Klostergeist / Pater Pius ermittelt Bd.1
Kriminalroman
Als die Mönche des Spaichinger Konvents nach der Morgenmesse aus der Kirche treten, fällt Ihnen ein Mensch vor die Füße! Der Tote ist Manfred Engel, der Bürgermeister der Kleinstadt. Neben den ermittelnden Behörden...
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Produktinformationen zu „Klostergeist / Pater Pius ermittelt Bd.1 “
Als die Mönche des Spaichinger Konvents nach der Morgenmesse aus der Kirche treten, fällt Ihnen ein Mensch vor die Füße! Der Tote ist Manfred Engel, der Bürgermeister der Kleinstadt. Neben den ermittelnden Behörden stößt auch Pater Pius, der Superior des Konvents, auf eine Spur.
Klappentext zu „Klostergeist / Pater Pius ermittelt Bd.1 “
Pater Pius, Superior des Spaichinger Konvents, feiert mit seinen Brüdern die Morgenmesse auf dem Dreifaltigkeitsberg. Als die Mönche in den kühlen Novembermorgen hinaustreten, fällt ein Mensch vom Klosterturm, direkt vor Pius' Füße: Es ist Manfred Engel, der Bürgermeister der kleinen Stadt.Kommissarin Verena Hälble aus Rottweil und ihr Kollege Thorben Fischer leiten die Ermittlungen. Als dem neugierigen Pater Pius beim Trauergespräch mit der Witwe "zufällig" ein Kontoauszug in die Tasche seiner Kutte flattert, mischt auch er sich ein ...
Lese-Probe zu „Klostergeist / Pater Pius ermittelt Bd.1 “
Klostergeist von Silke Porath und Andreas C . Braun Tag 1
Hier ist Radio Donauwelle, euer Sender für den Kreis Tuttlingen. Für euch am Mikro eure Nachteule Regina. Es ist 4.45 Uhr, aber wir halten euch wach! An alle Nachtschwärmer da draußen: Geht nach Hause, heute wird ein grauer Tag, ideal fürs Sofa und euer Radio. Wer jetzt aufstehen muss: Wir machen euch fit für den Tag! In der Volkshochschule beginnt heute der Acrylkurs für Einsteiger, pünktlich um neun, Pinsel und Wasserbecher nicht vergessen! Passend dazu spielt euch eure Donauwelle jetzt ›Paint it Black‹! Zuvor noch ein Hinweis: In Rietheim steht ein Blitzer in Höhe der alten Tankstelle. Also Fuß vom Gas und Lautsprecher an für die Stones!
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Pater Pius fröstelte, als er sich mit einem tiefen Seufzen aus dem Bett schälte. Der Digitalwecker auf seinem Nachttisch piepste penetrant. Die roten Leuchtziffern zeigten ›4:45‹ an. Pius tastete nach der Austaste. Himmlische Ruhe breitete sich in der Klosterzelle aus. Am liebsten hätte der Pater sich wieder in die Kissen zurückfallen lassen. Obwohl er nun schon seit über 30 Jahren im Brüderlichen Orden lebte - an das Aufstehen zu nachtschlafender Stunde hatte er sich nie gewöhnt.
Pius knipste die kleine Lampe an, die neben dem Bett stand. Im Schein der Funzel erkannte der Pater den Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand. Den Stuhl, auf den er am Vorabend achtlos seine Kutte geworfen hatte. Von der Zimmerecke lächelte ihm mit gequälter Miene die hölzerne Figur des Herrn Jesus Christus am Kreuz zu.
»Du bist auch noch müde, gell?«, murmelte Pius und nickte dem Kruzifix zu. Dann schlüpfte er in die Pantoffeln, die vor dem schmalen Bett standen. Seine Knie schienen zu knirschen und zu ächzen, als er sich schließlich erhob. Der Pater brummte grimmig - musste der liebe Herrgott ihn jeden Morgen mit einem Zipperlein begrüßen und ihn so an seine 63 Lebensjahre erinnern?
»Dein Vater, Herr Jesus, kann grausam sein«, dachte der Pater laut, und erschrak sogleich ob seiner Anmaßung. Schnell bekreuzigte er sich und bat den Herrgott im Stillen um Verzeihung. Für einen Moment fühlte er sich wieder wie der kleine Junge, der der Mutter widersprochen hatte. Sie würde es dem Vater sagen und der würde ihn oder seinen Bruder am Abend zur Rede stellen. Oder die Hand erheben, sodass ihm, dem kleinen Jungen, nur die Flucht in seine Traumwelt blieb. Und der Blick zum Kruzifix an der Wand des Wohnzimmers. Der hölzerne Heiland lächelte. Immer. Auch dann, wenn der Vater schimpfte. Pius rieb sich die Augen, um den letzten Schlaf zu vertreiben.
Vom Gang her drang ein schlurfendes Geräusch herein.
»Der gute Josef ist wieder der Erste«, brummte Pius und schälte sich aus seinem Schlafanzug. Sein Blick fiel auf seine Silhouette, die sich im Fenster spiegelte. Draußen war es stockfinstere Nacht und der Pater konnte nur erahnen, wo der Turm der Dreifaltigkeitsberg-Kirche in den Himmel ragte. Seit der Gemeinderat von Spaichingen auf Sparkurs gegangen war, durfte das Kreuz aus Neonröhren, welches auf der Turmspitze prangte und den Gläubigen und anderen Menschenkindern in Dunkelheit den Weg zum Berg wies, nur noch bis Mitternacht brennen.
Pius schlüpfte in seine Kutte und warf einen kurzen Blick auf seinen Schreibtisch. Briefe - die meisten ungeöffnet - und Bücher stapelten sich zu chaotischen Türmen, die jeden Moment in sich zusammenzustürzen drohten.
»Warum steigst du nicht herab und sagst den Menschen, sie sollen weniger schreiben?«, flüsterte Pius dem Kruzifix zu. »Dann hätte ich mehr Zeit für die Seelsorge selbst.« Pius wartete nicht auf eine Antwort. Manchmal, wenn er ganz ruhig war, schickte ihm dieser Christus dort aus der Zimmerecke Gedanken und Eingebungen. Doch zu so früher Stunde schien auch das Kruzifix noch zu schlafen.
Pius ging zum Waschbecken, das hinter einem Vorhang verborgen in der Zimmerecke angebracht war. Rasch putzte er sich die Zähne und wusch sein Gesicht mit eiskaltem Wasser. Das Handtuch kratzte an den Bartstoppeln, doch für eine Rasur blieb ihm keine Zeit mehr. In drei Minuten würden die Glocken zur Laudes läuten. Der Pater nahm den hölzernen Rosenkranz vom Wandhaken und legte ihn sich im Hinausgehen um den Hals. Dann hastete er den spärlich beleuchteten Gang entlang, die drei Treppen hinunter, durch den unbeheizten Flur und hinaus auf den Hof.
Sein Atem puffte in kleinen Wölkchen aus dem Mund, als Pius über den Kiesweg zur Kirche eilte. Die schwere Tür am Seitenschiff knarzte, als er sie öffnete und in das von Altarkerzen spärlich beleuchtete Kircheninnere trat. Seine Finger tauchten in das eisige Weihwasserbecken. Pater Pius bekreuzigte sich, machte einen Kniefall vor dem Altar und ließ sich in die Bank gleiten.
Neben ihm saß Pater Josef, das Gesicht tief über die gefalteten Hände gebeugt. Der Bruder Pförtner strömte den säuerlichen Geruch des Schlafes aus. Pius unterdrückte mit Mühe ein Gähnen. Josef nickte ihm stumm zu. Pius neigte sein Haupt. Unter den halb geschlossenen Lidern machte er die Gestalten der Brüder aus. Johannes, der sicher im Geiste schon die Zutaten für das Mittagessen durchging. Ortwin, der gleich nach dem Frühstück nach Spaichingen fahren würde, um eine vierte Klasse der Rupert-Mayer-Schule zu unterrichten. Bruder Sunil, der unter seiner Kutte einen dicken, kratzigen Pullover trug und dennoch jämmerlich fror - der Philippine mit den glänzenden schwarzen Augen war als Missionar nach Deutschland geschickt worden. Wie grotesk, dachte Pius. Schon paradox: Da kommt ein Spätmissionierter aus einem Entwicklungsland und missioniert nun seine ehemaligen Missionare, weil die das Glauben verlernt haben. Pater Pius kniff die Augen und den Mund zusammen. Ein Kichern drängte seine Kehle hinauf, als er an die Scherze dachte, die die Brüder vor Sunils Ankunft wegen dessen Namen gemacht hatten. »Wenn einer heißt wie ein Waschmittel, der muss ja eine weiße Weste haben«, erinnerte Pius sich an einen der Sprüche. Mit Mühe schaffte er es, nicht zu grinsen, als er sich schließlich erhob, aus der Bank rutschte und zum Altar nach vorne ging. Den Rücken den Brüdern zugewandt und noch immer ein Lächeln auf den Lippen, begann er, die Frühmesse zu lesen. Bald schon hüllten die Klänge der Orgel, wie immer gespielt von Pater Wolfgang, und die ewig gleichen Gebetsformeln seinen Geist ein. Pius versank im Gebet und mit jedem Atemzug, den er tat, wurde er wacher. Der Pater ließ sich von den Psalmen tragen und spürte, wie die Kraft, welche der Glauben und die Gemeinschaft ihm gaben, sein Herz erfüllte.
Doch anders als an anderen Tagen durchflutete ihn heute keine Welle der Ruhe. Ihm war, als surrten Schmetterlinge durch seinen Kopf. Nervöses Flügelschlagen vibrierte in seinem Magen. Pius wurde unruhig - und konnte doch nicht fassen, warum.
Mit Mühe gelang es ihm, die 20 Minuten bis zum Ende der Laudes am Altar zu stehen, ohne von einem Bein auf das andere zu treten. Hatte er etwas vergessen? Wartete eine unangenehme Aufgabe auf ihn? War diese Woche die Pfarrvertretung in Tuttlingen oder erst nächste? Hatten sich Besucher angekündigt? Pius' Gedanken flogen, ohne zu erfassen, was ihn so nervös machte. Als er schließlich mit einem kräftigen »Amen« die Frühmesse beendete und als Erster aus der Kirche hinaus in den dämmernden Morgen trat, gelang es ihm, seine Unruhe wegzuwischen. Unten im Tal flammten in den Häusern die ersten warmgelben Lichter auf. Spaichingen erwachte langsam aus dem Schlaf der Kleinstadt. Die Mütter weckten die Kinder, welche in einer Stunde in der Schule sein mussten. Die ersten Väter verließen das Haus, um in der Maschinenfabrik oder beim Nudelmacher ihren Platz an den Maschinen einzunehmen.
Von Ferne ratterte der Ringzug aus Tuttlingen heran. Die schwachen Lichter aus den beiden Waggons schlängelten sich wie ein Lindwurm entlang der Prim.
Pius fuhr herum, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte.
»Frierst du nicht?«, fragte Sunil. Die schwarzen Augen des Paters blitzten über der schnupfentriefenden Nase.
»Ich nicht, aber du solltest ins Haus gehen«, antwortete Pius und klopfte dem Bruder auf die Schulter. »So schön der Blick von hier oben auch sein mag - das angenehme Klima deiner Heimat haben wir hier nicht.«
Sunil lächelte gequält. »Nein, an diese Kälte werde ich mich nie gewöhnen. Da helfen auch all die Pullover nicht, die mir die Damen vom Bibelkreis stricken.«
»Dir stricken sie immerhin Pullover aus guter Wolle, ich werde nur mit kratzenden Socken versorgt.« Pius lachte schallend - und schrie dann erschrocken auf: Mit einem dumpfen Klatschen knallte etwas Großes, Schwarzes auf den Boden vor seinen Füßen. Heiße Flüssigkeit spritzte in sein Gesicht. Pater Sunil quietschte wie ein geschlagenes Tier und sprang zur Seite. Pius riss die Augen auf - vor ihm auf dem Kies lag der Körper eines Mannes.
Ungläubig blickte der Pater vom Leib auf dem Boden zum Kirchturm hinauf und wieder zurück. Atemlose Sekunden verrannen, bis Pius sich wie ferngesteuert auf die Knie sinken ließ. Seine Hände zitterten, als er den Rücken des Mannes berührte. Dessen Schulter, die Arme. Unter dem Kopf, der mit dem Gesicht nach unten lag, sickerte Blut hervor und färbte die weißen Kiesel rot. Pius tastete nach dem Hals des Mannes. Suchte die Schlagader. Hoffte auf ein Pulsieren. Doch da war nichts.
»Oh mein Gott.« Sunil stöhnte und ließ sich auf den Boden sinken. Der Pater barg das Gesicht in den Händen.
In dem Moment, als Pius an den Schultern des Mannes ruckte und den Leichnam auf den Rücken drehte, traten die Mitbrüder aus der Kirchenpforte. Irgendwo krächzte ein Vogel. Der Kies knirschte leise, als der Tote auf dem Rücken zu liegen kam. Pius öffnete den Mund, doch es entwich kein Schrei. Der Pater starrte in das verunstaltete Gesicht von Manfred Engel. Der Bürgermeister glotzte aus hohlen, toten Augen zurück.
Hier ist Radio Donauwelle, euer Sender für Tuttlingen!
Am Mikrofon ist noch immer eure Nachteule Regina. Eben kommt eine Pressemitteilung aus dem Rathaus herein. Alle Achtung, die Tuttlinger Beamten machen Frühschicht! Ah ja ... das ist ein Hinweis, dass ab sofort der Vorverkauf für den Honbergsommer startet. Sag ich doch, Frühaufsteher picken die besten Körner. Mein Tipp an euch: Verschenkt doch Karten für den genialen Tim Fischer oder die Abba- Coverband zu Weihnachten!
Ich geh dann mal nach Hause. Draußen am Regler steht schon Kollege Steven, um euch durch den Morgen zu begleiten. Steven, Schätzchen, koch Kaffee, du siehst müde aus.
Ein Hinweis an die Autofahrer: In Rietheim steht noch immer ein Blitzer in Höhe der alten Tankstelle.
Das war's von mir für diese Nacht. Macht euch einen tollen Tag! Für alle, die eben aus dem Bett krabbeln, kommen hier die legendären Wham mit ›Wake me up, before you gogo‹.
Kommissar Thorben Fischer lag, in dicke Daunen gebettet, auf dem Rücken und ging seiner nächtlichen Lieblingsbeschäftigung nach - er schnarchte. Und zwar immer so lange, bis er, lauter werdend, selbst davon erwachte, sich unwirsch und mit einem Ruck auf die Seite warf und wieder einschlummerte.
Gerade hatte sich dies zum neunten Mal in dieser Nacht wiederholt und er war im Halbschlaf wieder beim Segeln am Bodensee angelangt, als plötzlich die Schiffssirene ertönte. ›Tut-tuuut‹. Wie aus dem Nichts kam der Bodenseedampfer direkt auf ihn und seine kleine Jolle zu und ließ unaufhörlich die Sirene hören. Kurz vor der Kollision schreckte Fischer mit geweiteten Augen und offenem Mund hoch, aber das Tuten wollte nicht aufhören. Als er die Schlafbrille abzog, begriff er allmählich, dass sein Handy auf dem Designer-Nachttisch klingelte und vibrierend tanzte, fuhr sich mit den Händen über die leicht verquollenen Augen, ärgerte sich über sich selbst, dass er ausgerechnet dieses Tuten als neuen Klingelton gewählt hatte, blickte auf den Wecker, was seine Miene weiter verdüsterte, und nahm das Gespräch an.
Es war Verena Hälble, die leitende Kommissarin in Rottweil, was, wenn es möglich gewesen wäre, seine Laune noch weiter gesenkt hätte. Verena Hälble war nämlich nicht nur seine um zwei Jahre jüngere Vorgesetzte, sie war auch trotz bereits sechswöchiger Bemühungen seit seiner Ankunft in Spaichingen seinem grandiosen Charme noch nicht erlegen.
Und nicht nur das, sie hatte immer das letzte Wort - und das war meist auch noch ein kluges, wie er sich verdrossen eingestehen musste
»Thorben, genug geschnarcht, Manfred Engel liegt tot auf dem Dreifaltigkeitsberg, ist vom Turm der Kapelle gestürzt. Ich hole dich in 11 Minuten und 27 Sekunden vor deiner Haustüre ab.« Das war typisch Hälble. Seit ihrer Schulzeit am Gymnasium in Spaichingen - und später am Immanuel-Kant-Gymnasium in Tuttlingen, wegen schlechter Noten, aber das war ein anderes Kapitel - wettete sie mit sich selbst um die Dauer aller Wegstrecken. Egal ob mit dem Auto, dem Fahrrad oder zu Fuß - sie wettete um ein Stück Kuchen oder ein süßes Stückle. Nachdem sie aber viel zu oft gegen sich gewonnen hatte und die vielen Kuchen und süßen Stückle langsam sichtbare Ablagerungen zeigten, hatte sie im letzten Jahr begonnen, zu den Minuten noch die Sekunden dazuzunehmen, was die Anzahl des gewonnenen Backwerks deutlich reduzierte, damit aber auch ihr Gewicht und die Freundlichkeit ihres Bäckers.
Nach 11 Minuten und 31 Sekunden kreuzte Verena Hälble vor Fischers Wohnung auf.
So ein Mist, wenn ich nicht hinter diesem blöden Lastwagen gehangen hätte!, dachte sie gerade, als auch schon Thorben Fischer die Beifahrertür öffnete und einstieg.
Hälble rümpfte die Nase. »Thorben, hast du wieder in diesem unsäglichen Rasierwasser gebadet?« Der Kälte des frühen Novembermorgens zum Trotz drückte sie mit beiden Händen auf sämtliche Knöpfe ihrer Fensterheber.
Fischer war geschniegelt und gebügelt. Der blonde Hüne mit der weichen Haarwelle über der Stirn, die er gerne effektvoll zurückstrich, trug schwarze Budapester, eine dunkelgraue Wollhose bester Provenienz, die ein Armani- Gürtel an den schlanken Hüften hielt. Darüber ein blütenweißes Hemd, um seinen Hals war ein cremefarbener Seidenschal mit Paisley-Muster in den Hemdkragen geschlungen. Es folgte ein kariertes Tweed-Jackett mit Lederbesatz
und -knöpfen und ein schwarzer Paletot aus vielen Metern feinstem Kaschmir, der jedem Startenor zur Ehre gereicht hätte.
Verena dagegen hatte sich schnell in ihre Jeans und die bequemen Timberland-Boots geworfen, einen hellblauen Rollkragen-Pullover darüber gezogen und war in ihre Daunenjacke geschlüpft.
Sie legte den Gang ein, fuhr in hohem Tempo die Gartenstraße entlang und bog dann in die Dreifaltigkeitsstraße ein, die direkt zum Kloster führte.
Keine zehn Minuten zuvor war die morgendliche Ruhe auf dem Berg einer hektischen Betriebsamkeit gewichen. Mittlerweile war es kurz nach sechs und die Sonne begann so langsam, die Schatten der Nacht aus dem Tal zu fegen. Nur wenige Bürger sahen die Prozession aus Blaulichtern, die sich den Berg hinaufschlängelte. Dem Notarztwagen folgten die beiden Streifenwagen der Spaichinger Wache. Dahinter fuhr der Feuerwehrkommandant in dem erst vor einem halben Jahr angeschafften knallroten Passat. Den Schluss bildete der Krankenwagen, an dessen Steuer ein mit der Müdigkeit kämpfender DRK-Mann saß.
Der Färber-Bauer verdrehte die Augen, als er die Blaulichtkolonne an seinem Hof vorbeirasen sah. Missmutig klatschte er das Heu in die Schubkarre, um die Kühe zu füttern. »So, hett sich au mol wieder ein Jogger sein Glenk verrenkt«, brummte der Färber. »Sälbr schuld, koin Mensch muss uff den Berg renna.« Ihm waren, wie vielen alteingesessenen Spaichingern, die Sportler, welche den Berg und besonders den Prozessionsweg durch den Wald zum Training nutzten, suspekt. Warum führte eine bequeme Straße zum Kloster und der benachbarten Gaststätte? Eben! Aber hätte der Bauer geahnt, dass kein verunglückter Jogger Ziel von Polizei und Arzt waren - sicher hätte er seine Mistgabel in die Ecke geschmissen und sich mit seinem Traktor auf den Weg zum Kloster gemacht.
Als Hälble und Fischer auf dem Berg ankamen, sahen sie schon von Weitem die Gruppe unterhalb des Turmes, deren äußerer Ring die entsetzt gestikulierenden Brüder in ihren dunklen Kutten bildete. Polizeimeister Eugen Weckerle war gerade dabei, die Unglücksstelle mit einem Band abzusperren,
als er die beiden Kommissare erkannte und zur Kapelle durchließ, was Verena mit einem »Grüß Gott, Weckerle« und Thorben mit einem knappen »Tach« beantworteten. Weckerle quittierte Letzteres wiederum mit einem nicht sehr freundlichen Stirnrunzeln und einem leise gemurmelten »Fischkopf.«
Thorben Fischers bisherige Stationen waren in Kiel, Hamburg, Bremen und Bremerhaven gewesen und überall hatte er eine Exfreundin hinterlassen. Er hatte es sich angewöhnt, nach einer Trennung lieber die Stadt zu wechseln und nicht seine schlechten Gewohnheiten, wie zum Beispiel, sich neben jeder Freundin mindestens noch eine Geliebte zu halten oder sich zu Hause als Pantoffelheld aufzuführen. Als dann nach seiner vierten gescheiterten Beziehung rund um seine Heimatstadt Husum die norddeutschen Großstädte knapp wurden, entschloss er sich, sein Glück im Süden zu suchen.
Fischers kurzes Gastspiel im Stuttgarter Polizeirevier Süd endete allerdings bereits nach wenigen Wochen mit einem kleinen Eklat: Als Carlo Guiccetti, genannt Carletto il Diavolo, der leutselige Besitzer mehrerer italienischer Restaurants in der Stuttgarter Innenstadt mit absolut zu vernachlässigenden Kontakten zur Mafia, wegen Drogenhandels in größerem Stil nach einem Überraschungscoup der Polizei im Stuttgarter Hafen frühmorgens in seinem Haus festgenommen wurde, fand man Fischer bei der anschließenden Durchsuchung von Guiccettis Wohnhaus im ersten Stock. Im Zimmer von Carlos Tochter. Mit der Tochter, aber ohne Kleider. Papa Carletto war auf einmal gar nicht mehr leutselig und stieß eine Kakofonie italienischer Verwünschungen gegen Fischer und seine Tochter aus.
Der Stuttgarter Polizeipräsident war jedoch die Ruhe in Person und empfing Fischer, kurz nachdem er wieder in seine Dolce & Gabbana Unterhose geschlüpft war, lediglich mit den Worten: »Sie gehen jetzt nach Tuttlingen, der Metzler ist im Krankenhaus gelandet und der Hälble traue ich zu, Sie zu verkraften. Gute Reise, Herr Fischer.«
Das Tuttlinger Präsidium, ein moderner Glasbau mit einer überlebensgroßen Fuchsstatue vor dem Haupteingang, hatte dem Nordlicht schon gefallen. Und auch Tuttlingen, das schmucke Donaustädtchen, hatte es Fischer angetan. Er mietete sich ein winziges Kämmerchen für einen Preis, der Hamburg alle Ehre gemacht hätte. Aber das renovierte Fachwerk direkt am Donauufer war nun einmal beste Lage - quasi einen Steinwurf entfernt vom Kinopalast, dem Irish Pub und einer sensationellen Weinstube. ›Der Metzler‹ wurde allerdings gesund, noch ehe Thorben seinen ersten Dienst in der Tuttlinger Wache antreten konnte. Stattdessen schickten die Kollegen ihn in die Spaichinger Zweigstelle, die ›Zwergstelle‹, wie Fischer sie nannte. Das schmucke Apartment gab er auf und tauschte es gegen eine gesichtslose Zweizimmerwohnung in der Gartenstraße. Immerhin war die doppelt so groß, aber nur halb so teuer. Fischer grummelte vor sich hin, als er die Szenerie auf dem Dreifaltigkeitsberg betrachtete. Zu gerne wäre er jetzt durch die Tuttlinger Fußgängerzone geschlendert, auch wenn es dort mehr Optik- und Handyläden gab als Einwohner.
Verena Hälble trat auf Pater Pius zu, der sich mit seinem Taschentuch die Blutspritzer im Gesicht mehr schlecht als recht weggewischt hatte.
»Lieber Pater Pius, Sie sehen ja wirklich furchtbar aus! Nach den Laudes, so gegen 5.30 Uhr sagen Sie? Ruhen Sie sich doch bitte erst einmal aus, wir machen hier weiter. Bruder Johannes, helfen Sie doch Pater Pius und bringen Sie ihm um Gottes willen, oh Entschuldigung Pater Pius, bringen Sie ihm einen starken Kaffee und sorgen Sie dafür, dass er eine saubere Kutte bekommt! Und - Bruder Johannes, die befleckte Kutte geben Sie bitte dem Kollegen Weckerle.«
Als sich Verena von Pater Pius, der ihr Religionslehrer im Spaichinger Gymnasium gewesen war, wegdrehte und der Leiche zuwandte, erhob sich Dr. med. Prätorius, der Notarzt.
»Also, Frau Hälble, do brauche mr oigentlich koi Obduktion. Dr Engel isch sofort mausetot gwäsa und s'isch ganz klar, dass'r gegen 5.30 Uhr ohne Schubumkehr vom Turm hier aufm Kies glandet isch. Traumata multipla, Genickbruch, Bruch der Pars occipitalis cranii und wahrscheinlich Schädelbasisbruch, wie die postmortale Blutung in den Nasen-Rachenraum vermuda lässd.«
»Danke Dr. Prätorius, wenn Sie fertig sind, lassen Sie den Herrn Engel aber bitte doch zur Obduktion nach Tübingen bringen.« Dann wandte sie sich an Polizeiobermeister Weckerle.
»Axel, hast du schon die Kollegen der Spurensicherung gerufen? Prima, danke. Sag den Kollegen, sie sollen auch die Kapelle und vor allem den Turm, den Treppenaufgang, die Plattform und das Geländer untersuchen, ich will bis um 12 Uhr einen ersten Bericht. Thorben, bitte befrag du ein erstes Mal kurz alle Brüder, die im Gottesdienst waren, wir treffen uns in einer halben Stunde am Auto, ich gehe jetzt zu Pater Pius. Danach müssen wir gleich Marlies Engel einen Besuch abstatten und ihr die traurige Nachricht überbringen, bevor die überschallschnellen Spaichinger Spatzen den Tod Engels von allen Dächern pfeifen.«
An die unvermeidliche Pressekonferenz mochte Verena Hälble jetzt noch gar nicht denken.
Hier ist Radio Donauwelle, euer Sender für den Kreis Tuttlingen! Für euch am Mikro ist euer Steven, der Morgenmann. Leute, dreht die Heizung auf, da draußen ist es frostig. Auf dem Weg ins Studio hätte ich mir die Mütze auf die Ohren gewünscht, die ich zu Hause vergessen hab.
Ein Hinweis von unserem Werbepartner Optik Suttner: Heute gibt es 20 Prozent Rabatt auf alle Brillengestelle!
Unser Hörer Ralf aus Balgheim lädt alle Frostbeulen, 'tschuldigung, Nordic Walker zum Lauftreff ein. Um zehn geht's bei der Kirche los. Wagemutige können den Barfußpfad nehmen.
Noch ein Hinweis an alle Autofahrer: Am Aesculap-Kreisel hat's gekracht. Außer Blechschaden ist nichts passiert, Stau gibt's trotzdem in Richtung Bahnhof.
Jetzt ein Hörerwunsch von Elke aus Hausen: ›Riders in the Storm‹ von den Doors. Sie grüßt ihren Mann, der mit einem zertrümmerten Zeh im Krankenhaus liegt.
»Kein Anzeichen von Gewalt«, sagte Prätorius in gepflegtem Hochdeutsch. »Keine absonderlichen Schürfwunden, keine Hämatome, keine Kampfspuren.« Der Mann war eigentlich Anästhesist im Kreisklinikum und hatte in der Nacht den Notdienst geleitet. Deswegen war auch er zum Unfallort gerufen worden. Doch Prätorius hatte mit Mühe das Zittern seiner Hände unterdrücken können, als er die Leiche des Bürgermeisters untersuchte. Erstens lagen 18 Stunden Dienst hinter ihm (drei Herzinfarkte, zwei davon eingebildet, eine gebrochene Hüfte, ein beim Holzhacken versehentlich abgetrennter linker Daumen) und zweitens lag vor ihm der Bürgermeister. Tot. Für den gebürtigen Spaichinger eine Nummer zu groß. »Aber so kann ich dazu auch nicht viel sagen, da muss schon ein Pathologe ran.«
Hilflos blickte der Mediziner von Verena Hälble zu Thorben Fischer und wieder zurück.
»Über den Todeszeitpunkt herrscht ja immerhin Einigkeit«, konstatierte Fischer und nestelte an seinem seidenen Halstuch. »Die heilige Dreieinigkeit, sozusagen.« Er grinste und entblößte dabei seine frisch gebleichten Zähne.
»Ich denke, der Leichnam kann ins Tal geschafft werden«, unterbrach Verena Hälble ihren Kollegen. »Die Tübinger Gerichtsmedizin wird uns Näheres sagen können.« Der Anästhesist atmete sichtlich auf und drängte sich durch den Kreis der umstehenden Patres zum Wagen. Kurz darauf brummte der Motor und der SanKa schlängelte sich den Berg hinab.
Verena Hälble nickte Pater Pius zu, der sich ihr zuwandte, als zwei Mitarbeiter vom Bestattungshaus Schwarz einen silbernen Sarg aus ihrem Wagen hievten.
»Wie im Fernsehen, da kommen sie auch immer mit der Zinkwanne«, sagte Pius und streckte Verena Hälble die Hand hin. »Aber leider ist das hier alles echt.« Die Kommissarin schlug in Pius' Hand ein. Die Finger des Paters waren eiskalt. »Wie geht es Ihnen?« Verena Hälble hätte den
Pater am liebsten in den Arm genommen - so hatte sie ihn noch nie gesehen. Vor etwas mehr als 20 Jahren, Pius war ein Mann im besten Alter und Verena eine zickige Drittklässlerin gewesen, hatte der Pater ihr die Erstkommunion abgenommen. Seitdem hatten sich ihre Wege immer wieder gekreuzt -mal im Beichtstuhl, mal bei einem gemütlichen Glas Bier auf der Sommerterrasse vor der Klosterschenke. Der Bürgermeister und Pius Vater hatten nichts gemeinsam, doch die Art, wie die Gliedmaßen verdreht waren, katapultierte Pius zurück zu jenem Tag seiner Kindheit, an dem der Vater Zwetschgen ernten wollte. Die Geschichte war schnell erzählt: Die Leiter war morsch, der oberste Tritt brach und der Vater überlebte den Sturz nicht. Verdaut hatte Pius das bis heute nicht.
»Mir geht es gut, aber Pater Sunil hat wohl einen mächtigen Schreck bekommen.« Pius deutete auf die Gestalt mit der milchkaffeefarbenen Haut, die auf der Bank neben dem Aussichtsfernrohr hockte und vor sich hin starrte.
»Fischer, Kriminalhauptkommissar«, drängte Thorben sich zwischen die beiden.
»Darf ich vorstellen? Mein Kollege.« Mittlerweile hatten Verenas Augen innerlich schon ein paar Umdrehungen hinter sich, als Fischer sich wie ein Pfau vor dem Pater aufplusterte.
»So, Sie waren also direkter Zeuge des Falls, des Runter- Falls«, polterte Fischer und grinste. Verena Hälble hoffte, dass der Pater noch zu geschockt war, um die unmöglichen Wortspiele des Kollegen zu verstehen.
»Ja, so ist es, Herr Fischer, der Herr Engel ist sozusagen direkt vor meinen Füßen gelandet.« Pius seufzte innerlich und rief seinen Herrgott um Geduld mit diesem Kommissar an.
»Ich denke, wir sollten den Patres Zeit geben und erst später mit den Befragungen beginnen«, ging Verena Hälble dazwischen. Sie hatte die Ratlosigkeit der Männer bemerkt und ahnte, dass diese sich nun erst einmal zum stillen Gebet zurückziehen wollten. Und richtig - der dankbare Blick von Pius gab ihr recht.
»Ja, aber, die Personalien ...«, stammelte Fischer. »Ich mein, das ist doch ein ganz heißer Fall hier, haha, ein Fall von einem Fall ... und dazu der Bürgermeister ...« Innerlich verdrehte Verena Hälble wiederholt die Augen. Äußerlich bemühte sie sich um Ruhe.
»Ob hier der Herr Engel oder der Herr Merkt, Herr Hafen oder sonstwer vom Turm gestürzt ist - wir sind immer noch in einem Kloster und da sollten auch wir Rücksicht nehmen!«, zischte sie.
Fischer, einen derartigen Ton von einer Frau nicht gewohnt, wich einen Schritt zurück. »Ich denke, Frau Kollegin, ich werde mich mal auf den Weg in die Gerichtsmedizin machen.« Er machte auf dem Absatz seiner Maßschuhe kehrt, sodass der Kies knirschte.
Pius klopfte Verena Hälble auf die Schulter. »Du machst das schon«, flüsterte er. »Ich bete für dich.«
»Danke, Pater Pius«, erwiderte Verena. »Ich werde erst einmal zu Frau Engel fahren. Sie wird noch nichts wissen.«
»Ich denke an dich bei diesem schweren Gang«, versicherte Pius, innerlich froh, dass sie ihn nicht um seine Begleitung bat. So sehr er sich auch der Seelsorge verschrieben hatte - das Gespräch mit Trauernden zählte zu den Dingen seiner Mission, die ihm am wenigsten behagten.
© Gmeiner
Pater Pius fröstelte, als er sich mit einem tiefen Seufzen aus dem Bett schälte. Der Digitalwecker auf seinem Nachttisch piepste penetrant. Die roten Leuchtziffern zeigten ›4:45‹ an. Pius tastete nach der Austaste. Himmlische Ruhe breitete sich in der Klosterzelle aus. Am liebsten hätte der Pater sich wieder in die Kissen zurückfallen lassen. Obwohl er nun schon seit über 30 Jahren im Brüderlichen Orden lebte - an das Aufstehen zu nachtschlafender Stunde hatte er sich nie gewöhnt.
Pius knipste die kleine Lampe an, die neben dem Bett stand. Im Schein der Funzel erkannte der Pater den Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand. Den Stuhl, auf den er am Vorabend achtlos seine Kutte geworfen hatte. Von der Zimmerecke lächelte ihm mit gequälter Miene die hölzerne Figur des Herrn Jesus Christus am Kreuz zu.
»Du bist auch noch müde, gell?«, murmelte Pius und nickte dem Kruzifix zu. Dann schlüpfte er in die Pantoffeln, die vor dem schmalen Bett standen. Seine Knie schienen zu knirschen und zu ächzen, als er sich schließlich erhob. Der Pater brummte grimmig - musste der liebe Herrgott ihn jeden Morgen mit einem Zipperlein begrüßen und ihn so an seine 63 Lebensjahre erinnern?
»Dein Vater, Herr Jesus, kann grausam sein«, dachte der Pater laut, und erschrak sogleich ob seiner Anmaßung. Schnell bekreuzigte er sich und bat den Herrgott im Stillen um Verzeihung. Für einen Moment fühlte er sich wieder wie der kleine Junge, der der Mutter widersprochen hatte. Sie würde es dem Vater sagen und der würde ihn oder seinen Bruder am Abend zur Rede stellen. Oder die Hand erheben, sodass ihm, dem kleinen Jungen, nur die Flucht in seine Traumwelt blieb. Und der Blick zum Kruzifix an der Wand des Wohnzimmers. Der hölzerne Heiland lächelte. Immer. Auch dann, wenn der Vater schimpfte. Pius rieb sich die Augen, um den letzten Schlaf zu vertreiben.
Vom Gang her drang ein schlurfendes Geräusch herein.
»Der gute Josef ist wieder der Erste«, brummte Pius und schälte sich aus seinem Schlafanzug. Sein Blick fiel auf seine Silhouette, die sich im Fenster spiegelte. Draußen war es stockfinstere Nacht und der Pater konnte nur erahnen, wo der Turm der Dreifaltigkeitsberg-Kirche in den Himmel ragte. Seit der Gemeinderat von Spaichingen auf Sparkurs gegangen war, durfte das Kreuz aus Neonröhren, welches auf der Turmspitze prangte und den Gläubigen und anderen Menschenkindern in Dunkelheit den Weg zum Berg wies, nur noch bis Mitternacht brennen.
Pius schlüpfte in seine Kutte und warf einen kurzen Blick auf seinen Schreibtisch. Briefe - die meisten ungeöffnet - und Bücher stapelten sich zu chaotischen Türmen, die jeden Moment in sich zusammenzustürzen drohten.
»Warum steigst du nicht herab und sagst den Menschen, sie sollen weniger schreiben?«, flüsterte Pius dem Kruzifix zu. »Dann hätte ich mehr Zeit für die Seelsorge selbst.« Pius wartete nicht auf eine Antwort. Manchmal, wenn er ganz ruhig war, schickte ihm dieser Christus dort aus der Zimmerecke Gedanken und Eingebungen. Doch zu so früher Stunde schien auch das Kruzifix noch zu schlafen.
Pius ging zum Waschbecken, das hinter einem Vorhang verborgen in der Zimmerecke angebracht war. Rasch putzte er sich die Zähne und wusch sein Gesicht mit eiskaltem Wasser. Das Handtuch kratzte an den Bartstoppeln, doch für eine Rasur blieb ihm keine Zeit mehr. In drei Minuten würden die Glocken zur Laudes läuten. Der Pater nahm den hölzernen Rosenkranz vom Wandhaken und legte ihn sich im Hinausgehen um den Hals. Dann hastete er den spärlich beleuchteten Gang entlang, die drei Treppen hinunter, durch den unbeheizten Flur und hinaus auf den Hof.
Sein Atem puffte in kleinen Wölkchen aus dem Mund, als Pius über den Kiesweg zur Kirche eilte. Die schwere Tür am Seitenschiff knarzte, als er sie öffnete und in das von Altarkerzen spärlich beleuchtete Kircheninnere trat. Seine Finger tauchten in das eisige Weihwasserbecken. Pater Pius bekreuzigte sich, machte einen Kniefall vor dem Altar und ließ sich in die Bank gleiten.
Neben ihm saß Pater Josef, das Gesicht tief über die gefalteten Hände gebeugt. Der Bruder Pförtner strömte den säuerlichen Geruch des Schlafes aus. Pius unterdrückte mit Mühe ein Gähnen. Josef nickte ihm stumm zu. Pius neigte sein Haupt. Unter den halb geschlossenen Lidern machte er die Gestalten der Brüder aus. Johannes, der sicher im Geiste schon die Zutaten für das Mittagessen durchging. Ortwin, der gleich nach dem Frühstück nach Spaichingen fahren würde, um eine vierte Klasse der Rupert-Mayer-Schule zu unterrichten. Bruder Sunil, der unter seiner Kutte einen dicken, kratzigen Pullover trug und dennoch jämmerlich fror - der Philippine mit den glänzenden schwarzen Augen war als Missionar nach Deutschland geschickt worden. Wie grotesk, dachte Pius. Schon paradox: Da kommt ein Spätmissionierter aus einem Entwicklungsland und missioniert nun seine ehemaligen Missionare, weil die das Glauben verlernt haben. Pater Pius kniff die Augen und den Mund zusammen. Ein Kichern drängte seine Kehle hinauf, als er an die Scherze dachte, die die Brüder vor Sunils Ankunft wegen dessen Namen gemacht hatten. »Wenn einer heißt wie ein Waschmittel, der muss ja eine weiße Weste haben«, erinnerte Pius sich an einen der Sprüche. Mit Mühe schaffte er es, nicht zu grinsen, als er sich schließlich erhob, aus der Bank rutschte und zum Altar nach vorne ging. Den Rücken den Brüdern zugewandt und noch immer ein Lächeln auf den Lippen, begann er, die Frühmesse zu lesen. Bald schon hüllten die Klänge der Orgel, wie immer gespielt von Pater Wolfgang, und die ewig gleichen Gebetsformeln seinen Geist ein. Pius versank im Gebet und mit jedem Atemzug, den er tat, wurde er wacher. Der Pater ließ sich von den Psalmen tragen und spürte, wie die Kraft, welche der Glauben und die Gemeinschaft ihm gaben, sein Herz erfüllte.
Doch anders als an anderen Tagen durchflutete ihn heute keine Welle der Ruhe. Ihm war, als surrten Schmetterlinge durch seinen Kopf. Nervöses Flügelschlagen vibrierte in seinem Magen. Pius wurde unruhig - und konnte doch nicht fassen, warum.
Mit Mühe gelang es ihm, die 20 Minuten bis zum Ende der Laudes am Altar zu stehen, ohne von einem Bein auf das andere zu treten. Hatte er etwas vergessen? Wartete eine unangenehme Aufgabe auf ihn? War diese Woche die Pfarrvertretung in Tuttlingen oder erst nächste? Hatten sich Besucher angekündigt? Pius' Gedanken flogen, ohne zu erfassen, was ihn so nervös machte. Als er schließlich mit einem kräftigen »Amen« die Frühmesse beendete und als Erster aus der Kirche hinaus in den dämmernden Morgen trat, gelang es ihm, seine Unruhe wegzuwischen. Unten im Tal flammten in den Häusern die ersten warmgelben Lichter auf. Spaichingen erwachte langsam aus dem Schlaf der Kleinstadt. Die Mütter weckten die Kinder, welche in einer Stunde in der Schule sein mussten. Die ersten Väter verließen das Haus, um in der Maschinenfabrik oder beim Nudelmacher ihren Platz an den Maschinen einzunehmen.
Von Ferne ratterte der Ringzug aus Tuttlingen heran. Die schwachen Lichter aus den beiden Waggons schlängelten sich wie ein Lindwurm entlang der Prim.
Pius fuhr herum, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte.
»Frierst du nicht?«, fragte Sunil. Die schwarzen Augen des Paters blitzten über der schnupfentriefenden Nase.
»Ich nicht, aber du solltest ins Haus gehen«, antwortete Pius und klopfte dem Bruder auf die Schulter. »So schön der Blick von hier oben auch sein mag - das angenehme Klima deiner Heimat haben wir hier nicht.«
Sunil lächelte gequält. »Nein, an diese Kälte werde ich mich nie gewöhnen. Da helfen auch all die Pullover nicht, die mir die Damen vom Bibelkreis stricken.«
»Dir stricken sie immerhin Pullover aus guter Wolle, ich werde nur mit kratzenden Socken versorgt.« Pius lachte schallend - und schrie dann erschrocken auf: Mit einem dumpfen Klatschen knallte etwas Großes, Schwarzes auf den Boden vor seinen Füßen. Heiße Flüssigkeit spritzte in sein Gesicht. Pater Sunil quietschte wie ein geschlagenes Tier und sprang zur Seite. Pius riss die Augen auf - vor ihm auf dem Kies lag der Körper eines Mannes.
Ungläubig blickte der Pater vom Leib auf dem Boden zum Kirchturm hinauf und wieder zurück. Atemlose Sekunden verrannen, bis Pius sich wie ferngesteuert auf die Knie sinken ließ. Seine Hände zitterten, als er den Rücken des Mannes berührte. Dessen Schulter, die Arme. Unter dem Kopf, der mit dem Gesicht nach unten lag, sickerte Blut hervor und färbte die weißen Kiesel rot. Pius tastete nach dem Hals des Mannes. Suchte die Schlagader. Hoffte auf ein Pulsieren. Doch da war nichts.
»Oh mein Gott.« Sunil stöhnte und ließ sich auf den Boden sinken. Der Pater barg das Gesicht in den Händen.
In dem Moment, als Pius an den Schultern des Mannes ruckte und den Leichnam auf den Rücken drehte, traten die Mitbrüder aus der Kirchenpforte. Irgendwo krächzte ein Vogel. Der Kies knirschte leise, als der Tote auf dem Rücken zu liegen kam. Pius öffnete den Mund, doch es entwich kein Schrei. Der Pater starrte in das verunstaltete Gesicht von Manfred Engel. Der Bürgermeister glotzte aus hohlen, toten Augen zurück.
Hier ist Radio Donauwelle, euer Sender für Tuttlingen!
Am Mikrofon ist noch immer eure Nachteule Regina. Eben kommt eine Pressemitteilung aus dem Rathaus herein. Alle Achtung, die Tuttlinger Beamten machen Frühschicht! Ah ja ... das ist ein Hinweis, dass ab sofort der Vorverkauf für den Honbergsommer startet. Sag ich doch, Frühaufsteher picken die besten Körner. Mein Tipp an euch: Verschenkt doch Karten für den genialen Tim Fischer oder die Abba- Coverband zu Weihnachten!
Ich geh dann mal nach Hause. Draußen am Regler steht schon Kollege Steven, um euch durch den Morgen zu begleiten. Steven, Schätzchen, koch Kaffee, du siehst müde aus.
Ein Hinweis an die Autofahrer: In Rietheim steht noch immer ein Blitzer in Höhe der alten Tankstelle.
Das war's von mir für diese Nacht. Macht euch einen tollen Tag! Für alle, die eben aus dem Bett krabbeln, kommen hier die legendären Wham mit ›Wake me up, before you gogo‹.
Kommissar Thorben Fischer lag, in dicke Daunen gebettet, auf dem Rücken und ging seiner nächtlichen Lieblingsbeschäftigung nach - er schnarchte. Und zwar immer so lange, bis er, lauter werdend, selbst davon erwachte, sich unwirsch und mit einem Ruck auf die Seite warf und wieder einschlummerte.
Gerade hatte sich dies zum neunten Mal in dieser Nacht wiederholt und er war im Halbschlaf wieder beim Segeln am Bodensee angelangt, als plötzlich die Schiffssirene ertönte. ›Tut-tuuut‹. Wie aus dem Nichts kam der Bodenseedampfer direkt auf ihn und seine kleine Jolle zu und ließ unaufhörlich die Sirene hören. Kurz vor der Kollision schreckte Fischer mit geweiteten Augen und offenem Mund hoch, aber das Tuten wollte nicht aufhören. Als er die Schlafbrille abzog, begriff er allmählich, dass sein Handy auf dem Designer-Nachttisch klingelte und vibrierend tanzte, fuhr sich mit den Händen über die leicht verquollenen Augen, ärgerte sich über sich selbst, dass er ausgerechnet dieses Tuten als neuen Klingelton gewählt hatte, blickte auf den Wecker, was seine Miene weiter verdüsterte, und nahm das Gespräch an.
Es war Verena Hälble, die leitende Kommissarin in Rottweil, was, wenn es möglich gewesen wäre, seine Laune noch weiter gesenkt hätte. Verena Hälble war nämlich nicht nur seine um zwei Jahre jüngere Vorgesetzte, sie war auch trotz bereits sechswöchiger Bemühungen seit seiner Ankunft in Spaichingen seinem grandiosen Charme noch nicht erlegen.
Und nicht nur das, sie hatte immer das letzte Wort - und das war meist auch noch ein kluges, wie er sich verdrossen eingestehen musste
»Thorben, genug geschnarcht, Manfred Engel liegt tot auf dem Dreifaltigkeitsberg, ist vom Turm der Kapelle gestürzt. Ich hole dich in 11 Minuten und 27 Sekunden vor deiner Haustüre ab.« Das war typisch Hälble. Seit ihrer Schulzeit am Gymnasium in Spaichingen - und später am Immanuel-Kant-Gymnasium in Tuttlingen, wegen schlechter Noten, aber das war ein anderes Kapitel - wettete sie mit sich selbst um die Dauer aller Wegstrecken. Egal ob mit dem Auto, dem Fahrrad oder zu Fuß - sie wettete um ein Stück Kuchen oder ein süßes Stückle. Nachdem sie aber viel zu oft gegen sich gewonnen hatte und die vielen Kuchen und süßen Stückle langsam sichtbare Ablagerungen zeigten, hatte sie im letzten Jahr begonnen, zu den Minuten noch die Sekunden dazuzunehmen, was die Anzahl des gewonnenen Backwerks deutlich reduzierte, damit aber auch ihr Gewicht und die Freundlichkeit ihres Bäckers.
Nach 11 Minuten und 31 Sekunden kreuzte Verena Hälble vor Fischers Wohnung auf.
So ein Mist, wenn ich nicht hinter diesem blöden Lastwagen gehangen hätte!, dachte sie gerade, als auch schon Thorben Fischer die Beifahrertür öffnete und einstieg.
Hälble rümpfte die Nase. »Thorben, hast du wieder in diesem unsäglichen Rasierwasser gebadet?« Der Kälte des frühen Novembermorgens zum Trotz drückte sie mit beiden Händen auf sämtliche Knöpfe ihrer Fensterheber.
Fischer war geschniegelt und gebügelt. Der blonde Hüne mit der weichen Haarwelle über der Stirn, die er gerne effektvoll zurückstrich, trug schwarze Budapester, eine dunkelgraue Wollhose bester Provenienz, die ein Armani- Gürtel an den schlanken Hüften hielt. Darüber ein blütenweißes Hemd, um seinen Hals war ein cremefarbener Seidenschal mit Paisley-Muster in den Hemdkragen geschlungen. Es folgte ein kariertes Tweed-Jackett mit Lederbesatz
und -knöpfen und ein schwarzer Paletot aus vielen Metern feinstem Kaschmir, der jedem Startenor zur Ehre gereicht hätte.
Verena dagegen hatte sich schnell in ihre Jeans und die bequemen Timberland-Boots geworfen, einen hellblauen Rollkragen-Pullover darüber gezogen und war in ihre Daunenjacke geschlüpft.
Sie legte den Gang ein, fuhr in hohem Tempo die Gartenstraße entlang und bog dann in die Dreifaltigkeitsstraße ein, die direkt zum Kloster führte.
Keine zehn Minuten zuvor war die morgendliche Ruhe auf dem Berg einer hektischen Betriebsamkeit gewichen. Mittlerweile war es kurz nach sechs und die Sonne begann so langsam, die Schatten der Nacht aus dem Tal zu fegen. Nur wenige Bürger sahen die Prozession aus Blaulichtern, die sich den Berg hinaufschlängelte. Dem Notarztwagen folgten die beiden Streifenwagen der Spaichinger Wache. Dahinter fuhr der Feuerwehrkommandant in dem erst vor einem halben Jahr angeschafften knallroten Passat. Den Schluss bildete der Krankenwagen, an dessen Steuer ein mit der Müdigkeit kämpfender DRK-Mann saß.
Der Färber-Bauer verdrehte die Augen, als er die Blaulichtkolonne an seinem Hof vorbeirasen sah. Missmutig klatschte er das Heu in die Schubkarre, um die Kühe zu füttern. »So, hett sich au mol wieder ein Jogger sein Glenk verrenkt«, brummte der Färber. »Sälbr schuld, koin Mensch muss uff den Berg renna.« Ihm waren, wie vielen alteingesessenen Spaichingern, die Sportler, welche den Berg und besonders den Prozessionsweg durch den Wald zum Training nutzten, suspekt. Warum führte eine bequeme Straße zum Kloster und der benachbarten Gaststätte? Eben! Aber hätte der Bauer geahnt, dass kein verunglückter Jogger Ziel von Polizei und Arzt waren - sicher hätte er seine Mistgabel in die Ecke geschmissen und sich mit seinem Traktor auf den Weg zum Kloster gemacht.
Als Hälble und Fischer auf dem Berg ankamen, sahen sie schon von Weitem die Gruppe unterhalb des Turmes, deren äußerer Ring die entsetzt gestikulierenden Brüder in ihren dunklen Kutten bildete. Polizeimeister Eugen Weckerle war gerade dabei, die Unglücksstelle mit einem Band abzusperren,
als er die beiden Kommissare erkannte und zur Kapelle durchließ, was Verena mit einem »Grüß Gott, Weckerle« und Thorben mit einem knappen »Tach« beantworteten. Weckerle quittierte Letzteres wiederum mit einem nicht sehr freundlichen Stirnrunzeln und einem leise gemurmelten »Fischkopf.«
Thorben Fischers bisherige Stationen waren in Kiel, Hamburg, Bremen und Bremerhaven gewesen und überall hatte er eine Exfreundin hinterlassen. Er hatte es sich angewöhnt, nach einer Trennung lieber die Stadt zu wechseln und nicht seine schlechten Gewohnheiten, wie zum Beispiel, sich neben jeder Freundin mindestens noch eine Geliebte zu halten oder sich zu Hause als Pantoffelheld aufzuführen. Als dann nach seiner vierten gescheiterten Beziehung rund um seine Heimatstadt Husum die norddeutschen Großstädte knapp wurden, entschloss er sich, sein Glück im Süden zu suchen.
Fischers kurzes Gastspiel im Stuttgarter Polizeirevier Süd endete allerdings bereits nach wenigen Wochen mit einem kleinen Eklat: Als Carlo Guiccetti, genannt Carletto il Diavolo, der leutselige Besitzer mehrerer italienischer Restaurants in der Stuttgarter Innenstadt mit absolut zu vernachlässigenden Kontakten zur Mafia, wegen Drogenhandels in größerem Stil nach einem Überraschungscoup der Polizei im Stuttgarter Hafen frühmorgens in seinem Haus festgenommen wurde, fand man Fischer bei der anschließenden Durchsuchung von Guiccettis Wohnhaus im ersten Stock. Im Zimmer von Carlos Tochter. Mit der Tochter, aber ohne Kleider. Papa Carletto war auf einmal gar nicht mehr leutselig und stieß eine Kakofonie italienischer Verwünschungen gegen Fischer und seine Tochter aus.
Der Stuttgarter Polizeipräsident war jedoch die Ruhe in Person und empfing Fischer, kurz nachdem er wieder in seine Dolce & Gabbana Unterhose geschlüpft war, lediglich mit den Worten: »Sie gehen jetzt nach Tuttlingen, der Metzler ist im Krankenhaus gelandet und der Hälble traue ich zu, Sie zu verkraften. Gute Reise, Herr Fischer.«
Das Tuttlinger Präsidium, ein moderner Glasbau mit einer überlebensgroßen Fuchsstatue vor dem Haupteingang, hatte dem Nordlicht schon gefallen. Und auch Tuttlingen, das schmucke Donaustädtchen, hatte es Fischer angetan. Er mietete sich ein winziges Kämmerchen für einen Preis, der Hamburg alle Ehre gemacht hätte. Aber das renovierte Fachwerk direkt am Donauufer war nun einmal beste Lage - quasi einen Steinwurf entfernt vom Kinopalast, dem Irish Pub und einer sensationellen Weinstube. ›Der Metzler‹ wurde allerdings gesund, noch ehe Thorben seinen ersten Dienst in der Tuttlinger Wache antreten konnte. Stattdessen schickten die Kollegen ihn in die Spaichinger Zweigstelle, die ›Zwergstelle‹, wie Fischer sie nannte. Das schmucke Apartment gab er auf und tauschte es gegen eine gesichtslose Zweizimmerwohnung in der Gartenstraße. Immerhin war die doppelt so groß, aber nur halb so teuer. Fischer grummelte vor sich hin, als er die Szenerie auf dem Dreifaltigkeitsberg betrachtete. Zu gerne wäre er jetzt durch die Tuttlinger Fußgängerzone geschlendert, auch wenn es dort mehr Optik- und Handyläden gab als Einwohner.
Verena Hälble trat auf Pater Pius zu, der sich mit seinem Taschentuch die Blutspritzer im Gesicht mehr schlecht als recht weggewischt hatte.
»Lieber Pater Pius, Sie sehen ja wirklich furchtbar aus! Nach den Laudes, so gegen 5.30 Uhr sagen Sie? Ruhen Sie sich doch bitte erst einmal aus, wir machen hier weiter. Bruder Johannes, helfen Sie doch Pater Pius und bringen Sie ihm um Gottes willen, oh Entschuldigung Pater Pius, bringen Sie ihm einen starken Kaffee und sorgen Sie dafür, dass er eine saubere Kutte bekommt! Und - Bruder Johannes, die befleckte Kutte geben Sie bitte dem Kollegen Weckerle.«
Als sich Verena von Pater Pius, der ihr Religionslehrer im Spaichinger Gymnasium gewesen war, wegdrehte und der Leiche zuwandte, erhob sich Dr. med. Prätorius, der Notarzt.
»Also, Frau Hälble, do brauche mr oigentlich koi Obduktion. Dr Engel isch sofort mausetot gwäsa und s'isch ganz klar, dass'r gegen 5.30 Uhr ohne Schubumkehr vom Turm hier aufm Kies glandet isch. Traumata multipla, Genickbruch, Bruch der Pars occipitalis cranii und wahrscheinlich Schädelbasisbruch, wie die postmortale Blutung in den Nasen-Rachenraum vermuda lässd.«
»Danke Dr. Prätorius, wenn Sie fertig sind, lassen Sie den Herrn Engel aber bitte doch zur Obduktion nach Tübingen bringen.« Dann wandte sie sich an Polizeiobermeister Weckerle.
»Axel, hast du schon die Kollegen der Spurensicherung gerufen? Prima, danke. Sag den Kollegen, sie sollen auch die Kapelle und vor allem den Turm, den Treppenaufgang, die Plattform und das Geländer untersuchen, ich will bis um 12 Uhr einen ersten Bericht. Thorben, bitte befrag du ein erstes Mal kurz alle Brüder, die im Gottesdienst waren, wir treffen uns in einer halben Stunde am Auto, ich gehe jetzt zu Pater Pius. Danach müssen wir gleich Marlies Engel einen Besuch abstatten und ihr die traurige Nachricht überbringen, bevor die überschallschnellen Spaichinger Spatzen den Tod Engels von allen Dächern pfeifen.«
An die unvermeidliche Pressekonferenz mochte Verena Hälble jetzt noch gar nicht denken.
Hier ist Radio Donauwelle, euer Sender für den Kreis Tuttlingen! Für euch am Mikro ist euer Steven, der Morgenmann. Leute, dreht die Heizung auf, da draußen ist es frostig. Auf dem Weg ins Studio hätte ich mir die Mütze auf die Ohren gewünscht, die ich zu Hause vergessen hab.
Ein Hinweis von unserem Werbepartner Optik Suttner: Heute gibt es 20 Prozent Rabatt auf alle Brillengestelle!
Unser Hörer Ralf aus Balgheim lädt alle Frostbeulen, 'tschuldigung, Nordic Walker zum Lauftreff ein. Um zehn geht's bei der Kirche los. Wagemutige können den Barfußpfad nehmen.
Noch ein Hinweis an alle Autofahrer: Am Aesculap-Kreisel hat's gekracht. Außer Blechschaden ist nichts passiert, Stau gibt's trotzdem in Richtung Bahnhof.
Jetzt ein Hörerwunsch von Elke aus Hausen: ›Riders in the Storm‹ von den Doors. Sie grüßt ihren Mann, der mit einem zertrümmerten Zeh im Krankenhaus liegt.
»Kein Anzeichen von Gewalt«, sagte Prätorius in gepflegtem Hochdeutsch. »Keine absonderlichen Schürfwunden, keine Hämatome, keine Kampfspuren.« Der Mann war eigentlich Anästhesist im Kreisklinikum und hatte in der Nacht den Notdienst geleitet. Deswegen war auch er zum Unfallort gerufen worden. Doch Prätorius hatte mit Mühe das Zittern seiner Hände unterdrücken können, als er die Leiche des Bürgermeisters untersuchte. Erstens lagen 18 Stunden Dienst hinter ihm (drei Herzinfarkte, zwei davon eingebildet, eine gebrochene Hüfte, ein beim Holzhacken versehentlich abgetrennter linker Daumen) und zweitens lag vor ihm der Bürgermeister. Tot. Für den gebürtigen Spaichinger eine Nummer zu groß. »Aber so kann ich dazu auch nicht viel sagen, da muss schon ein Pathologe ran.«
Hilflos blickte der Mediziner von Verena Hälble zu Thorben Fischer und wieder zurück.
»Über den Todeszeitpunkt herrscht ja immerhin Einigkeit«, konstatierte Fischer und nestelte an seinem seidenen Halstuch. »Die heilige Dreieinigkeit, sozusagen.« Er grinste und entblößte dabei seine frisch gebleichten Zähne.
»Ich denke, der Leichnam kann ins Tal geschafft werden«, unterbrach Verena Hälble ihren Kollegen. »Die Tübinger Gerichtsmedizin wird uns Näheres sagen können.« Der Anästhesist atmete sichtlich auf und drängte sich durch den Kreis der umstehenden Patres zum Wagen. Kurz darauf brummte der Motor und der SanKa schlängelte sich den Berg hinab.
Verena Hälble nickte Pater Pius zu, der sich ihr zuwandte, als zwei Mitarbeiter vom Bestattungshaus Schwarz einen silbernen Sarg aus ihrem Wagen hievten.
»Wie im Fernsehen, da kommen sie auch immer mit der Zinkwanne«, sagte Pius und streckte Verena Hälble die Hand hin. »Aber leider ist das hier alles echt.« Die Kommissarin schlug in Pius' Hand ein. Die Finger des Paters waren eiskalt. »Wie geht es Ihnen?« Verena Hälble hätte den
Pater am liebsten in den Arm genommen - so hatte sie ihn noch nie gesehen. Vor etwas mehr als 20 Jahren, Pius war ein Mann im besten Alter und Verena eine zickige Drittklässlerin gewesen, hatte der Pater ihr die Erstkommunion abgenommen. Seitdem hatten sich ihre Wege immer wieder gekreuzt -mal im Beichtstuhl, mal bei einem gemütlichen Glas Bier auf der Sommerterrasse vor der Klosterschenke. Der Bürgermeister und Pius Vater hatten nichts gemeinsam, doch die Art, wie die Gliedmaßen verdreht waren, katapultierte Pius zurück zu jenem Tag seiner Kindheit, an dem der Vater Zwetschgen ernten wollte. Die Geschichte war schnell erzählt: Die Leiter war morsch, der oberste Tritt brach und der Vater überlebte den Sturz nicht. Verdaut hatte Pius das bis heute nicht.
»Mir geht es gut, aber Pater Sunil hat wohl einen mächtigen Schreck bekommen.« Pius deutete auf die Gestalt mit der milchkaffeefarbenen Haut, die auf der Bank neben dem Aussichtsfernrohr hockte und vor sich hin starrte.
»Fischer, Kriminalhauptkommissar«, drängte Thorben sich zwischen die beiden.
»Darf ich vorstellen? Mein Kollege.« Mittlerweile hatten Verenas Augen innerlich schon ein paar Umdrehungen hinter sich, als Fischer sich wie ein Pfau vor dem Pater aufplusterte.
»So, Sie waren also direkter Zeuge des Falls, des Runter- Falls«, polterte Fischer und grinste. Verena Hälble hoffte, dass der Pater noch zu geschockt war, um die unmöglichen Wortspiele des Kollegen zu verstehen.
»Ja, so ist es, Herr Fischer, der Herr Engel ist sozusagen direkt vor meinen Füßen gelandet.« Pius seufzte innerlich und rief seinen Herrgott um Geduld mit diesem Kommissar an.
»Ich denke, wir sollten den Patres Zeit geben und erst später mit den Befragungen beginnen«, ging Verena Hälble dazwischen. Sie hatte die Ratlosigkeit der Männer bemerkt und ahnte, dass diese sich nun erst einmal zum stillen Gebet zurückziehen wollten. Und richtig - der dankbare Blick von Pius gab ihr recht.
»Ja, aber, die Personalien ...«, stammelte Fischer. »Ich mein, das ist doch ein ganz heißer Fall hier, haha, ein Fall von einem Fall ... und dazu der Bürgermeister ...« Innerlich verdrehte Verena Hälble wiederholt die Augen. Äußerlich bemühte sie sich um Ruhe.
»Ob hier der Herr Engel oder der Herr Merkt, Herr Hafen oder sonstwer vom Turm gestürzt ist - wir sind immer noch in einem Kloster und da sollten auch wir Rücksicht nehmen!«, zischte sie.
Fischer, einen derartigen Ton von einer Frau nicht gewohnt, wich einen Schritt zurück. »Ich denke, Frau Kollegin, ich werde mich mal auf den Weg in die Gerichtsmedizin machen.« Er machte auf dem Absatz seiner Maßschuhe kehrt, sodass der Kies knirschte.
Pius klopfte Verena Hälble auf die Schulter. »Du machst das schon«, flüsterte er. »Ich bete für dich.«
»Danke, Pater Pius«, erwiderte Verena. »Ich werde erst einmal zu Frau Engel fahren. Sie wird noch nichts wissen.«
»Ich denke an dich bei diesem schweren Gang«, versicherte Pius, innerlich froh, dass sie ihn nicht um seine Begleitung bat. So sehr er sich auch der Seelsorge verschrieben hatte - das Gespräch mit Trauernden zählte zu den Dingen seiner Mission, die ihm am wenigsten behagten.
© Gmeiner
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Autoren-Porträt von Silke Porath, Andreas Braun
Silke Porath, Jahrgang 1971, lebt mit Mann und drei Kindern im schwäbischen Spaichingen. Sie arbeitete lange Jahre als Zeitungsredakteurin und PR-Beraterin in verschiedenen Agenturen. Seit 2001 ist sie als Schreibtrainerin für Kinder und Dozentin für Kreatives Schreiben tätig. Mit "Klostergeist" gibt die Autorin mehrerer Romane und vielfach ausgezeichneter Kurzgeschichten ihr Debüt als Krimiautorin.Andreas Braun wurde 1964 in Stuttgart geboren und lebt heute in Würzburg. An der Universität Tübingen studierte er Humanmedizin. Nach dem Physikum zog es ihn jedoch in eine ganz andere Richtung: In Würzburg absolvierte er ein Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Geschichte. Heute ist er als Marketing-Manager in der Industrie tätig. "Klostergeist" ist seine erste Romanveröffentlichung.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Silke Porath , Andreas Braun
- 2011, 3. Aufl., 230 Seiten, Maße: 12 x 20 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Gmeiner-Verlag
- ISBN-10: 3839211247
- ISBN-13: 9783839211243
- Erscheinungsdatum: 08.02.2011
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