Populärmusik aus Vittula
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Kein Wunder, dass die beiden Kinder schon früh nichts anderes im Kopf haben, als sich wegzuträumen von diesem Ort. Als endlich der Rock'n'Roll Einzug hält im kleinen Tal, ist ihre Zeit gekommen.
"Populärmusik aus Vittula ist allerdings mehr. Es ist tatsächlich die nordische Neuerfindung des magischen Realismus, ist das in höchst selbständigen Bildern funkelnde Porträt einer europäischen Randlage, ist der pikareske Pubertätsroman einer totalen Provinz, ist eins der besten Bücher des Herbstes." -- Die Literarische Welt
"Herzerfrischend erzählt Niemi von Abenteuern und Streichen der Kindheit und dem Einbruch des RockŽn Roll in ihre Welt. Ein amüsantes, kurzweiliges, ein hinreißendes Buch!" -- Focus
Populärmusik aus Vittulavon Mikael Niemi
LESEPROBE
Es war Anfang der Sechzigerjahre, da wurde unser Viertel in Pajala
asphaltiert. Ich war fünf Jahre alt und hörte das Dröhnen,als sie
sich näherten. An unserem Haus vorbei kroch eine Kolonne panzerähnlicher
Fahrzeuge, die den holprigen und löchrigen Kiesweg zudurchwühlen
begannen. Es war im Frühsommer. Männer in Overalls liefenbreitbeinig
umher, spuckten Kautabak aus, schlugen mit den Stecheisen zuund murmelten
etwas auf Finnisch, während die Hausfrauen neugierig hinterden Gardinen
standen. Für einen kleinen Knirps war das höchst spannend.Ich hing
am Bretterzaun, guckte durch die Latten hindurch und sog denDieselqualm
dieser gepanzerten Wunderdinger in mich hinein. Sieverbissen sich
in den gewundenen Dorfweg, als wäre es ein alter Kadaver.Ein Lehmweg
mit unzähligen kleinen Kuhlen, die sich bei Regen sofortanfüllten,
ein pockennarbiger Rücken, der bei Tauwetter wie Butter dahinschmolz
und der im Sommer wie ein Hackfleischteig gesalzen wurde,damit der
Staub gebunden wurde. Ein Kiesweg war altmodisch. Dergehörte in die
vergangene Zeit, in der unsere Eltern geboren worden waren,die sie
aber letztendlich dann doch hinter sich lassen wollten.
Unser Viertel wurde im Volksmund Vittulajänkkägenannt, was in der
Übersetzung Fotzenmoor bedeutet. Der Ursprung des Namens warunklar,
kam aber sicher daher, dass hier so viele Kinder geborenwurden. In
vielen der Hütten gab es fünf Kinder, manchmal auch mehr,und der
Name wurde zu einer Art Lobgesang der weiblichenFruchtbarkeit. Vittulajänkkä,
oder Vittula, wie es abgekürztwurde, war von den Mitgliedern ärmerer
Familien bevölkert, die in den Hungerjahren in denDreißigern aufgewachsen
waren. Dank harter Arbeit und der Hochkonjunktur war manaufgestiegen
und hatte Geld für ein richtiges Haus aufnehmen können. Schweden
blühte, die Wirtschaft wuchs, und sogar Tornedalenwurde vom Fortschrittsrausch
mitgerissen. Die Entwicklung war so überraschend schnellgekommen,
dass man sich immer noch arm fühlte, obwohl man doch reichgeworden
war. Ab und zu kam die Befürchtung auf, alles könne einemwieder genommen
werden. Die Hausfrauen dachten hin und wieder vollerSchaudern hinter
ihren selbst genähten Gardinen, wie gut man es dochgetroffen hatte.
Man hatte ein ganzes Haus für sich selbst und seineNachkommenschaft.
Man konnte es sich leisten, Kleidung zu kaufen, die Kindermussten
nicht mehr in Lumpen und Gestopftem herumlaufen. Man hattesogar ein
Auto. Und jetzt würde auch noch der Kiesweg verschwinden,jetzt würde
das alles mit ölschwarzem Asphalt gekrönt werden. Die Armutwürde
in eine schwarze Lederjacke gekleidet. Es war die Zukunft,die hier
geschaffen wurde, glatt wie eine Wange. Hier würden dieKinder auf
ihren neuen Fahrrädern dem Wohlstand und derIngenieursausbildung
entgegenradeln können.
Die Hinterlader brüllten und brummten. Die Lastwagenstreuten Kies.
Die Dampfwalzen drückten das Straßenbett unter ihrengewaltigen Stahlzylindern
mit einem Gewicht zusammen, das so unfassbar war, dass ichmeinen
fünfjährigen Fuß drunterschiebenwollte. Stattdessen warf ich große
Steine vor die Walze, lief hin und suchte sie, nachdem dasFahrzeug
vorbeigefahren war, aber die Steine waren verschwunden. Siewaren
auf geradezu magische Weise fort. Das war gleichzeitiggruselig und
faszinierend. Ich legte meine Hand auf die plattgewalzte Oberfläche.
Sie fühlte sich sonderbar kalt an. Wie konnte so rauer Kiesglatt
wie ein Laken gebügelt werden? Ich warf eine Gabel aus derKüchenlade
hin und dann meine Plastikschaufel, und auch dieverschwanden spurlos.
Und noch heute bin ich mir nicht sicher, ob diese Dingewirklich dort
in dem Straßenbett liegen oder ob sie sich nicht tatsächlichauf irgendeine
magische Art aufgelöst haben.
Zu dieser Zeit kaufte meine große Schwester ihren erstenPlattenspieler.
Wenn sie noch in der Schule war, schlich ich mich in ihrZimmer. Er
stand auf ihrem Schreibtisch, ein technisches Wunderwerk ausschwarzem
Plastik, ein glänzender kleiner Kasten mit einem durchsichtigenDeckel,
der merkwürdige Knöpfe und Regler verbarg. Rund herum lagenLockenwickler,
Lippenstift und Spraydosen. Alles war modern, ein unnötigerLuxus,
alles ein Zeichen unseres Reichtums und ein Versprechen aufeine Zukunft
in Überfluss und Wohlstand. In einem Lackkästchen lagenStapel mit
Kinokarten und Fotos von Filmsternchen. Meine Schwestersammelte die
Eintrittskarten und hatte einen großen Stapel von Wilhelmssons Kino.
Auf die Rückseite schrieb sie den Filmtitel, dieHauptdarsteller und
eine Note.
Auf ein Plastikgestell, das aussah wie ein Abtropfgestellfür Geschirr,
hatte sie ihre einzige Single gestellt. Ich hatte ihr hochund heilig
versprochen, nicht einmal drauf zu hauchen. Jetzt ergriffich sie
mit zitternden Fingern, strich über die glänzende Hülle, aufder ein
fescher Jüngling Gitarre spielte. Eine schwarze Haarlockehing ihm
in die Stirn, er lächelte und erwiderte meinen Blick.Vorsichtig,
ganz vorsichtig holte ich das schwarze Vinyl heraus. Sorgsamhob ich
den Deckel des Plattenspielers. Ich versuchte mich daran zuerinnern,
wie meine Schwester es getan hatte, und legte die Scheibeauf den
Plattenteller. Schob das große Singleloch auf denMittelstutzen. Und
mit einer Erwartung, die mir den Schweiß ausbrechen ließ,schaltete
ich den Strom ein.
Der Plattenteller zuckte und begann sich zu drehen. Es warunerträglich
spannend, ich musste den Impuls unterdrücken, einfachdavonzulaufen.
Mit plumpen Jungsfingern packteich den Wurm, den schwarzen, steifen
Tonabnehmer mit seinem Giftzahn, grob wie ein Zahnstocher.Dann senkte
ich ihn auf das surrende Plastik hinab.
Es knisterte wie Speck in der heißen Pfanne. Und ich wusste,dass etwas
kaputtgehen würde. Ich hatte die Scheibe kaputtgemacht, manwürde
sie nie wieder spielen können.
»BAM-BAM... BAM-BAM...«
Nein, da kam es! Kräftige Akkorde. Und dann Elvis' fiebrigeStimme.
Ich blieb wie versteinert stehen. Vergaß zu schlucken,merkte nicht,
dass es von der Unterlippe tropfte. Ich fühlte michbutterweich, alles
drehte sich mir im Kopf, ich vergaß sogar zu atmen.
Das war die Zukunft. So klang sie. Musik, die dem Stampfender Straßenbaufahrzeuge
ähnelte, ein Gerassel, das kein Ende nahm, ein Lärm, der aufden purpurroten
Sonnenuntergang am Horizont verwies.
Ich beugte mich vor und schaute aus dem Fenster. Draußen aufder Straße
rückte ein Lastwagen vor, und ich sah, dass sie mit demendgültigen
Belag anfingen. Aber das war kein schwarzer, lederglänzender Asphalt,
den sie da auskippten. Sondern Ölschotter. Staubgrauer,holpriger,
hässlicher, verdammter Ölschotter.
Auf dem sollten wir Dummköpfe in die Zukunft radeln.
Als die Maschinen sich endlich zurückgezogen hatten, machteich kleine,
vorsichtige Ausflüge in die Nachbarschaft. Mit jedem Schrittwuchs
meine Welt. Die neubelegtenStraßen führten weiter zu anderen neugeteerten
Straßen, Grundstücke breiteten sich wie belaubte Parks aus,riesenhafte
Hunde zerrten an ihren rasselnden Laufleinen und kläfftenmich an.
Und je weiter ich ging, umso mehr gab es zu sehen. Die Weltnahm kein
Ende, sie weitete sich die ganze Zeit aus, und ich spürteeinen Schwindel,
der fast an Übelkeit grenzte, als ich verstand, dass manimmer, immer
weiter gehen konnte. Schließlich nahm ich all meinen Mutzusammen
und fragte Papa, der gerade unseren neuen Volvo PV wusch:
»Wie groß ist die Welt?«
»Ziemlich groß«, sagte er.
»Aber irgendwo muss sie doch zu Ende sein?«
»In China.«
Das war eine klare Antwort, die es mir leichter ums Herzmachte. Wenn
man nur lange genug lief, so fand man das Ende. Und das lagim Reich
dieser schlitzäugigen Tschingtschangtschongmenschenauf der anderen
Seite der Welt.
Es war Sommer und brütend heiß. Mein Hemd wurde nass von demtropfenden
Eis, das ich leckte. Ich verließ unseren Hofplatz, verließdie Sicherheit.
Ab und zu warf ich einen Blick zurück, aus Angst, mich zuverlaufen.
Ich begab mich zu dem Spielplatz, der eigentlich nur einealte Graswiese
war, die mitten im Ort zurückgeblieben war. Die Gemeindehatte ein
Schaukelgerüst auf dem Gras zusammengeschustert, und ichließ mich
auf dem schmalen Sitzbrett nieder. Eifrig begann ich dieKetten zu
bearbeiten, um an Fahrt zu gewinnen.
Im nächstenMoment bemerkte ich, dass mich jemand beobachtete. Da saß
ein Typ aufder Rutschbahn. Ganz oben, als ob er im nächsten Moment
herunterrutschenwollte. Aber er zögerte, unbeweglich wie ein Raubvogel,
undbetrachtete mich mit weit aufgerissenen Augen.
Ich war aufder Hut. Der Junge hatte etwas Unangenehmes an sich. Er
konntenicht dort gesessen haben, als ich kam, und es schien, als
wäre er ausheiterem Himmel aufgetaucht. Ich versuchte, ihn nicht
weiter zubeachten, schaukelte stattdessen so hoch, das die Ketten
in meinenHänden schlaff wurden. Schweigend schloss ich die Augen
und spürtedas Kribbeln im Bauch, während es immer schneller nach
unten ging,und dann flog ich wieder hinauf ins Licht auf der anderen
Seite.
© btb Verlag
Übersetzung:Christel Hildebrandt
Autoren-Porträt vonMikael Niemi
Mikael Niemi, geboren 1959, ist Autorzweier Gedichtbände und mehrerer Kinder- und Jugendbücher. Mit "Populärmusikaus Vittula", seinem Debütroman, schaffte er dasfast Unmögliche: Wie Schwedens Kritiker einhellig befanden, hat es in denletzten Jahren kein Buch gegeben, durch das sie tiefer berührt wurden - und beidem sie gleichzeitig so viel zu lachen hatten.
Interview mit Mikael Niemi
Ihr Buch wurde in Schweden, aberauch in Deutschland geradezu euphorisch aufgenommen. Wie feiert man einensolchen Erfolg in Nordschweden? Etwa so, wie in Ihrem Buch beschrieben?
Der Erfolg inSchweden war ja schon vor vier Jahren. Seitdem ist eine ganze Menge passiert. Einegroße Feier gab es, als ich den "August-Preis" (zu Ehren AugustStrindberg) im Dezember 2000 erhalten habe. Zu der Zeit ist auch mein Buch zumBestseller geworden. Ich habe jetzt übrigens eine Büste von Strindberg auf meinemSchreibtisch stehen. Es gab dann ein Fest für alle Freunde und die Familie. Wirhaben gesungen, getanzt und es gab freie Getränke - eine tolle Party! Seitdemwurde das Buch in mehr als 20 Sprachen übersetzt, und es gibt jetzt auch eineBühnenfassung.
Wovon träumen Matti und Niila, die in den 60ern in der wirklich tiefsten Provinz indie Pubertät schlittern?
Der Romanist sehr autobiografisch, wir träumten von einer Art neuer Energie. Rock nRoll ist pure Energie. Unser kleiner Ort war so still, so verschlafen. Wirträumten von lauter Musik, Mädchen, Konzerten. Und ich wollte die RollingStones sehen. Letzten Sommer habe ich sie endlich in Stockholm gesehen - mit 44Jahren. Es war wirklich genial: Als erstes spielten sie "Brown Sugar", den Song, den wir damals mit unserer Band gecovert haben. Außerdem wollten wir auch reisen, andereLänder sehen, eben wie alle jungen Leute. Als ich älter wurde, merkte ich erst,wie viel Schönes es auch bei uns in Pajala gibt. Esist hier übrigens eine ganz besondere Gegend. Offiziell sind wir zwar Schweden,aber immer stark von Finnland beeinflusst. Die Muttersprache meines Vaters ist z.B.Finnisch. Mein Nachname ist Finnisch, der Name unseres Dorfes auch. Ziel meinesBuches war es auch, auf uns hier oben im Norden aufmerksam zu machen. InSchweden hat sich eigentlich nie jemand für uns interessiert. Mein Buch zeigtbeispielhaft an unserer Region, wie rasant sich unsere Gesellschaften veränderthaben. Was in Deutschland 150 Jahre gedauert hat - die Industrialisierung undspäter die Computerisierung hat sich bei uns enorm schnell abgespielt. Diese Umbrücheinteressieren mich, der Mentalitätswechsel. Deshalb ist das Leben in denBüchern manchmal so modern, manchmal so altmodisch, und deshalb war mein Buchwohl auch so erfolgreich.
Sie sagen, dass Sie und Ihre Freundeall das so oder so ähnlich selbst erlebt haben. Aus Ihnen ist jetzt derberühmte Schriftsteller geworden, wie sieht es mit den alten Freunden aus?
Hier istdurch das Buch inzwischen jeder berühmt. Erfolg ist ja manchmal gefährlich,weil die Leute neidisch werden. Ich habe das hier aber niemals erlebt. Ichmache alles, was man hier halt so macht. Gehe auf die Jagd oder mit den Leutenfischen. Na gut, da sind dann noch meine Ausflüge nach Frankfurt oder New York,um meine Bücher zu promoten. Trotzdem fühle michnicht als etwas Besonderes. Vielleicht manchmal, wenn wieder die Journalistenanreisen, was sehr häufig passiert und für unsere Region hier sehr gut ist. Wirhaben viele Probleme vor allem mit der Arbeitslosigkeit und Abwanderung derjungen Leute. Drei meiner Schwestern sind nach Stockholm gegangen. Vielleichtgehöre ich zur letzten Generation, die hier lebt. Mein Roman wird vielleichtmal ein historisches Dokument sein. Mit der Popularität meines Buches fühlensich die Leute jetzt wieder stolz, investieren in die Region.
Wenn Ihr Buch verfilmt werdensollte, stelle ich mir vor, dass das nur Aki Kaurismäki machen könnte. Waswürden Sie von dieser Idee halten?
Das Buchwird gerade verfilmt! Allerdings nicht von Aki Kaurismäki. Der Film wird imSeptember fertig sein und dann in den schwedischen Kinos anlaufen. Ich bin sehrfroh, dass er in meinem Heimatort, in Pajala, gedrehtwurde, also dort, wo auch das Buch spielt. Meine alten Freunde sind da auch allezu sehen, zumindest als Statisten. Die Hauptrollen haben natürlichprofessionelle Schauspieler übernommen. Ich selbst spiele auch kleine Rolle. Ichhoffe, es wird ein großer Erfolg. Der Film soll aber auch den Tourismusankurbeln. Im September er seine Premiere in Pajalahaben. Da werden viele Journalisten kommen, und wir werden eine Woche langfeiern. Um noch ein wenig Werbung für uns zu machen: Infos gibt es unter: www.vittula.nu.
Die Fragen stellte Mathias Voigt, literaturtest.de.
- Autor: Mikael Niemi
- 2004, 303 Seiten, Maße: 11,7 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Christel Hildebrandt
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442731720
- ISBN-13: 9783442731725
- Erscheinungsdatum: 26.03.2004