Pendergast Band 13: Attack - Unsichtbarer Feind
Ein neuer Fall für Special Agent Pendergast. Thriller
Der Special Agent reist nach Colorado - und trifft auf die bösen Geister der Vergangenheit
Im idyllisch-verschneiten Wintersportort Roaring Fork könnte sich Special Agent Pendergast wunderbar erholen - wäre da nicht sein...
Im idyllisch-verschneiten Wintersportort Roaring Fork könnte sich Special Agent Pendergast wunderbar erholen - wäre da nicht sein...
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Produktinformationen zu „Pendergast Band 13: Attack - Unsichtbarer Feind “
Der Special Agent reist nach Colorado - und trifft auf die bösen Geister der Vergangenheit
Im idyllisch-verschneiten Wintersportort Roaring Fork könnte sich Special Agent Pendergast wunderbar erholen - wäre da nicht sein Schützling Corrie Swanson. Die Studentin der Forensik untersucht hier die exhumierten Leichen von 11 Arbeitern einer Silbermine. Angeblich wurden die Männer vor über 100 Jahren von einem Grizzly getötet. Doch Corrie kann an den Leichen keine Spuren eines Bärenangriffs finden. Dafür gerät sie mit ihren Nachforschungen offensichtlich einem Killer in die Quere. Und nicht nur ihr Leben steht auf dem Spiel.
Im idyllisch-verschneiten Wintersportort Roaring Fork könnte sich Special Agent Pendergast wunderbar erholen - wäre da nicht sein Schützling Corrie Swanson. Die Studentin der Forensik untersucht hier die exhumierten Leichen von 11 Arbeitern einer Silbermine. Angeblich wurden die Männer vor über 100 Jahren von einem Grizzly getötet. Doch Corrie kann an den Leichen keine Spuren eines Bärenangriffs finden. Dafür gerät sie mit ihren Nachforschungen offensichtlich einem Killer in die Quere. Und nicht nur ihr Leben steht auf dem Spiel.
Klappentext zu „Pendergast Band 13: Attack - Unsichtbarer Feind “
Special Agent Pendergast reist in das eingeschneite Wintersportgebiet Roaring Fork in Colorado, um seinen Schützling Corrie Swanson zu retten. Corrie, Studentin der Forensik, hat dort die exhumierten Leichen von elf Arbeitern einer Silbermine untersucht, die vor über hundert Jahren ums Leben kamen. Angeblich sind die Männer damals alle einem bösartigen Grizzly zum Opfer gefallen, doch Spuren eines Bärenangriffs kann Corrie nicht feststellen. Mit ihren Nachforschungen ist sie aber offenbar einem Killer in die Quere gekommen, der nicht nur ihr Leben, sondern die Existenz des ganzen Ortes bedroht. Pendergast ist Corries letzte Hoffnung.
Lese-Probe zu „Pendergast Band 13: Attack - Unsichtbarer Feind “
Attack Unsichtbarer Feind von Douglas Preston und Lincoln Child PROLOG: EINE WAHRE GESCHICHTE
30.August 1889
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Der junge Arzt verabschiedete sich von seiner Frau auf dem Bahnsteig in Southsea, stieg in den 16.15-Uhr-Schnellzug nach London und kam drei Stunden darauf in der Victoria Station an. Nachdem er sich einen Weg durch das lärmende Treiben gebahnt hatte, trat er aus dem Bahnhofsgebäude und winkte eine Droschke herbei. »Zum Hotel Langham, bitte«, sagte er zum Kutscher und bestieg durchdrungen von einem Gefühl der Vorfreude das Abteil. Er lehnte sich in den abgewetzten Ledersitz zurück, während der Kutscher über den Grosvenor Place fuhr. Es war ein schöner Spätsommerabend, ein seltenes Ereignis in London. Die abendlichen Sonnenstrahlen fielen in die von Droschken verstopften Straßen und auf die rußgeschwärzten Gebäude und überzogen alles mit ihrem goldenen Glanz. Jetzt, um halb sieben, wurden die ersten Straßenlaternen gerade erst angezündet. Da der Arzt kaum einmal Gelegenheit hatte, nach London heraufzukommen, sah er voll Interesse aus dem Fenster der Hanson-Droschke. Als der Kutscher rechts auf den Piccadilly Circus bog, kamen der in die Abendröte des Sonnenuntergangs getauchte St.-James-Palast und die Königliche Akademie in Sicht. Die Menschenansammlungen, der Lärm und der Gestank der Stadt waren so ganz anders als das Land, auf dem er lebte, und erfüllten ihn mit Kraft und Energie. Unzählige beschlagene Pferdehufe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster. Auf den Bürgersteigen drängten sich Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft: Büroangestellte, Rechtsanwälte und Flaneure mischten sich unter Schornsteinfeger, Straßenverkäufer und Tierfutter-Händler.
Am Piccadilly Circus bog die Droschke scharf links in die Regent Street ab, passierte die Carnaby Street und den Oxford Circus, bis sie schließlich auf der Wagenauffahrt des Langham zum Stehen kam. Es war das erste Grandhotel, das in London gebaut wurde, und bis zum heutigen Tag das eleganteste. Während er den Droschkenkutscher bezahlte, blickte der Arzt an der reich verzierten Sandsteinfassade mit ihren französischen Fenstern und Balkonen aus Gusseisen, ihren hohen Giebeln und Balustraden hinauf. Er interessierte sich ein wenig für Architektur und nahm an, dass es sich bei dem Bau um eine Mischung aus Beaux Arts und Norddeutscher Neorenaissance handelte. Als er das große Eingangsportal betrat, schallte ihm Musik entgegen: Ein versteckt hinter einem Schutzschirm aus Gewächshaus- Lilien verborgenes Streichquartett spielte Schubert. Er blieb stehen und sah sich in der prächtigen Eingangshalle um, voll mit Männern in Ohrensesseln, die frisch gebügelte Ausgaben der Times lasen und Portwein oder Sherry tranken.
Der Qualm teurer Zigarren erfüllte die Luft und vermischte sich mit dem Geruch von Blumen und Damenparfüm. Am Eingang zum Speisesaal empfing ihn ein kleiner, recht korpulenter Mann in einem Gehrock aus feinem schwarzen Tuch und graubrauner Hose, der ihm mit raschen Schritten entgegeneilte. »Sie müssen Doyle sein«, sagte er und ergriff seine Hand. Er hatte ein freundliches Lächeln und sprach mit breitem amerikanischem Akzent. »Ich bin Joe Stoddart. Wie schön, dass Sie kommen konnten. Kommen Sie rein - die anderen sind eben erst eingetroffen.«
Der Arzt folgte Stoddart, während sich dieser einen Weg zwischen den mit weißem Leinen gedeckten Tischen hindurch zu einer entlegenen Ecke des Saals bahnte. Das Restaurant war noch prachtvoller als die Eingangshalle. Vertäfelung aus olivefarben gebeiztem Eichenholz, ein cremefarbener Fries und eine Decke mit Stuckverzierungen. Neben einem opulent gedeckten Tisch, an dem bereits zwei Männer saßen, blieb Stoddart stehen. »Mr.William Gill, Mr.Oscar Wilde«, sagte Stoddart. »Darf ich vorstellen: Dr.A.Conan Doyle.« Gill - ein bekannter Parlamentsabgeordneter für Irland, den Doyle vom Sehen her kannte - stand auf und verbeugte sich mit gutgelaunter Gewichtigkeit. Vor seiner gut gefüllten Weste hing eine schwere goldene Uhrenkette. Wilde, der gerade dabei war, einen Schluck Wein zu nehmen, betupfte sich mit einer Damastserviette die ziemlich vollen Lippen und bedeutete Conan Doyle, auf dem leeren Stuhl neben ihm Platz zu nehmen. »Mr.Wilde hat uns gerade mit Anekdoten über die Teegesellschaft unterhalten, zu der er heute Nachmittag eingeladen war«, sagte Stoddart, als sie Platz nahmen. »Im Hause von Lady Featherstone«, sagte Wilde. »Sie ist kürzlich verwitwet. Die Arme - ihr Haar ist vor lauter Kummer ganz golden geworden.« »Oscar«, sagte Gill und lachte, »du bist wirklich schlimm.
Auf eine solche Art von einer Dame zu sprechen.« Wilde winkte ab. »Die Dame würde es mir danken. Es gibt nur eines im Leben, was schlimmer ist, als dass über einen geredet wird - dass nicht über einen geredet wird.« Er sprach schnell, mit leiser Stimme, ein wenig manieriert. Doyle betrachtete Wilde verstohlen. Der Mann war eine auffällige Erscheinung. Er war von enorm großer Statur, trug altmodisch langes Haar, in der Mitte gescheitelt und achtlos nach hinten geworfen, und hatte ausgeprägte Gesichtszüge.
Die Wahl seiner Kleidung war so exzentrisch, dass es fast schon an Verrücktheit grenzte. Er trug eine Jacke aus schwarzem Samt, die am mächtigen Leib eng anlag, die Ärmel waren mit floralen Mustern bestickt und an den Schultern gepufft. Um den Hals trug er eine schmale, dreireihige Rüschenkrawatte aus dem gleichen Brokatstoff wie an den Manschetten. Wilde war in modischer Hinsicht so kühn, dass er Kniehosen trug, ebenso eng anliegend, dazu Strümpfe aus schwarzer Seide und Slipper mit Ripsbandschleifen. Vor der hellbraunen Weste hing, als boutonnière, eine immens große weiße Orchideenblüte, die aussah, als würde im nächsten Augenblick ihr Nektar herauströpfeln. An den manikürten Fingern glitzerten schwere Goldringe. Trotz der höchst eigenwilligen Kleidung hatte Wilde milde Gesichtszüge, was den scharfen Ausdruck in seinen wachen braunen Augen ausglich.
Und dennoch bewies der Mann eine erstaunliche Zartheit des Gefühls und des Takts. Seine merkwürdig präzisen Äußerungen begleitete er mit kleinen Gesten, die die Bedeutung seiner Worte unterstreichen sollten. »Sie sind außerordentlich freundlich, uns auf diese Art und Weise zu bewirten«, sagte Wilde jetzt. »Und dann auch noch im Langham. Ich wäre sonst völlig aufgeschmissen. Nicht, dass mir das Geld zum Abendessen fehlte, natürlich nicht. Schauen Sie, nur Menschen, die ihre Rechnungen begleichen, haben kein Geld, und ich, verstehen Sie, bezahle nie meine Rechnungen.« »Ich fürchte, Sie werden feststellen, dass meine Beweggründe ausschließlich pekuniärer Art sind«, erwiderte Stoddart. »Und ich will Ihnen auch nicht verhehlen, dass ich nach England gekommen bin, um eine britische Ausgabe der Monatszeitschrift Lippincott's Monthly herauszubringen.« »Philadelphia ist Ihnen nicht groß genug?«, fragte Gill. Lächelnd blickte Stoddart erst Wilde und dann Doyle an. »Ich habe die Absicht, noch ehe wir unser Mahl beendet haben, mir von jedem von Ihnen einen neuen Roman zu sichern. « Als er das hörte, war Doyle wie elektrisiert. In seinem Telegramm war Stoddart hinsichtlich der Gründe, warum er ihn gebeten hatte, zum Dinner nach London zu kommen, vage geblieben. Doch der Mann war ein bekannter amerikanischer Verleger, und genau dies hatte Doyle zu hören gehofft. Seine Arztpraxis war langsamer angelaufen, als ihm lieb war. Um die freie Zeit auszufüllen, hatte er, während er auf Patienten wartete, damit begonnen, Romane zu schreiben. Die letzten Geschichten waren Achtungserfolge gewesen. Stoddart war genau der Mann, den er brauchte, um seine literarische Karriere zu befördern. Doyle fand ihn angenehm, ja sogar charmant - für einen Amerikaner.
Das Dinner erwies sich als ein köstliches Vergnügen. Gill war ein amüsanter Bursche, aber Oscar Wilde war absolut erstaunlich. Wildes anmutige Gesten, die lässige Ausdrucksweise, die sehr lebhaft wurde, wenn er seine kuriosen Anekdoten oder amüsanten bons mots zum Besten gab, faszinierten Doyle. Es kam fast einem Wunder gleich, überlegte er, dass er dank der modernen Technik in wenigen Stunden von einem verschlafenen Städtchen an der Küste an diesen gediegenen Ort befördert worden war und nun zwischen einem bedeutenden Verleger, einem Mitglied des Parlaments und dem berühmten Hauptvertreter des Ästhetizismus speiste. In schneller Folge wurden die Speisen serviert: eingelegte Garnelen, Galantine vom Huhn, Kutteln, in Teig gebraten, Hummersuppe. Zu Beginn des Abends hatte man Rot- und Weißwein kredenzt, und es war immer großzügig nachgeschenkt worden. Erstaunlich, wie viel Geld die Amerikaner hatten; Stoddart war dabei, ein kleines Vermögen auszugeben.
Die Wahl des Zeitpunkts war ausgezeichnet. Doyle hatte eben mit einem neuen Roman begonnen, der Stoddart sicher gefallen würde. Sein vorletztes Werk, Micha Clarke, war gut besprochen worden, auch wenn sein jüngster Roman, über einen Detektiv, dessen Porträt zum Teil auf seinem ehemaligen Universitätsprofessor Joseph Bell beruhte, nach dem Erscheinen in Beeton's Christmas Annual eher enttäuschend rezensiert worden war ... Er versuchte, sich wieder auf das Tischgespräch zu konzentrieren. Gill, der irische Parlamentsangehörige, stellte gerade den Satz in Frage, wonach das Glück von Freunden einen selbst unzufrieden mache. Als er dies hörte, erschien ein Funkeln in Wildes Augen. »Als Satan«, erwiderte er, »einmal die Wüste durchquerte, gelangte er an einen Ort, wo ein paar kleine Teufel gerade einen heiligen Eremiten quälten. Der Mann wies ihre bösen Einflüsterungen mühelos zurück. Satan sah zu, wie ihre Bemühungen fehlschlugen, dann trat er vor, um ihnen eine Lektion zu erteilen. ›Was ihr da tut, ist zu grob‹, sagte er. ›Gewährt mir einen Augenblick.‹ Und damit flüsterte er dem Heiligen zu: ›Dein Bruder ist gerade zum Bischof von Alexandria ernannt worden.‹ Sogleich verdunkelte ein Ausdruck bösartigen Neids das ruhig-heitere Gesicht des Eremiten. ›Das‹, sagte Satan zu seinen Teufelchen, ›ist genau das, was ich euch empfehle.‹« Stoddart und Gill lachten aus vollem Herzen, dann entspann sich ein Streitgespräch über politische Fragen. Wilde wandte sich Doyle zu. »Sie müssen es mir verraten: Werden Sie für Stoddart ein Buch schreiben?« »Ich glaube schon. Tatsächlich habe ich bereits mit der Arbeit an einem neuen Roman begonnen. Ich habe mir überlegt, ihm den Titel Ein verhedderter Strang, vielleicht auch Das Zeichen der Vier zu geben.« Entzückt legte Wilde die Hände zusammen. »Mein lieber Freund, das ist eine wundervolle Nachricht. Ich hoffe doch, dass es sich dabei um eine weitere Holmes-Geschichte handelt. «
Doyle sah ihn verwundert an. »Wollen Sie damit sagen, Sie haben Eine Studie in Scharlachrot gelesen?« »Mein lieber Junge, ich habe den Roman nicht gelesen. Ich habe ihn verschlungen.« Wilde griff in seine Weste und zog die ›Ward, Lock & Co.‹-Ausgabe mit ihrer vage orientalischen Schrift hervor, die gerade so en vogue war. »Ich habe ihn sogar ein zweites Mal gelesen, als ich hörte, dass Sie heute Abend mit uns dinieren.« »Sie sind sehr freundlich«, sagte Conan Doyle, dem keine bessere Antwort einfiel. Er war überrascht und dankbar, dass der Fürst der britischen Dekadenz seine Freude an einem bescheidenen Detektivroman hatte. »Ich finde, dass Sie mit Holmes die Voraussetzungen für eine großartige Romanfigur geschaffen haben. Aber ...« Und hier hielt Wilde inne. »Ja?«, sagte Doyle. »Am bemerkenswertesten fand ich die Glaubwürdigkeit des Ganzen. Die Einzelheiten der polizeilichen Ermittlungsarbeit, Holmes' Nachforschungen - alles sehr erhellend. In dieser Richtung kann ich viel von Ihnen lernen.
Schauen Sie, zwischen mir und der Welt liegt immerzu ein Nebel aus Worten. Um einer Formulierung willen lasse ich jede Wahrscheinlichkeit sausen, und die Gelegenheit zu einem Epigramm lässt mich den Boden der Wahrheit verlassen. Diese Schwäche haben Sie nicht. Und doch ... und doch glaube ich, Sie könnten mit Ihrem Holmes noch mehr leisten.« »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das erläutern könnten «, sagte Doyle. Wilde trank einen Schluck Wein. »Wenn er ein wahrhaft bedeutender Detektiv, ein bedeutendes Ich werden soll, muss er exzentrischer sein. Die Welt braucht keinen weiteren Sergeant Cuff oder Inspektor Dupin. Nein, sorgen Sie dafür, dass sein Menschsein der Größe seiner Kunst nachstrebt.« Er hielt kurz inne, dachte nach und strich gedankenverloren über die Orchidee, die aus seinem Knopfloch hing. »In Scharlachrot nennen Sie Watson ›äußerst faul‹. Meiner Ansicht nach sollten Sie die Tugenden der Zerstreuung und des Müßiggangs auf Ihren Romanhelden übertragen, nicht seinen Botenjungen. Und machen Sie Holmes reservierter. Schreiben Sie nicht Entzücken zeichnete sich auf seinen Gesichtszügen ab, lassen Sie ihn auch nicht in lautes Lachen ausbrechen.« Doyle errötete, als er die klischeehaften Formulierungen wiedererkannte. »Sie müssen ihn mit einem Laster ausstatten«, fuhr Wilde fort. »Tugendhafte Menschen sind so banal.« Er hielt erneut inne. »Nicht nur mit einem Laster, Doyle, sondern mit einer Schwäche. Lassen Sie mich nachdenken - ah, ja! Ich erinnere mich.« Er schlug sein Exemplar von Eine Studie in Scharlachrot auf, blätterte schnell darin, fand eine Stelle und begann, Dr.Watson zu zitieren: »Ich hätte annehmen können, dass er nach dem Gebrauch irgendeines Narkotikums süchtig war, hätte sich wegen der Enthaltsamkeit und Reinlichkeit seiner ganzen Lebensweise ein derartiger Gedanke nicht verboten.« Wilde steckte das Buch zurück in seine Westentasche. »Na bitte - Sie hielten die perfekte Schwäche in Händen, aber Sie haben sie fallenlassen.
Nehmen Sie sie wieder auf! Liefern Sie Holmes der Gefährdung durch irgendeine Sucht aus. Opium, beispielsweise. Aber nein, Opium ist so furchtbar gewöhnlich heutzutage, es wird von den unteren Schichten in Mengen konsumiert.« Plötzlich schnippte er mit dem Finger. »Ich hab's! Kokainhydrochlorid. Das wäre eine originelle und elegante Schwäche, die Sie verwenden könnten.« »Kokain«, wiederholte Holmes ein wenig verunsichert. Als Arzt hatte er einigen Patienten, die an Erschöpfungszuständen oder Depressionen litten, eine siebenprozentige Lösung verschrieben, doch die Idee, Holmes zu einem Süchtigen zu machen, war auf den ersten Blick völlig absurd. Obgleich er Wilde um seine Meinung gebeten hatte, reagierte er doch etwas pikiert, als der ihn tatsächlich kritisierte. Auf der anderen Seite des Tischs setzten Stoddart und Gill ihr gutmütiges Streitgespräch fort. Wilde trank noch einen Schluck Wein und warf die Haare in den Nacken. »Und wie steht's mit Ihnen?«, fragte Doyle. »Wollen Sie denn für Stoddart ein Buch schreiben?« »Ja. Und ich werde dabei unter Ihrem Einfluss - besser gesagt, unter Holmes' Einfluss - stehen. Wissen Sie, ich habe immer gefunden, dass es so etwas wie ein moralisches oder unmoralisches Buch nicht gibt. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben, das ist alles. Aber ich bin fasziniert von der Idee, ein Buch über Kunst und Moral zu schreiben. Ich habe vor, es Das Bildnis des Dorian Gray zu nennen. Und wissen Sie, ich glaube, es wird eine recht schaurige Geschichte. Nicht eine Gespenstergeschichte, nicht direkt, sondern eine, in der die Hauptfigur ein abscheuliches Ende findet.
Die Art von Geschichte, die man bei Tageslicht und nicht beim Schein einer Lampe lesen möchte.« »Eine solche Geschichte scheint eigentlich nicht auf der gleichen Linie mit Ihren anderen Werken zu liegen.« Wilde blickte Doyle etwas belustigt an. »Ach ja? Haben Sie denn geglaubt, dass ich - als einer, der sich freudig auf dem Scheiterhaufen des Ästhetizismus opfern würde - das Antlitz des Grauens nicht erkenne, wenn ich hineinstarre? Lassen Sie mich Ihnen sagen: Der Schauder der Angst ist ebenso sinnlich, wenn nicht sinnlicher, als der Schauer der Lust.« Dies unterstrich er abermals mit einer knappen Geste. »Im Übrigen wurde mir einmal eine Geschichte erzählt, die in den Einzelheiten und im Ausmaß des dargestellten Bösen so furchterregend, so erschütternd ist, dass ich heute wahrhaft glaube, dass nichts, was ich höre, mich je wieder ängstigen kann.« »Wie interessant«, erwiderte Doyle ein wenig geistesabwesend, weil er noch immer über Wildes Kritik an Holmes nachgrübelte. Wilde betrachtete ihn. Auf seinen großen, blassen Gesichtszügen zeigte sich ein leises Lächeln. »Möchten Sie die Geschichte hören? Sie ist aber nichts für Zartbesaitete.« So, wie er die Frage gestellt hatte, klang das wie eine Herausforderung. »Ich bitte darum.« »Sie ist mir vor einigen Jahren während meiner Lesereise durch Amerika erzählt worden. Auf dem Weg nach San Francisco machte ich halt in einer recht armseligen, aber pittoresken Bergbausiedlung namens Roaring Fork. Ich hielt meine Lesung ganz unten in der Mine, und sie wurde außerordentlich gut aufgenommen von den Herren Bergleuten.
Nach der Lesung kam einer der Bergleute auf mich zu, ein älterer Bursche, den der Alkohol zum Schlechten oder vielleicht auch zum Guten verändert hatte. Er nahm mich beiseite und sagte, meine Geschichte habe ihm so gut gefallen, dass er mir eine seiner eigenen erzählen wolle.« Wilde hielt inne, befeuchtete seine dicken roten Lippen und nippte nur zart an seinem Wein. »Kommen Sie, wenn Sie sich etwas näher zu mir herüberbeugen, ja, so ist's recht, dann erzähle ich Ihnen die Geschichte genau so, wie sie mir zugetragen wurde ...« Zehn Minuten später hätte ein Gast im Restaurant des Hotels Langham überrascht bemerken können, wie - inmitten der leisen Klänge höflicher Konversation und des Klirrens von Besteck - ein junger Mann im Aufzug eines Landarztes jäh und blass im Gesicht vom Tisch aufstand. In seiner Aufregung stieß der Mann einen Stuhl um, legte eine Hand an die Stirn und verließ unsteten Schritts den Saal, wobei er das Tablett mit feinen Speisen, das ein Kellner gerade hereintrug, beinahe umgestoßen hätte. Und während er in Richtung der Herrentoilette verschwand, spiegelten sich in seiner Miene Abscheu und Entsetzen.
1
Gegenwart
Corrie Swanson betrat zum dritten Mal die Damentoilette, um ihr Aussehen zu überprüfen. Vieles hatte sich verändert, seit sie zum Beginn ihres zweiten Studienjahrs aufs John Jay College of Criminal Justice gewechselt war. Im John Jay ging es ziemlich zugeknöpft zu. Eine Zeitlang hatte sie sich dagegen gewehrt, aber schließlich doch erkannt, dass sie erwachsen werden und das Spiel des Lebens spielen musste, statt sich für immer wie eine Rebellin aufzuführen. Verschwunden waren die lila Haare, die Piercings, die schwarze Lederjacke, der dunkle Lidschatten und die anderen Requisiten ihrer Gothic-Vergangenheit. Gegen die Möbiusband- Tätowierung im Nacken war allerdings nichts zu machen, außer das Haar nach hinten zu kämmen und hohe Kragen zu tragen. Aber eines Tages würde auch die verschwinden müssen. Wenn sie bei dem Spiel schon mitspielen musste, dann würde sie es gut spielen. Leider hatte ihre persönliche Transformation nach Meinung ihres akademischen Betreuers - ein ehemaliger Cop der New Yorker Polizei, der wieder zur Uni gegangen und schließlich Professor geworden war - zu spät stattgefunden.
Corrie hatte das Gefühl, dass sein erster Eindruck von ihr der einer jugendlichen Straftäterin war und dass nichts, was sie in dem Jahr seit ihrer ersten Begegnung getan hatte, dazu beigetragen hatte, diesen Eindruck zu zerstreuen. Keine Frage, er hatte sie auf dem Kieker. Bereits ihren ersten Themenvorschlag für die Rosewell-Semesterarbeit hatte er abgelehnt. Dafür hatte sie nach Chile reisen wollen, um dort eine Perimortem-Analyse der Skelettreste durchzuführen, die man in einem Massengrab mit kommunistischen Bauern entdeckt hatte, die vom Pinochet-Regime in den 1970er Jahren ermordet worden waren. Zu weit weg, hatte er gesagt, zu teuer für ein Forschungsprojekt, und überhaupt sei das Schnee von gestern. Als Corrie entgegnete, dass es genau darum gehe - dass es sich um alte Gräber handele, die spezielle forensische Verfahren erforderten -, hatte er irgendetwas dahingehend geantwortet, sie solle sich nicht in außenpolitische Kontroversen einmischen, vor allem nicht kommunistisch gesteuerte. Jetzt hatte sie eine neue Idee für ihre Semesterarbeit, eine noch bessere, und sie war bereit, fast alles zu tun, um sie zu verwirklichen. Sie betrachtete sich im Spiegel, arrangierte ein paar Haarsträhnen um, zog sich die Lippen mit einem unauffälligen Lippenstift nach, zupfte ihr graues Kammgarnjackett glatt und puderte sich die Nase. Sie erkannte sich kaum wieder.
Gott, man hätte sie für ein Mitglied der Jungen Konservativen halten können. Umso besser. Sie verließ die Damentoilette und ging forschen Schritts über den Flur, wobei ihre konservativen Pumps berufsmäßig auf dem harten Linoleumboden klapperten. Wie üblich war die Tür ihres Dozenten geschlossen. Sie klopfte an, kurz und selbstbewusst. Von drinnen rief eine Stimme: »Herein.« Sie trat ein. Wie immer war das Büro absolut sauber und aufgeräumt, die Bücher und Fachzeitschriften in den Bücherregalen waren auf Kante gerückt, die bequemen, maskulin wirkenden Ledermöbel spendeten eine behagliche Atmosphäre. Professor Greg Carbone saß hinter seinem großen Schreibtisch, dessen riesige polierte Mahagoniplatte frei von Büchern, Zeitungen, Fotos von Familienangehörigen oder Schnickschnack war. »Guten Morgen, Corrie«, sagte Carbone, erhob sich und knöpfte seinen blauen Serge-Anzug zu. »Bitte nehmen Sie Platz.« »Vielen Dank, Professor.« Sie wusste, dass er sich gerne so anreden ließ. Wehe dem Studierenden, der ihn mit Mr. Carbone oder, schlimmer noch, Greg anredete. Er setzte sich wieder, sie nahm Platz. Carbone war ein auffallend gutaussehender Mann mit graumelierten Haaren, strahlend weißen Zähnen, schlank und fit, gut gekleidet, eloquent, leise und zurückhaltend, intelligent und erfolgreich. Alles, was er tat, machte er gut, und als Folge davon war er ein komplettes Arschloch. »Nun, Corrie«, begann Carbone, »Sie sehen heute gut aus.« »Vielen Dank, Professor Carbone.« »Ich bin gespannt, von Ihrer neuen Idee zu hören.« »Danke.« Corrie öffnete ihre Aktentasche (Rucksäcke waren am John Jay nicht gestattet), zog einen braunen Ordner hervor und legte ihn auf ihre Knie. »Sie haben sicherlich schon von der archäologischen Ausgrabung unten im City Hall Park gehört.
Unweit der Stelle, wo das alte Gefängnis stand, im Volksmund als ›Tombs‹ bekannt.« »Erzählen Sie mir davon.« »Mitarbeiter der Parkverwaltung haben einen kleinen Friedhof mit hingerichteten Straftätern ergraben, um Platz für einen neuen U-Bahn-Eingang zu schaffen.« »Ach ja, ich habe davon gelesen«, sagte Carbone. »Der Friedhof war zwischen 1858 und 1865 in Betrieb. Nach 1865 wurden alle nach Hinrichtungen Bestatteten nach Hart Island verlegt, und es gibt bis heute keinen Zugang zu ihnen.« Langsames Nicken seitens Carbone. Er wirkte interessiert; sie fühlte sich ermuntert, weiter auszuholen. »Ich glaube, dass die Ausgrabung eine großartige Gelegenheit bietet, eine osteologische Untersuchung dieser Skelette vorzunehmen - um festzustellen, ob eine gravierende Mangelernährung während der Kindheit, die, wie Sie wissen, osteologische Marker hinterlässt, möglicherweise mit kriminellem Verhalten im späteren Leben korreliert.« Noch ein Nicken von Carbone. »Ich habe das alles hier skizziert.« Sie legte ihr Konzept auf den Tisch. »Hypothese, Methodologie, Kontrollgruppe, Beobachtungen und Analyse.« Carbone legte eine Hand auf die Mappe, zog sie zu sich heran, klappte sie auf und blätterte darin herum. »Es gibt mehrere Gründe, warum es sich hier um eine großartige Gelegenheit handelt«, fuhr sie fort. »Erstens besitzt die Stadt brauchbare Unterlagen über die meisten dieser hingerichteten Straftäter - Namen, Vorstrafenregister und Prozessakten.
Über diejenigen, die im Arbeitshaus Five Points aufwuchsen - ungefähr ein halbes Dutzend -, gibt es zudem einige Unterlagen über ihre Kindheit. Alle diese Straftäter wurden auf dieselbe Weise hingerichtet - durch Erhängen -, so dass die Todesursache identisch ist. Und der Friedhof wurde nur sieben Jahre lang genutzt, deshalb stammen alle sterblichen Überreste ungefähr aus dem gleichen Zeitraum.« Sie hielt inne. Carbone blätterte langsam um, eine Seite nach der anderen, und las anscheinend. Was er dachte, war nicht zu erkennen; seine Miene blieb völlig ausdruckslos. »Ich habe ein paar Nachforschungen angestellt, und wie es scheint, hätte die Parkverwaltung nichts dagegen, die sterblichen Überreste von einer Studentin des John Jay untersuchen zu lassen.« Das langsame Umblättern hörte auf. »Sie haben die bereits kontaktiert?« »Ja. Ich habe nur mal vorgefühlt ...« »Vorgefühlt ... Sie haben eine andere städtische Behörde kontaktiert, ohne vorher meine Genehmigung einzuholen?« Oh-oh. »Natürlich wollte ich Ihnen nicht ein Projekt vorstellen, das später womöglich von einer anderen Behörde abgesägt wird. Hm, war das falsch?« Langes Schweigen, und dann: »Haben Sie denn nicht Ihr Handbuch für Studierende gelesen?« Corrie wurde bang zumute. Natürlich hatte sie es gelesen - als sie zum Studium zugelassen wurde. Aber das lag jetzt ein Jahr zurück. »Nicht in letzter Zeit.« »Darin steht völlig unmissverständlich: Studierende dürfen sich an andere städtische Behörden ausschließlich auf dem Dienstweg wenden.
Und zwar, weil wir eine städtische Einrichtung sind, wie Sie wissen, eine Fachhochschule der städtischen Universität von New York.« Das sagte er in mildem, beinahe freundlichem Tonfall. »Ich ... Na ja, es tut mir leid, mir war entfallen, dass das im Handbuch steht.« Sie schluckte und spürte eine aufsteigende Angst - und Wut. Das hier war ein schier unglaublicher Bullshit. Aber sie zwang sich, ganz cool und ruhig zu bleiben. »Ich habe nur einige Telefonate geführt, nichts Offizielles.« Ein Nicken. »Ich bin mir sicher, dass Sie nicht absichtlich gegen die Regularien der Universität verstoßen haben.« Er fing wieder an umzublättern, langsam, eine Seite nach der anderen, ohne sie dabei anzusehen. »Wie dem auch sei. Ich habe noch andere Probleme mit dem Konzept Ihrer Arbeit.« »Ja?« Corrie wurde mulmig zumute. »Diese Vorstellung, dass Mangelernährung zu einem kriminellen Leben führe ... Das ist eine alte Idee - und eine wenig überzeugende.« »Also, mir scheint sie es wert, überprüft zu werden.« »Damals waren fast alle Leute unterernährt. Aber nicht jeder ist kriminell geworden. Außerdem schmeckt die Idee - wie soll ich es ausdrücken? - nach einer gewissen Weltanschauung, wonach sich kriminelles Verhalten generell auf bedauerliche Kindheitserlebnisse zurückführen lässt.« »Aber Unterernährung - schwere Unterernährung - kann durchaus neurologische Veränderungen, ja sogar regelrechte Schäden verursachen. Das ist keine Weltanschauung, das ist wissenschaftlich belegt.« Carbone hielt ihr Konzeptpapier in der Hand. »Ich kann das Ergebnis bereits vorhersagen: Sie werden herausfinden, dass diese hingerichteten Straftäter als Kinder tatsächlich unterernährt waren. Die wahre Frage aber lautet: Warum hat von all diesen hungrigen Kindern nur ein kleiner Prozentsatz später im Leben ein Kapitalverbrechen begangen? Und die wird in Ihrem Konzept nicht thematisiert. Tut mir leid, das genügt nicht. Ganz und gar nicht.« Und indem er die Hand öffnete, ließ er ihre Mappe sachte auf seinen Schreibtisch fallen.
© 2013 by Droemer Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Der junge Arzt verabschiedete sich von seiner Frau auf dem Bahnsteig in Southsea, stieg in den 16.15-Uhr-Schnellzug nach London und kam drei Stunden darauf in der Victoria Station an. Nachdem er sich einen Weg durch das lärmende Treiben gebahnt hatte, trat er aus dem Bahnhofsgebäude und winkte eine Droschke herbei. »Zum Hotel Langham, bitte«, sagte er zum Kutscher und bestieg durchdrungen von einem Gefühl der Vorfreude das Abteil. Er lehnte sich in den abgewetzten Ledersitz zurück, während der Kutscher über den Grosvenor Place fuhr. Es war ein schöner Spätsommerabend, ein seltenes Ereignis in London. Die abendlichen Sonnenstrahlen fielen in die von Droschken verstopften Straßen und auf die rußgeschwärzten Gebäude und überzogen alles mit ihrem goldenen Glanz. Jetzt, um halb sieben, wurden die ersten Straßenlaternen gerade erst angezündet. Da der Arzt kaum einmal Gelegenheit hatte, nach London heraufzukommen, sah er voll Interesse aus dem Fenster der Hanson-Droschke. Als der Kutscher rechts auf den Piccadilly Circus bog, kamen der in die Abendröte des Sonnenuntergangs getauchte St.-James-Palast und die Königliche Akademie in Sicht. Die Menschenansammlungen, der Lärm und der Gestank der Stadt waren so ganz anders als das Land, auf dem er lebte, und erfüllten ihn mit Kraft und Energie. Unzählige beschlagene Pferdehufe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster. Auf den Bürgersteigen drängten sich Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft: Büroangestellte, Rechtsanwälte und Flaneure mischten sich unter Schornsteinfeger, Straßenverkäufer und Tierfutter-Händler.
Am Piccadilly Circus bog die Droschke scharf links in die Regent Street ab, passierte die Carnaby Street und den Oxford Circus, bis sie schließlich auf der Wagenauffahrt des Langham zum Stehen kam. Es war das erste Grandhotel, das in London gebaut wurde, und bis zum heutigen Tag das eleganteste. Während er den Droschkenkutscher bezahlte, blickte der Arzt an der reich verzierten Sandsteinfassade mit ihren französischen Fenstern und Balkonen aus Gusseisen, ihren hohen Giebeln und Balustraden hinauf. Er interessierte sich ein wenig für Architektur und nahm an, dass es sich bei dem Bau um eine Mischung aus Beaux Arts und Norddeutscher Neorenaissance handelte. Als er das große Eingangsportal betrat, schallte ihm Musik entgegen: Ein versteckt hinter einem Schutzschirm aus Gewächshaus- Lilien verborgenes Streichquartett spielte Schubert. Er blieb stehen und sah sich in der prächtigen Eingangshalle um, voll mit Männern in Ohrensesseln, die frisch gebügelte Ausgaben der Times lasen und Portwein oder Sherry tranken.
Der Qualm teurer Zigarren erfüllte die Luft und vermischte sich mit dem Geruch von Blumen und Damenparfüm. Am Eingang zum Speisesaal empfing ihn ein kleiner, recht korpulenter Mann in einem Gehrock aus feinem schwarzen Tuch und graubrauner Hose, der ihm mit raschen Schritten entgegeneilte. »Sie müssen Doyle sein«, sagte er und ergriff seine Hand. Er hatte ein freundliches Lächeln und sprach mit breitem amerikanischem Akzent. »Ich bin Joe Stoddart. Wie schön, dass Sie kommen konnten. Kommen Sie rein - die anderen sind eben erst eingetroffen.«
Der Arzt folgte Stoddart, während sich dieser einen Weg zwischen den mit weißem Leinen gedeckten Tischen hindurch zu einer entlegenen Ecke des Saals bahnte. Das Restaurant war noch prachtvoller als die Eingangshalle. Vertäfelung aus olivefarben gebeiztem Eichenholz, ein cremefarbener Fries und eine Decke mit Stuckverzierungen. Neben einem opulent gedeckten Tisch, an dem bereits zwei Männer saßen, blieb Stoddart stehen. »Mr.William Gill, Mr.Oscar Wilde«, sagte Stoddart. »Darf ich vorstellen: Dr.A.Conan Doyle.« Gill - ein bekannter Parlamentsabgeordneter für Irland, den Doyle vom Sehen her kannte - stand auf und verbeugte sich mit gutgelaunter Gewichtigkeit. Vor seiner gut gefüllten Weste hing eine schwere goldene Uhrenkette. Wilde, der gerade dabei war, einen Schluck Wein zu nehmen, betupfte sich mit einer Damastserviette die ziemlich vollen Lippen und bedeutete Conan Doyle, auf dem leeren Stuhl neben ihm Platz zu nehmen. »Mr.Wilde hat uns gerade mit Anekdoten über die Teegesellschaft unterhalten, zu der er heute Nachmittag eingeladen war«, sagte Stoddart, als sie Platz nahmen. »Im Hause von Lady Featherstone«, sagte Wilde. »Sie ist kürzlich verwitwet. Die Arme - ihr Haar ist vor lauter Kummer ganz golden geworden.« »Oscar«, sagte Gill und lachte, »du bist wirklich schlimm.
Auf eine solche Art von einer Dame zu sprechen.« Wilde winkte ab. »Die Dame würde es mir danken. Es gibt nur eines im Leben, was schlimmer ist, als dass über einen geredet wird - dass nicht über einen geredet wird.« Er sprach schnell, mit leiser Stimme, ein wenig manieriert. Doyle betrachtete Wilde verstohlen. Der Mann war eine auffällige Erscheinung. Er war von enorm großer Statur, trug altmodisch langes Haar, in der Mitte gescheitelt und achtlos nach hinten geworfen, und hatte ausgeprägte Gesichtszüge.
Die Wahl seiner Kleidung war so exzentrisch, dass es fast schon an Verrücktheit grenzte. Er trug eine Jacke aus schwarzem Samt, die am mächtigen Leib eng anlag, die Ärmel waren mit floralen Mustern bestickt und an den Schultern gepufft. Um den Hals trug er eine schmale, dreireihige Rüschenkrawatte aus dem gleichen Brokatstoff wie an den Manschetten. Wilde war in modischer Hinsicht so kühn, dass er Kniehosen trug, ebenso eng anliegend, dazu Strümpfe aus schwarzer Seide und Slipper mit Ripsbandschleifen. Vor der hellbraunen Weste hing, als boutonnière, eine immens große weiße Orchideenblüte, die aussah, als würde im nächsten Augenblick ihr Nektar herauströpfeln. An den manikürten Fingern glitzerten schwere Goldringe. Trotz der höchst eigenwilligen Kleidung hatte Wilde milde Gesichtszüge, was den scharfen Ausdruck in seinen wachen braunen Augen ausglich.
Und dennoch bewies der Mann eine erstaunliche Zartheit des Gefühls und des Takts. Seine merkwürdig präzisen Äußerungen begleitete er mit kleinen Gesten, die die Bedeutung seiner Worte unterstreichen sollten. »Sie sind außerordentlich freundlich, uns auf diese Art und Weise zu bewirten«, sagte Wilde jetzt. »Und dann auch noch im Langham. Ich wäre sonst völlig aufgeschmissen. Nicht, dass mir das Geld zum Abendessen fehlte, natürlich nicht. Schauen Sie, nur Menschen, die ihre Rechnungen begleichen, haben kein Geld, und ich, verstehen Sie, bezahle nie meine Rechnungen.« »Ich fürchte, Sie werden feststellen, dass meine Beweggründe ausschließlich pekuniärer Art sind«, erwiderte Stoddart. »Und ich will Ihnen auch nicht verhehlen, dass ich nach England gekommen bin, um eine britische Ausgabe der Monatszeitschrift Lippincott's Monthly herauszubringen.« »Philadelphia ist Ihnen nicht groß genug?«, fragte Gill. Lächelnd blickte Stoddart erst Wilde und dann Doyle an. »Ich habe die Absicht, noch ehe wir unser Mahl beendet haben, mir von jedem von Ihnen einen neuen Roman zu sichern. « Als er das hörte, war Doyle wie elektrisiert. In seinem Telegramm war Stoddart hinsichtlich der Gründe, warum er ihn gebeten hatte, zum Dinner nach London zu kommen, vage geblieben. Doch der Mann war ein bekannter amerikanischer Verleger, und genau dies hatte Doyle zu hören gehofft. Seine Arztpraxis war langsamer angelaufen, als ihm lieb war. Um die freie Zeit auszufüllen, hatte er, während er auf Patienten wartete, damit begonnen, Romane zu schreiben. Die letzten Geschichten waren Achtungserfolge gewesen. Stoddart war genau der Mann, den er brauchte, um seine literarische Karriere zu befördern. Doyle fand ihn angenehm, ja sogar charmant - für einen Amerikaner.
Das Dinner erwies sich als ein köstliches Vergnügen. Gill war ein amüsanter Bursche, aber Oscar Wilde war absolut erstaunlich. Wildes anmutige Gesten, die lässige Ausdrucksweise, die sehr lebhaft wurde, wenn er seine kuriosen Anekdoten oder amüsanten bons mots zum Besten gab, faszinierten Doyle. Es kam fast einem Wunder gleich, überlegte er, dass er dank der modernen Technik in wenigen Stunden von einem verschlafenen Städtchen an der Küste an diesen gediegenen Ort befördert worden war und nun zwischen einem bedeutenden Verleger, einem Mitglied des Parlaments und dem berühmten Hauptvertreter des Ästhetizismus speiste. In schneller Folge wurden die Speisen serviert: eingelegte Garnelen, Galantine vom Huhn, Kutteln, in Teig gebraten, Hummersuppe. Zu Beginn des Abends hatte man Rot- und Weißwein kredenzt, und es war immer großzügig nachgeschenkt worden. Erstaunlich, wie viel Geld die Amerikaner hatten; Stoddart war dabei, ein kleines Vermögen auszugeben.
Die Wahl des Zeitpunkts war ausgezeichnet. Doyle hatte eben mit einem neuen Roman begonnen, der Stoddart sicher gefallen würde. Sein vorletztes Werk, Micha Clarke, war gut besprochen worden, auch wenn sein jüngster Roman, über einen Detektiv, dessen Porträt zum Teil auf seinem ehemaligen Universitätsprofessor Joseph Bell beruhte, nach dem Erscheinen in Beeton's Christmas Annual eher enttäuschend rezensiert worden war ... Er versuchte, sich wieder auf das Tischgespräch zu konzentrieren. Gill, der irische Parlamentsangehörige, stellte gerade den Satz in Frage, wonach das Glück von Freunden einen selbst unzufrieden mache. Als er dies hörte, erschien ein Funkeln in Wildes Augen. »Als Satan«, erwiderte er, »einmal die Wüste durchquerte, gelangte er an einen Ort, wo ein paar kleine Teufel gerade einen heiligen Eremiten quälten. Der Mann wies ihre bösen Einflüsterungen mühelos zurück. Satan sah zu, wie ihre Bemühungen fehlschlugen, dann trat er vor, um ihnen eine Lektion zu erteilen. ›Was ihr da tut, ist zu grob‹, sagte er. ›Gewährt mir einen Augenblick.‹ Und damit flüsterte er dem Heiligen zu: ›Dein Bruder ist gerade zum Bischof von Alexandria ernannt worden.‹ Sogleich verdunkelte ein Ausdruck bösartigen Neids das ruhig-heitere Gesicht des Eremiten. ›Das‹, sagte Satan zu seinen Teufelchen, ›ist genau das, was ich euch empfehle.‹« Stoddart und Gill lachten aus vollem Herzen, dann entspann sich ein Streitgespräch über politische Fragen. Wilde wandte sich Doyle zu. »Sie müssen es mir verraten: Werden Sie für Stoddart ein Buch schreiben?« »Ich glaube schon. Tatsächlich habe ich bereits mit der Arbeit an einem neuen Roman begonnen. Ich habe mir überlegt, ihm den Titel Ein verhedderter Strang, vielleicht auch Das Zeichen der Vier zu geben.« Entzückt legte Wilde die Hände zusammen. »Mein lieber Freund, das ist eine wundervolle Nachricht. Ich hoffe doch, dass es sich dabei um eine weitere Holmes-Geschichte handelt. «
Doyle sah ihn verwundert an. »Wollen Sie damit sagen, Sie haben Eine Studie in Scharlachrot gelesen?« »Mein lieber Junge, ich habe den Roman nicht gelesen. Ich habe ihn verschlungen.« Wilde griff in seine Weste und zog die ›Ward, Lock & Co.‹-Ausgabe mit ihrer vage orientalischen Schrift hervor, die gerade so en vogue war. »Ich habe ihn sogar ein zweites Mal gelesen, als ich hörte, dass Sie heute Abend mit uns dinieren.« »Sie sind sehr freundlich«, sagte Conan Doyle, dem keine bessere Antwort einfiel. Er war überrascht und dankbar, dass der Fürst der britischen Dekadenz seine Freude an einem bescheidenen Detektivroman hatte. »Ich finde, dass Sie mit Holmes die Voraussetzungen für eine großartige Romanfigur geschaffen haben. Aber ...« Und hier hielt Wilde inne. »Ja?«, sagte Doyle. »Am bemerkenswertesten fand ich die Glaubwürdigkeit des Ganzen. Die Einzelheiten der polizeilichen Ermittlungsarbeit, Holmes' Nachforschungen - alles sehr erhellend. In dieser Richtung kann ich viel von Ihnen lernen.
Schauen Sie, zwischen mir und der Welt liegt immerzu ein Nebel aus Worten. Um einer Formulierung willen lasse ich jede Wahrscheinlichkeit sausen, und die Gelegenheit zu einem Epigramm lässt mich den Boden der Wahrheit verlassen. Diese Schwäche haben Sie nicht. Und doch ... und doch glaube ich, Sie könnten mit Ihrem Holmes noch mehr leisten.« »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das erläutern könnten «, sagte Doyle. Wilde trank einen Schluck Wein. »Wenn er ein wahrhaft bedeutender Detektiv, ein bedeutendes Ich werden soll, muss er exzentrischer sein. Die Welt braucht keinen weiteren Sergeant Cuff oder Inspektor Dupin. Nein, sorgen Sie dafür, dass sein Menschsein der Größe seiner Kunst nachstrebt.« Er hielt kurz inne, dachte nach und strich gedankenverloren über die Orchidee, die aus seinem Knopfloch hing. »In Scharlachrot nennen Sie Watson ›äußerst faul‹. Meiner Ansicht nach sollten Sie die Tugenden der Zerstreuung und des Müßiggangs auf Ihren Romanhelden übertragen, nicht seinen Botenjungen. Und machen Sie Holmes reservierter. Schreiben Sie nicht Entzücken zeichnete sich auf seinen Gesichtszügen ab, lassen Sie ihn auch nicht in lautes Lachen ausbrechen.« Doyle errötete, als er die klischeehaften Formulierungen wiedererkannte. »Sie müssen ihn mit einem Laster ausstatten«, fuhr Wilde fort. »Tugendhafte Menschen sind so banal.« Er hielt erneut inne. »Nicht nur mit einem Laster, Doyle, sondern mit einer Schwäche. Lassen Sie mich nachdenken - ah, ja! Ich erinnere mich.« Er schlug sein Exemplar von Eine Studie in Scharlachrot auf, blätterte schnell darin, fand eine Stelle und begann, Dr.Watson zu zitieren: »Ich hätte annehmen können, dass er nach dem Gebrauch irgendeines Narkotikums süchtig war, hätte sich wegen der Enthaltsamkeit und Reinlichkeit seiner ganzen Lebensweise ein derartiger Gedanke nicht verboten.« Wilde steckte das Buch zurück in seine Westentasche. »Na bitte - Sie hielten die perfekte Schwäche in Händen, aber Sie haben sie fallenlassen.
Nehmen Sie sie wieder auf! Liefern Sie Holmes der Gefährdung durch irgendeine Sucht aus. Opium, beispielsweise. Aber nein, Opium ist so furchtbar gewöhnlich heutzutage, es wird von den unteren Schichten in Mengen konsumiert.« Plötzlich schnippte er mit dem Finger. »Ich hab's! Kokainhydrochlorid. Das wäre eine originelle und elegante Schwäche, die Sie verwenden könnten.« »Kokain«, wiederholte Holmes ein wenig verunsichert. Als Arzt hatte er einigen Patienten, die an Erschöpfungszuständen oder Depressionen litten, eine siebenprozentige Lösung verschrieben, doch die Idee, Holmes zu einem Süchtigen zu machen, war auf den ersten Blick völlig absurd. Obgleich er Wilde um seine Meinung gebeten hatte, reagierte er doch etwas pikiert, als der ihn tatsächlich kritisierte. Auf der anderen Seite des Tischs setzten Stoddart und Gill ihr gutmütiges Streitgespräch fort. Wilde trank noch einen Schluck Wein und warf die Haare in den Nacken. »Und wie steht's mit Ihnen?«, fragte Doyle. »Wollen Sie denn für Stoddart ein Buch schreiben?« »Ja. Und ich werde dabei unter Ihrem Einfluss - besser gesagt, unter Holmes' Einfluss - stehen. Wissen Sie, ich habe immer gefunden, dass es so etwas wie ein moralisches oder unmoralisches Buch nicht gibt. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben, das ist alles. Aber ich bin fasziniert von der Idee, ein Buch über Kunst und Moral zu schreiben. Ich habe vor, es Das Bildnis des Dorian Gray zu nennen. Und wissen Sie, ich glaube, es wird eine recht schaurige Geschichte. Nicht eine Gespenstergeschichte, nicht direkt, sondern eine, in der die Hauptfigur ein abscheuliches Ende findet.
Die Art von Geschichte, die man bei Tageslicht und nicht beim Schein einer Lampe lesen möchte.« »Eine solche Geschichte scheint eigentlich nicht auf der gleichen Linie mit Ihren anderen Werken zu liegen.« Wilde blickte Doyle etwas belustigt an. »Ach ja? Haben Sie denn geglaubt, dass ich - als einer, der sich freudig auf dem Scheiterhaufen des Ästhetizismus opfern würde - das Antlitz des Grauens nicht erkenne, wenn ich hineinstarre? Lassen Sie mich Ihnen sagen: Der Schauder der Angst ist ebenso sinnlich, wenn nicht sinnlicher, als der Schauer der Lust.« Dies unterstrich er abermals mit einer knappen Geste. »Im Übrigen wurde mir einmal eine Geschichte erzählt, die in den Einzelheiten und im Ausmaß des dargestellten Bösen so furchterregend, so erschütternd ist, dass ich heute wahrhaft glaube, dass nichts, was ich höre, mich je wieder ängstigen kann.« »Wie interessant«, erwiderte Doyle ein wenig geistesabwesend, weil er noch immer über Wildes Kritik an Holmes nachgrübelte. Wilde betrachtete ihn. Auf seinen großen, blassen Gesichtszügen zeigte sich ein leises Lächeln. »Möchten Sie die Geschichte hören? Sie ist aber nichts für Zartbesaitete.« So, wie er die Frage gestellt hatte, klang das wie eine Herausforderung. »Ich bitte darum.« »Sie ist mir vor einigen Jahren während meiner Lesereise durch Amerika erzählt worden. Auf dem Weg nach San Francisco machte ich halt in einer recht armseligen, aber pittoresken Bergbausiedlung namens Roaring Fork. Ich hielt meine Lesung ganz unten in der Mine, und sie wurde außerordentlich gut aufgenommen von den Herren Bergleuten.
Nach der Lesung kam einer der Bergleute auf mich zu, ein älterer Bursche, den der Alkohol zum Schlechten oder vielleicht auch zum Guten verändert hatte. Er nahm mich beiseite und sagte, meine Geschichte habe ihm so gut gefallen, dass er mir eine seiner eigenen erzählen wolle.« Wilde hielt inne, befeuchtete seine dicken roten Lippen und nippte nur zart an seinem Wein. »Kommen Sie, wenn Sie sich etwas näher zu mir herüberbeugen, ja, so ist's recht, dann erzähle ich Ihnen die Geschichte genau so, wie sie mir zugetragen wurde ...« Zehn Minuten später hätte ein Gast im Restaurant des Hotels Langham überrascht bemerken können, wie - inmitten der leisen Klänge höflicher Konversation und des Klirrens von Besteck - ein junger Mann im Aufzug eines Landarztes jäh und blass im Gesicht vom Tisch aufstand. In seiner Aufregung stieß der Mann einen Stuhl um, legte eine Hand an die Stirn und verließ unsteten Schritts den Saal, wobei er das Tablett mit feinen Speisen, das ein Kellner gerade hereintrug, beinahe umgestoßen hätte. Und während er in Richtung der Herrentoilette verschwand, spiegelten sich in seiner Miene Abscheu und Entsetzen.
1
Gegenwart
Corrie Swanson betrat zum dritten Mal die Damentoilette, um ihr Aussehen zu überprüfen. Vieles hatte sich verändert, seit sie zum Beginn ihres zweiten Studienjahrs aufs John Jay College of Criminal Justice gewechselt war. Im John Jay ging es ziemlich zugeknöpft zu. Eine Zeitlang hatte sie sich dagegen gewehrt, aber schließlich doch erkannt, dass sie erwachsen werden und das Spiel des Lebens spielen musste, statt sich für immer wie eine Rebellin aufzuführen. Verschwunden waren die lila Haare, die Piercings, die schwarze Lederjacke, der dunkle Lidschatten und die anderen Requisiten ihrer Gothic-Vergangenheit. Gegen die Möbiusband- Tätowierung im Nacken war allerdings nichts zu machen, außer das Haar nach hinten zu kämmen und hohe Kragen zu tragen. Aber eines Tages würde auch die verschwinden müssen. Wenn sie bei dem Spiel schon mitspielen musste, dann würde sie es gut spielen. Leider hatte ihre persönliche Transformation nach Meinung ihres akademischen Betreuers - ein ehemaliger Cop der New Yorker Polizei, der wieder zur Uni gegangen und schließlich Professor geworden war - zu spät stattgefunden.
Corrie hatte das Gefühl, dass sein erster Eindruck von ihr der einer jugendlichen Straftäterin war und dass nichts, was sie in dem Jahr seit ihrer ersten Begegnung getan hatte, dazu beigetragen hatte, diesen Eindruck zu zerstreuen. Keine Frage, er hatte sie auf dem Kieker. Bereits ihren ersten Themenvorschlag für die Rosewell-Semesterarbeit hatte er abgelehnt. Dafür hatte sie nach Chile reisen wollen, um dort eine Perimortem-Analyse der Skelettreste durchzuführen, die man in einem Massengrab mit kommunistischen Bauern entdeckt hatte, die vom Pinochet-Regime in den 1970er Jahren ermordet worden waren. Zu weit weg, hatte er gesagt, zu teuer für ein Forschungsprojekt, und überhaupt sei das Schnee von gestern. Als Corrie entgegnete, dass es genau darum gehe - dass es sich um alte Gräber handele, die spezielle forensische Verfahren erforderten -, hatte er irgendetwas dahingehend geantwortet, sie solle sich nicht in außenpolitische Kontroversen einmischen, vor allem nicht kommunistisch gesteuerte. Jetzt hatte sie eine neue Idee für ihre Semesterarbeit, eine noch bessere, und sie war bereit, fast alles zu tun, um sie zu verwirklichen. Sie betrachtete sich im Spiegel, arrangierte ein paar Haarsträhnen um, zog sich die Lippen mit einem unauffälligen Lippenstift nach, zupfte ihr graues Kammgarnjackett glatt und puderte sich die Nase. Sie erkannte sich kaum wieder.
Gott, man hätte sie für ein Mitglied der Jungen Konservativen halten können. Umso besser. Sie verließ die Damentoilette und ging forschen Schritts über den Flur, wobei ihre konservativen Pumps berufsmäßig auf dem harten Linoleumboden klapperten. Wie üblich war die Tür ihres Dozenten geschlossen. Sie klopfte an, kurz und selbstbewusst. Von drinnen rief eine Stimme: »Herein.« Sie trat ein. Wie immer war das Büro absolut sauber und aufgeräumt, die Bücher und Fachzeitschriften in den Bücherregalen waren auf Kante gerückt, die bequemen, maskulin wirkenden Ledermöbel spendeten eine behagliche Atmosphäre. Professor Greg Carbone saß hinter seinem großen Schreibtisch, dessen riesige polierte Mahagoniplatte frei von Büchern, Zeitungen, Fotos von Familienangehörigen oder Schnickschnack war. »Guten Morgen, Corrie«, sagte Carbone, erhob sich und knöpfte seinen blauen Serge-Anzug zu. »Bitte nehmen Sie Platz.« »Vielen Dank, Professor.« Sie wusste, dass er sich gerne so anreden ließ. Wehe dem Studierenden, der ihn mit Mr. Carbone oder, schlimmer noch, Greg anredete. Er setzte sich wieder, sie nahm Platz. Carbone war ein auffallend gutaussehender Mann mit graumelierten Haaren, strahlend weißen Zähnen, schlank und fit, gut gekleidet, eloquent, leise und zurückhaltend, intelligent und erfolgreich. Alles, was er tat, machte er gut, und als Folge davon war er ein komplettes Arschloch. »Nun, Corrie«, begann Carbone, »Sie sehen heute gut aus.« »Vielen Dank, Professor Carbone.« »Ich bin gespannt, von Ihrer neuen Idee zu hören.« »Danke.« Corrie öffnete ihre Aktentasche (Rucksäcke waren am John Jay nicht gestattet), zog einen braunen Ordner hervor und legte ihn auf ihre Knie. »Sie haben sicherlich schon von der archäologischen Ausgrabung unten im City Hall Park gehört.
Unweit der Stelle, wo das alte Gefängnis stand, im Volksmund als ›Tombs‹ bekannt.« »Erzählen Sie mir davon.« »Mitarbeiter der Parkverwaltung haben einen kleinen Friedhof mit hingerichteten Straftätern ergraben, um Platz für einen neuen U-Bahn-Eingang zu schaffen.« »Ach ja, ich habe davon gelesen«, sagte Carbone. »Der Friedhof war zwischen 1858 und 1865 in Betrieb. Nach 1865 wurden alle nach Hinrichtungen Bestatteten nach Hart Island verlegt, und es gibt bis heute keinen Zugang zu ihnen.« Langsames Nicken seitens Carbone. Er wirkte interessiert; sie fühlte sich ermuntert, weiter auszuholen. »Ich glaube, dass die Ausgrabung eine großartige Gelegenheit bietet, eine osteologische Untersuchung dieser Skelette vorzunehmen - um festzustellen, ob eine gravierende Mangelernährung während der Kindheit, die, wie Sie wissen, osteologische Marker hinterlässt, möglicherweise mit kriminellem Verhalten im späteren Leben korreliert.« Noch ein Nicken von Carbone. »Ich habe das alles hier skizziert.« Sie legte ihr Konzept auf den Tisch. »Hypothese, Methodologie, Kontrollgruppe, Beobachtungen und Analyse.« Carbone legte eine Hand auf die Mappe, zog sie zu sich heran, klappte sie auf und blätterte darin herum. »Es gibt mehrere Gründe, warum es sich hier um eine großartige Gelegenheit handelt«, fuhr sie fort. »Erstens besitzt die Stadt brauchbare Unterlagen über die meisten dieser hingerichteten Straftäter - Namen, Vorstrafenregister und Prozessakten.
Über diejenigen, die im Arbeitshaus Five Points aufwuchsen - ungefähr ein halbes Dutzend -, gibt es zudem einige Unterlagen über ihre Kindheit. Alle diese Straftäter wurden auf dieselbe Weise hingerichtet - durch Erhängen -, so dass die Todesursache identisch ist. Und der Friedhof wurde nur sieben Jahre lang genutzt, deshalb stammen alle sterblichen Überreste ungefähr aus dem gleichen Zeitraum.« Sie hielt inne. Carbone blätterte langsam um, eine Seite nach der anderen, und las anscheinend. Was er dachte, war nicht zu erkennen; seine Miene blieb völlig ausdruckslos. »Ich habe ein paar Nachforschungen angestellt, und wie es scheint, hätte die Parkverwaltung nichts dagegen, die sterblichen Überreste von einer Studentin des John Jay untersuchen zu lassen.« Das langsame Umblättern hörte auf. »Sie haben die bereits kontaktiert?« »Ja. Ich habe nur mal vorgefühlt ...« »Vorgefühlt ... Sie haben eine andere städtische Behörde kontaktiert, ohne vorher meine Genehmigung einzuholen?« Oh-oh. »Natürlich wollte ich Ihnen nicht ein Projekt vorstellen, das später womöglich von einer anderen Behörde abgesägt wird. Hm, war das falsch?« Langes Schweigen, und dann: »Haben Sie denn nicht Ihr Handbuch für Studierende gelesen?« Corrie wurde bang zumute. Natürlich hatte sie es gelesen - als sie zum Studium zugelassen wurde. Aber das lag jetzt ein Jahr zurück. »Nicht in letzter Zeit.« »Darin steht völlig unmissverständlich: Studierende dürfen sich an andere städtische Behörden ausschließlich auf dem Dienstweg wenden.
Und zwar, weil wir eine städtische Einrichtung sind, wie Sie wissen, eine Fachhochschule der städtischen Universität von New York.« Das sagte er in mildem, beinahe freundlichem Tonfall. »Ich ... Na ja, es tut mir leid, mir war entfallen, dass das im Handbuch steht.« Sie schluckte und spürte eine aufsteigende Angst - und Wut. Das hier war ein schier unglaublicher Bullshit. Aber sie zwang sich, ganz cool und ruhig zu bleiben. »Ich habe nur einige Telefonate geführt, nichts Offizielles.« Ein Nicken. »Ich bin mir sicher, dass Sie nicht absichtlich gegen die Regularien der Universität verstoßen haben.« Er fing wieder an umzublättern, langsam, eine Seite nach der anderen, ohne sie dabei anzusehen. »Wie dem auch sei. Ich habe noch andere Probleme mit dem Konzept Ihrer Arbeit.« »Ja?« Corrie wurde mulmig zumute. »Diese Vorstellung, dass Mangelernährung zu einem kriminellen Leben führe ... Das ist eine alte Idee - und eine wenig überzeugende.« »Also, mir scheint sie es wert, überprüft zu werden.« »Damals waren fast alle Leute unterernährt. Aber nicht jeder ist kriminell geworden. Außerdem schmeckt die Idee - wie soll ich es ausdrücken? - nach einer gewissen Weltanschauung, wonach sich kriminelles Verhalten generell auf bedauerliche Kindheitserlebnisse zurückführen lässt.« »Aber Unterernährung - schwere Unterernährung - kann durchaus neurologische Veränderungen, ja sogar regelrechte Schäden verursachen. Das ist keine Weltanschauung, das ist wissenschaftlich belegt.« Carbone hielt ihr Konzeptpapier in der Hand. »Ich kann das Ergebnis bereits vorhersagen: Sie werden herausfinden, dass diese hingerichteten Straftäter als Kinder tatsächlich unterernährt waren. Die wahre Frage aber lautet: Warum hat von all diesen hungrigen Kindern nur ein kleiner Prozentsatz später im Leben ein Kapitalverbrechen begangen? Und die wird in Ihrem Konzept nicht thematisiert. Tut mir leid, das genügt nicht. Ganz und gar nicht.« Und indem er die Hand öffnete, ließ er ihre Mappe sachte auf seinen Schreibtisch fallen.
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Autoren-Porträt von Douglas Preston, Lincoln Child
Lincoln Child studierte Literatur und arbeitete viele Jahre als Lektor bei St. Martin's Press. Gemeinsam mit seinem Freund Douglas Preston entwickelte er 1995 das Romanprojekt "Das Relikt", das innerhalb kürzester Zeit ein Millionenpublikum begeisterte. Child lebt mit Frau und Tochter in New Jersey.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Douglas Preston , Lincoln Child
- 2013, 480 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Benthack, Michael
- Übersetzer: Michael Benthack
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426199858
- ISBN-13: 9783426199855
- Erscheinungsdatum: 20.12.2013
Rezension zu „Pendergast Band 13: Attack - Unsichtbarer Feind “
"Spannung, Abenteuer, unvorhergesehene Wendungen: Die Story hat Tempo, die Figuren sind sympathisch. Lesefutter mit Suchtpotential." -- WDR5 HF, Telefonische Mord(s)beratung, Reinhard Jahn , 22.02.2014
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