Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen
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ProfessorUnrat von Heinrich Mann
LESEPROBE
Da er Raat hieß, nannte die ganze Schule ihn Unrat. Nichtskonnte einfacher und natürlicher sein. Der und jener Professor wechseltenzuweilen ihr Pseudonym. Ein neuer Schub Schüler gelangte in die Klasse, legtemordgierig eine vom vorigen Jahrgang noch nicht genug gewürdigte Komik an demLehrer bloß und nannte sie schonungslos bei Namen. Unrat aber trug denseinigen seit vielen Generationen, der ganzen Stadt war er geläufig, seine Kollegenbenutzten ihn außerhalb des Gymnasiums und auch drinnen, sobald er den Rückendrehte. Die Herren, die in ihrem Hause Schüler verpflegten und sie zur Arbeitanhielten, sprachen vor ihren Pensionären vom Professor Unrat. Der aufgeweckteKopf, der den Ordinarius der Untersekunda hätte neu beobachten und nochmals abstempelnwollen, wäre nie durchgedrungen; schon darum nicht, weil der gewohnte Ruf aufden alten Lehrer noch so gut seine Wirkung übte wie vor sechsundzwanzig Jahren.Man brauchte nur auf dem Schulhof, sobald er vorbeikam, einander zuzuschreien:»Riecht es hier nicht nach Unrat?« Oder: »Oho! Ich wittere Unrat!«
Und sofort zuckte der Alte heftig mit der Schulter, immermit der rechten, zu hohen, und sandte schief aus seinen Brillengläsern einengrünen Blick, den die Schüler falsch nannten, und der scheu und rachsüchtigwar: der Blick eines Tyrannen mit schlechtem Gewissen, der in den Falten derMäntel nach Dolchen späht. Sein hölzernes Kinn mit dem dünnen, graugelbenBärtchen daran klappte herunter und hinauf. Er konnte dem Schüler, der geschrienhatte, »nichts beweisen« und mußte weiterschleichen auf seinen magern,eingeknickten Beinen und unter seinem fettigen Maurerhut.
Zu seiner Jubelfeier im Vorjahr hatte das Gymnasium ihmeinen Fackelzug gebracht. Er war auf seinen Balkon getreten und hatte geredet.Während alle Köpfe, in den Nacken gelegt, zu ihm hinaufsahen, war plötzlicheine unschöne Quetschstimme losgegangen: »Da ist Unrat in der Luft!« Anderehatten wiederholt: »Unrat in der Luft! Unrat in der Luft!«
Der Professor dort oben fing an zu stottern, obwohl er denZwischenfall vorausgesehn hatte, und sah dabei jedem der Schreier in dengeöffneten Mund. Die andern Herren standen in der Nähe; er fühlte, daß erwieder einmal »nichts beweisen« könne; aber er merkte sich alle Namen. Schontags darauf gab der mit der gequetschten Stimme dadurch, daß er das Heimatdorfder Jungfrau von Orleans nicht kannte, dem Professor Gelegenheit zu derVersicherung, er werde ihm im Leben noch oftmals hinderlich sein. Richtig wardieser Kieselack zu Ostern nicht versetzt worden. Mit ihm blieben die meistenin der Klasse zurück von denen, die am Jubiläumsabend geschrien hatten, soauch von Ertzum. Lohmann hatte nicht geschrien und blieb dennoch sitzen. Diesererleichterte die Absicht Unrats durch seine Trägheit und jener durch seineUnbegabtheit. Nächsten Spätherbst nun, an einem Vormittag um elf, in der Pausevor dem Klassenaufsatz über die »Jungfrau von Orleans«, geschah es, daß vonErtzum, der der Jungfrau immer noch nicht nähergetreten war und eine Katastrophevoraussah, in einem Anfall schwerfälliger Verzweiflung das Fenster aufriß und aufsGeratewohl mit wüster Stimme in den Nebel hinausbrüllte: »Unrat!«
Es war ihm unbekannt, ob der Professor in der Nähe sei, undes war ihm gleichgültig. Der arme, breite Landjunker war nur von dem Bedürfnisfortgerissen worden, noch einen kurzen Augenblick seinen Organen freies Spiel zugewähren, bevor er sich für zwei Stunden hinhocken mußte vor ein weißes Blatt,das leer war, und es mit Worten bedecken aus seinem Kopf heraus, der auch leerwar. Tatsächlich aber ging Unrat grade über den Hof. Als der Ruf aus demFenster ihn traf, machte er einen eckigen Sprung. Im Nebel droben unterschieder von Ertzums knorrigen Umriß. Kein Schüler hielt sich drunten auf, keinemkonnte von Ertzum das Wort zugerufen haben. >Dieses Mal<, dachte Unratfrohlockend, >hat er mich gemeint. Diesmal kann ich es ihm beweisen!<(...)
© Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1989
- Autor: Heinrich Mann
- 1994, 15. Aufl., 316 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596259347
- ISBN-13: 9783596259342
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