Rabenbrüder
Paul und Achim waren schon immer ''Rabenbrüder'': Jeder hat sich dem anderen gegenüber benachteiligt gefühlt und war eifersüchtig auf die Liebe der Mutter. Statt sich auszusprechen, haben sie ihre Vorurteile kultiviert. Beim Leichenschmaus nach dem Tod...
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Paul und Achim waren schon immer ''Rabenbrüder'': Jeder hat sich dem anderen gegenüber benachteiligt gefühlt und war eifersüchtig auf die Liebe der Mutter. Statt sich auszusprechen, haben sie ihre Vorurteile kultiviert. Beim Leichenschmaus nach dem Tod des Vaters brechen die alten Konflikte auf, denn die Brüder mutmaßen, dass er ermordet wurde.
Interview mit Ingrid Noll
Sieverbrachten Ihre Kindheit in Nanking. Wie hat Sie diese Zeit geprägt, welcheErinnerungen verbinden Sie mit dieser Millionenstadt?
Wir haben in China inmehreren Städten gelebt, nicht nur in Nanking; ich wurde in Shanghai geboren.Meine Kindheit war sicherlich anders als die meiner Altersgenossen inDeutschland, aber man kann nicht sagen, dass sie speziell "chinesisch" war.Meine Geschwister und ich konnten lange Zeit überhaupt nicht zur Schule gehen,weil es in Nanking keine deutsche Schule gab. Also wurden wir von unserenEltern unterrichtet. Daher kam es, dass wir relativ isoliert lebten. Vielleichthabe ich deswegen schon als Kind viel gelesen und mich mit kreativen Dingenbeschäftigt - ich habe geschrieben, gemalt, gesungen und mit meinen PuppenTheaterstücke aufgeführt, die schon damals häufig in Richtung Krimi gingen. Wirhatten einen Plüschaffen - der war ein Zauberer, und es gab einige sehr böse Tiereund Puppen. In dieser Hinsicht konnten wir uns wirklich ausleben, da wir jakeinen Schulstress hatten. Wenn meine Eltern Zeit und Lust hatten, wurdegelernt, mittags war die Schule zu Ende. Wir bekamen weder Noten nochHausaufgaben. Wenn eines von uns vier Kindern Geburtstag hatte, gab esschulfrei. Der Schock kam erst später in Deutschland, als ich dann in ein ganznormales Gymnasium gehen musste.
Sie haben ja bereits als Kind heimlich Geschichtengeschrieben und diese beim Verlassen Chinas im Garten vergraben. Erst 40 Jahrespäter begann Ihre Schriftstellerkarriere. Haben Sie da die verstecktenGeschichten symbolhaft wieder "ausgebuddelt"? Oder war Ihr erster Roman "DerHahn ist tot" ein totaler Neuanfang?
Ich habe tatsächlichmeine Geschichten im Garten verbuddelt, bevor wir nach Deutschland gezogensind. Erst habe ich sie in Schnipsel gerissen und dann vergraben, weil ichfürchtete, dass meine Werke, die ich in kleine Vokabelheftchen geschrieben undgut versteckt hatte, meinen Eltern beim Einpacken in die Hände fallen könnten.Schreiben ist eine sehr private Sache, und ich wollte einfach nicht, dass dasirgend jemand liest. Zum Schreiben, finde ich, gehört auch eine gewisseSchüchternheit, an die Öffentlichkeit zu treten. Für mich war natürlich meine Familieschon das Publikum. Selbst wenn andere sagen, die Geschichten seien "gut" oder"süß", findet ein Kind das nicht in Ordnung, weil es ernst genommen werdenmöchte. Ich fand es auch später in der Schule immer schrecklich, meine Ausätzevorzulesen, selbst wenn sie besonders gut waren. Das war grässlich für mich!Wenn man ein bisschen lyrisch wurde oder der Text andere Besonderheiten hatte,dann grinsten die Mitschüler natürlich spöttisch.
Ein Psychologe könntevielleicht zu dem Schluss kommen, dass ich diese frühen Geschichten symbolischwieder "ausgebuddelt" habe. Der eigentliche Grund für die lange Pause ist aber,dass ich sehr lange einfach keine Zeit dafür gefunden habe, obwohl ich wusste,dass das Schreiben mich retten würde, wie es das auch schon in der Schule getanhatte. Damals konnte ich die 5 in Mathe immer mit einer guten Note in Deutschausgleichen. Und beim Lesen war es mir ebenso möglich, in eine andere Welt zuflüchten. Der Moment, in dem ich schreiben lernte, hatte für mich etwas Mystisches.Ich war fünf Jahre alt und konnte meinen Namen schreiben - allerdings nicht Ingrid, sondern Ame, wie unser Kindermädchen michtaufte. Ame ist chinesisch und heißt "kleineSchwester". Es grenzte für mich an Hexerei: Ich schreibe drei Zeichen, und anderekönnen es lesen und verstehen! Lesenund Schreiben haben mich wirklich tief beeindruckt. Es hat nur leider sehrlange gedauert, bis ich die Zeit dafür fand, das Schreiben wieder"auszugraben".
Wurden Sie in dieser Hinsicht von Ihren Eltern unterstützt odergefördert?
Meine Eltern sagtenimmer zu mir: "Schreiben kannst du, aber rechnen kannst du nicht." Das habe ichso verinnerlicht, dass ich auch später nie rechnen konnte.
Sie leben jetzt in einem Einfamilienhäuschen in der Nähe vonHeidelberg. Das hört sich recht beschaulich an. Brauchen Sie diese Umgebung, umvon einem sicheren Hort aus Ihre kriminalistische Fantasie schweifen zu lassen,beispielsweise in die Stadt Mannheim?
Ich wohne dort schonsehr lange. Man könnte unser Haus auch als Hexenhaus bezeichnen, denn ichbetreibe dort, wenn man so will, das Schreiben als Hexerei. Aber wir sind eherdurch Zufall dort gelandet. Mein Mann suchte damals eine Stelle als Oberarztund fand sie in einem Weinheimer Krankenhaus. Unsere Kinder sind dort in dieSchule gekommen, haben Freunde gefunden, wir haben ebenfalls Freunde gefunden.Irgendwann haben wir das Haus gekauft, und mittlerweile ist diese Gegend unsereHeimat geworden. Andererseits könnte ich mir ein alternatives Leben abergenauso vorstellen. Ich hätte auch in der Großstadt landen können, dann wäredas eben meine Heimat geworden. Die Landschaft ist wirklich sehr schön hier beiuns. Außerdem wollte ich immer gerne in einer Region wohnen, in der Weinwächst.
Woher nehmen Sie Ihre Ideen? Sind Sie eine gute Zuhörerinwie Rosemarie Hirte in Ihrem Roman " Die Apothekerin", oder beobachten Sie IhreMitmenschen mit kriminalistischem Blick, immer auf der Suche nach der "Leicheim Keller"?
Ich hoffe, dass icheine gute Zuhörerin bin. Meistens habe ich das Gefühl, dass die Leute mir ihreGeschichte gerne erzählen. Selbst in der Bahn berichten mir manchmal wildfremdeFrauen aus ihrem Leben. Das verarbeite ich natürlich nicht gleich zu einemBuch, aber mein Fundus wird dadurch genährt.
In Ihrem jüngsten Roman "Rabenbrüder" gibt es mehreregenerationsübergreifende Konflikte, unbewältigte Kindheitserinnerungen,Eifersucht unter den Brüdern, eine schwierige Mutter, den hypochondrischenVater, Ehe- und Berufsprobleme bei den Söhnen, alle irgendwie ausgehend vomMutter-Sohn-Verhältnis. Entstand der Buchtitel "Rabenbrüder" als Variante zu"Rabenmutter" oder ist er als Kontrapunkt zu verstehen?
Das Wort Rabenbrudergibt es ja eigentlich nicht, sondern nur Rabeneltern, Rabenmutter oderRabenvater. Es ist eine Wortschöpfung. Dennoch assoziiert jeder sofort etwasBestimmtes damit: Man denkt gleich daran, dass das bestimmt nicht die nettestenBrüder sind. Vor einiger Zeit habe ich einen Biologiefilm über echte Rabengesehen. Das waren äußerst liebevolle Eltern, die ihre Kinder gut fütterten undsich rührend um sie kümmerten. Deswegen weiß ich eigentlich gar nicht, woherder Ausdruck stammt. Raben haben wohl einen schlechten Ruf, weil sie früher dieLeichen gefressen haben, die am Galgen hingen - vielleicht hat man ihnen ausdiesem Grund nur böse Dinge nachgesagt.
Führt das "Nichtdarüberreden" in"Rabenbrüder" zu einem unheilvollen Beziehungsgeflecht, so ist in derGeschichtensammlung "Falsche Zungen" derGebrauch des Wortes Ursache allen Übels. In Psalm 120 heißt es: "Herr, errettemeine Seele von den Lügenmäulern und von den falschen Zungen." Hat Sie bei derWahl des Psalmwortes als Titel Ihre Schulzeit im katholischen Mädchengymnasiumeingeholt?
Ich selbst bin nichtkatholisch. In diese Schule bin ich deswegen gegangen, weil es in unmittelbarerNähe damals keine andere oder keine höhere Schule für Mädchen gab. Fast dieHälfte der Schüler dort war nicht katholisch. Insofern spielte dieserHintergrund für mein Buch keine große Rolle.
Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Ihre Schulzeitzurückdenken?
Natürlich denkt jederoft an diese Zeit zurück - man hat schöne und unangenehme Erinnerungen. Diepositiven Rückblenden stehen meist mit den ersten Freundschaften in Verbindung,die man in der Schulzeit knüpfte. Natürlich gab es auch Lehrer, die man mochte,denen man auch heute noch dankbar ist. Andererseits gibt es auch immer solcheLehrer, bei denen das Lernen gar keine Freude macht. Dazu muss ich allerdingssagen, dass ich sicher eine schreckliche Schülerin war. Ich mochte die Schulevon Anfang an nicht, denn ich hatte ja große Defizite. Der Einstieg inDeutschland war sehr schwer, weil ich von vielen Dingen keine Ahnung hatte. Ichhabe mich darüber hinaus auch nicht so benommen, dass ich eine Freude der Lehrkräftewar. Oft habe ich nicht richtig zugehört, innerlich abgeschaltet. Das tut mirheute in vieler Hinsicht Leid.
Wie kann sich der Leser die Entstehung Ihrer doch manchmalverzwickten Geschichten vorstellen? Haben Sie ein bestimmtes Konzept, nach demsich die Handlung auf ein festgelegtes Ende zu bewegt? Sind die handelndenFiguren schon alle von Beginn an in Ihrem Kopf, oder kommen während desSchreibens noch welche hinzu?
Es ist eine Mischungaus beidem: Die Hauptfigur habe ich immer schon vor dem Schreiben im Kopf. DieNebenfiguren sind zu Beginn nicht ganz so klar festgelegt. Aber ich überlegemir natürlich immer vorher, über wen ich eigentlich schreiben möchte, wie altdiese Personen sind, welche Lebensgeschichte sie bereits hinter sich haben. Manmuss viel wissen, bevor man anfängt, ein Buch zu schreiben, damit die Figurenglaubwürdig und menschlich erscheinen. Den Plot kenne ich nur als "rotenFaden", nicht im Detail. Für Kriminalromane gibt es sicherlich einigeFaustregeln, die ich allerdings weder kenne noch beachte - beispielsweise überdie Anzahl der Personen. Ich mache das meistens so, wie es mir in den Sinnkommt. Man darf allerdings seine Leser auf keinen Fall überfordern und zu vielePersonen ins Spiel bringen. Außerdem achte ich auch darauf, die Namen soauszuwählen, dass man sie nicht verwechseln kann. Wenn Namen oder Charaktereallzu ähnlich sind, dann kann das Verwirrung stiften.
In den "Salzburger Nachrichten" wurden Sie als deutschePatricia Highsmith gefeiert. Fühlen Sie sich durchsolche Vergleiche eher geehrt oder genervt?
Esehrt mich natürlich, mit Patricia Highsmithverglichen zu werden, aber es trifft die Sache nicht. Schon unsere Biografienunterschieden sich stark voneinander. Patricia Highsmithlebte allein mit einer Katze. Bei mir war dagegen durch meine Familie und dieFamilien meiner drei Geschwister immer ein ständiges Kommen und Gehen. Zudemhabe ich einen großen Bekanntenkreis, habe im Chor gesungen, war imElternbeirat - also immer von vielen Menschen umgeben. Deswegen glaube ichnicht, dass man mich mit einer Autorin vergleichen kann, die eher imElfenbeinturm gelebt hat. Auch aus literarischer Sicht liegt ein Vergleichnicht unbedingt nahe - ich bin ja nicht größenwahnsinnig.
Die Fragen stellten Roland Große Holtforthund Mathias Voigt, literaturtest.de.
- Autor: Ingrid Noll
- 2005, 10. Aufl., 288 Seiten, Maße: 11,3 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 3257234546
- ISBN-13: 9783257234541
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