur Küchentür und nickte dann. »Okay. Aber einen kleinen Moment dauert's noch. Soll meine Frau, also meine Lebensgefährtin, auch dazukommen?«
»Wir befragen Sie lieber einzeln«, sagte Pia. Die Arbeitsteilung im Gasthof ließ vermuten, dass er mehr mitbekam als sie. Später wüssten sie mehr.
»Was sind die Fuhrmanns für Leute?«, fragte Broders, nachdem sie erfahren hatten, dass der Wirt, Herbert Kleber, den Gasthof schon seit Jahrzehnten führte. Er hatte ihn von seinem Vater geerbt.
»Nichts Besonderes eigentlich. Friedliche Zeitgenossen, die zusehen, dass sie auf ihrem Hof ihr Auskommen haben. Was immer schwieriger wird - schlechte Zeiten für die kleineren Landwirte, Sie wissen schon.«
»Für den einen mehr, für den anderen weniger«, ermunterte Pia ihn mit einem Allgemeinplatz zum Weiterreden.
»Nun, die Fuhrmanns haben es bestimmt nicht leicht. Finanziell und überhaupt. Heute muss man ja mit den Verordnungen der EU auf Du und Du stehen, um zurechtzukommen. Und jedes Jahr ändert sich da was. Mit Flächenstilllegungen oder Mais für Biogas verdient ein Bauer heutzutage ja mehr, als wenn er sein Land ordentlich bewirtschaftet.«
»Denken Sie, dass die Fuhrmanns nicht mehr zurechtkommen? Eventuell Schulden haben?«
»Wer hat denn heute keine Schulden, bei den Preisen? Wissen Sie, was ein neuer Traktor kostet? Also, wer zahlt das denn mal eben aus der Portokasse?«
»Das sind doch Investitionen in die Zukunft.«
»Alles nicht so einfach. Ich meine, der Thilo wird den Hof ja wohl kaum übernehmen.«
»Warum nicht? Hat er kein Interesse?«
»Ach, Sie wissen es noch nicht!« Er verzog unbehaglich das Gesicht. »Der Thilo ist nicht so richtig helle, verstehen Sie? Kein Idiot, aber einfach gestrickt. Also, ohne seine Eltern könnte der nicht existieren . . .«
»Ist er geistig behindert?«
»Nichts Genaues weiß man nicht. Er ist auf die Förderschule gegangen. Und seitdem ist Sense: keine Ausbildung, kein Job, nichts. Armin, sein Vater, will ihn nicht in eine Einrichtung schicken. Behält ihn lieber bei sich und lässt ihn den Hof harken. «
»Und was sagt die Mutter dazu?«, fragte Pia.
»Niemand weiß, was Elsa denkt.«
»Wieso nicht?«
»Ach, man sieht sie eigentlich nicht. Sie verlässt ihren Hof nur, um Lebensmittel einzukaufen. Sie hat keine Freundinnen, kommt nie zu irgendwelchen Festen. Das war schon so, als Meike noch lebte, aber seit die tot ist, ist es noch schlimmer geworden mit Elsa.«
»Wer zum Teufel ist Meike?«, fragte Broders.
Copyright . 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln.
Gleich würde die Sonne über der nahen Ostsee aufgehen. Der Himmel hinter den Baumstämmen schimmerte schon lilagrau. Nielsens Herz schlug schneller. In seiner Vorstellung ergänzte er den Hügel durch einen Holzturm und eine Befestigungsanlage rundherum. Es waren mit Erde verfüllte Holzbarrikaden gewesen. Nur in Linau bei Trittau war ihm die Raubritterburg »Linowe« mit Resten eines Steinturms bekannt. Zu der Motte vor ihm, die »Ravensvelde« genannt wurde, hatte eine mit Wall und Graben geschützte Vorburg gehört, doch davon war selbst unter günstigen Lichtverhältnissen nichts mehr zu erkennen. Er stellte sich die Wachen vor, die über die Brüstung schauten und ins Wasser spuckten. In der Ferne klopfte ein Specht. Als die ersten Sonnenstrahlen über den Hügel fielen, nahm Ulf Nielsen die Kamera hoch und fotografierte mit verschiedenen Einstellungen.
Hinter ihm knackte etwas. Er ließ den Fotoapparat sinken und sah über seine Schulter. Allein im Wald fühlt sich ein Mensch nie ganz sicher, dachte er. Bei aller Vernunft behielten Urängste die Oberhand. Doch da war niemand. Es war nur ein Zweig gewesen, der durch den Frost gebrochen war. Er würde um diese Uhrzeit ja kaum Spaziergängern oder gar dem Bauern begegnen.
Ulf Nielsen kannte den Mann, auf dessen Grund und Boden er sich befand: Armin Fuhrmann, ein grober Klotz, den eine ehemalige Ritterburg auf seinem Land nicht die Bohne interessierte. Der es lästig fand, dass er an der Motte nichts verändern durfte. Der auch einen Eiskeller aus dem 17. Jahrhundert, der etwa zweihundert Meter von hier entfernt lag, für ein paar Steine, die er verkaufen konnte, abtragen würde.
Ulf Nielsen erinnerte sich, wie er Armin Fuhrmann und seine Frau vor ein paar Jahren davon überzeugen musste, ihren Sohn von der Hauptschule auf die Förderschule zu schicken. Jeder Mensch hatte ein Anrecht auf eine ihm angemessene und fördernde Bildung, selbst einer, der vor dreißig Jahren noch als Dorftrottel durchgefüttert worden wäre. Dieses Wort hatte er natürlich gegenüber den Eltern nicht in den Mund genommen. Trotzdem war Nielsen von Armin Fuhrmann beschimpft und schließlich auch körperlich bedroht worden. Die Mutter des Jungen hatte ihn nur entsetzt und ängstlich angestarrt. Es hatte zwar eine Weile gedauert, aber Nielsen hatte nicht locker gelassen und seinen Plan mithilfe der Schulleitung und des Jugendamtes schließlich durchgesetzt. Thilo Fuhrmann, so hieß der Junge, musste jetzt auch schon mit der Schule fertig sein. Was er wohl trieb? Nielsen erinnerte sich noch gut an ihn. Ein Kind mit einem auffallend hübschen Gesicht und unheimlichen grünen Augen. Dieser leere Blick, mit dem ihn Thilo während des Unterrichts verfolgt hatte . . . Er fröstelte. Es knackte wieder, scharf und hell, wie ein Schuss in weiter Ferne. Nielsen widerstand dem Drang, sich nochmals umzusehen. Nein, weder ein Raubritter noch der hünenhafte, grobschlächtige Armin Fuhrmann oder sein Sohn würden gleich hinter dem Hügel auftauchen. Er war allein im Wald. Dann fiel ihm ein, dass auch Jäger diese frühe Stunde bevorzugten. Auf der Fahrt mit dem Rad hierher hatte er auf einer Wiese Damwild im dichten Bodennebel äsen sehen. Ein weißes Tier hatte aus der Masse herausgestochen. Der Anblick des seltenen Wildtieres im Zwielicht war unheimlich gewesen. Ein Jäger, den Nielsen kannte, hatte ihm mal erzählt, dass er in vierzig Jahren kein einziges Mal auf weißes Rot-oder Damwild angelegt habe. Das bringe Unglück.
Die Freude an seinen mittelalterlichen Fantasien wollte sich heute nicht so recht einstellen. Es war zu kalt. Seine Gedanken an den schwierigen Jungen, und damit an seinen eigentlichen Beruf, hatten Nielsen zu sehr abgelenkt. Er hängte sich die Kamera über die Schulter und hauchte sich in die Hände. Dann machte er sich zu der Weide auf, an der er sein Fahrrad abgestellt hatte. Zurück in Bad Schwartau wollte er sich ein Frühstück beim Bäcker gönnen. Eine seiner Schülerinnen aus dem Erdkunde-Profil jobbte an den Wochenenden dort. Ulf Nielsen nahm sich vor, mit ihr zu plaudern. Sie war schüchtern, nicht sehr hübsch und hatte anscheinend nicht viele Freunde. In den Pausen sah er sie oft allein herumsitzen und lesen. Sie würde in einem Jahr mit der Schule fertig sein . . .
Er ging schneller. Der Boden war unangenehm weich, Brombeerranken zogen an seinen Hosenbeinen, und er trat in ein mit Wasser gefülltes Loch. Die eisige Brühe drang von oben in seinen linken Wanderschuh. Vor sich sah er nun die Kuppe eines lang gezogenen Hügels, an dessen Nordseite sich die Öffnung des Eiskellers befand. Hinter dem Eiskeller führte der Feldweg bis zum Röperhof, wo die Fuhrmanns lebten. Die großflächigen Dächer von Wohnhaus und Scheune lagen noch hinter dem nächsten Hügelkamm, aber in der Ferne blinkten ein paar Windräder im ersten Morgenlicht. Sie zerstörten Ulf Nielsens geschichtliche Visionen endgültig. Und noch etwas störte ihn: Hinter dem Eiskeller stand nun ein Auto.
Der Bauer? Oder ein Jäger? Hatten sie ihn auf dem Rad vorbeifahren sehen und waren dem vermeintlichen Störenfried gefolgt? Oder hatte jemand etwas im Eiskeller zu tun? Egal, er musste daran vorbeigehen, wenn er zu seinem Fahrrad wollte. Nielsen sah, dass der Boden vor dem Eiskeller aufgewühlt war. Fuß-und auch Schleifspuren in der puderzuckerartigen Schneedecke. Die Spuren konnten nicht vom gestrigen Abend stammen, weil es erst ein paar Stunden vor Sonnenaufgang zu schneien begonnen hatte. Die grob zusammengezimmerte Holztür, die den Eiskeller versperrte, war wie immer geschlossen. Nielsen konnte sich nicht vorstellen, dass jemand in den höhlenartigen Raum ging und die Tür hinter sich zuzog. Also war wohl niemand darin. Aber warum parkte dann das Auto hier? Unschlüssig stand er am Waldrand, bis er merkte, dass er zitterte und kaum noch Gefühl in seinem nassen Fuß hatte. Also weiter.
Im Vorbeigehen sah er, dass an der rostigen Metallöse an der Tür des Eiskellers eine neue Kette und ein neues Vorhängeschloss hingen. Wieder knackte es im Unterholz. Von diesem Moment an hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Doch im Zwielicht des Waldes war niemand zu sehen. Wurde er etwa auf seine alten Tage nervös?
Er würde noch einen Blick auf das Auto am Feldrand werfen, nur der Ordnung halber, und dann zurück nach Bad Schwartau fahren. Als er den Feldweg beinahe erreicht hatte, hörte er ein Trampeln und Rascheln, als bräche ein Wildschwein durch das Unterholz. Er wollte sich umdrehen, doch da spürte er schon einen heftigen Schlag zwischen den Schulterblättern und fiel nach vorn. Er landete in einer Pfütze. So groß ist kein Wildschwein, dachte er noch. Etwas drückte ihn hinunter, in das schwarze Wasser. Er hörte ein Keuchen und versuchte, sich hochzustemmen, doch der Gegendruck war zu stark. Da war eine Hand an seinem Hinterkopf, die in sein Haar verkrallt war und sein Gesicht in das eisige, faulig schmeckende Wasser tauchte. Er versuchte sich aufzurichten, seine Hände griffen in den glitschigen Untergrund. Kurz flackerten Bilder vor ihm auf, Bilder von Raubrittern und blutigen Schlachten, von überfallenen und ermordeten Kaufleuten . . . Da ließ der Druck auf seinen Kopf nach, und Nielsen fuhr, nach Luft schnappend, hoch. Das musste ein Irrtum sein, ein irrwitziger Streich! Er würde nicht in einer Pfütze ertrinken. Gleich würde jemand lachen und ihm hochhelfen, ihm auf die Schulter klopfen. Er würde weiterleben! Doch ein glühender Schmerz am Hinterkopf setzte diesem Gedanken ein Ende: Der Wald, der pulvrige Schnee auf zerwühltem Laub und das schwarze Wasser versanken in Dunkelheit.
1. Kapitel
Pia Korittki stand in ihrer Küche und filetierte eine Apfelsine. Der Fruchtsaft rann ihr über die Finger, und als das Messer aus Versehen in das weiche Fleisch schnitt, spritzte Fruchtsaft auf ihren nackten Bauch.
Sie unterdrückte einen leisen Fluch, denn sie wurde beobachtet. Neben ihr in seinem Kinderstuhl saß ihr Sohn Felix und aß ein Käsebrot. Er blickte sie aufmerksam aus großen, dichtbewimperten Augen an. Pia war nur mit Unterhose und einem schwarzen BH bekleidet. Das Top und der Hosenanzug, den sie zur Gerichtsverhandlung tragen wollte, hingen noch sauber und gebügelt am Schrank. Mit seinen zwei Jahren fand ihr Sohn es noch nicht komisch, wenn sie so herumlief. Wann sie wohl mal wieder ein erwachsener Mann so zu sehen bekommen würde? Ihre letzte Nacht mit Lars lag schon wieder ein paar Wochen zurück. Ein schöner Abend, wunderbarer Sex, und als sie ihn am Morgen darauf gebeten hatte zu gehen, bevor Felix wach wurde, hatte er mit Unverständnis reagiert. Er beschwerte sich, dass sie kaum Zeit für ihn habe. Sie hatte versucht, ihm begreiflich zu machen, dass sie wegen Felix eben vorsichtig sein müsse. Tja, und dann hatte sie noch gesagt, dass es ihr auf die Nerven gehe, wie er immer über ihren Beruf lästere. Er hatte gekontert, dass sie seine Hobbys ja auch nicht gerade gutheiße, woraufhin sie gesagt hatte, dass er schon wegen dieser bescheuerten Hobbys zeitlich mindestens genauso eingeschränkt sei wie sie, von seiner Agentur ganz zu schweigen ... Hatte sie wirklich »bescheuert« gesagt? Er war jedenfalls ziemlich wütend geworden und, wenn sie sich recht erinnerte, wutschnaubend gegangen. Seitdem herrschte Funkstille.
Pia seufzte bei der Erinnerung an den Streit und legte die Orangenscheiben zu den anderen Obststückchen in die Frühstücksdose. Sie verschloss sie mit einem kräftigen Druck ihres Handballens und legte sie in Felix' Rucksack. Obst und Vitamine, gute Mutter!, dachte sie spöttisch. Die Verhandlung vor Gericht heute würde weniger einfach werden.
Pia arbeitete als Kriminaloberkommissarin im Kommissariat 1 der Bezirkskriminalinspektion Lübeck. Heute sollte sie als Zeugin in einem Mordprozess aussagen. Sie war im Sommer an den Ermittlungen in einem Fall auf Fehmarn beteiligt gewesen, der großes Medieninteresse hervorgerufen hatte. Sie hoffte, dass die Presse ihre Aufmerksamkeit inzwischen anderen Ereignissen widmete. Der Täter war überführt und gefasst worden, eine Entführung, die mit der Tat in Zusammenhang stand, glimpflich ausgegangen. Doch Pia hatte damals eine unangenehme Begegnung mit dem Täter in ihrer Küche gehabt. Nicht daran denken! Die Befriedigung darüber, dass er sich heute vor Gericht für seine Taten verantworten musste, dass Jesko Ebel wahrscheinlich verurteilt werden würde, stellte sich nicht ein. Die Täter wurden früher oder später aus der Haft entlassen, spazierten frei herum und erfreuten sich unter Umständen ihres Lebens, während die Opfer für alle Zeiten tot waren oder traumatisiert blieben. Viele fürchteten sich sogar vor einer weiteren Begegnung mit dem Täter.
Pia warf einen Blick auf die Küchenuhr. Sie lag noch gut in der Zeit. Sie wollte Felix um kurz vor halb acht zu seiner Tagesmutter bringen, um dann rechtzeitig um acht im Gericht zu sein. Sie wischte Felix den Mund und die klebrigen Finger mit einem feuchten Waschlappen ab und trug ihn ins Bad, um ihm die Zähne zu putzen.
Felix streichelte ihr Haar. »Milla«, sagte er.
»Mama, nicht Milla«, korrigierte Pia.
»Milla bielen.«
Milla? Pias Mobiltelefon auf der Kommode im Flur vibrierte.
»Korittki.«
»Oh, gut, dass ich dich noch erwische, Pia! Es tut mir leid, aber du kannst Felix heute nicht zu mir bringen. Ich hab über Nacht wahnsinnige Zahnschmerzen bekommen und muss erst mal zum Zahnarzt.«
»Mist!«, entfuhr es Pia. »Ich meine, tut mir leid, dass du krank bist. Ich hab nur gleich einen Gerichtstermin.« Noch während sie sprach, wurde Pia klar, dass es nichts half. Wenn Fiona krank war, war sie krank. Felix begann, auf ihrem Arm zu zappeln, und sie ließ ihn herunter.
»Ja, es kommt immer alles auf einmal«, bestätigte die Tagesmutter. »Du bist leider nicht die Einzige, der das heute gar nicht passt. Hast du nicht einen Babysitter, der einspringen kann?«
»Ich weiß noch nicht, ich werde die beiden gleich mal anrufen. Dir gute Besserung!«
»Danke. Wenigstens konnten sie mich beim Zahnarzt gleich heute Vormittag einschieben. Wir hören uns wieder.«
»Gute Besserung und viel Glück!« Pia unterbrach die Verbindung und starrte auf ihr Telefon, als wüsste das die Lösung des Problems. Glück konnte sie jetzt ebenfalls gut gebrauchen.
Felix, der kein großer Fan des Zähneputzens war, war im Wohnzimmer verschwunden und spielte mit seinen Bausteinen. Pia ging ihr Telefonregister durch und suchte nach einer Alternative. Ihre Eltern waren nicht da. Lars fiel selbstredend aus. Ihre Freundin Susanne Herbold, die gleichzeitig ihre Vermieterin war, arbeitete tagsüber ebenfalls. Zwei ihrer sporadisch einspringenden Babysitter, die sie erreichte, waren auf dem Weg zur Schule oder zur Uni. Und jetzt war es schon Viertel nach sieben. Pia wusste niemanden mehr. Mitnehmen konnte sie Felix auch nicht. Allein die Vorstellung, ihn in die Nähe von Jesko Ebel zu bringen, bereitete ihr Magenschmerzen.
Seit sie ein Kind hatte, war ihr die Trennung von Privat-und Berufsleben wichtiger denn je. Wer also dann? Hinnerk, Felix' Vater? Sie hatten sich schon vor Felix' Geburt getrennt, doch seine Vaterrolle nahm Hinnerk sehr ernst. Er hatte inzwischen einen Studienplatz für Medizin in Lübeck bekommen, nachdem er sein Studium in Ungarn begonnen hatte. Verabredet war, dass er Felix an diesem Samstagvormittag abholte und das Wochenende mit ihm verbrachte. Mit von der Partie wäre seine neue Freundin, von der Pia bisher nur wusste, dass sie Mascha hieß. Sollte sie Hinnerk fragen, ob er spontan einspringen konnte, um ihr zu helfen? Letztlich hatte sie keine andere Wahl. Pünktlich zu einer Gerichtsverhandlung zu erscheinen war ihr dann doch wichtiger als ihr Stolz. Sie musste wohl oder übel über ihren Schatten springen. Zwanzig nach sieben! Hinnerk war ihre letzte Option. Pia spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Wie gut, dass sie noch nicht vollständig angezogen war. Sie wählte Hinnerks Mobilnummer.
Gernot Wiese stand im Wintergarten und beobachtete, wie die Schneeflocken gegen das Glas wehten, schmolzen und dann als Tropfen daran herunterrutschten. Manchmal vereinigten sie sich, meistens überholten sie sich gegenseitig. Eine Parabel auf das menschliche Miteinander. Auch er war gerade heimtückisch überholt worden. Gernot schloss Wetten mit sich selbst darüber ab, welche Tropfen bis unten durchkamen und welche nicht. Wenn der eine hier es bis an den Rahmen schaffte, würde es ein schlimmer Tag werden, unkte er. Wenn nicht, auch. Viel mehr hatte er sowieso nicht zu tun. Nicht einmal draußen herumlaufen konnte man bei diesem scheußlichen Wetter. Durch die nasse Scheibe konnte er in dem trüben Licht gerade noch bis zum Feldrand sehen. Es war kurz vor halb zehn und immer noch nicht richtig hell. Zum Weglaufen. Er musste laut gedacht haben, denn Anneke stand plötzlich hinter ihm und sagte: »Es wird heute nicht mehr heller, Gernot. Kannste vergessen. Arbeitest du heute wieder in deinem Café?« Sie klang aufreizend fröhlich.
Mit dem leeren Kaffeebecher in der Hand drehte er sich zu ihr um. Würdigte sie keiner Antwort. Es hatte neulich schon eine Diskussion darüber gegeben, warum er »vorgab«, im Café zu arbeiten, wo er doch so ein schönes Arbeitszimmer unter dem Dach hatte. Ob er da nur den Frauen hinterhergucken wolle? Er wünschte, Frauen wären sein Problem. Die Frau, mit der er seit acht Jahren verheiratet war, trug ein hellgraues Kostüm mit einer roten Bluse darunter. Sie hatte sich das Haar zu einem Zopf gebunden und sah effizient und erfolgreich aus. Nur die Schuhe passten nicht. Zur Schonung des Echtholzparketts trug sie im Haus nur Gesundheitssandalen. Wenn er besser drauf gewesen wäre, hätte ihn ihr Anblick aufgeheitert. Ihre Pumps würde sie sich erst an der Tür anziehen.
Sie hatten das Haus gemeinsam mit einem Architekten geplant und den Grundriss amerikanisch konzipiert. Durch die Garage gelangte man über einen Vorraum in die Küche. Sehr praktisch. Und natürlich äußerst schick.
Er sah etwas Grellgelbes am Fenster vorbeifahren. Der Postbote brachte immer zuerst den Fuhrmanns auf dem Bauernhof ein Stück die Straße hinunter die Post. Auf dem Rückweg kam er dann zu ihnen, den »Neubürgern«. In Groß Tensin galt man bei den Alteingesessenen auch nach fünfundzwanzig Jahren noch als Neubürger, hatte ihm der Bürgermeister mal jovial erklärt. Nichts für ungut . . .
Heute war es Gernot nur recht, dass der Postbote zuerst die »Alteingesessenen« bedachte. Er erwartete seit Tagen Post von seiner neuen Bank, die Anneke nicht sehen sollte.
»Das war doch unser Briefträger. Der Benjamin fährt auch bei jedem Wetter mit dem Rad«, sagte sie halb belustigt, halb bewundernd. Seit Anneke über vierzig war und Schokoladenkekse die Tendenz hatten, als Hüftgold an ihr kleben zu bleiben, registrierte sie akribisch die körperliche Fitness ihrer Mitmenschen und kommentierte sie auch. Ihr selbst reichte das Reiten als Sport nicht mehr aus. Sie zeigte zusätzlich ein bedenkliches Interesse an Fitnessübungen.
»Und wie immer in kurzen Hosen. Der Spinner«, ergänzte er, bevor sie seine nicht vorhandene Fitness kommentierte.
»Na, immerhin kann er sich das leisten.«
Sie schaute also neuerdings auf die Waden des Briefträgers. Seine, Gernots, waren ja auch nicht mehr so der Hammer.
Anneke wollte sich gerade von ihm verabschieden, hatte dann aber noch irgendetwas vergessen und lief noch mal nach oben in ihr Büro. Etwas für das nächste Meeting, den nächsten Call, die verdammte Geschäftsreise. Er hatte eine Frau geheiratet, die in einer Klamottenboutique arbeitete, und das hatte ihm gefallen. Er hatte sie damals gegenüber seinen arroganten Freunden sogar lauthals verteidigt. »Anneke ist eben nicht so übertrieben ehrgeizig. Dafür ist sie glücklich und zufrieden.« Und nun war sie Einkäuferin einer expandierenden Textilkette, während er in seinem Job als Werbetexter freigesetzt und mit einem Jahresgehalt abgefunden worden war. Finanziell wurde es langsam eng, aber wenn er erst mal seinen Internethandel mit Weinen aus Ostafrika aufgezogen hatte, dann würde sie schon schauen. Würden sie alle schauen. Hauptsache, seine Frau bekam jetzt ihren entzückenden kleinen Arsch vom Gelände, ohne vorher dem Postboten in die Arme zu laufen. Er hörte oben ihre raschen Schritte. Sie suchte noch etwas und hatte wahrscheinlich schon hektische Flecken am Hals. Gernot hingegen schlenderte in aller Ruhe in die offene Wohnküche und stellte seinen Becher auf der Granitarbeitsplatte ab. Heute würde Nicola zum Putzen kommen. Sollte die den wegräumen.
Ein paar Minuten lang stand er einfach so da. Das Küchenfenster war gekippt, deshalb hörte er, dass draußen Fahrradbremsen quietschten. Der Postbote war schon vom Nachbarhof zurück. Zeitgleich kam Anneke die Treppe herunter.
»Ich kümmere mich um die Post. Mach du dich in Ruhe fertig, Schatz!«, rief er ihr zu. Gernot öffnete die Haustür, um die Briefe entgegenzunehmen. Der Postbote war vom Rad gestiegen und beachtete ihn gar nicht. Er schüttelte gedankenverloren den Kopf, sodass sein nasser Zopf hin und her schwang.
»Moin! Ist irgendwas?« Gernot konnte sich keinen Reim auf das seltsame Verhalten des Mannes machen.
»Sorry. Ich weiß nicht. Keine Ahnung.« Der Postbote wühlte fahrig in seiner Posttasche. Kam, ohne etwas in der Hand zu halten, wieder hoch. Dann runzelte er die Stirn. »Würden Sie mir einen Gefallen tun, Herr Wiese?«
»Worum geht's?«
»Kommen Sie mit mir zu den Fuhrmanns? Ich muss da noch mal hin. Das war echt merkwürdig eben.«
»Was ist passiert?«
»Ich hab nach Elsa Fuhrmann gesucht, weil sie mir für ein Paket unterzeichnen sollte, aber sie war nicht da. Ich hab mich ein bisschen auf dem Hof und an den Ställen umgesehen und nach ihr gerufen . . . Ihr Mann wird ja angeblich immer ungemütlich, wenn er extra wegen eines Paketes zur Post fahren muss. Und da hab ich was Komisches gesehen.«
»Was denn gesehen?« Gernot verstand kein Wort.
»Einen Menschen - glaube ich.«
»Ach?«
»Im Feuerlöschteich.«
2. Kapitel
Gernot nahm seinen Wagen, um zum Hof der Fuhrmanns zu gelangen. Der Postbote schwang sich wieder auf sein Fahrrad. Über die Aufregung, dass endlich einmal was passierte, vergaß Gernot sogar, sich von seiner Frau zu verabschieden.
Der Röperhof, auf dem die Fuhrmanns lebten, lag etwas außerhalb des Dorfes an der Landstraße in Richtung Ostsee. Es gab auch einen Fußweg durch die Felder, über den man vom Grundstück der Wieses zu dem Hof gelangen konnte, doch das Verhältnis zu den Nachbarn und entfernten Verwandten war reserviert. Elsa war zwar Gernots Cousine, aber sie standen sich nicht nahe. Das lag unter anderem an Elsas Ehemann, den Gernot nicht leiden konnte. Und der ihn wohl auch nicht. Offiziell mit dem Wagen vorzufahren war ihm deshalb lieber. Und bei dem Schietwetter - es konnte jeden Moment wieder anfangen zu graupeln - sowieso. Das Baugrundstück für ihr Haus hatten er und Anneke vor acht Jahren in einer etwas komplizierten Aktion erworben. Eigentlich war das Grundstück kein Bauland gewesen, doch Armin Fuhrmann hatte das Geld gebraucht und deshalb einfach behauptet, ein Altenteil bauen zu wollen. Das war nämlich als große Ausnahme erlaubt gewesen. Und dann war mithilfe von ein paar Zuwendungen an richtiger Stelle, unter anderem an den Bürgermeister, der gerade angefangene Rohbau in ihren Besitz übergegangen. Ansonsten gab es auf dem Land immer nur Baugrund in ausgewiesenen Neubaugebieten zu kaufen, und das wäre nicht nach Gernots Geschmack gewesen. Da hätte er seinen Nachbarn ja den Salzstreuer von einem Küchenfenster zum nächsten weiterreichen können . . .
Er bog nach wenigen Metern wieder von der Landstraße ab und rumpelte den Sandweg mit den ausgewaschenen Schlaglöchern hinunter in Richtung Röperhof. Die Löcher waren teilweise notdürftig mit Schutt aufgefüllt, um einen sofortigen Achsbruch bei Pkws zu verhindern. Gernot vermutete, dass Armin Fuhrmann sowieso lieber mit seinen Traktoren unterwegs war. Meistens fuhr Elsa den alten Ford. Er hatte gehört, dass sie ihren Führerschein erst vor sechzehn Jahren gemacht hatte.
Die Bäume lichteten sich und gaben den Blick auf die große schwarze Scheune frei, deren Bretter mit Altöl imprägniert worden waren. Das Scheunentor stand offen, sodass er Armins Fuhrpark sehen konnte: zwei Traktoren, verschiedene Anhänger sowie ein alter Unimog.
Gernot umrundete die Scheune und hielt vor dem Wohn- und Stallgebäude an. Die Ställe standen schon lange leer und wurden nur noch als Abstellraum genutzt. Die Fuhrmanns betrieben hauptsächlich Ackerbau. Außerdem grasten ein paar Pferde auf entfernten Koppeln, die an Reitervolk verpachtet waren. Unter anderem auch an seine Frau. Gernot stieg aus seinem Auto und wartete, dass der Postbote ihm folgte. Er ging schon mal in Richtung Wohnhaus, zögerte dann jedoch. Hinter den blitzblanken Fenstern war alles dunkel. Räder knirschten hinter ihm im Kies. Der Postbote sprang vom Rad und lehnte es gegen die Hauswand.
»Niemand da, oder?«
»Sieht so aus. Ihr Auto ist auch nicht da. Sie sind wohl unterwegs «, sagte Gernot.
»Haben Sie noch mal geklingelt?«
»Ich bin auch gerade erst angekommen.«
Der Postbote versuchte es noch einmal mit Klingeln und Klopfen, aber Gernot sah an seiner ungeduldigen Haltung, dass er nicht erwartete, dass noch jemand öffnete.
»Kommen Sie!«, forderte er ihn auf.
Er ging am Stall entlang und steuerte dann auf ein weiteres Nebengebäude aus rotem Backstein zu, das Armin als Werkstatt nutzte. Die grün gestrichenen Tore, von denen die Farbe abblätterte, waren geschlossen. Daneben lag unter ein paar Kastanienbäumen ein beinahe kreisrunder Teich, der wohl mal als Feuerlöschteich und Viehtränke angelegt worden war. An seinem Ufer wuchsen knochenbleiches Schilf und hüfthohes Gras. Das trockene Schilfrohr raschelte im Wind. Früher hatte es einen Steg gegeben, zwei bemooste Pfosten ragten noch aus dem schwarzen Wasser. Auf den ersten Blick bot der Teich ein trostloses, jedoch friedliches Bild. Der Postbote steuerte auf das Ufer zu, blieb dann aber abrupt stehen. »Riechen Sie das auch?«
»Hier stinkt's. Armin hat wohl mal wieder Gülle gefahren.«
Der Postbote schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht.« Er deutete in Richtung Teich. »Sehen Sie das da?«
Gernot kniff die Augen zusammen. Er war zu eitel, um ständig eine Brille zu tragen. Am anderen Ufer des Teichs ragte etwas aus dem Wasser, ein unförmiger Körper, halb vom Schilf verborgen. Unsinn, das waren sicher nur ein paar alte Kleidungsstücke, die der Wind aufgebläht hatte.
»Eine ins Wasser gefallene Vogelscheuche?«, vermutete Gernot, erleichtert, dass ihm das noch eingefallen war.
»Wir sollten lieber nachsehen gehen«, sagte der Postbote, rührte sich aber nicht vom Fleck. »Es könnte doch auch ein Mensch sein.«
Gernot straffte die Schultern und marschierte auf die Stelle zu. Er stakste durch das hohe, feuchte Gras wie ein Storch, trat auf eine Kastanie, wäre beinahe umgeknickt. Er ärgerte sich, dass er gute Lederschuhe trug und keine Gummistiefel. Als er dem Ding näher kam, drückte er seinen Ärmel vor die Nase. Mit der anderen Hand bog er das Schilf auseinander und sah hinunter. Im nächsten Moment gab er einen gurgelnden Laut von sich, taumelte zurück und fiel wenig grazil ins nasse Gras. Ein Gesicht, er hatte ein Gesicht gesehen, vielmehr eine Fratze! Er hatte in das aufgedunsene, wie bläulich marmoriert aussehende Gesicht einer Leiche geblickt.
»Was ist? Alles in Ordnung?« Der Postbote stand plötzlich neben ihm und zog ihn hoch.
»Schauen Sie doch selbst!«, sagte Gernot grob und bereute es fast im selben Moment. Er wusste, dass ihn dieser Anblick sein Leben lang und bis in seine Träume verfolgen würde. Und dem jungen Mann, der jetzt auf die Stelle im Schilf zuging, würde es genauso ergehen. »Bleiben Sie doch lieber weg da! Wir können nichts mehr tun«, sagte er reumütig. Doch der Postbote achtete nicht auf ihn, sondern bog die Halme beiseite. Einen Moment stand er wie erstarrt. Kurz darauf hörte Gernot ihn würgen. Ein Geräusch, das er noch nie hatte aushalten können, ohne ebenfalls mit starker Übelkeit darauf zu reagieren.
Als sie beide wieder am Wegrand standen und sich den Mund mit von Gernot gestifteten Papiertaschentüchern abwischten, sagte der Postbote mit blassen Lippen. »Das ist 'ne echte Leiche, oder? Deswegen stinkt es hier so. Wir täuschen uns nicht?«
»Ich bin mir sicher, dass die echt ist.«
»Tut mir ehrlich leid, Mann, dass ich Sie da mit hineingezogen hab.«
Gernot zuckte mit den Schultern. »Was soll's! Es ist ja nicht Ihre Schuld. Ich ruf dann mal die Polizei.«
Im Sitzungssaal 163 des Lübecker Landgerichts lief der Strafverteidiger des Angeklagten Jesko Ebel gerade zu Hochform auf. »Mein Mandant stand also plötzlich und unerwartet in Ihrer Küche, Frau Korittki?«, fragte er Pia. Er legte eine vernehmliche Portion Unglauben in seine Stimme, gewürzt mit einer Prise Sarkasmus. Der Anwalt war Anfang sechzig und in seinem Geschäft ein alter Hase. Er hatte wässrige Augen, ausgeprägte Tränensäcke und eine rot-blaue Knollennase, die darauf schließen ließ, dass er sowohl seine Erfolge als auch Misserfolge vor Gericht gebührend begoss. Pia kannte die Spielchen während einer Verhandlung, die einzig und allein dem Zweck dienten, die Zeugen zu verunsichern.
»Ja, er stand plötzlich und unerwartet in meiner Küche«, sagte sie laut und deutlich. »Und nein, ich habe Jesko Ebel nicht zu mir nach Hause bestellt. Ich gebe Leuten, die in eine Ermittlung involviert sind, nicht meine Adresse, geschweige denn, dass ich sie zu mir nach Hause einlade.«
»Aber wie ist er dann zu Ihnen hereingekommen?«, fragte der Anwalt mit gespielter Verwunderung.
Pia atmete tief durch. Sie erzählte, wie der Abend bis zu diesem Zeitpunkt verlaufen war. Dass ihr Sohn Felix gerade im Nebenzimmer geschlafen hatte, als sie ein Geräusch in ihrer Wohnung gehört hatte. »Ich ging in die Küche, von wo das Geräusch gekommen war. Jesko Ebel stand hinter der Tür. Die Balkontür war offen. Ich vermute, dass er über den Küchenbalkon hineingekommen ist. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.«
»Sie wohnen«, er tat so, als müsste er in seinen Unterlagen nachsehen, »im zweiten Stock, ist das richtig? Der Balkon befindet sich sieben Meter über dem Erdboden.«
»Der zweite Stock ist korrekt.«
»Ist da eine Leiter oder eine Feuertreppe, die sieben Meter hoch in den zweiten Stock führt?«, fragte der Anwalt, der natürlich wusste, dass dem nicht so war.
»Nein.«
»Und wie soll mein Mandant dann bitte dort hochgekommen sein? Geflogen?« Er sah sich Beifall heischend im Gerichtssaal um.
»Jesko Ebel trug Kletterschuhe, spezielle Handschuhe und Sportkleidung. Ich vermute, dass er an den Verstrebungen der Balkone, die nachträglich an das Haus angebaut worden sind, zu mir hinaufgeklettert ist.«
»Eine hübsche sportliche Leistung. Außergewöhnlich.«
»So außergewöhnlich nun auch wieder nicht.«
»Und warum sollte mein Mandant diese Gefahr und Anstrengung auf sich genommen haben, Frau Kriminaloberkommissarin? « Der Anwalt klang ungläubig.
Pia hätte ihn würgen mögen für seinen Tonfall. Jetzt, da sie die Szene in Gedanken erneut durchlebte, fühlte sie auch wieder die Angst, die sie im vergangenen Sommer wegen seines Mandanten ausgestanden hatte. Um sich und vor allem um ihren Sohn. »Er wollte mich umbringen«, sagte sie fest. »Das war sein Plan.« Pia sah Jesko Ebel ins Gesicht. Sie konnte nicht anders. Er schaute durch sie hindurch, als wäre sie gar nicht da.
»Wie kommen Sie zu dieser ungeheuerlichen Behauptung?«, rief der Anwalt wie in rechtschaffener Empörung.
»Herr Ebel hat es mir gesagt. Und er hatte einen Zimmermannshammer in der Hand. Damit ist er anschließend auf mich losgegangen.«
Als Pia ihre Zeugenaussage beendet hatte und den Sitzungssaal verließ, spürte sie Ebels Blick im Nacken. Ihr war übel vor Wut, und ihre Knie fühlten sich weich an. Die erzwungene Erinnerung an den Abend hatte alle ihre vergangenen Emotionen noch einmal hochkochen lassen. Und sie hatte geglaubt, sie hätte längst mit dem Erlebnis abgeschlossen. Hinnerk war der Meinung, ihr Beruf sei nicht gut für Felix. Sie hatte es als reine Provokation verstanden, den Wunsch, sie zu ärgern oder zu verunsichern, aber nun musste sie einräumen, dass vielleicht auch ein Funke echte Sorge dahintersteckte. Und der Gedanke, dass sie in irgendeiner Weise nicht gut für Felix sein könnte, war überhaupt nicht schön.
Pia verließ das Gerichtsgebäude und vergewisserte sich, dass keine Presseleute in der Nähe waren. Sie prüfte ihr Mobiltelefon. Hinnerk hatte sich nicht gemeldet. Keine größeren Katastrophen an dieser Front. Dafür hatte sie eine Nachricht von ihrem Lieblingskollegen Heinz Broders.
»Frischfleisch, Engelchen«, sagte er gut gelaunt, als sie ihn anrief. Er war der Einzige, der sie so anreden durfte. Zum einen war er schwul, was der Sache die sexuelle Anzüglichkeit nahm. Zum anderen war Broders, der ihr in ihrer Anfangszeit im K1 mit dem größten Misstrauen begegnet war, inzwischen nicht nur ein guter Kollege, sondern auch ein echter Freund geworden.
»Willst du mich zum Grillen einladen, Schatz?«
»Im nächsten Frühjahr vielleicht. Wir haben gerade was Neues reinbekommen. Einen Toten in Groß Tensin an der Ostsee. Nicht so lecker. Er liegt wohl schon ein paar Tage in einem Feuerlöschteich herum.«
3. Kapitel
Gernot Wiese wollte sich von diesem Spektakel so wenig wie möglich entgehen lassen. Endlich passierte mal was! Seine Gedanken kreisten nicht mehr ausschließlich um sein eigenes miserables Dasein. Bis eben hatte er sich um den Postboten kümmern müssen. Der hatte nach ihrer Entdeckung nämlich mit in die Hände gestütztem Kopf auf einem Feldstein gesessen und sich hin-und hergewiegt. Ein peinlicher Anblick bei einem so großen, athletisch aussehenden Mann. Wie alt mochte er sein? Fünfundzwanzig Jahre? Er wirkte jungenhaft mit seinem lächerlichen dunkelblonden Zopf und dem Piercing im Gesicht. Besonders jetzt, da er erschüttert und verunsichert war. Er habe noch nie einen Toten gesehen. Nun, Gernot auch nicht. Trotzdem stand er hier seinen Mann, oder etwa nicht?
Kurz nach seinem Anruf in der Einsatzleitstelle war ein Streifenwagen aus Bad Schwartau eingetroffen. Zwei ungläubig aussehende Beamte, ein jüngerer und ein älterer Mann in Uniform, waren ausgestiegen. Sie hatten sich Gernots Version der Ereignisse angehört und waren dann zum Teich gegangen. Gernot hatte sie dabei beobachtet. Als sie dicht genug dran gewesen waren, um den Verwesungsgeruch wahrzunehmen, hatte der Ältere wissend genickt und dann mit grimmiger Miene einen langen Blick auf die Leiche geworfen. Als Nächstes wurde der Fundort abgesperrt. Der andere Polizist hatte über Funk alles Übrige veranlasst.
»Bei dem Gestank brauchst du keinen Rettungswagen mehr zu rufen, Bernie«, hatte sein älterer Kollege gesagt. »Fäulnis und Verwesung sind sichere Todeszeichen.«
»Für den Toten nicht, aber vielleicht sollte ein Notarzt für den da kommen?«, hatte der Jüngere mit einem Nicken in Richtung des Postboten zurückgegeben.
Als die ersten Kripobeamten in Zivil auf dem Hof erschienen, fühlte Gernot sich wie im Sonntagabend-Tatort. Einerseits wichtig, weil er die Leiche gefunden hatte - so verwirrt und unsicher, wie der Postbote aussah, würde er diese Rolle kaum für sich beanspruchen -, andererseits war er nur unbeteiligter Beobachter. Seltsam, wie Menschen auf eine Tragödie reagieren, dachte er. So wenig Mitgefühl. So viel Neugier und Aufregung. Solange ich nicht weiß, wer da liegt, was für ein Schicksal dahintersteckt, bin ich distanziert. Obwohl . . . Kein schöner Tod, allein an diesem trostlosen Ort und in der Kälte. Und dann so entdeckt zu werden! Makaber entstellt, sodass den Leuten nur noch schlecht wird, wenn sie einen ansehen. Der Rechtsmediziner, der muss es tun. Auch kein angenehmer Job. Wie halten die den Gestank nur aus? Er wird natürlich als Erstes nach der Todesursache forschen. War der Mann ertrunken? In einem Feuerlöschteich auf einem Bauernhof? Vielleicht war es ja ein Herzanfall gewesen, und er war dann dort, wo er stand, einfach umgekippt? Aber was hatte er hier gewollt? Es war nicht Armin Fuhrmann und auch nicht dessen Sohn, in diesem Punkt zumindest war Gernot sich sicher. Die Statur passte nicht. Der Mann, der dort lag, war klein, höchstens mittelgroß und offenbar schmal gewesen, auch wenn die Leiche nun so . . . aufgebläht aussah. Gernot wurde schon wieder schlecht, deshalb beeilte er sich, an etwas anderes zu denken. Er konzentrierte sich wieder auf die Aktionen der Polizei.
Eine Person in diesem Drama erregte sein besonderes Interesse: Sie war recht spät hier aufgetaucht. Die Frau, sie mochte so Anfang dreißig sein, war zusammen mit einem korpulenteren Kollegen mit angegrautem Vollbart angekommen. Sie hatte blondes, halblanges Haar, war groß und schlank und trug für die Witterung und den Anlass unpassende Kleidung: eine schwarze Marlenehose, einen Blazer und einen dünnen Mantel darüber. Eher fürs Büro geeignet, als um damit bei dem Mistwetter auf einem Bauernhof herumzulaufen. Sie umrundete gerade eine Pfütze. Ihre Lederschuhe sahen schon arg durchnässt aus, und ihre Hosenbeine waren schlammbespritzt. Na, da hatten sie immerhin etwas gemein. Inmitten der robust und wetterfest gekleideten Herren - einer hatte sogar Gummistiefel aus dem Kofferraum seines Wagens geholt und angezogen - und der Männer in den weißen Schutzoveralls wirkte die Frau deplatziert. Gernot schien jedoch der Einzige zu sein, dem das auffiel. Die Polizeibeamtin stand mit zwei Männern zusammen und diskutierte angeregt. Dann ging sie zielstrebig zu ihrem Wagen und zog sich einen Schutzanzug über ihre Kleidung. Sie ließ sich von einem der Spurensicherungsleute zu dem Toten begleiten. Gernot fragte sich, ob ihr auch schlecht werden würde oder ob sie abgehärtet war. Ein Feldstecher wäre jetzt gut. Oder Annekes Opernglas.
Der Postbote stand von dem Feldstein auf und sah sich mit neu erwachtem Interesse um. Sein Gesicht hatte wieder Farbe bekommen, und offenbar war auch seine gute Laune zurückgekehrt. »Was für ein Spektakel! Ich sollte jetzt wohl eigentlich meine Tour fortsetzen«, sagte er widerstrebend.
»Die Jungs hier wollen Sie erst noch interviewen«, entgegnete Gernot lässig.
»Ach so. Da werd ich besser mal meinem Chef Bescheid sagen, dass es länger dauert. Waren Sie schon dran?«
Gernot schüttelte den Kopf, ließ aber dabei die Kripobeamtin am Feuerlöschteich nicht aus den Augen. Jetzt beugte sie sich über die Leiche . . .
»Wer so alles bei der Polizei arbeitet!«, sagte der Postbote, der seinem Blick gefolgt war. »Die Blonde dahinten mein ich.«
»Wen denn sonst«, brummte Gernot. »Können Sie erkennen, wie sie reagiert? Ob ihr schlecht wird oder so?«
»Keine Ahnung. Jetzt kommt sie wieder. Nee, sie sieht okay aus. Aber sie ist sauer, würd ich sagen.«
Gernot schwieg. Nun neidete er dem Postboten endgültig seine Jugend, vor allem seine guten Augen. Und die strammen Waden? Quatsch, der Kerl war »Fachkraft für Kurier-, Ex- press-und Postdienstleistungen«, wie es offiziell hieß. Was mochte er da schon verdienen? Mehr als ich momentan, beantwortete Gernot sich die Frage selbst. Was ihn wieder auf seine Probleme zurückwarf. Die Frau sprach noch mit ihren Kollegen von der Kriminalpolizei, dann kam sie mit einem zweiten Beamten direkt auf ihn zu.
»Frau Löbich, Herr Nielsen ist immer noch krank. Können Sie in der zweiten und dritten Stunde die 6a für ihn übernehmen? «
Verärgert registrierte Dina Löbich, dass sie nach wie vor nervös war, wenn die Schuldirektorin sie direkt vor den anderen Kollegen ansprach. Du bist jetzt keine Schülerin mehr, ermahnte sie sich. Sie räusperte sich und sagte: »Tut mir leid, Frau Osterhoff, aber da bin ich auf dem Vertretungsplan schon für die 5c eingeteilt.« Dina Löbich war Referendarin für Erdkunde und Englisch, und seit ihr Kollege Ulf Nielsen krank war, schien man ihr seine sämtlichen Erdkundestunden aufzuhalsen.
»Ich weiß, aber die Klassenräume liegen doch quasi nebeneinander «, entgegnete die Schuldirektorin. »Geben Sie beiden Klassen eine Stillaufgabe und schauen Sie nur, dass sich niemand aus dem Fenster stürzt.«
»Jawohl.« Beinahe hätte sie salutiert. Stillaufgabe! Hatte man je gehört, dass eine Klasse dann still war? Was stand denn in der sechsten Klasse in Erdkunde überhaupt auf dem Lehrplan? Europa? Und unter welchem Stein hatte sich dieser Ulf Nielsen verkrochen?
Der ältere Kollege war ihr an ihrem ersten Tag in der Schule ziemlich dumm gekommen. Wie sie sich denn Respekt verschaffen wolle - sie sehe ja selbst noch aus wie eine Schülerin, hatte er gesagt. Kleiner Scherz am Rande, wenn sie seine Hilfe bräuchte . . . Umso mehr widerstrebte es ihr, ausgerechnet für diesen Kollegen in die Bresche zu springen. Außerdem, und das war jetzt reiner Flurklatsch - Dina verstand sich gut mit der Schulsekretärin -, hatte er noch kein ärztliches Attest eingereicht. Niemand wusste, was der Nielsen schon wieder hatte. Wahrscheinlich nur einen kleinen Schnupfen, mit dem er gemütlich zu Hause saß und wichtig an seinem neuen Buch schrieb: Die Spuren des Mittelalters in unserer Schleswig- Holsteinischen Heimat oder so ähnlich. Sein unsoziales Verhalten auf Kosten seiner Schüler und Kollegen ging ihr ziemlich auf die Nerven. Sie hatte dadurch jetzt nicht einmal mehr Zeit für einen Tee vor der nächsten Doppelstunde, da sie für zwei Klassen Stillaufgaben vorbereiten musste. Und vor dem Fotokopierer hatte sich auch schon wieder eine Schlange gebildet.
»Ich hab ihnen gesagt, sie sollen sich so schnell wie möglich an die Entensheriffs wenden«, berichtete Heinz Broders. Pia und er standen einen Moment am Rand der Absperrung und beobachteten, was weiter am Fundort der Leiche geschah.
»Du meinst, Wasser ist immer gut. Dann ist es am Ende ein Fall für die Wasserschutzpolizei?«, fragte sie spöttisch.
»Du weißt doch: .Frage eins: Ist das meins?‹ Ich fürchte aber, dass wir hier zuständig sind. Die Leiche liegt allerdings schon eine Weile im Wasser. Die fällt uns auseinander, wenn wir sie bewegen. Dafür braucht man nach Adam Riese ein Leichensegel, und das haben wir nicht.«
»Tja, das stimmt. Doch Wilfried Kürschner will erst mal nichts falsch machen und deshalb auch nichts entscheiden. Besonders wenn es sich um einen Mordfall handeln könnte.«
Broders hatte seine Kollegin Pia Korittki vor einer Stunde an der Straße Am Burgtor vor dem Landgericht Lübeck eingesammelt und war mit ihr nach Groß Tensin zum Fundort der Leiche gefahren. Sobald der Verdacht bestand, es mit einem Tötungsdelikt zu tun zu haben, wurde in der Bezirkskriminalinspektion alles aktiviert, was fehlerfrei einen Kugelschreiber in der Hand halten konnte. Horst-Egon Gabler, der Leiter des K1, der eigentlich die Ermittlungen hätte leiten sollen, war ausgerechnet an diesem Morgen nicht im Büro erschienen. Das an sich war schon seltsam. Wenn sie am Beginn einer Mordermittlung standen, war es jedoch geradezu fatal.
»Kümmern wir uns um die ersten Zeugen!«, sagte Pia. Die beiden Männer, die die Polizei informiert hatten, sahen erwartungsvoll zu ihnen herüber.
Einer von ihnen war schätzungsweise Mitte vierzig, trug eine Anzughose und ein gestreiftes Hemd, über das er eine Wachscottonjacke Marke »Landedelmann« gezogen hatte. Sein Haar war licht und klebte feucht an seinem Kopf. Seine Budapester Lederschuhe waren schlammbespritzt. Neben ihm stand ein junger, recht großer Mann in der Uniform eines Postboten. Er trug der kühlen Witterung zum Trotz kurze Hosen, dazu aber derbe Stiefel, hatte eine frische Gesichtsfarbe, und seine langen, dunkelblonden Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden.
Sie gingen auf sie zu. »Wohnen Sie hier?«, fragte Pia Gernot Wiese mit Blick auf den Hof, nachdem sie sich gegenseitig vorgestellt hatten.
»Nicht direkt. Ich bin nur der Nachbar.« Er erklärte, wie er hinzugekommen war.
»Und wer wohnt hier?« Pia deutete zum Wohngebäude hinüber. Sie wunderte sich, dass noch kein aufgebrachter Grundstücksbesitzer in Erscheinung getreten war.
»Die Fuhrmanns mit ihrem Sohn. Aber ihr Auto ist nicht da. Sie müssen weggefahren sein.«
»Kann es sein, dass der Tote einer von ihnen ist?«, wollte Broders wissen.
Gernot schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke nicht.«
»Nun gut, darum kümmern wir uns später«, sagte Pia. »Wir müssen Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen.«
Der Wind hatte aufgefrischt, und die schweren grauen Wolken versprachen die nächsten Regen-oder Graupelschauer. Nach einem Blick zum Himmel beschlossen sie, dass Heinz Broders Gernot Wiese bei ihm zu Hause befragen würde. Sie waren auf dem Weg hierher an dem großen, modernen Holzhaus vorbeigefahren, in dem er wohnte. Pia hingegen nahm für eine erste Befragung des Postboten den Mercedes-Bus der Polizei. Das Fahrzeug wurde hin und wieder für kurze Vernehmungen genutzt. Es war zwar nicht sehr geräumig, aber immerhin bot es eine Sitzmöglichkeit, und es war trocken. Als sie darauf zugingen, schoss ein weißer Audi auf den Hofplatz und kam abrupt vor den anderen Fahrzeugen zum Stehen. Eine magere Hofkatze konnte sich gerade noch rechtzeitig mit einem Satz auf die Mülltonnen in Sicherheit bringen. Pia rollte mit den Augen.
»Ist das Ihr Chef?«, fragte der Postbote.
»Nein. Ich glaube, der neue Staatsanwalt gibt sich die Ehre.«
»Hübscher Wagen - der nun leider schmutzig wird.«
»Er kennt sich hier noch nicht so aus«, antwortete Pia und riss die Schiebetür des vor Dreck starrenden Busses auf. Sie bedauerte, dass einer der beiden Staatsanwälte, mit denen das K1 sonst so gut zusammenarbeitete, in Pension gegangen war. Sie würden sehen, wie es mit dem neuen lief.
Benjamin Bredow bemühte sich, seine braun gebrannten, halb nackten Beine unter dem Klapptisch des Busses zu verstauen. Zwei langbeinige Menschen fanden im Innenraum des Fahrzeugs kaum genug Platz, ohne dass sie sich bei der geringsten Bewegung berührten. Da auch Pia sich nicht in die Ecke quetschen lassen wollte, würde der Machtkampf nicht nur oberhalb, sondern auch unterhalb der Tischplatte stattfinden. Sie hatte eindeutig die schlechtere Wahl getroffen. Draußen hatte der Mann jung und harmlos ausgesehen, doch nun schien er Testosteron auszuatmen. Ich hätte lieber den älteren Mann mit dem großen Haus befragen sollen, dachte Pia.
Sie musterte Benjamin Bredow, ohne etwas zu sagen. Er hatte ein ebenmäßiges, von der Arbeit im Freien gebräuntes Gesicht und leuchtende Augen, die sie irritierend lange ansehen konnten, ohne zu zwinkern oder wegzuschauen. Sein Haar war dunkelblond mit von der Sonne gebleichten Strähnen. Er trug einen Ohrring und ein Piercing in der linken Augenbraue. Seine Hände waren lang, gebräunt und kräftig und lagen vollkommen ruhig auf der grauen Tischplatte. Alles an ihm schrie, dass er zwar als Postbote arbeitete, sich aber nicht in irgendwelche Schubladen pressen lassen wollte. Und so war er in der Schublade derjenigen gelandet, die zwanghaft anders sein wollen und so auch ihre eigene Gruppe bilden.
»Bin ich verdächtig?«, fragte Bredow.
»Jeder, der einen Toten findet, der eines nicht natürlichen Todes gestorben ist, ist verdächtig«, sagte sie nüchtern. Das mit dem nicht natürlichen Tod war allerdings bisher nur eine Vermutung. Sie hatte die Leiche ja eben betrachtet. Der Leichnam wies zwar eine Kopfverletzung auf, aber die konnte auch von einem Sturz oder Tierfraß herrühren. Genaueres würde erst die Obduktion ergeben.
»Oh.« Er kniff die Augen zusammen. »Wie viele Leichen haben Sie denn schon gefunden?«
»Das tut nichts zur Sache.« Fünf, dachte Pia und konnte nicht verhindern, dass sie vor ihrem inneren Auge erschienen. Sie beschloss, den Briefträger vorsichtshalber als Beschuldigten zu vernehmen, damit alle seine Aussagen gegebenenfalls vor Gericht gegen ihn verwertbar waren. Damit hatte er zwar das Recht, zu schweigen und einen Anwalt hinzuzuziehen, aber die meisten Leute sahen zunächst von einem Rechtsbeistand ab.
So auch Bredow. »Ich kenn mich nicht so aus«, sagte er nach der Belehrung. »Brauche ich denn einen Anwalt?« Er tat so, als fände er das amüsant.
»Das müssen Sie entscheiden.« Sie legte ihr Notizbuch auf den Tisch.
»Ich hab nichts zu verbergen. Ich wollte den Fuhrmanns nur ein Paket zustellen.«
»Erzählen Sie einfach der Reihe nach!«, forderte Pia ihn auf. So entschied er selbst, was ihm wichtig erschien und was nicht. Nachhaken konnte sie später immer noch.
»Der Hof der Fuhrmanns liegt auf meiner Zustelltour. Ich hatte heute ein paar Briefe und ein kleines Paket für sie, für das ich eine Unterschrift benötigte. Doch als ich hier ankam, hat mir niemand geöffnet. Ich war zuerst am Hintereingang, wie immer, und hab geklopft. Als keiner kam, hab ich zum Küchenfenster hineingesehen, aber es war niemand da. Dann bin ich zur Vordertür gegangen und habe dort auch noch geklingelt und geklopft. Es hätte ja sein können, dass Elsa gerade oben ist.«
»Elsa?«
»Elsa Fuhrmann. Die Bäuerin.«
»Sie duzen sich?«
»Wir wohnen beide im selben Dorf, da kennt man sich eben.«
»Gibt es ansonsten irgendwelche Verbindungen zwischen Ihnen und Elsa Fuhrmann?«
»Nö. Nichts Besonderes.«
»Wer wohnt denn noch hier auf dem Hof?«
»Ihr Mann, Armin Fuhrmann, und ihr gemeinsamer Sohn. Thilo.«
»Wie alt ist der Sohn?«
Bredow zuckte mit den Schultern. »Ein Teenager . . . Ich kenn ihn kaum.«
»Also gut, was passierte dann?«
»Als mir niemand öffnete, habe ich mich noch ein wenig auf dem Hof umgesehen.«
»Wieso das?« Pia stutzte. Das gehörte gewiss nicht zu seinen Aufgaben. Was hatte ihn dazu motiviert?
Er zögerte. »Ich fahr diese Tour seit zwei Jahren, und bisher war immer jemand von den Fuhrmanns da. Wissen Sie, mit der Zeit kennt man die Gewohnheiten und den Lebenswandel der Leute.«
»Hm.« Pia bedeutete ihm fortzufahren.
»Außerdem . . . Der Armin kann ziemlichen Stress machen. Es hätte ihm nicht gefallen, extra zur Post fahren zu müssen, um ein Paket abzuholen.«
»Was kümmert Sie das?«
»Ich wollte nur nett sein«, sagte er. »Ich hatte da noch nicht gesehen, dass ihr Auto gar nicht da war. Ich dachte, ich treffe Elsa bestimmt in den Ställen oder in der Werkstatt an. Wir klönen immer ein paar Takte. Ich mache den Job nicht wie eine Maschine, wissen Sie. Ich hab mich bewusst dafür entschieden, weil es mir gefällt. Die Bewegung an der frischen Luft und der Kontakt mit Menschen.«
Der Mercedes-Bus erbebte unter einer Windböe. Hagelkörner prasselten gegen die Scheibe und machten die Unterhaltung für einen Moment mühsam. Pia sah, wie ihre Kollegen, die noch draußen arbeiteten, in die offene Scheune flüchteten und sich zwischen die Traktoren quetschten. »Was passierte dann?«, fragte sie etwas lauter.
»Also: Elsa war nicht in der Werkstatt oder so. Und die beiden Männer auch nicht. Ich ging zurück zu meinem Fahrrad, und da musste ich mit einem Mal pinkeln. Das passiert mir normalerweise nicht auf einer Tour. Aber nun ja . . . ich konnte mich schlecht mitten auf den Hof stellen, oder?«
Pia zog eine Augenbraue hoch. Der nächste Nachbar, Wiese oder wie er hieß, wäre auch noch eine Option gewesen.
Benjamin Bredow erriet offenbar ihren Gedanken. »Ich geh nicht bei den Leuten auf meiner Tour pinkeln. Allenfalls noch im Wirtshaus oder eben irgendwo am Knick. Und den Wiese würde ich nie fragen. Der sieht mich immer so von oben herab an. Komischer Kerl.«
»Ich verstehe.«
Er kniff die Augen zusammen, als überlegte er, ob sie ihn veralberte. »Deswegen bin ich ein Stück näher an den Tümpel rangegangen, und, na ja, Sie wissen schon . . . Da hab ich es gerochen. Dieser Gestank geht wirklich durch und durch. Ekelhaft. Ich hab noch darüber nachgedacht, ob ich einfach so abhauen soll. Dann hätte ich mir den ganzen Kram hier erspart. Aber das konnte ich irgendwie auch nicht. Also bin ich ein Stück um den Teich rumgegangen, um nachzusehen. Und da lag dann ja auch was.«
»Was haben Sie genau gesehen?«
»Ehrlich gesagt hab ich nur die Klamotten, ein Hosenbein mit Wanderschuh, gesehen. Das reichte mir. Es war plötzlich unheimlich hier, so ganz allein. Ich hab mich schnellstens auf mein Rad gesetzt und bin zum nächsten Haus gefahren.«
»Warum haben Sie nicht gleich die Polizei gerufen?«
»Ich war mir nicht sicher, was ich gesehen habe. Ich wollte mich doch nicht blamieren . . . also brauchte ich eine Bestätigung. Darum hab ich den Wiese gebeten, noch mal mit herzukommen. «
»Also gut.«
»Ich habe doch nichts falsch gemacht?« Er sah sie misstrauisch an.
»Erzählen Sie weiter!«
Er berichtete, wie er mit Gernot Wiese zurückgekommen war und ihm die Leiche gezeigt hatte. Wie Wiese die Polizei verständigt hatte. »Den Rest kennen Sie ja«, schloss er.
»Wissen Sie, wer der Tote ist?«
»Also, erkennen konnte ich da nicht mehr viel. Auch nicht beim zweiten Mal. Aber wenn ich raten darf: ein Spaziergänger oder Wanderer, seiner Kleidung nach zu urteilen. Der Hof liegt ja an einem ausgezeichneten Wanderweg.«
»Könnte es trotzdem jemand sein, den Sie kennen, Herr Bredow? Vielleicht jemand hier aus diesem Dorf?«
Er schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Also gut, Herr Bredow. Ich werde gleich noch Ihre vollständigen Personalien aufnehmen. Falls wir noch mehr Fragen an Sie haben«, sagte Pia nüchtern.
»Immer gern. Solange Sie mich befragen.« Wieder dieser intensive Blick, der der Situation nicht angemessen war.
»Vorsicht«, sagte Pia warnend. »Manche Wünsche gehen in Erfüllung.«
4. Kapitel
Gernot Wieses Haus war ein modernes Holzhaus, kaugummigrau gestrichen, mit Grasdach und bodentiefen Fenstern. Broders bewunderte den großzügigen Wintergarten, der mal nicht wie nachträglich angeklatscht aussah, sondern sich wohlproportioniert über zwei Stockwerke hinweg bis in das Dach erstreckte.
Gernot Wiese, der dem Kriminalkommissar vorausgefahren war, stolperte eilig hinein, ließ dabei zweimal seinen Schlüsselbund fallen und warf, drinnen angekommen, seine durchnässte Jacke über das Treppengeländer. Er hob den Arm und schnupperte demonstrativ an seinem Ärmel. »Ich rieche immer noch nach Tod«, klagte er.
»Kann schon sein«, sagte Broders. »Aber man bekommt Verwesungsgeruch auch nicht so schnell aus der Nase.«
»Meinen Sie, ich bilde mir das nur ein?«
Broders kam nicht mehr dazu, darauf zu antworten, denn eine Frau trat unvermittelt in die Diele. »Was ist denn los, Gernot? « Sie war adrett gekleidet, mehr fürs Büro als für einen Tag daheim, jedoch in Hausschuhen und mit einem dampfenden Becher in der linken und einem Telefon in der rechten Hand.
»Anneke!« Gernot Wiese starrte sie konsterniert an. »Was machst du denn noch hier?«
»Mein Meeting ist verschoben worden. Ich arbeite heute von zu Hause aus.«
»Nanu?«, stieß Gernot missbilligend hervor.
»Warum? Passt es dir nicht? Ich dachte, du arbeitest neuerdings sowieso lieber im Café. Und wer ist das? Willst du uns nicht vorstellen?«
»Das ist Hauptkommissar Broders aus Lübeck - meine Frau Anneke.«
»Oh«, sagte sie.
»Es ist was passiert: Bei den Fuhrmanns liegt eine Leiche!«
»Oh Gott! Wer ist denn gestorben?« Sie sah erschrocken, aber auch neugierig aus.
»Das wissen wir noch nicht«, sagte Broders.
Gernot Wiese roch noch einmal demonstrativ an seinem Ärmel. Seine Socken waren klatschnass, seine Hosenbeine schlammbespritzt.
»Wenn Sie sich eben umziehen wollen . . .«, schlug Broders vor.
»Ich kümmere mich so lange um den Herrn Kriminalkommissar «, bot Anneke Wiese an. »Kommen Sie, ich mache Ihnen einen Kaffee, während mein Mann duscht.«
Broders war es ganz recht so. Anneke Wiese konnte ihm bestimmt auch einiges über die Nachbarschaft erzählen. Außerdem lockte Broders der angebotene Kaffee. Die Frau führte ihn in den angrenzenden Raum, der zwei Geschosse hoch war, und hantierte sofort an der Kaffeemaschine herum. »Einen Latte macchiato?«
»Gern.« Broders setzte sich an den Tresen auf einen der Barhocker. Ein richtiger Stuhl wäre ihm lieber gewesen, denn seit gestern machte ihm sein Rücken zu schaffen. Er konnte jedoch keinen normalen Stuhl entdecken, also versuchte er, möglichst gerade zu sitzen. »Wie gut kennen Sie die Fuhrmanns?«, fragte er.
»Wer von ihnen ist tot?«
»Wir wissen noch nicht, wer der Tote ist. Anscheinend aber keiner Ihrer Nachbarn. Die Leiche konnte noch nicht identifiziert werden. Wie ist Ihr Verhältnis zu den Fuhrmanns?« Jetzt war sie an der Reihe.
»Ich fürchte, nicht besonders gut. Elsa Fuhrmann ist eine Cousine von Gernot, so sind wir überhaupt erst an dieses Grundstück gekommen. Wir haben es den Fuhrmanns abgekauft, als wir vor acht Jahren das Haus bauen wollten. Damals war mit dem Rohbau gerade begonnen worden. Ich schätze mal, das hat ihnen den Kopf gerettet. Sie standen und stehen wohl finanziell nicht so prickelnd da.«
Aufschlussreicher Beginn - die finanziellen Verhältnisse, dachte Broders. Laut sagte er: »Wir sind mit den Ermittlungen noch ganz am Anfang. Wer genau sind denn überhaupt .die Fuhrmanns‹?«
»Also: Elsa Fuhrmann hat den Röperhof von ihren Eltern geerbt. Sie hieß Röper mit Nachnamen. Ihr Mann, Armin Fuhrmann und sie, bewirtschaften ihn zusammen. Elsas Eltern sind beide schon lange tot. Bis auf meinen Mann haben sie meines Wissens keine Verwandten. Das ist ja auf dem Lande eher ungewöhnlich. Normalerweise ist hier jeder mit jedem verwandt. Sie haben aber einen Sohn. Thilo. Er ist sechzehn oder siebzehn. Mehr weiß ich eigentlich auch nicht.«
»Sie wohnen hier seit . . . acht Jahren?«
»Eher sieben. Das Haus musste ja noch fertig gebaut werden.« Sie reichte ihm seinen Kaffee in einem Glas auf einer Untertasse. Ein kleiner Keks und ein langstieliger Löffel lagen daneben.
Broders biss auf den Keks, und es krachte laut in der stillen Küche. Überhaupt empfand er den Hall im Raum, der sich teilweise bis unter das Glasdach zog, als unangenehm. Er senkte die Stimme. »Ein bisschen mehr ist Ihnen doch sicher bekannt. Wissen Sie, ob die Fuhrmanns verreist sind, oder haben Sie gehört, dass sie verreisen wollten?«
»Die Fuhrmanns verreisen nie«, sagte Anneke Wiese bestimmt.
»Vielleicht sind sie zusammen einkaufen gefahren? Oder zum Arzt?«
»Alle drei? Einkaufen ist hier auf dem Land .Weibersache‹«, sagte Anneke Wiese nun amüsiert. »Und Ärzte sind wohl auch nur was für Weicheier. Für Städter wie uns . . .«
»Hat Ihre Abneigung gegen Ihre Nachbarn einen konkreten Grund?«, fragte Broders im Konversationston.
Sie zögerte ein wenig beschämt. »Nein, eigentlich nicht. Es sind nur so vollkommen verschiedene Lebensauffassungen, die da aufeinanderprallen. Ich hatte das unterschätzt. Als Städter sieht man zuerst nur die tolle Landschaft und die frische Luft. Aber es geht doch letztlich immer um Menschen.«
»Wie wahr! Wie sind die Fuhrmanns? So als Menschen?«
»Wissen Sie, mir sind besonders die zwei Männer, Armin und Thilo, ein bisschen unheimlich. Ich weiß nie, was ich mit ihnen reden soll. Da sind überhaupt keine gemeinsamen Themen, verstehen Sie? Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass ich anstatt mit Ihnen jetzt mit Armin Fuhrmann hier sitzen könnte.« Sie lächelte gewinnend. »Und bei Elsa habe ich das Gefühl, dass sie sich ein wenig vor ihrem Mann fürchtet. Aber wie gesagt, wir kennen uns kaum«, ruderte sie zurück.
»Anneke kennt hier niemanden, bis auf den Briefträger. Und den auch nur, weil sie immer so viel im Internet bestellt.« Gernot Wiese stand, nach Duschgel duftend und in frischer Kleidung, in der Küche.
Das Gesicht seiner Frau lief auf diese Bemerkung hin zu Broders' Erstaunen rosa an, und ihre Augen funkelten. »Meine Freunde leben anderswo als ausgerechnet in Groß Tensin. Das ist doch nicht meine Schuld.«
Er überging ihre Bemerkung und richtete seine Worte nun ausschließlich an den Polizisten. »Können wir jetzt loslegen, Herr Kommissar? Ich hab gleich noch zu tun.«
»Gernot, du hast den Herrn Kriminalkommissar warten lassen, nicht umgekehrt«, sagte sie bissig. Und an Broders gerichtet: »Sind wir fertig, Herr Broders?«
Heinz Broders fühlte sich wie ein Zuschauer bei einem Ping-Pong- Match. Es war spannend, aber auch ermüdend. »Ich denke, fürs Erste schon, Frau Wiese. Und danke für den tollen Kaffee.«
Sie verließ mit wiegenden Hüften die Küche, nicht ahnend, dass bei Broders jegliche diesbezügliche Anstrengung vergeblich war.
»Das war jetzt typisch meine Frau!«, sagte Gernot Wiese. »Ich glaube, sie bereut es manchmal, dass wir hierhergezogen sind.«
»Erzählen Sie mir noch mal, was heute Morgen passiert ist«, forderte Broders ihn auf, nachdem er ihn über seine Rechte belehrt hatte.
Gernot Wiese berichtete konzentriert, wie der Briefträger aufgetaucht war und ihn zu der Leiche geführt hatte. Wie er die Polizei verständigt hatte. »Und dann kamen Sie«, schloss er. »Hilft das weiter?«
»Irgendeine Idee, wer der Tote ist?«
Er schüttelte den Kopf. »Keiner, den ich kenne, würde ich sagen. Obwohl der Leichnam natürlich ziemlich . . . entstellt aussah.«
»Ja. Es ist oft schwer, in so einer Situation noch eine Ähnlichkeit zu einem lebenden Menschen zu erkennen«, bestätigte Broders. »Und was ist mit dem Postboten?«
»Was soll mit ihm sein?«
»Wie hat er reagiert?«
»Nicht so toll, oder? Ich meine, wieso holt er mich dazu?«
»Vielleicht hatte er Angst?«
Gernot Wiese schnaubte. »Braun gebranntes Weichei!«
»Was denken Sie? Wo sind die Bewohner des Hofes, die Fuhrmanns?«, fragte Broders.
»Sie müssten eigentlich da sein«, meinte Wiese nachdenklich. »Sie sind immer da.« Immerhin. Eine Übereinstimmung mit der Aussage seiner Frau.
»Beschreiben Sie sie mal ein wenig!«
»Da gibt es nicht viel zu sagen. Ich bin entfernt mit Elsa verwandt. Sie und ihr Mann sind anständige, nette Leute. Tüchtig. Der Hof ist nicht groß genug, als dass man davon ein gutes Auskommen hätte, doch sie hängen daran. Es ist ihr Leben. Sie hätten uns niemals ein Stück von ihrem Land verkauft, wenn sie nicht finanziell unter Druck gestanden hätten. Wir sind hier nur wohlgelitten . . . Eindringlinge. Aber .leben und sterben lassen‹, sage ich immer.«
Pia sah dem Briefträger hinterher, der sich nach der Befragung auf sein Postrad schwang und mit kräftigen Tritten davonradelte. Ihre Kollegen Manfred Rist und Wilfried Kürschner kamen vom Feuerlöschteich auf sie zu.
»Irgendwas Neues?«, fragte Manfred Rist, bevor Kürschner auch nur den Mund aufmachen konnte.
»Benjamin Bredow, der Postbote, hat mir erzählt, wie er die Leiche gefunden hat. Und die Bewohner dieses Hofes heißen Elsa, Armin und Thilo Fuhrmann, hab ich erfahren. Sind die mittlerweile aufgetaucht?« Sie sah Kürschner an, der die Ermittlung leitete, solange Gabler noch nicht da war.
»Ich hatte gehofft, du hättest inzwischen vielleicht etwas Neues über den Verbleib dieser Leute herausgefunden«, sagte Rist. »Wir kommen nämlich nicht weiter.«
Pia schüttelte den Kopf. »Ich hab gesehen, dass der Staatsanwalt nun da ist. Kann er uns nicht einen Beschluss besorgen, damit wir uns ein bisschen im Haus der Fuhrmanns umschauen können? Vielleicht finden wir einen Hinweis darauf, wo sie hingefahren sind oder wie wir sie erreichen können. «
»Das ist wohl nicht ganz so einfach«, erwiderte Rist bissig. »Die sind vielleicht gerade mal ein Stündchen weg, und schon willst du die Tür aufbrechen und ihr Haus auf den Kopf stellen? «
»Immerhin liegt in ihrem Garten eine Leiche«, entgegnete Pia. Wieder blickte sie erwartungsvoll in Kürschners Richtung.
Der kratzte sich am Kopf und sah von einem zum anderen.
»Ohne Durchsuchungsbeschluss geht da gar nichts«, meinte er unentschlossen. »Aber der Staatsanwalt könnte sofort den zuständigen Richter kontaktieren.«
»Der neue Staatsanwalt ist so ein ganz junger, überkorrekter. Der sieht die gesetzlichen Anforderungen für eine Durchsuchung noch nicht erfüllt.«
»Vielleicht fehlt ihm nur das passende Argument?«, sagte Pia.
»Dann versuch dein Glück!«, antwortete Rist. Wofür haben wir Frauen?, stand unausgesprochen dahinter.
»Versuch macht klug«, sagte Pia ungerührt. »Was habt ihr vor?«
»Auf Dr. Kinneberg warten.«
»Oh, er kommt heute höchst selbst?«, fragte Pia erstaunt.
»Wir schaffen es nicht, die Leiche unbeschadet in die Rechtsmedizin zu schaffen, da soll er lieber hier schon mal einen Blick drauf werfen.«
»Okay, da kommt ja auch der Staatsanwalt. Wie heißt er noch gleich?«
»Jantzen.«
Das kann ja heiter werden, wenn Gabler länger ausfällt!, dachte Pia, während sie den Hofplatz überquerte. Ihr Kollege Manfred Rist war erst vor ein paar Monaten zu ihnen ins K1 gestoßen. Er war ein erfahrener und guter Kriminalist, wenn auch der Charme einer Brechstange, den er zeitweise an den Tag legte, nicht überall gut ankam. Er war Kriminalhauptkommissar, so wie Broders und Kürschner, und hatte eine Weile als verdeckter Ermittler gearbeitet, was ihm einen beinahe romantischen Status einbrachte. In etwa aus dieser Zeit stammte auch Pias erste Bekanntschaft mit ihm. Damals war sie noch ziemlich neu im K1 gewesen, und Broders hatte sich mit ihr einen etwas derben Scherz erlaubt, indem er ihr Rist, der zufällig vorbeigekommen war, als einen Serien-Vergewaltiger vorstellte, der gerade seine Taten gestanden hatte. So einer war damals tatsächlich zur Fahndung ausgeschrieben gewesen, und Pia hatte keinen Grund gesehen, Broders nicht zu glauben. Dann war Rist aufgesprungen und hatte, um sie zu provozieren, einen vermeintlichen Fluchtversuch unternommen. Pia hatte sich dazwischengeworfen und ihm zwischen die Beine getreten, um ihn aufzuhalten. In dem Moment war Broders der Einzige gewesen, der über den missglückten Scherz hatte lachen können. Später, als die Geschichte herumging, hatte sich das ganze Polizeihochhaus bestens amüsiert. Danach hatte Pia Rist ein paar Jahre nicht gesehen und gehofft, dass Gras über den Vorfall gewachsen wäre. Tja, und dann hatte Manfred Rist sich mitsamt seinen Karriere-Ambitionen zum K1 in Lübeck versetzen lassen.
Seine erste Ermittlung im Team war der Mordfall auf Fehmarn gewesen, in deren Folge Pia dem Täter heute vor Gericht gegenübergestanden hatte. Vielleicht wurmte es Rist, dass sie und zwei Kollegen zu der Verhandlung als Zeugen geladen worden waren, er jedoch nicht. Oder hatte das Eis, das sie ihm damals in der Kantine besorgt hatte, nicht alle Schmerzen in den unteren Regionen beseitigen können?
5. Kapitel
Pia verwickelte den Staatsanwalt in ein Gespräch und schlenderte dabei mit ihm in Richtung des Wohnhauses der Fuhrmanns. Auf ihre Fragen hin bestätigte ihr Olaf Jantzen, dass er tatsächlich neu auf seinem Posten und auch neu in Lübeck sei. Ursprünglich stammte er aus Osnabrück. Er war jung und ehrgeizig, mit langen Koteletten und modischer eckiger Brille.
Als sie die Eingangstür des Wohnhauses erreichten, blieb Pia stehen. Von hier aus konnten sie die Polizisten und Fahrzeuge rund um den Fundort, den ganzen Trubel der polizeilichen Ermittlung, nicht mehr sehen. Graue Wolken segelten tief über das ausladende Reetdach des Bauernhauses hinweg. Im Frühling, wenn alles grünte und blühte, mochte sich hier so etwas wie eine ländliche Idylle einstellen. Doch jetzt, im November, umwehte den Ort eine Trostlosigkeit, die durch die Abwesenheit von Menschen noch verstärkt wurde. Kein Fahrzeug auf der Zufahrt, alle Fenster des Wohntraktes verschlossen. Nirgendwo brannte Licht. Es gab nicht einmal Rauch, der aus dem Schornstein aufstieg.
Der Staatsanwalt sah besorgt zum Himmel. Der nächste kräftige Schauer würde die Arbeit mit der neuen Rundum- Videokamera am Fundort behindern. Eine unerwünschte Verzögerung. Jantzen schien einerseits hochmotiviert zu sein, andererseits fühlte er sich in dieser Umgebung sichtlich unwohl. Und in seinem Wollmantel und dem Anzug darunter, ohne Mütze, Handschuhe oder Stiefel, war ihm sicherlich viel zu kalt. Pia ging es nicht besser, so konzentrierte sie sich umso mehr auf ihr Ziel. »Wir haben schon mehrmals geklingelt und sind um das Haus herumgegangen. Es ist definitiv niemand zu Hause«, sagte sie.
»Die kommen sicher bald wieder.«
»Meinen Sie? Ich finde, es sieht eher so aus, als wären die Fuhrmanns schon etwas länger weg.«
»Wie kommen Sie darauf?«
Pia deutete auf die verwaiste Umgebung. Was fehlte, waren die tagtäglichen Spuren menschlichen Lebens. Gummistiefel auf der Fußmatte, ein gekipptes Toilettenfenster . . . Außerdem lagen durchnässte Reklamezettel auf dem Treppenabsatz herum. Warum hatte sie nicht eher daran gedacht? Sie ging zum Briefkasten und sah hinein. Er war voll mit Post. »Der wurde wohl schon ein paar Tage nicht mehr geleert«, sagte sie. Pia ärgerte sich, dass sie den Postboten nicht danach gefragt hatte. Sie hatte sich darauf konzentriert, wie es dazu gekommen war, dass er die Leiche gefunden hatte.
Olaf Jantzen sah ihr über die Schulter. »Das ist in der Tat ein Hinweis. Sollten die wirklich schon länger weg sein? Müssen auf so einem Bauernhof nicht fortwährend Tiere versorgt werden? «
»Die Ställe sind leer. Bisher hab ich hier nur ein paar Katzen herumstreunen sehen.«
Er runzelte die Stirn.
»Der Briefträger kennt die Leute hier schon lange. Er sagt, die sind sonst nie weg. Es ist eine außergewöhnliche Situation, auf die wir umgehend reagieren müssen.«
»Grundsätzlich stimme ich Ihnen zu, wenn da nicht leider noch das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung wäre ...«
»Wir haben es aber höchstwahrscheinlich mit einem Kapitalverbrechen zu tun. In so einer Ermittlung zählen Stunden, vielleicht sogar Minuten. Selbst wenn die Bewohner nicht direkt etwas mit dem Mord zu tun haben, brauchen wir sie dennoch als Auskunftspersonen.«
»Wenn die schon länger weg sind, wissen sie womöglich gar nichts.«
»Wie sollen wir rausfinden, was sie wissen und was nicht, wenn wir nicht mit ihnen sprechen können?«
»Also gut.« Der Staatsanwalt setzte eine entschlossene Miene auf. »Ich werde Ihnen einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss besorgen. Ansonsten kommen wir hier ja nicht weiter.« Olaf Jantzen stutzte, als ein weiteres Auto auf den Hofplatz fuhr. »Na, wer kommt denn da? Hat sich das Ganze womöglich doch erledigt?«
Pia schüttelte den Kopf. »Das ist der Rechtsmediziner aus Lübeck. Enno Kinneberg.«
»Ach so.«
»Sie besorgen uns einen Beschluss?«, vergewisserte Pia sich. Die Atmosphäre in der Nähe des Wohnhauses war bedrückend.
»Sagte ich das nicht? Sie entschuldigen mich, Frau Korittki? Und . . . keine voreiligen Aktionen!«
Sie nickte amüsiert. Befürchtete er, sie würde jetzt die Tür eintreten, um sich im Haus umzusehen? Eilte ihr etwa ein gewisser Ruf voraus? Na ja, sie wollte schon da rein. Aber wenn Jantzen so jung und dynamisch war, wie er sich gab, würde die Erlaubnis des Richters nicht lange auf sich warten lassen. Trotzdem konnte es ein langer Tag werden.
Apropos . . . Pia stellte sich in den Windschatten des Eingangs und kontrollierte ihr Telefon. Theoretisch wusste sie, dass Felix bei seinem Vater gut aufgehoben war. Wahrscheinlich wurde er wieder nach Strich und Faden verwöhnt. Trotzdem hatte sie das Gefühl, sich nicht richtig zu verhalten. Erst der Gerichtstermin, jetzt die neu angelaufene Ermittlung . . . Hinnerk hatte ihr gesagt, er würde sich den ganzen Tag um Felix kümmern. Doch wie lang war sein ganzer Tag? Sie wählte seine neue Festnetznummer in der Wohnung, die er zusammen mit Mascha bezogen hatte. Er klang ein wenig atemlos. »Wie geht es euch, alles klar so weit?«, fragte sie, sofort alarmiert.
»Natürlich. Felix spielt mit meiner alten Holzeisenbahn, und ich überlege, was ich uns zum Mittagessen kochen soll.«
»Mittagessen klingt gut«, sagte Pia, der auch schon wieder der Magen knurrte. »Wie lange hast du denn heute Zeit? Ich weiß ja, es war nicht so eingeplant.«
»Du kannst so lange arbeiten, wie du willst. Sag mir nur rechtzeitig Bescheid, wann du Felix wieder abholst!«
»Es kann dauern. Wir haben einen Toten in einem Feuerlöschteich. Wahrscheinlich Mord, aber das steht noch nicht fest.«
»Dafür lebst du doch, Pia.«
Sie beendeten das Gespräch recht abrupt, weil Felix nach Hinnerk rief. Trotz des heutigen Freifahrtscheins, oder vielleicht auch gerade deswegen, fühlte Pia sich unwohl, als sie zurück zu den anderen ging. Stimmte es? Lebte sie für Mord und Totschlag? Für den Thrill und die Herausforderung, dass die Bösen bestraft und die Guten letztlich Gerechtigkeit erfahren sollten? Auch wenn sie wusste, wie vergeblich der Kampf - im Großen und Ganzen betrachtet - war? Machte sie sich etwas vor?
»Ist Blau jetzt das neue Rot?«, fragte Broders, als Pia wieder
zum Einsatzwagen kam.
»Wieso?« Sie sah an sich herunter.
»Deine Lippen sind blau.«
»Mir ist kalt. Ich bin für einen Gerichtstermin angezogen, nicht fürs Wintercampen.«
»Kalt ist immer schlecht«, sagte Broders und dachte an seinen verspannten Rücken. »Kürschner hat gerade ein paar Leute losgeschickt, die im Dorf von Tür zu Tür gehen sollen. Wir beide haben das Glückslos gezogen.«
»Und das wäre?«
»Informative Befragung im Wirtshaus - kommst du mit?«
Das war typisch Broders. Doch als einer der Dienstältesten im Kommissariat konnte er sich das natürlich mal herausnehmen. Pia wollte zustimmend grinsen, merkte aber, dass ihre Gesichtsmuskeln eingefroren waren. »Hauptsache, die haben ihren Herd schon angefeuert.«
Als Dina Löbich ihre sechste Schulstunde beendete, hatte sie ein unschönes Pfeifen im Ohr. Sie räumte ihre Unterlagen in die Ledertasche, die sie schon seit ihrer Schulzeit mit sich herumschleppte, und schulterte sie. Ein Gewicht, als hätte sie die gesamte Schulbibliothek darin, dabei waren es nur siebenundfünfzig Hefte. Sie hatte heute in zwei Klassen die Hausaufgaben eingesammelt. Es ging auf die Weihnachtsferien zu, und Dina Löbich benötigte noch Anhaltspunkte für die mündlichen Noten. In der 8c gab es Schüler, deren Namen sie noch nicht mal sicher zuordnen konnte. Wie sollte sie sie dann benoten? Sie hatte mit den besten Vorsätzen hier angefangen, doch es war einfach zu viel. Ihre Schüler waren Gott sei Dank schon lärmend und grölend aus dem Klassenraum gestürzt. Ihre Schritte und pubertären Stimmen verhallten nach und nach in den langen Gängen. Zurück blieb der Geruch nach überschüssigen Hormonen und zu warm gewordenen Füßen. Die 8c galt als eine besonders unruhige und schwierige Klasse. Es war Ulf Nielsens Klasse. Eigentlich kein Wunder, dass der Mann hin und wieder krankfeierte.
Dina Löbich mochte ihn trotzdem nicht besonders. Als sie ihn vor ein paar Wochen mal danach gefragt hatte, wo denn die Musikräume zu finden seien, hatte er ihr einen Vortrag über richtige Vorbereitung gehalten. Dabei war sie keine Musiklehrerin. Sie hatte nur jemanden gesucht. Und wenn man sich nicht vorsah, verpasste Nielsen einem auch noch eine Sonderlektion in Sachen Heimatkunde. »Die Spuren der Steinzeitjäger im Stellmoorer Tunneltal« oder so ähnlich.
Aber sonderbar war es schon, dass er seit vier Tagen nicht in der Schule aufgetaucht war, ohne sich abzumelden. Sie hatte vorhin extra noch mal im Sekretariat nachgefragt, ob Nielsen sich inzwischen gemeldet habe. Dann hatte sie sich erkundigt, ob er allein lebe. Es konnte doch sein, dass Ulf Nielsen in seiner Wohnung umgekippt war. Vielleicht lag er da jetzt tot oder sterbend herum, und keiner merkte es. Wie alt mochte Nielsen sein? Für Dina Löbich, frisch von der Uni, schien er kurz vor der Pensionierung zu stehen.
Sie hatte seine Adresse im Telefonbuch gefunden. Er wohnte in Bad Schwartau. Es würde nicht lange dauern, auf dem Rückweg bei ihm vorbeizuschauen, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Mehr, als sich lächerlich machen, konnte sie nicht. Ihre »soziale Ader«, wie ihre Freundinnen es nannten, hatte sie schon manches Mal in Schwierigkeiten gebracht. Doch damit kam sie klar. Ihre Eltern waren Pastoren. Es lag ihr ja vielleicht in den Genen. Wenn man heutzutage Lehrerin werden wollte, musste man sowieso masochistisch veranlagt sein . . . Sie bog also auf dem Heimweg von ihrer gewohnten Route ab und ließ sich von ihrem Navigationsgerät zu Nielsens Adresse leiten.
Vor einem der Mehrfamilienhäuser steuerte sie in eine freie Parkbucht und schaltete den Motor aus. Jetzt kamen ihr erste Zweifel. Was wollte sie hier? Sie war nur seine Kollegin, noch dazu eine neue. Aber außer ihr schien sich ja niemand darum zu kümmern, was mit Nielsen los war. Dina Löbich wusste, dass man ihr ihr Verhalten auch ganz anders auslegen konnte: Neugier, der Wunsch, einen Krankfeiernden bloßzustellen. Im schlimmsten Fall hielten das einige für eine billige Anmache . . . Bei Ulf Nielsen? Sie verdrehte die Augen und stieg aus. Was getan werden musste, musste eben getan werden, egal, was die Leute dachten. Sie hörte sich in Gedanken schon genauso an wie ihre Mutter.
Dina ging die Haustüren ab, bis sie vor der richtigen stand, und drückte auf die Klingel neben dem Namensschild Nielsen. Es war als Einziges mit einer dieser altmodischen Etikett-Prägemaschinen hergestellt worden.
Nichts passierte. Was nun?
Sie war kurz davor, unverrichteter Dinge zu gehen, als eine ältere Frau mit einem Einkaufstrolley an die Tür kam.
»Entschuldigen Sie bitte! Wohnen Sie hier? Ich bin auf der Suche nach Herrn Nielsen«, sagte Dina Löbich.
»Dem Lehrer? Den hab ich aber schon länger nicht mehr gesehen. Vielleicht ist er im Urlaub.«
»Ich bin eine Kollegin von ihm. Die Sache ist die: Eigentlich hätte er diese Woche unterrichten müssen, doch er ist seit ein paar Tagen nicht in der Schule erschienen. Er hat sich aber auch nicht krankgemeldet.«
Dina sah direkt, wie es hinter der Stirn der Frau zu arbeiten begann. Und sie schien zu dem gleichen Schluss zu kommen wie Dina. »Oje«, sagte sie. »Er wohnt direkt über mir. Und ich hab nichts mehr von ihm gehört seit . . . Samstag? Was machen wir denn nun?«
»Die Polizei verständigen?«, schlug Dina vor.
»Also, ich weiß nicht. Wenn er nun nur verreist ist?«
»Es sind aber keine Ferien. Hat vielleicht jemand einen Schlüssel zu seiner Wohnung und kann mal nachsehen?«
»Ich nicht.« Sie schüttelte abwehrend den Kopf. »Und ich würde da auch nicht reingehen.« Wieder Kopfschütteln.
»Gibt es einen Hausmeister?«
»Ach, der!« Sie winkte ab.
Es wunderte Dina überhaupt nicht, dass sie wieder mal diejenige war, die ihr Telefon hervorzog, um bei der Polizei anzurufen.
Das Wirtshaus hieß Lindenhof. Acht imposante Baumstümpfe, aufgereiht vor der Längsseite des Hauses, die der Straße zugewandt war, zeigten, dass das durchaus einmal ein passender Name gewesen war. Das Haus war margarinegelb, die Fensterrahmen schokoladenbraun gestrichen. Hinter jedem Fenster stand ein Topf mit einer orangeroten Geranie.
»Brav. So soll es sein«, murmelte Broders und stieg die drei Stufen hinauf.
Sie passierten einen imposanten Zigarettenautomaten und einen Heizkörper mit einem Seidenblumengesteck darauf. Irgendwo musste ein Raucherraum sein, denn es roch nach kaltem Zigarettenqualm, untermalt mit einer Note von frischem Fett. Zu beiden Seiten ging es in eine Gaststube, wie man durch die braun getönten Butzenscheiben in den Türen erkennen konnte, doch der linke Gastraum hatte einen Bartresen. Auf den steuerte Pia zu.
Es war noch nichts los, und so dauerte es auch ein paar Sekunden, bis jemand aus der Küche hinter den Tresen trat.
Pia stellte ihren Kollegen und sich vor und fragte, ob sie schon was zu essen bekommen könnten.
Der Wirt kniff die Augen zusammen. »Schon?« Er sah auf die Uhr. »Ich frag mal meine Madame, ob sie noch was für euch hat.« Es war kurz nach zwei.
»Die Küche ist wohl schon wieder kalt«, vermutete Broders und schwang sich auf einen der Barhocker. »Aber sieben Bier ersetzen ja bekanntlich eine Mahlzeit. Was gibt's denn frisch vom Fass?«
»Ich trag dich hier nicht raus, Broders«, sagte Pia. Das waren ja ganz neue Marotten.
»Das nennt sich Frustsaufen«, antwortete er. »Warum immer nur die anderen, warum nicht mal ich? Ich hab gerade ganz schön was auszustehen.«
Der Wirt steckte den Kopf durch die Tür: »Labskaus oder Matjes mit Bratkartoffeln. Ansonsten Holsteiner Katenschinken auf Brot ...«
»Wir nehmen zweimal den Matjes«, rief Broders, bevor Pia auch nur reagieren konnte.
Sie bestellten Apfelschorle und Wasser dazu.
»Warmes Essen nur am Tisch«, ordnete der Wirt an.
Broders ließ sich das nicht zweimal sagen und ging zu den Tischen hinüber, wo er sich auf einen der gepolsterten Stühle sinken ließ. Er verzog das Gesicht.
»Was ist los?«
»Autsch. Nur mal wieder mein Rücken.«
»Fall du uns nicht auch noch aus!« Pia warf ihm einen besorgten Blick zu.
Broders schüttelte abwehrend den Kopf.
»Ihr zwei seid auf dem Röperhof zugange, nich' wahr?«, erkundigte sich der Wirt. »Hab schon gehört. Ein Toter im Teich . . . tz, tz. Da kommt ja gleich das ganze Dorf unter die Räder.«
»Von wem haben Sie das gehört?«
»Von unserem Postboten. Der Bredow brauchte akut was Stärkendes, nachdem ihr mit ihm durch wart.«
Pia fragte sich, ob sie zu hart vorgegangen war, fand aber in ihrer Erinnerung nichts, das diese These stützte. »Braucht der öfter was .Stärkendes‹?«
»Nein, nur ausnahmsweise. Und wer braucht das nicht hin und wieder?«
»Wie wahr!«, sagte Broders zu Pia.
»Und was hast du gerade auszustehen?«, fragte sie ihn, als der Wirt wieder verschwunden war.
»Ich sag nur WG.«
»Du wohnst doch allein.«
»Aber nicht am Wochenende. Und inzwischen bin ich auch unter der Woche mal bei Ralph. Der hat zwar die größere Wohnung, doch nur ein Badezimmer. Und wenn sein siebzehnjähriger Sohn noch da ist - nebst Freundin! -, dann brauchen wir einen .Badplan‹, um morgens fertig zu werden.«
»Klingt doch vernünftig.«
»Pah! Mir haben sie die Zeit zwischen fünf Uhr fünfzig und sechs Uhr zwanzig zugeteilt.«
»Ja, und?«
»Da bin ich aber noch lange nicht fertig!«
Pia musste grinsen. »So ist das mit Kindern. Man muss zurückstecken.«
»Die neue Freundin von Elias braucht fast eine Stunde im Badezimmer. Und der Knabe noch länger.«
»Da bin ich aber froh, dass das bei Felix noch ein bisschen hin ist. Warum wohnt Ralph nicht mit bei dir? Da habt ihr eure Ruhe.«
»Ach.« Er winkte ab. »Meine Mutter lebt doch im selben Haus wie ich.«
»Ja und?«
»Sie . . . Also theoretisch weiß sie das mit mir und Ralph. Aber ich bin nicht sicher, ob sie ihn auch kennenlernen möchte.«
»Broders. Du solltest deiner Mutter wenigstens die Chance geben, deinen Lebenspartner kennenzulernen.«
Er schnaubte durch die Nase.
Pia fragte sich, wie fundiert das Wissen seiner Mutter tatsächlich war. Immerhin hatte das gesamte Kommissariat Kenntnis davon, dass Broders sie einmal in der Woche mit einem Papptablett voller Kuchenstücke besuchte. Der Mittwochabend war ihm heilig. Worüber sprachen sie dann immer? Wusste die Frau am Ende noch nicht einmal, dass ihr Sohn schwul war?
Nach dem Verzehr der Matjesfilets in Sahnesoße und der Berge knuspriger Bratkartoffeln fühlte Pia sich satt und müde. Es kostete sie Überwindung, den Wirt zu bitten, sich für den abschließenden Kaffee einen Moment zu ihnen zu setzen. Sie konnten die Gelegenheit, die wohl erste Informationsquelle des Ortes anzuzapfen, nicht außer Acht lassen.
Der Wirt kratzte sich den beinahe kahlen Schädel, sah kurz zur Küchentür und nickte dann. »Okay. Aber einen kleinen Moment dauert's noch. Soll meine Frau, also meine Lebensgefährtin, auch dazukommen?«
»Wir befragen Sie lieber einzeln«, sagte Pia. Die Arbeitsteilung im Gasthof ließ vermuten, dass er mehr mitbekam als sie. Später wüssten sie mehr.
»Was sind die Fuhrmanns für Leute?«, fragte Broders, nachdem sie erfahren hatten, dass der Wirt, Herbert Kleber, den Gasthof schon seit Jahrzehnten führte. Er hatte ihn von seinem Vater geerbt.
»Nichts Besonderes eigentlich. Friedliche Zeitgenossen, die zusehen, dass sie auf ihrem Hof ihr Auskommen haben. Was immer schwieriger wird - schlechte Zeiten für die kleineren Landwirte, Sie wissen schon.«
»Für den einen mehr, für den anderen weniger«, ermunterte Pia ihn mit einem Allgemeinplatz zum Weiterreden.
»Nun, die Fuhrmanns haben es bestimmt nicht leicht. Finanziell und überhaupt. Heute muss man ja mit den Verordnungen der EU auf Du und Du stehen, um zurechtzukommen. Und jedes Jahr ändert sich da was. Mit Flächenstilllegungen oder Mais für Biogas verdient ein Bauer heutzutage ja mehr, als wenn er sein Land ordentlich bewirtschaftet.«
»Denken Sie, dass die Fuhrmanns nicht mehr zurechtkommen? Eventuell Schulden haben?«
»Wer hat denn heute keine Schulden, bei den Preisen? Wissen Sie, was ein neuer Traktor kostet? Also, wer zahlt das denn mal eben aus der Portokasse?«
»Das sind doch Investitionen in die Zukunft.«
»Alles nicht so einfach. Ich meine, der Thilo wird den Hof ja wohl kaum übernehmen.«
»Warum nicht? Hat er kein Interesse?«
»Ach, Sie wissen es noch nicht!« Er verzog unbehaglich das Gesicht. »Der Thilo ist nicht so richtig helle, verstehen Sie? Kein Idiot, aber einfach gestrickt. Also, ohne seine Eltern könnte der nicht existieren . . .«
»Ist er geistig behindert?«
»Nichts Genaues weiß man nicht. Er ist auf die Förderschule gegangen. Und seitdem ist Sense: keine Ausbildung, kein Job, nichts. Armin, sein Vater, will ihn nicht in eine Einrichtung schicken. Behält ihn lieber bei sich und lässt ihn den Hof harken. «
»Und was sagt die Mutter dazu?«, fragte Pia.
»Niemand weiß, was Elsa denkt.«
»Wieso nicht?«
»Ach, man sieht sie eigentlich nicht. Sie verlässt ihren Hof nur, um Lebensmittel einzukaufen. Sie hat keine Freundinnen, kommt nie zu irgendwelchen Festen. Das war schon so, als Meike noch lebte, aber seit die tot ist, ist es noch schlimmer geworden mit Elsa.«
»Wer zum Teufel ist Meike?«, fragte Broders.
Copyright . 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln.
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Autoren-Porträt von Eva Almstädt
Eva Almstädt absolvierte eine Ausbildung in den Fernsehproduktionsanstalten der Studio Hamburg GmbH und studierte Innenarchitektur in Hannover. Ihr erster Roman KALTER GRUND ist der Auftakt der erfolgreichen Serie um die Lübecker Kommissarin Pia Korittki. Mittlerweile ist mit DORNTEUFEL auch ihr erster Thriller erschienen. Die Autorin lebt mit Mann und zwei Kindern in Schleswig-Holstein.
Bibliographische Angaben
- Autor: Eva Almstädt
- 2014, 7. Aufl., 368 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 340416928X
- ISBN-13: 9783404169283
- Erscheinungsdatum: 15.04.2014
Pressezitat
"Es gelingt der Autorin, den Spannungsbogen tatsächlich von Seite zu Seite zu steigern. Leser können die Tätersuche mit großer Rätselfreude begleiten." Schweriner Volkszeitung "Das ist doch mal wieder ein richtig prima Krimi - Eva Almstädt bietet mit Ostseesühne bodenständige, kurzweilige Unterhaltung. Und dazu einen Plot, der Stoff für einen 90-minütigen Tatort bietet." Randolf Leyk, Medienhaus Bauer "Warnhinweis: Wer einmal einen Almstädt-Krimi gelesen hat, wird süchtig." Frankfurter Stadtkurier
Kommentar zu "Ostseesühne / Pia Korittki Bd.9"