Roman eines Schicksallosen
Corine 2004: Ehrenpreis des...
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Corine 2004: Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten für das Lebenswerk!
Roman einesSchicksallosen von Imre Kertész
LESEPROBE
Heute war ich nicht in der Schule. Das heißt doch, ich warda, aber nur, um mir vom Klassenlehrer freigeben zu lassen. Ich habe ihm dasSchreiben meines Vaters überbracht, in dem er wegen «familiärer Gründe» um meineFreistellung nachsucht. Der Lehrer hat gefragt, was das für familiäre Gründe seien.Ich habe gesagt, mein Vater sei zum Arbeitsdienst einberufen worden; da hat erweiter keine Schwierigkeiten gemacht.
Ich bin losgeeilt, aber nicht nach Hause, sondern gleichzu unserem Geschäft. Mein Vater hatte gesagt, sie würden mich dort erwarten. Erhatte noch hinzugefügt, ich solle mich beeilen, vielleicht würden sie mich brauchen.Eigentlich hat er mir gerade darum freigeben lassen. Oder vielleicht, um mich«an diesem letzten Tag an seiner Seite zu wissen», bevor er «seinem Zuhause entrissenwird»: denn auch das hat er gesagt, allerdings, ja, zu einem anderen Zeitpunkt.Er hat es, wenn ich mich recht erinnere, zu meiner Mutter gesagt, als er am Morgenmit ihr telefonierte. Es ist nämlich Donnerstag, und an diesem Tag und sonntagshat strenggenommen meine Mutter Anrecht auf meinen Nachmittag. Doch mein Vaterhat ihr mitgeteilt: «Es ist mir heute nicht möglich, Gyurka zu dirhinüberzulassen» und hat das dann so
begründet. Oder vielleicht doch nicht. Ich war heute morgenziemlich müde, wegen des Fliegeralauns in der Nacht, und erinnere michvielleicht nicht richtig. Aber daß er es gesagt hat, da bin ich sicher. Wennnicht zu meiner Mutter, dann zu jemand anderem.
Ich habe dann mit meiner Mutter ebenfalls ein paar Wortegewechselt, worüber, das weiß ich nicht mehr. Ich glaube, sie war mir dann auchein wenig böse, denn wegen der Anwesenheit meines Vaters blieb mir nichts anderesübrig, als mit ihr etwas kurz angebunden zu sein: schließlich muß ich michheute nach ihm richten. Als ich schon im Begriff war aufzubrechen, hat auchmeine Stiefmutter noch ein paar vertrauliche Worte an mich gerichtet, im Flur,unter vier Augen. Sie hat gesagt, sie hoffe, an diesem für uns so traurigen Tagbei mir «mit einem angemessenen Verhalten rechnen zu können». Ich wußte nicht,was ich da hätte sagen sollen, und so habe ich nichts gesagt. Aber vielleichtlegte sie mein Schweigen falsch aus, denn sie hat gleich etwas hinzugefügt, indem Sinn, daß sie mir keineswegs zu nahe treten wollte mit dieser Ermahnung,die - das wisse sie - sowieso unnötig sei. Denn sie zweifle ja nicht daran,daß ich als fast fünfzehnjähriger großer Junge selbst fähig sei, die Schweredes uns ereilenden Schicksalsschlages zu ermessen, so hat sie sich ausgedrückt.Ich habe genickt. Mehr brauchte es auch nicht, wie ich gemerkt habe. Sie hatnoch eine Bewegung mit den Händen in meine Richtung gemacht, so daß ich schonAngst hatte, sie wolle mich vielleicht umarmen. Das hat sie dann doch nicht getanund nur tief geseufzt, mit einem langen, bebenden Atemzug. Ich habe gesehen,daß ihr auch die Augen feucht wurden. Es war unangenehm. Dann durfte ich gehen.
Von der Schule bis zu unserem Geschäft bin ich marschiert.Es war ein klarer, lauer Morgen - dafür, daß der Frühling erst anfängt. Ichhätte mir gern den Mantel aufgeknöpft, habe es mir aber dann anders überlegt:im leichten Gegenwind könnte das Revers zurückklappen und den gelben Sternverdecken, was gegen die Vorschrift wäre. In einigen Dingen muß ich jetzt dochschon umsichtiger verfahren. Unser Holzkeller befindet sich hier in der Nähe,in einer Nebenstraße. Eine steile Treppe führt hinunter in dämmeriges Licht.Ich habe meinen Vater und meine Stiefmutter im Büro angetroffen: einem engen,wie ein Aquarium beleuchteten Glaskäfig direkt unterhalb der Treppe. Auch HerrSütö war da, den ich noch aus der Zeit kenne, als er bei uns in einemAnstellungsverhältnis war, als Buchhalter und Verwalter unseres anderen, unterfreiem Himmel gelegenen Lagers, das er uns inzwischen abgekauft hat. So sagenwir es wenigstens. Herr Sütö trägt nämlich, da bei ihm in rassischer Hinsichtalles in bester Ordnung ist, keinen gelben Stern, und das Ganze ist eigentlich,soviel ich weiß, nur ein Geschäftstrick, damit er auf unseren Besitz dortachtgibt und auch, nun ja, damit wir unterdessen nicht ganz auf unsereEinnahmen verzichten müssen. (...)
© 1996 by Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin
Übersetzung: Christina Viragh
- Autor: Imre Kertész
- 1999, 288 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Christina Viragh
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 349922576X
- ISBN-13: 9783499225765
- Erscheinungsdatum: 03.04.2001