Pornographie
Roman. Mit e. Nachw. v. Felix Ph. Ingold u. e. Essay v. Poul Vad
Grombrowiczs raffiniertester und provozierendster Roman: Zwei ältere Herren meinen zwischen der junge Henia und dem Burschen Karol erotische Spannungen wahrzunehmen und inszenieren einen frivolen Schwank. Henia soll ihren Verlobten Waclaw, einen langweilen...
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Produktinformationen zu „Pornographie “
Grombrowiczs raffiniertester und provozierendster Roman: Zwei ältere Herren meinen zwischen der junge Henia und dem Burschen Karol erotische Spannungen wahrzunehmen und inszenieren einen frivolen Schwank. Henia soll ihren Verlobten Waclaw, einen langweilen Advokaten, verlassen und dem unschuldigen Karol in die Arme fallen. Das vermeintlich harmlose Spiel endet mit einem raffiniert eingefädelten politischen Mord. Der moderne Klassiker jetzt mit einem Essay zu Leben und Werk Gombrowiczs von Paul Vad.
Klappentext zu „Pornographie “
Grombrowiczs raffiniertester und provozierendster Roman: Zwei ältere Herren meinen zwischen der junge Henia und dem Burschen Karol erotische Spannungen wahrzunehmen und inszenieren einen frivolen Schwank. Henia soll ihren Verlobten Wacl/ aw, einen langweilen Advokaten, verlassen und dem unschuldigen Karol in die Arme fallen. Das vermeintlich harmlose Spiel endet mit einem raffiniert eingefädelten politischen Mord. Der moderne Klassiker jetzt mit einem Essay zu Leben und Werk Gombrowiczs von Paul Vad.
Lese-Probe zu „Pornographie “
Der DritteÜber Gombrowiczs Ferdydurke und andere Großtaten
Aus dem Dänischen von Hanns Grössel
Von allen emigrierten Dichtern des 20. Jahrhunderts war Witold Gombrowicz vielleicht der unverschämteste. Kaum hatte er 1953 von Argentinien aus damit begonnen, sein Tagebuch in einer Pariser Exilzeitschrift zu veröffentlichen, benutzte er schon die Gelegenheit, zum Angriff auf das Polentum vorzugehen, und insbesondere das Polentum, wie es in der Optik der Emigranten aussah. Es war ungefähr so, wie wenn ein vorher schon umstrittener dänischer Schriftsteller unter der deutschen Besatzung zum Angriff auf die dänische Pflege des Dänentums vorgegangen wäre. Diese Angriffe waren für Gombrowicz nicht bloß polemische Markierungen in einer aktuellen Situation, sondern trugen bei zur Schaffung des literarischen Ichs, die er sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte. Man kann Gombrowiczs Romane als eine Art Experimente mit stilisierten Figuren sehen, durch die er die Wirklichkeit erforschte – in Form der Groteske, des Dramas oder des Albtraums und mit der immanenten Magie der Sprache als Leitfaden. Und man kann Gombrowiczs Leben als ein entsprechendes Experiment sehen, wie er es im Tagebuch inszenierte, womit er eine »nichtliterarische« literarische Form zur Kunst machte – um so mehr, als er selber schrieb: »Ich möchte in diesem Tagebuch offen darangehen, mir Talent zu konstruieren (...). Indem ich euch hinter die Kulissen meines Wesens führe, zwinge ich mich zum Rückzug in eine tiefere Tiefe.«
Gombrowicz war durchaus bewußt, daß das Ich des Tagebuchs eine literarische Konstruktion war, die genauso leicht mißlingen konnte wie die Schaffung einer fiktiven Person und eines fiktiven Universums. Seine Einführung dieses Ichs war nicht von Eitelkeit bestimmt, sondern muß als der freche und herausfordernde Ausdruck einer Überzeugung gesehen werden, in der sein großes bewundertes Vorbild Montaigne ihn bestärkt hatte: für andere Bedeutung erlangen,
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für andere von Wert sein kannst du nur, wenn du schamlos du selber bist. Zuerst und zuvörderst bekämpfte er jedwede Bereitschaft, sich die trivialsten Prämissen der aktuellen Geschichte (»große« Ereignisse) aufzwingen zu lassen, statt sich selbst, sein eigenes Ich zur entscheidenden Prämisse zu machen. Ich denke, daß das kampfbereite, kühle und distanzierte Ich des Tagebuchs die Verwirklichung einer persona war, die ihm als eine Hoffnung, ein Traum in Ferdydurke vorgeschwebt hatte, dem Roman, welcher der schiefe und widerspenstige Eckstein seines Lebenswerks ist und bleibt.
Es ist eine gute Idee, Gombrowiczs Romane jetzt zu lesen, jetzt, da der Roman in einer Krise ist. Ist denn der Roman gerade jetzt in einer Krise? Es erscheinen doch so viele gute Romane, ja es erscheinen gute Romane, die wirklich gut sind, wie also kann der Roman in einer Krise sein? Vielleicht, weil er allzu selbstverständlich ist. Gombrowiczs Romane sind keine guten Romane. Gombrowiczs Romane sind gegen den Roman geschrieben, sie sind unmögliche Romane, künstliche Romane, verkehrte Romane. Fast kann man sagen: sie sind gestelzte Romane, aber der Autor macht ganz bewußt aus dieser Gestelztheit eine Tugend, was ich, der Leser, als eine Beleidigung empfinde.
Ferdydurke ist in besonderem Sinne ein ureuropäisches Produkt; in ihm ist nämlich der eigentliche literarische und geistige Ursprung des modernen Europa durch die beiden Riesen Rabelais und Montaigne wiedergeboren, mit der respektlosen Selbstverständlicheit, die ihrem Geist eigen ist. Bei der Wiedergeburt sind die beiden Schriftsteller natürlich zur Unkenntlichkeit verwandelt, als ein Ergebnis dessen, daß Gombrowicz in das schmerzvolle Drama des 20. Jahrhunderttums eingetaucht war, das entscheidend zur Entwicklung seines eigenen Bewußtseins von Form und Stil beigetragen hat.
Form und Stil – darum geht es. Von hier geht die Beleidigung aus.
Die Romane, an die wir uns erinnern – vielleicht erinnern wir uns nicht zuletzt auf Grund ihrer Form an sie, da wir ihre Bedeutung in und durch die Form erleben. Josef K.s Geschichte wäre eine andere ohne die besondere kompakte Prosa, durch die sie hervortritt.
In Ferdydurke mischt Gombrowicz ständig verschiedene Stillagen, er verwendet Aufzählungen, Unsinn und Platitüden, dreht, wendet und knetet kurz gesagt die Sprache (fast) zur Unkenntlichkeit, als wollte er jedwede Sicherheit, jedwedes Vertrauen in die seriösen Absichten des Autors untergraben oder ganz einfach Zunge zeigen und ein bißchen Spaß machen. Wie Rabelais zieht Gombrowicz das Erhabene herunter, um es mit dem Niedrigen zu übertrumpfen – ja, es ist ein grundlegender Gedankengang und eine bewußte Strategie in dem ganzen Åuvre (auch in den Theaterstücken, denen er so große Bedeutung beimaß, und ich werde ihn kränken, indem ich sie stillschweigend übergehe). Es überrascht nicht, daß Gombrowicz 1936, während er an seinem Roman arbeitete, eine polnische Übersetzung von Jarrys Ubu Roi begrüßte. Es muß für ihn herzerquickend gewesen sein, diese ausgesucht niedrig-komische Parodie auf eine Shakespearesche Tragödie zu lesen.
Der Anfang von Ferdydurke spielt parodistisch mit der Göttlichen Komödie. Jozio, der Erzähler des Romans, der gerade dreißig Jahre alt geworden ist und sich also auf der Hälfte seines Lebensweges befindet, entdeckt eines Morgens zu seinem Entsetzen, daß er in die Unreife, ins Schulalter zurückgeschickt worden ist. Schon dieser parodistische Auftakt enthält die grundlegende Doppelheit in Gombrowiczs Werk. Zu allem, was groß, erhaben, vollkommen, absolut, erschöpfend, sublim usw. ist – oder als solches gilt –, sagt er nein! – wir wollen, bitte, auf die Erde herunterkommen, wo das Leben sich tatäschlich abspielt und in all seiner Unvollkommenheit gelebt werden kann und muß. Aber er sagt es in Werken, denen die größtmögliche künstlerische und intellektuelle Reife und Vollkommenheit zu verleihen, er seine Existenz einsetzte.
Als Jozio aus dem Walde fliehen will, in dem er sich bildlich befindet und der nicht stockdunkel, sondern grün ist, packt ihn »der kindliche, infantile Popo«. So ist, Gombrowicz zufolge, die Unreife mit ihrer Verantwortungslosigkeit und ihren anarchischen Neigungen stets bereit, uns zu pakken und zu blamieren. Über der Landschaft, durch die Jozio auf den letzten Seiten des Buches flieht, hängt der Popo, »der am Firmament erstorben ist in seiner absoluten Beständigkeit«: ein Bild dessen, daß der Ernst des Lebens, sogar die Tragödie immer von der schändlichen Existenz der unfreiwilligen Unreife bedroht ist.
Die Geschichte des »verpopoten« Jozio gibt in ihrem Verlauf Anlaß zu satirischen Schilderungen der polnischen Gesellschaft, aber die Satire ist bloß ein Element in einem beunruhigenderen künstlerischen Ganzen – wir sind hier nicht bei Hans Scherfig!
Jozios Erwachen am Morgen ist ein existentieller Schock, verwandt mit der Verhaftung von Josef K. in Der Prozeß (was vielleicht kein Zufall ist: Kafkas Roman war 1936 auf polnisch erschienen, angeblich in der Übersetzung von Gombrowiczs Freund Bruno Schulz, obwohl er in Wirklichkeit von Schulzens Verlobter Józefina Szeli´nska übersetzt war). Der »verpopote« Jozio ist außerdem mit jener Alice verwandt, die sich plötzlich in einer ebenso bezaubernden wie diabolischen Parallelwelt befindet, und er ist verwandt mit Gulliver, der auf seinen Reisen mal verkleinert, mal vergrößert wird und alle möglichen anderen Prüfungen jenseits der Normalität durchmacht bei seinen Begegnungen mit verzerrten Spiegelbildern der menschlichen Gesellschaft. Als ein weiteres Beispiel, fast gleichzeitig mit Ferdydurke, könnte man die von Polizisten bevölkerte Parallelwelt hinzufügen, in welcher der Erzähler von Flann O’Briens Der dritte Polizist landet.
Freilich macht Gombrowicz das mechanische Einpauken der Schule und die Leere akademischer Diskussionen lächerlich, doch die Hauptsache ist eher das Lächerlichmachen selbst, auf dessen Höhepunkt Grimassen und Körperteile als selbständige Akteure auftreten. Sowohl die Gesellschaftssatire als auch die explizite oder unausgesprochene psychologische Erzählung des Romans über das menschliche Gemüt und seine Tiefen werden ersetzt durch eine Beschreibung von Rollen und durch einen Austausch körperlicher Signale, deren stumme Sprache ein dahinterliegendes Drama enthüllt. Die Macht dieser nicht-sprachlichen Signale, die den üblichen psychologischen Ursachenerklärungen trotzt, tritt besonders deutlich zutage, als Jozio bei der Familie Jungmann in Obhut gegeben wird.*
Jozio spioniert wie ein Detektiv das »kulturradikale« Milieu der dreißiger Jahre aus, das die Familie Jungmann repräsentiert. Er beschnuppert das intime Leben um Bade- und Schlafzimmer, deren nichtsprachliche und latente sexuelle Signale einen beunruhigenden Beigeschmack dieser sonst so zuverlässig erscheinenden Existenzform enthüllen. Das ist wesentlich für Gombrowicz: er mißtraut auf fundamentale Weise der Erscheinungsform (und dem Selbstverständnis) von Menschen, Phänomenen und Überzeugungen, die er dann nicht intellektuell durch kritische Argumente destruiert, sondern entlarvt – und das gilt für die Romane wie für das Tagebuch –, in diesem Fall durch eine tief komische Parallele zur psychoanalytischen Traumdeutung oder der Aufdeckung psychopathischer Quellen von Fehlleistungen im Alltagsleben. 1935 hatte Gombrowicz Einführung in die Psychoanalyse gelesen – und besprochen –, und vielleicht gibt es da eine direkte Verbindung. Auf jeden Fall besteht eine Verwandtschaft zwischen der Art, wie Freud verborgene ursächliche Zusammenhänge zwischen getrennten Phänomenen in der Psyche des einzelnen Menschen aufweist, die bisweilen etwas von phantastischen Erzählungen haben, und den seltsamen magischen Zusammenhängen zwischen Menschen untereinander – oder zwischen ihren Körperteilen oder zwischen Menschen und Dingen –, die in Gombrowiczs Romanen als eine Art zweiter Wirklichkeit, als die wirkliche Wirklichkeit erscheinen.
Die Jungmanns sind eine Metapher für die banalisierte Ausgabe des Projekts der Moderne, und wenn der beunruhigende Beigeschmack sich als ein Beigeschmack von Utopie erweist, trifft Gombrowicz – prophetisch, könnten wir sagen, weil wir das Projekt ausgeführt gesehen haben – die Theologie der Befreiung in ihrem schwachen Punkt: das Fehlen eines Bewußtseins von den Unkosten, letztlich von der Möglichkeit des Tragischen; die Illusion, der zufolge die Befreiung nicht bloß zu einem anderen, befreiten Zustand, sondern zur Freiheit von Schmerz führt.
Hinter dem leichthändigen Umgang der Erzählung mit Schlafzimmer und Utopie liegt mit anderen Worten eine dunkle Vision, die das banale Haus der Jungmanns zu einer Geheimnisvilla macht. Vielleicht ist Fräulein Jungmann der erste Teenager in der Literatur, der die neue, revolutionierende Rolle des Teenagers in der Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts repräsentiert – diese ungenierte, sportliche und für den Blick des erwachsenen Mannes rätselhafte Göttin. Sie ist eine Art sexuelles Magnetfeld, das mit der europäisch-amerikanischen politischen Wirklichkeit der Gegenwart korrespondiert, ein Ausdruck dafür, wie Gombrowicz die disparatesten Signale der Zeit auf verblüffende Weise ineins zu lesen verstand.
Jozio verliebt sich natürlich in Fräulein Jungmann. Daß sie ihn keines Blickes würdigt, weckt das Böse in ihm: er wird selber von Höllenkräften bewohnt. Jozio plant, intrigiert und inszeniert eine erdrückende, burleske stummfilmartige Farce, welche die Familie Jungmann und seine übrigen Feinde zu Fall bringen soll – oder mit der er sie verpopot, indem er den Teppich unter ihrem Selbstverständnis wegzieht und sie lächerlichgemacht einander – und sich selbst – gegenüberstehen läßt. Inszenierung ist ein Schlüsselbegriff bei Gombrowicz. Da wir Gombrowicz zufolge nie unmittelbar »wir selber« sind, sondern immer wir selber in den anderen reflektiert, von den anderen geschaffen, ist es nur ein kleiner Sprung dahin, daß wir von den anderen inszeniert werden und selber die anderen inszenieren. Jozio inszeniert – sogar unter Verwendung von Statisten – die anderen, um sich selbst zu retten. Die Pointe in Pornographie ist eine Inszenierung: zwei Hauptpersonen mittleren Alters treiben ihr Spiel mit zwei Jungen, deren Unreife und Unschuld die Schönheit verkörpern, die mit dem Schmerz am Leben versöhnt.
Am Schluß von Ferdydurke, beim Aufenthalt auf einem Landgut, ergreift Jozio die Flucht, aus der Verkindlichung und der Unreife heraus, zu denen er am Anfang verurteilt worden war. Da er auf der Flucht sowohl seine Kusine Zosia als auch die total feminisierte Landschaft, in die sie ihn führt, als eine Bedrohung seiner Existenz empfindet, ruft er den geheimnisvollen Dritten herbei, der allein ihn retten kann. Hier schlagen Gombrowiczs Gedanken eine neue Richtung ein und finden ihren Niederschlag in Bildern, die eine ganz andere Geschichte erzählen. Das kann Ausdruck der atavistischen Gebundenheit des Mannes an den Sumpf der Mütterlichkeit sein oder seine Angst davor, oder aber der homoerotische Widerwille gegen die feuchte Umklammerung durch die weibliche Weichheit. In dem Dritten soll man vielleicht nicht bloß eine virile Figur, sondern ein apollinisches Prinzip sehen. Fremd, unbekannt, kühl, rein, fern, neutral – das sind die Wörter, die ihn charakterisieren, das sind die Eigenschaften, auf die Jozio sein Vertrauen setzt.
Obwohl, wie erwähnt, kein Zweifel daran besteht, daß Rabelais Gombrowiczs Lehrmeister und großes Vorbild hinsichtlich der Groteske gewesen ist, muß hervorgehoben werden, daß nicht der Rabelais gemeint ist, den wir heute gerne mit Bachtins Brille lesen, nicht unbedingt der Rabelais des grotesken Körpers und des volkstümlichen Karnevalismus, sondern ein subtilerer. Über die Bilder, zu deren Hervorbringung der Dritte Anlaß gibt, zeigt Gombrowicz ein Korrektiv zu den Implikationen der losgerissenen Körperteile und der verkindlichten Relationen: das Bekenntnis zu einer erlösenden Rationalität. Ergreift er nicht auch im Geiste des Dritten später das Wort im Tagebuch (1953–69), um durch dessen Selbstinszenierung sich selbst bis zum äußersten zu erproben, den Zeitgeist und die grundlegende Qual des Menschen, den Schmerz am Leben zu bedenken? Denn der Tagebuchschreiber Gombrowicz hält ja gerade Distanz, legt kühlen Abstand in die Behandlung seiner eigenen Existenz als Experiment und Schrift. Im selben Geiste bedenkt Gombrowicz das Lachen, das nicht wie bei Rabelais das üppige und gesundheitbringende Lachen der Lebensbejahung sein kann – in dem zum Bewußtsein seiner Tragik gelangten zwanzigsten Jahrhundert muß es, wie er in einer Tagebucheintragung von 1954 sagt, »ein Lachen mit Vorbedacht sein, kaltblütig und ernsthaft eingesetzter Humor, todernste Anwendung des Lachens auf unsere Tragödie«. Eben das Lachen, das wir aus der Lektüre von Ferdydurke kennen.
In den 50er Jahren standen Lachen und Humor nicht hoch im Kurs bei den Schriftstellern, die sich insbesondere mit »unserer Tragödie beschäftigten« (auch in Dänemark nicht!). Nach Ablauf eines halben Jahrhunderts machen sich wohl nur die wenigsten eine Vorstellung davon, mit welcher erdrückenden Stärke der Zweite Weltkrieg, die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, die Wasserstoffbombe und das Bewußtsein vom Ausmaß der Greuel der Vernichtungslager mehrere Generationen von Schriftstellern trafen.
Im Chor der Stimmen, die sich mit den moralischen Problemen beschäftigten, welche die Zeit allen denkenden Menschen aufnötigte, war die Stimme von Camus eine derjenigen, die am weitesten hinausdrang und den größten Widerhall fand. Camus war Pflichtlektüre – das galt für die Romane
und die provokative Zeitanalyse in den zwei Büchern, deren Titel überall in der westlichen Welt Widerhall fanden, Der Mythos von Sisyphos und Der Mensch in der Revolte, so als gäben sie in aller Kürze eine Summe der menschlichen Situation. Sie waren derart bekannt, diskutiert, referiert und zitiert, daß man nicht einmal fand, man müsse sie lesen, um sie zu kennen (was natürlich nicht richtig war). Das war einer meiner eigenen Gründe, sie (und Camus überhaupt) damals, in den 50ern, abzuwählen: sie rochen nach einer Art humanistischer Korrektheit auf hohem intellektuellem Niveau. Ich war außerstande, mich mit der rhetorischen Verzweiflung im Namen der Zeit zu versöhnen, die ihren Erfolg begründete, und konnte mich nicht mit dem rhetorischen Anpfiff versöhnen, der die implizite Botschaft dieser Rhetorik war. Es besteht kaum ein Zweifel daran, daß die Abrechnung mit der totalitären Ideologie des Kommunismus in Der Mensch in der Revolte eine große Rolle spielte, nicht zuletzt in Frankreich, und daß Camus in seiner intellektuellen Integrität mit einer wichtigen Botschaft durchdrang. Nichts desto weniger fühle ich jetzt meine Empfindung von damals bestätigt: »Aber um deswillen müssen Kunst und Gesellschaft, Schöpfung und Revolution, zur Quelle der Revolte zurückfinden, wo Abweisung und Zustimmung, Besonderheit und Allgemeines, Individuum und Geschichte sich die Waage halten
in härtester Angespanntheit.« In diesem »müssen« entlarvt sich der Moralist, während die großen Begriffe als rhetorische Ornamente verführerisch flattern und in dem vergangenen halben Jahrhundert als rhetorische Vorbilder für die Zeitungskommentare unzähliger kleiner Camus’ gedient haben.
Von seinem Ausguck auf der anderen Seite des Atlantiks aus nahm Gombrowicz nicht nur Stellung zu Tun und Lassen des polnischen Emigrantenmilieus, sondern auch zum intellektuellen Leben in Frankreich (zur angelsächsischen Welt war er ohne Kontakt), das in so hohem Maße die Tagesordnung der Zeit bestimmte – und schon deshalb sein Gegner sein mußte. Was Camus’ Schrift Der Mensch in der Revolte betrifft, nahm Gombrowicz eben die Rhetorik aufs Korn und das, was er als ihre Quelle verstand: »sein Bedürfnis nach Tragödie«. Gombrowicz selber war kühl (»um ehrlich zu sein, habe ich Gefühle immer nur in Anführungszeichen«) und deshalb unempfänglich für die Art von Erregung, die Moralisten überkommt – die eben deshalb oftmals Kälte ausstrahlen, was Camus, Gombrowicz zufolge, denn auch tut. Wo andere meinten, die Bosheit des einzelnen zu sehen, da sah er seine Auffassung bestätigt: daß der einzelne Mensch nicht in erster Linie auf der Grundlage seiner persönlichen Eigenart und Moral, so wie er sie sich einbildet, sondern über und durch andere Menschen handelt, von anderen Menschen bestimmt. Der Mensch »tötet, weil andere töten. Er quält, weil andere quälen. Die schrecklichste Tat wird leicht, wenn der Weg zu ihr geebnet ist«.
Im Gegensatz zu Camus ging Gombrowicz in Montaignes Fußspuren. Er sagte eigentlich nur: dies bin ich, so sehe ich es, so erlebe ich es – ja, so lebe ich es, täglich: denn das Tagebuch wimmelt von kleinen »Erzählungen« über die Erlebnisse des Alltags und von den Perspektiven des Denkens, zu denen sie Anlaß geben.
Einen weitaus stärkeren Gegner als Camus, eine weitaus würdigere Herausforderung fand Gombrowicz in Simone Weil, deren Ruf sich nach dem Kriege verbreitete (sie war 1942 gestorben). Er las La pesanteur et la grace (Schwerkraft und Gnade) und war sich sogleich über ihr ungewöhnliches Format klar. Als religiöse Denkerin mußte Weil ihm fremd sein, aber wenn er sich schließlich von ihr abgestoßen fühlte, dann auf Grund ihres Heroismus, des absoluten Anspruchs, den sie an sich selbst stellte, und der Konsequenz des Denkens, die sie in die dünnsten Luftschichten des Geistes und des Intellekts trieb, wo das »gewöhnliche« menschliche Leben, das nicht zu diesen Höhen aufsteigen kann, außer Sicht geraten ist. Auch persönlich konnte er sich nicht mit einer Existenz zu den Bedingungen des geistigen Heroismus versöhnen und gestand in seinem Tagebuch: »... ich bin stolz darauf, daß mein Schmerz sich in Grenzen hält. Das bringt mich dem Durchschnitt näher, also der Norm, den solidesten Schichten des Lebens.«
Gombrowicz war Atheist nicht aus intellektuellen Gründen, kraft einer erkämpften Überzeugung, sondern eher deshalb, weil Glaube, jede Form von Glauben, für ihn irrelevant war. Er hatte ganz einfach kein Organ für Religiosität. Daß Weil für ihn dennoch nicht irrelevant war, daß er sich über viele Seiten hin mit ihr beschäftigen und sozusagen versuchen mußte, sich mit ihr zu versöhnen und sie für sich zu retten, wirft ein Licht auf ihn selbst.
Simone Weil ist das Geschenk des 20. Jahrhunderts an die universelle religiöse Mystik. Sie ist kristallklar und unergründlich, eine reiche innere Erfahrung und ein körperlicher und mentaler Schmerz, vom Denken durchleuchtet und hervorgeschrieben in einer Sprache von vorbildlicher Ökonomie, wo jeder Satz eine endgültige Aussage zu sein scheint. Obwohl sie sich zum Katholizismus bekannte, ist es schwierig, sie mit der katholischen Theologie wie auch mit der Kirche als gesellschaftlicher Institution in Verbindung zu bringen. Für sie hatte der Gott, von dessen mystischer Existenz sie überzeugt war, diese Welt unabhänging von seinem eigenen Sein geschaffen – das nur in Schimmern, in Zuständen von Gnade (grâce) sich fassen läßt. Diese Welt ist total der Schwerkraft (la pesanteur) unterworfen, die nicht nur eine des Stoffes, sondern auch eine des Geistes ist. Stoff und Geist sind denselben unerbittlichen Gesetzen, derselben Notwendigkeit unterworfen. »Gott hat alle Phänomene ohne Ausnahme dem Mechanismus der Welt anvertraut.« – »Die Notwendigkeit
ist der Schleier Gottes.« Es ist eine Art materialistischer Mystik, deren innerster Grund Gott ist, entblößt von der »Spiritualität«, die heute der Trost vieler Menschen ist (wenngleich Weil mit der indischen Religion und dem Taoismus tief vertraut war). Es ist eine radikale Form des Manichäismus, der nicht zwischen dem Stoff und dem Geist, sondern zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen unterscheidet und den Weil mit genialer psychologischer Einsicht und Konsequenz entwickelt.
Es ist eine gute Idee, Gombrowiczs Romane jetzt zu lesen, jetzt, da der Roman in einer Krise ist. Ist denn der Roman gerade jetzt in einer Krise? Es erscheinen doch so viele gute Romane, ja es erscheinen gute Romane, die wirklich gut sind, wie also kann der Roman in einer Krise sein? Vielleicht, weil er allzu selbstverständlich ist. Gombrowiczs Romane sind keine guten Romane. Gombrowiczs Romane sind gegen den Roman geschrieben, sie sind unmögliche Romane, künstliche Romane, verkehrte Romane. Fast kann man sagen: sie sind gestelzte Romane, aber der Autor macht ganz bewußt aus dieser Gestelztheit eine Tugend, was ich, der Leser, als eine Beleidigung empfinde.
Ferdydurke ist in besonderem Sinne ein ureuropäisches Produkt; in ihm ist nämlich der eigentliche literarische und geistige Ursprung des modernen Europa durch die beiden Riesen Rabelais und Montaigne wiedergeboren, mit der respektlosen Selbstverständlicheit, die ihrem Geist eigen ist. Bei der Wiedergeburt sind die beiden Schriftsteller natürlich zur Unkenntlichkeit verwandelt, als ein Ergebnis dessen, daß Gombrowicz in das schmerzvolle Drama des 20. Jahrhunderttums eingetaucht war, das entscheidend zur Entwicklung seines eigenen Bewußtseins von Form und Stil beigetragen hat.
Form und Stil – darum geht es. Von hier geht die Beleidigung aus.
Die Romane, an die wir uns erinnern – vielleicht erinnern wir uns nicht zuletzt auf Grund ihrer Form an sie, da wir ihre Bedeutung in und durch die Form erleben. Josef K.s Geschichte wäre eine andere ohne die besondere kompakte Prosa, durch die sie hervortritt.
In Ferdydurke mischt Gombrowicz ständig verschiedene Stillagen, er verwendet Aufzählungen, Unsinn und Platitüden, dreht, wendet und knetet kurz gesagt die Sprache (fast) zur Unkenntlichkeit, als wollte er jedwede Sicherheit, jedwedes Vertrauen in die seriösen Absichten des Autors untergraben oder ganz einfach Zunge zeigen und ein bißchen Spaß machen. Wie Rabelais zieht Gombrowicz das Erhabene herunter, um es mit dem Niedrigen zu übertrumpfen – ja, es ist ein grundlegender Gedankengang und eine bewußte Strategie in dem ganzen Åuvre (auch in den Theaterstücken, denen er so große Bedeutung beimaß, und ich werde ihn kränken, indem ich sie stillschweigend übergehe). Es überrascht nicht, daß Gombrowicz 1936, während er an seinem Roman arbeitete, eine polnische Übersetzung von Jarrys Ubu Roi begrüßte. Es muß für ihn herzerquickend gewesen sein, diese ausgesucht niedrig-komische Parodie auf eine Shakespearesche Tragödie zu lesen.
Der Anfang von Ferdydurke spielt parodistisch mit der Göttlichen Komödie. Jozio, der Erzähler des Romans, der gerade dreißig Jahre alt geworden ist und sich also auf der Hälfte seines Lebensweges befindet, entdeckt eines Morgens zu seinem Entsetzen, daß er in die Unreife, ins Schulalter zurückgeschickt worden ist. Schon dieser parodistische Auftakt enthält die grundlegende Doppelheit in Gombrowiczs Werk. Zu allem, was groß, erhaben, vollkommen, absolut, erschöpfend, sublim usw. ist – oder als solches gilt –, sagt er nein! – wir wollen, bitte, auf die Erde herunterkommen, wo das Leben sich tatäschlich abspielt und in all seiner Unvollkommenheit gelebt werden kann und muß. Aber er sagt es in Werken, denen die größtmögliche künstlerische und intellektuelle Reife und Vollkommenheit zu verleihen, er seine Existenz einsetzte.
Als Jozio aus dem Walde fliehen will, in dem er sich bildlich befindet und der nicht stockdunkel, sondern grün ist, packt ihn »der kindliche, infantile Popo«. So ist, Gombrowicz zufolge, die Unreife mit ihrer Verantwortungslosigkeit und ihren anarchischen Neigungen stets bereit, uns zu pakken und zu blamieren. Über der Landschaft, durch die Jozio auf den letzten Seiten des Buches flieht, hängt der Popo, »der am Firmament erstorben ist in seiner absoluten Beständigkeit«: ein Bild dessen, daß der Ernst des Lebens, sogar die Tragödie immer von der schändlichen Existenz der unfreiwilligen Unreife bedroht ist.
Die Geschichte des »verpopoten« Jozio gibt in ihrem Verlauf Anlaß zu satirischen Schilderungen der polnischen Gesellschaft, aber die Satire ist bloß ein Element in einem beunruhigenderen künstlerischen Ganzen – wir sind hier nicht bei Hans Scherfig!
Jozios Erwachen am Morgen ist ein existentieller Schock, verwandt mit der Verhaftung von Josef K. in Der Prozeß (was vielleicht kein Zufall ist: Kafkas Roman war 1936 auf polnisch erschienen, angeblich in der Übersetzung von Gombrowiczs Freund Bruno Schulz, obwohl er in Wirklichkeit von Schulzens Verlobter Józefina Szeli´nska übersetzt war). Der »verpopote« Jozio ist außerdem mit jener Alice verwandt, die sich plötzlich in einer ebenso bezaubernden wie diabolischen Parallelwelt befindet, und er ist verwandt mit Gulliver, der auf seinen Reisen mal verkleinert, mal vergrößert wird und alle möglichen anderen Prüfungen jenseits der Normalität durchmacht bei seinen Begegnungen mit verzerrten Spiegelbildern der menschlichen Gesellschaft. Als ein weiteres Beispiel, fast gleichzeitig mit Ferdydurke, könnte man die von Polizisten bevölkerte Parallelwelt hinzufügen, in welcher der Erzähler von Flann O’Briens Der dritte Polizist landet.
Freilich macht Gombrowicz das mechanische Einpauken der Schule und die Leere akademischer Diskussionen lächerlich, doch die Hauptsache ist eher das Lächerlichmachen selbst, auf dessen Höhepunkt Grimassen und Körperteile als selbständige Akteure auftreten. Sowohl die Gesellschaftssatire als auch die explizite oder unausgesprochene psychologische Erzählung des Romans über das menschliche Gemüt und seine Tiefen werden ersetzt durch eine Beschreibung von Rollen und durch einen Austausch körperlicher Signale, deren stumme Sprache ein dahinterliegendes Drama enthüllt. Die Macht dieser nicht-sprachlichen Signale, die den üblichen psychologischen Ursachenerklärungen trotzt, tritt besonders deutlich zutage, als Jozio bei der Familie Jungmann in Obhut gegeben wird.*
Jozio spioniert wie ein Detektiv das »kulturradikale« Milieu der dreißiger Jahre aus, das die Familie Jungmann repräsentiert. Er beschnuppert das intime Leben um Bade- und Schlafzimmer, deren nichtsprachliche und latente sexuelle Signale einen beunruhigenden Beigeschmack dieser sonst so zuverlässig erscheinenden Existenzform enthüllen. Das ist wesentlich für Gombrowicz: er mißtraut auf fundamentale Weise der Erscheinungsform (und dem Selbstverständnis) von Menschen, Phänomenen und Überzeugungen, die er dann nicht intellektuell durch kritische Argumente destruiert, sondern entlarvt – und das gilt für die Romane wie für das Tagebuch –, in diesem Fall durch eine tief komische Parallele zur psychoanalytischen Traumdeutung oder der Aufdeckung psychopathischer Quellen von Fehlleistungen im Alltagsleben. 1935 hatte Gombrowicz Einführung in die Psychoanalyse gelesen – und besprochen –, und vielleicht gibt es da eine direkte Verbindung. Auf jeden Fall besteht eine Verwandtschaft zwischen der Art, wie Freud verborgene ursächliche Zusammenhänge zwischen getrennten Phänomenen in der Psyche des einzelnen Menschen aufweist, die bisweilen etwas von phantastischen Erzählungen haben, und den seltsamen magischen Zusammenhängen zwischen Menschen untereinander – oder zwischen ihren Körperteilen oder zwischen Menschen und Dingen –, die in Gombrowiczs Romanen als eine Art zweiter Wirklichkeit, als die wirkliche Wirklichkeit erscheinen.
Die Jungmanns sind eine Metapher für die banalisierte Ausgabe des Projekts der Moderne, und wenn der beunruhigende Beigeschmack sich als ein Beigeschmack von Utopie erweist, trifft Gombrowicz – prophetisch, könnten wir sagen, weil wir das Projekt ausgeführt gesehen haben – die Theologie der Befreiung in ihrem schwachen Punkt: das Fehlen eines Bewußtseins von den Unkosten, letztlich von der Möglichkeit des Tragischen; die Illusion, der zufolge die Befreiung nicht bloß zu einem anderen, befreiten Zustand, sondern zur Freiheit von Schmerz führt.
Hinter dem leichthändigen Umgang der Erzählung mit Schlafzimmer und Utopie liegt mit anderen Worten eine dunkle Vision, die das banale Haus der Jungmanns zu einer Geheimnisvilla macht. Vielleicht ist Fräulein Jungmann der erste Teenager in der Literatur, der die neue, revolutionierende Rolle des Teenagers in der Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts repräsentiert – diese ungenierte, sportliche und für den Blick des erwachsenen Mannes rätselhafte Göttin. Sie ist eine Art sexuelles Magnetfeld, das mit der europäisch-amerikanischen politischen Wirklichkeit der Gegenwart korrespondiert, ein Ausdruck dafür, wie Gombrowicz die disparatesten Signale der Zeit auf verblüffende Weise ineins zu lesen verstand.
Jozio verliebt sich natürlich in Fräulein Jungmann. Daß sie ihn keines Blickes würdigt, weckt das Böse in ihm: er wird selber von Höllenkräften bewohnt. Jozio plant, intrigiert und inszeniert eine erdrückende, burleske stummfilmartige Farce, welche die Familie Jungmann und seine übrigen Feinde zu Fall bringen soll – oder mit der er sie verpopot, indem er den Teppich unter ihrem Selbstverständnis wegzieht und sie lächerlichgemacht einander – und sich selbst – gegenüberstehen läßt. Inszenierung ist ein Schlüsselbegriff bei Gombrowicz. Da wir Gombrowicz zufolge nie unmittelbar »wir selber« sind, sondern immer wir selber in den anderen reflektiert, von den anderen geschaffen, ist es nur ein kleiner Sprung dahin, daß wir von den anderen inszeniert werden und selber die anderen inszenieren. Jozio inszeniert – sogar unter Verwendung von Statisten – die anderen, um sich selbst zu retten. Die Pointe in Pornographie ist eine Inszenierung: zwei Hauptpersonen mittleren Alters treiben ihr Spiel mit zwei Jungen, deren Unreife und Unschuld die Schönheit verkörpern, die mit dem Schmerz am Leben versöhnt.
Am Schluß von Ferdydurke, beim Aufenthalt auf einem Landgut, ergreift Jozio die Flucht, aus der Verkindlichung und der Unreife heraus, zu denen er am Anfang verurteilt worden war. Da er auf der Flucht sowohl seine Kusine Zosia als auch die total feminisierte Landschaft, in die sie ihn führt, als eine Bedrohung seiner Existenz empfindet, ruft er den geheimnisvollen Dritten herbei, der allein ihn retten kann. Hier schlagen Gombrowiczs Gedanken eine neue Richtung ein und finden ihren Niederschlag in Bildern, die eine ganz andere Geschichte erzählen. Das kann Ausdruck der atavistischen Gebundenheit des Mannes an den Sumpf der Mütterlichkeit sein oder seine Angst davor, oder aber der homoerotische Widerwille gegen die feuchte Umklammerung durch die weibliche Weichheit. In dem Dritten soll man vielleicht nicht bloß eine virile Figur, sondern ein apollinisches Prinzip sehen. Fremd, unbekannt, kühl, rein, fern, neutral – das sind die Wörter, die ihn charakterisieren, das sind die Eigenschaften, auf die Jozio sein Vertrauen setzt.
Obwohl, wie erwähnt, kein Zweifel daran besteht, daß Rabelais Gombrowiczs Lehrmeister und großes Vorbild hinsichtlich der Groteske gewesen ist, muß hervorgehoben werden, daß nicht der Rabelais gemeint ist, den wir heute gerne mit Bachtins Brille lesen, nicht unbedingt der Rabelais des grotesken Körpers und des volkstümlichen Karnevalismus, sondern ein subtilerer. Über die Bilder, zu deren Hervorbringung der Dritte Anlaß gibt, zeigt Gombrowicz ein Korrektiv zu den Implikationen der losgerissenen Körperteile und der verkindlichten Relationen: das Bekenntnis zu einer erlösenden Rationalität. Ergreift er nicht auch im Geiste des Dritten später das Wort im Tagebuch (1953–69), um durch dessen Selbstinszenierung sich selbst bis zum äußersten zu erproben, den Zeitgeist und die grundlegende Qual des Menschen, den Schmerz am Leben zu bedenken? Denn der Tagebuchschreiber Gombrowicz hält ja gerade Distanz, legt kühlen Abstand in die Behandlung seiner eigenen Existenz als Experiment und Schrift. Im selben Geiste bedenkt Gombrowicz das Lachen, das nicht wie bei Rabelais das üppige und gesundheitbringende Lachen der Lebensbejahung sein kann – in dem zum Bewußtsein seiner Tragik gelangten zwanzigsten Jahrhundert muß es, wie er in einer Tagebucheintragung von 1954 sagt, »ein Lachen mit Vorbedacht sein, kaltblütig und ernsthaft eingesetzter Humor, todernste Anwendung des Lachens auf unsere Tragödie«. Eben das Lachen, das wir aus der Lektüre von Ferdydurke kennen.
In den 50er Jahren standen Lachen und Humor nicht hoch im Kurs bei den Schriftstellern, die sich insbesondere mit »unserer Tragödie beschäftigten« (auch in Dänemark nicht!). Nach Ablauf eines halben Jahrhunderts machen sich wohl nur die wenigsten eine Vorstellung davon, mit welcher erdrückenden Stärke der Zweite Weltkrieg, die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, die Wasserstoffbombe und das Bewußtsein vom Ausmaß der Greuel der Vernichtungslager mehrere Generationen von Schriftstellern trafen.
Im Chor der Stimmen, die sich mit den moralischen Problemen beschäftigten, welche die Zeit allen denkenden Menschen aufnötigte, war die Stimme von Camus eine derjenigen, die am weitesten hinausdrang und den größten Widerhall fand. Camus war Pflichtlektüre – das galt für die Romane
und die provokative Zeitanalyse in den zwei Büchern, deren Titel überall in der westlichen Welt Widerhall fanden, Der Mythos von Sisyphos und Der Mensch in der Revolte, so als gäben sie in aller Kürze eine Summe der menschlichen Situation. Sie waren derart bekannt, diskutiert, referiert und zitiert, daß man nicht einmal fand, man müsse sie lesen, um sie zu kennen (was natürlich nicht richtig war). Das war einer meiner eigenen Gründe, sie (und Camus überhaupt) damals, in den 50ern, abzuwählen: sie rochen nach einer Art humanistischer Korrektheit auf hohem intellektuellem Niveau. Ich war außerstande, mich mit der rhetorischen Verzweiflung im Namen der Zeit zu versöhnen, die ihren Erfolg begründete, und konnte mich nicht mit dem rhetorischen Anpfiff versöhnen, der die implizite Botschaft dieser Rhetorik war. Es besteht kaum ein Zweifel daran, daß die Abrechnung mit der totalitären Ideologie des Kommunismus in Der Mensch in der Revolte eine große Rolle spielte, nicht zuletzt in Frankreich, und daß Camus in seiner intellektuellen Integrität mit einer wichtigen Botschaft durchdrang. Nichts desto weniger fühle ich jetzt meine Empfindung von damals bestätigt: »Aber um deswillen müssen Kunst und Gesellschaft, Schöpfung und Revolution, zur Quelle der Revolte zurückfinden, wo Abweisung und Zustimmung, Besonderheit und Allgemeines, Individuum und Geschichte sich die Waage halten
in härtester Angespanntheit.« In diesem »müssen« entlarvt sich der Moralist, während die großen Begriffe als rhetorische Ornamente verführerisch flattern und in dem vergangenen halben Jahrhundert als rhetorische Vorbilder für die Zeitungskommentare unzähliger kleiner Camus’ gedient haben.
Von seinem Ausguck auf der anderen Seite des Atlantiks aus nahm Gombrowicz nicht nur Stellung zu Tun und Lassen des polnischen Emigrantenmilieus, sondern auch zum intellektuellen Leben in Frankreich (zur angelsächsischen Welt war er ohne Kontakt), das in so hohem Maße die Tagesordnung der Zeit bestimmte – und schon deshalb sein Gegner sein mußte. Was Camus’ Schrift Der Mensch in der Revolte betrifft, nahm Gombrowicz eben die Rhetorik aufs Korn und das, was er als ihre Quelle verstand: »sein Bedürfnis nach Tragödie«. Gombrowicz selber war kühl (»um ehrlich zu sein, habe ich Gefühle immer nur in Anführungszeichen«) und deshalb unempfänglich für die Art von Erregung, die Moralisten überkommt – die eben deshalb oftmals Kälte ausstrahlen, was Camus, Gombrowicz zufolge, denn auch tut. Wo andere meinten, die Bosheit des einzelnen zu sehen, da sah er seine Auffassung bestätigt: daß der einzelne Mensch nicht in erster Linie auf der Grundlage seiner persönlichen Eigenart und Moral, so wie er sie sich einbildet, sondern über und durch andere Menschen handelt, von anderen Menschen bestimmt. Der Mensch »tötet, weil andere töten. Er quält, weil andere quälen. Die schrecklichste Tat wird leicht, wenn der Weg zu ihr geebnet ist«.
Im Gegensatz zu Camus ging Gombrowicz in Montaignes Fußspuren. Er sagte eigentlich nur: dies bin ich, so sehe ich es, so erlebe ich es – ja, so lebe ich es, täglich: denn das Tagebuch wimmelt von kleinen »Erzählungen« über die Erlebnisse des Alltags und von den Perspektiven des Denkens, zu denen sie Anlaß geben.
Einen weitaus stärkeren Gegner als Camus, eine weitaus würdigere Herausforderung fand Gombrowicz in Simone Weil, deren Ruf sich nach dem Kriege verbreitete (sie war 1942 gestorben). Er las La pesanteur et la grace (Schwerkraft und Gnade) und war sich sogleich über ihr ungewöhnliches Format klar. Als religiöse Denkerin mußte Weil ihm fremd sein, aber wenn er sich schließlich von ihr abgestoßen fühlte, dann auf Grund ihres Heroismus, des absoluten Anspruchs, den sie an sich selbst stellte, und der Konsequenz des Denkens, die sie in die dünnsten Luftschichten des Geistes und des Intellekts trieb, wo das »gewöhnliche« menschliche Leben, das nicht zu diesen Höhen aufsteigen kann, außer Sicht geraten ist. Auch persönlich konnte er sich nicht mit einer Existenz zu den Bedingungen des geistigen Heroismus versöhnen und gestand in seinem Tagebuch: »... ich bin stolz darauf, daß mein Schmerz sich in Grenzen hält. Das bringt mich dem Durchschnitt näher, also der Norm, den solidesten Schichten des Lebens.«
Gombrowicz war Atheist nicht aus intellektuellen Gründen, kraft einer erkämpften Überzeugung, sondern eher deshalb, weil Glaube, jede Form von Glauben, für ihn irrelevant war. Er hatte ganz einfach kein Organ für Religiosität. Daß Weil für ihn dennoch nicht irrelevant war, daß er sich über viele Seiten hin mit ihr beschäftigen und sozusagen versuchen mußte, sich mit ihr zu versöhnen und sie für sich zu retten, wirft ein Licht auf ihn selbst.
Simone Weil ist das Geschenk des 20. Jahrhunderts an die universelle religiöse Mystik. Sie ist kristallklar und unergründlich, eine reiche innere Erfahrung und ein körperlicher und mentaler Schmerz, vom Denken durchleuchtet und hervorgeschrieben in einer Sprache von vorbildlicher Ökonomie, wo jeder Satz eine endgültige Aussage zu sein scheint. Obwohl sie sich zum Katholizismus bekannte, ist es schwierig, sie mit der katholischen Theologie wie auch mit der Kirche als gesellschaftlicher Institution in Verbindung zu bringen. Für sie hatte der Gott, von dessen mystischer Existenz sie überzeugt war, diese Welt unabhänging von seinem eigenen Sein geschaffen – das nur in Schimmern, in Zuständen von Gnade (grâce) sich fassen läßt. Diese Welt ist total der Schwerkraft (la pesanteur) unterworfen, die nicht nur eine des Stoffes, sondern auch eine des Geistes ist. Stoff und Geist sind denselben unerbittlichen Gesetzen, derselben Notwendigkeit unterworfen. »Gott hat alle Phänomene ohne Ausnahme dem Mechanismus der Welt anvertraut.« – »Die Notwendigkeit
ist der Schleier Gottes.« Es ist eine Art materialistischer Mystik, deren innerster Grund Gott ist, entblößt von der »Spiritualität«, die heute der Trost vieler Menschen ist (wenngleich Weil mit der indischen Religion und dem Taoismus tief vertraut war). Es ist eine radikale Form des Manichäismus, der nicht zwischen dem Stoff und dem Geist, sondern zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen unterscheidet und den Weil mit genialer psychologischer Einsicht und Konsequenz entwickelt.
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Autoren-Porträt von Witold Gombrowicz
Witold Gombrowicz, geb. 1904 als Sohn eines polnischen Landadeligen, ist einer der bedeutendsten polnischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er begann nach seiner Ausbildung zunächst eine Juristenlaufbahn, bevor er sich ab 1934 ganz dem Schreiben widmete. Auf einer Reise vom Ausbruch des Zweiten Weltkrieges überrascht, blieb er bis 1963 in Argentinien, wo fast alle seine Werke entstanden, die zunächst in Paris und später auch in Polen veröffentlicht wurden. Zwischen 1959 und 1970 erschienen sie erstmals in deutscher Sprache. Gombrowicz gilt als Vertreter des polnischen Existentialismus und wurde vor allem durch seine grotesken und phantastischen Erzählungen bekannt. Er wurde für sein Werk mit zahlreichen internationalen Literaturpreisen ausgezeichnet.Renate Schmidgall, geboren 1955, studierte Slawistik und Germanistik an der Universität Heidelberg. Von 1984 bis 1996 war sie am Deutschen Polen-Institut tätig, seit 1996 arbeitet sie freiberuflich als literarische Übersetzerin. 2001 erhielt sie den Jane-Scatcherd-Preis der Ledig-Rowohlt-Stiftung, 2006 wurde ihr der Europäische Übersetzerpreis der Stadt Offenburg verliehen und 2009 wurde sie mit dem Karl-Dedecius-Preis ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Witold Gombrowicz
- 2004, 248 Seiten, Maße: 12,4 x 19,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446205586
- ISBN-13: 9783446205581
- Erscheinungsdatum: 09.08.2004
Rezension zu „Pornographie “
"Gombrowicz ist ausgestattet mit dem schöpferischen Willen eines melancholischen Egomanen, pechschwarzem polnischem Humor und einem notorischen Hass, der in seinem agressiven Pathos vor keiner Ideologie, Institution oder Person zurückschreckt, nicht einmal vor sich selbst." Mathias Schnitzler, Berliner Zeitung, 04.08.2004. "Man kann Gombrowicz nicht beschreiben, mit Artikelchen erfassen, mit Essaylein aktualisieren, präsentieren, stolatisieren. Nur lesen: Ferdydurke, Pornographie, Tagebuch. Komm, Leserchen, put, put, put." Richard Kämmerlings, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.07.2004
Kommentar zu "Pornographie"
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