Roter Zar / Inspektor Pekkala Bd.1
Kriminalroman. Deutsche Erstauasgabe
Russland 1929: Seit Jahren ist Pekkala im Gulag. Ein tiefer Fall, denn vor der Revolution war er Sonderermittler des Zaren. Plötzlich winkt die Freiheit: Er soll für Stalin herausfinden, wie die Zarenfamilie ermordet wurde. Doch vor allem soll er...
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Roter Zar / Inspektor Pekkala Bd.1 “
Russland 1929: Seit Jahren ist Pekkala im Gulag. Ein tiefer Fall, denn vor der Revolution war er Sonderermittler des Zaren. Plötzlich winkt die Freiheit: Er soll für Stalin herausfinden, wie die Zarenfamilie ermordet wurde. Doch vor allem soll er ihren legendären Schatz finden. Pekkala bleibt keine Zeit: Stalin will sofort Ergebnisse.
Klappentext zu „Roter Zar / Inspektor Pekkala Bd.1 “
Russland 1929: Eigentlich müsste Pekkala tot sein. Seit neun Jahren arbeitet der Zwangsarbeiter für ein Holzfällerkommando in der sibirischen Taiga. Ein tiefer Fall, denn bis zur Revolution war Pekkala Sonderermittler des Zaren und für dessen Sicherheit persönlich verantwortlich. Doch nun soll Pekkala für Stalin, den "roten Zaren", herausfinden, wie Nikolaus II. und die Romanows umgebracht wurden und wo sie ihren legendären Schatz versteckt hielten. Pekkala macht sich auf die Suche und gerät schnell in verschwörerische Machenschaften. Er weiß, dass ihm nicht viel Zeit bleibt. Stalin kennt kein Erbarmen. Es geht um Leben und Tod ...
Lese-Probe zu „Roter Zar / Inspektor Pekkala Bd.1 “
Roter Zar von Sam EastlandDurch einen Schleier aus Blut sah der Zar, wie der Mann nachlud. Leere Patronenhülsen fielen aus der Revolvertrommel und landeten klirrend neben ihm auf dem Boden. Röchelnd atmete er ein und spürte die feinen Bläschen, die aus seiner zerschossenen Lunge schäumten.
Der Mann ging neben ihm in die Hocke. »Siehst du das?« Er packte den Zaren am Kinn und drehte ihm den Kopf von der einen Seite zur anderen. »Siehst du, was du dir eingebrockt hast?«
Der Zar sah nichts mehr, sein Blick hatte sich eingetrübt. Aber er wusste, dass auch seine Familie hier lag. Seine Frau. Seine Kinder.
»Mach schon«, sagte er zu dem Mann. »Erledige mich!« Der Zar spürte, wie der andere ihm mit klebrigen, blutverschmierten Fingern das Gesicht tätschelte.
»Du bist schon erledigt«, sagte der Mann. Danach war das schwache Klicken der neuen Patronen zu hören, die in die Trommel gesteckt wurden.
Kurz darauf hörte der Zar weitere ohrenbetäubende Explosionen. »Meine Familie«, wollte er schreien, aber er keuchte nur noch. Er konnte ihnen nicht mehr helfen. Er konnte noch nicht einmal mehr den Arm heben, um sich selbst zu schützen.
Dann wurde er über den Boden geschleift.
Ächzend schaffte der Mörder ihn die Treppe hinauf und fluchte, als sich die Stiefelabsätze des Zaren auf jeder Stufe einhakten.
Draußen war es finster.
Der Zar spürte Regentropfen auf dem Gesicht. Kurz darauf hörte er, wie Leichen neben ihn geworfen wurden. Die leblosen Schädel knackten, als sie auf den steinigen Untergrund schlugen.
Ein Motor wurde angelassen. Ein Lastwagen. Quietschende Bremsen, dann eine Bordwand, die man herunterließ. Die Leichen wurden auf die Ladefläche geworfen. Dann der Zar, der auf den Toten landete. Die Bordwand wurde geschlossen.
Die Schmerzen in der
... mehr
Brust wurden schlimmer, als sich der Lastwagen in Bewegung setzte. Jeder Stoß auf der von Schlaglöchern übersäten Straße riss seine Wunden weiter auf. Die Schmerzen waren wie rings um ihn niedergehende Blitze in der Dunkelheit.
Plötzlich ließen die Schmerzen nach. Schwärze schien ihm wie eine Flüssigkeit durch die Augen zu sickern und ertränkte seine Ängste, seine Wünsche, seine Erinnerungen, bis nichts mehr da war außer einer bebenden Leere, in der alles ausgelöscht wurde...
Mit einem Aufschrei fuhr er hoch. Er war allein im Wald. Wieder hatte der Traum ihn aus dem Schlaf gerissen.
Er schlug die alte, taufeuchte Pferdedecke zurück. Steif richtete er sich auf, sah blinzelnd in den Morgennebel und die schräg zwischen den Bäumen einfallenden Sonnenstrahlen. Er rollte die Decke zusammen, schnürte die Enden mit einem Lederriemen fest und schulterte sie, so dass sie ihm über den Rücken und die Brust fiel. Er nahm ein verschrumpeltes Stück Räucherfleisch aus der Tasche und kaute langsam, lauschte auf das Rascheln der Mäuse unter dem Laubteppich, die zeternden Vögel in den Ästen und den Wind, der durch die Kiefern strich.
Er war groß, breitschultrig, hatte eine schiefe, mehrfach gebrochene Nase und kräftige, weiße Zähne. Seine Augen waren grünlich braun, die Iris hatte etwas seltsam Silbriges an sich, was anderen nur auf~ el, wenn er ihnen direkt in die Augen sah. Vorzeitig ergraute Strähnen zogen sich durch die langen, schwarzen Haare, auf den wettergegerbten Wangen wucherte ein Vollbart.
Er hatte keinen Namen mehr. Er war nur noch der Gefangene 4745-P aus dem Arbeitslager Borodok.
Kurz darauf war er unterwegs, durchquerte ein Kieferngehölz und näherte sich auf leicht abschüssigem Gelände einem Bach. Er stützte sich auf einen kräftigen Knüppel, einen knorrigen Wurzelstock, aus dem Hufnägel mit Vierkantköpfen ragten. Sonst hatte er nur noch einen Eimer mit roter Farbe bei sich. Damit markierte er die Bäume, die von den Lagerinsassen gefällt würden - das war ihre Arbeit, das Holzfällen im Wald von Krasnagoljana. Er benutzte dafür keinen Pinsel, sondern hielt nur die Hand in die rote Farbe und hinterließ seinen Abdruck auf den Stämmen. Diese Abdrücke waren alles, was die anderen Insassen von ihm zu sehen bekamen.
Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Baummarkierers im Wald von Krasnagoljana betrug ein halbes Jahr. Diese Männer arbeiteten allein, fernab von anderen Menschen und ohne die geringste Fluchtmöglichkeit; sie erfroren oder verhungerten oder starben an Einsamkeit. Wer sich verirrte, wer stürzte und sich dabei ein Bein brach, fiel meist den Wölfen zum Opfer. Bäumemarkieren war die einzige Tätigkeit in Borodok, die noch gefürchteter war als die Todesstrafe.
Der Gefangene 4745-P, im neunten Jahr seiner dreißigjährigen Strafe, zu der er wegen Verbrechen gegen den Staat verurteilt worden war, hatte länger durchgehalten als jeder andere Baummarkierer im Gulag. Gleich nach seiner Ankunft in Borodok hatte der Lagerleiter ihn in die Wälder geschickt, aus Furcht, die anderen Insassen könnten seine wahre Identität herausfinden. Jeder ging davon aus, dass er nach einem Jahr tot sein würde.
Dreimal im Jahr wurden ihm am Ende eines Waldwegs Nahrungsmittel und andere Güter abgestellt. Petroleum, Dosenfleisch, Nägel. Um alles andere musste er sich selbst kümmern. Nur selten wurde er von den Holzfällern in den Wäldern gesichtet. Was sie erhaschten, war ein Wesen, das mit einem Menschen kaum mehr etwas gemein hatte. In seiner mit roter Farbe verkrusteten Gefängniskleidung, mit seinen langen Zottelhaaren glich er eher einem wilden Tier, dem das Fell abgezogen worden war und das man zum Sterben hatte liegen lassen - und das es trotzdem irgendwie geschafft hatte, zu überleben. Wilde Gerüchte umgaben ihn: Er esse Menschenfleisch, er trage einen Brustpanzer aus den Knochen derer, die in den Wäldern verschwunden waren, er habe eine Mütze aus zusammengenähten Skalps. Sie nannten ihn den Mann mit den blutigen Händen. Keiner außer dem Kommandanten von Borodok wusste, woher dieser Gefangene gekommen oder wer er früher gewesen war.
Die gleichen Männer, die eine Heidenangst davor hatten, ihm über den Weg zu laufen, hatten nicht die geringste Ahnung, dass er Pekkala war - dessen Namen sie einst angerufen hatten wie ihre Vorfahren die Götter.
Er watete durch den Bach, stieg aus dem kalten, hüfthohen Wasser und verschwand zwischen den weißen Birken auf der anderen Uferseite.
Zwischen den Bäumen verborgen lag eine halb in den Boden gegrabene Erdhütte, eine Semljanka. Pekkala hatte sie eigenhändig errichtet. Dort drinnen überstand er die sibirischen Winter, an denen das Schlimmste nicht die Kälte war, sondern die Stille - eine Stille, so vollkommen, dass sie einen ganz eigenen, zischenden, rauschenden Klang zu haben schien.
Pekkala näherte sich der Hütte, blieb stehen und schnupperte angespannt. Er stand nun völlig reglos, wie ein Reiher im Wasser, während seine nackten Füße im moosigen Untergrund einsanken.
Er hielt den Atem an.
Auf dem Baumstumpf am Rand der Lichtung saß mit dem Rücken zu ihm ein Mann. Er trug eine olivbraune Uniform mit kniehohen schwarzen Stiefeln. Er war kein gewöhnlicher Soldat. Seine Uniform glänzte seidig wie Gabardine, sie war nicht aus dem kratzigen Stoff, den die Männer von der örtlichen Kaserne trugen, die bei ihren Patrouillen manchmal bis zum Ende des Weges kamen, aber niemals so tief im Wald auftauchten.
Er schien sich weder verirrt zu haben, noch schien er bewaffnet zu sein. Zumindest konnte Pekkala keine Waffe erkennen. Er hatte lediglich eine Aktentasche mitgebracht. Sie war von guter Qualität, mit glänzenden Messingschnallen, die hier im Wald völlig fehl am Platz wirkten. Der junge Mann schien zu warten.
In den folgenden Stunden, während die Sonne über die Baumwipfel stieg und der Geruch des Kiefernharzes die Luft erfüllte, betrachtete Pekkala den Fremden, prägte sich ein, wie er den Kopf neigte, wie er die Beine übereinander-schlug und wieder löste, wie er sich räusperte, um den Blütenstaub im Rachen loszuwerden. Einmal erhob er sich, ging auf der Lichtung umher und schlug hektisch nach den Mücken. Als er sich umdrehte, sah Pekkala die rosigen Wangen eines jungen Mannes, der kaum älter als zwanzig sein konnte. Er war von schmächtiger Statur, mit dünnen Beinen und zarten Händen.
Unwillkürlich musste Pekkala sie mit seinen eigenen schwieligen Händen vergleichen, seinen schorfigen, aufgerissenen Knöcheln und muskulösen Beinen.
Pekkala bemerkte den roten Stern, der jeweils auf dem Unterarm seiner Gymnastiorka, des Waffenrocks, aufgenäht war. Der Fremde hatte also den Rang eines Kommissars inne; er war Politoffizier der Roten Armee.
Den ganzen Tag wartete der Kommissar auf der Lichtung, gequält von Insekten, bis das letzte Tageslicht verschwunden war. In der Dämmerung zog er eine langstielige Pfeife heraus und stopfte sie mit Tabak aus einem Beutel, den er um den Hals trug. Er entzündete sie mit einem Messingfeuerzeug, paffte zufrieden vor sich hin und hielt damit die Mücken auf Abstand.
Langsam atmete Pekkala ein. Der würzige Tabakgeruch überflutete seine Sinne. Er sah, wie der junge Mann häufig die Pfeife aus dem Mund nahm, sie betrachtete und sich daraufhin wieder zwischen die Zähne schob, was mit einem leisen Klacken einherging, als würde ein Schlüssel in einem Schloss umgedreht.
Er hatte die Pfeife noch nicht lange, mutmaßte Pekkala. Er zog die Pfeife den Zigaretten vor, weil er glaubte, er würde dadurch älter wirken.
Hin und wieder sah der Kommissar auf die roten Sterne an den Unterarmen, als erstaunte ihn ihr Anblick. Wahrscheinlich lag seine Beförderung noch nicht lange zurück. Je mehr er über diesen Mann erfuhr, umso weniger erschloss sich Pekkala, was dieser im Wald tat. Widerwillig musste er sich eingestehen, dass ihm der Kommissar sogar so etwas wie Bewunderung abnötigte: Er drang nicht in seine Hütte ein, sondern blieb eisern auf dem harten Baumstumpf sitzen.
Die Nacht brach herein, Pekkala lehnte sich gegen einen Baum, hielt sich die Hände vor den Mund und wärmte sie mit seinem Atem, merkte, wie er schläfrig wurde, wie er mit einem Ruck erwachte und feststellte, dass Nebel aufgezogen war, der den Geruch von totem Laub und Erde mit sich gebracht hatte.
Er sah zur Hütte. Der Kommissar hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Mit verschränkten Armen saß er auf dem Stumpf, das Kinn ruhte auf der Brust. Seine leisen Schnarchgeräusche hallten über die Lichtung.
Am Morgen wird er fort sein, dachte sich Pekkala. Er zog den ausgefransten Kragen seines Mantels hoch und schloss erneut die Augen.
Am Morgen allerdings, stellte Pekkala überrascht fest, war der Kommissar immer noch da. Er war von seinem Baumstumpf gefallen und lag auf dem Rücken, ein Bein ruhte noch auf dem Stumpf, als wäre er eine von ihrem Podest gestürzte Statue in Siegerpose.
Jetzt, dachte sich Pekkala, wird er hoffentlich bald zu Verstand kommen und mich in Ruhe lassen.
Der Kommissar erhob sich, griff sich mit den Händen in den Rücken und stöhnte. Und plötzlich drehte er sich um und starrte unumwunden zu der Stelle, wo Pekkala sich versteckte. »Kommen Sie jetzt endlich da raus?«, rief er.
Pekkala war, als wäre ihm Sand ins Gesicht geworfen worden. Zögernd trat er aus dem Schutz des Baumes und stützte sich auf seinen nagelbewehrten Stock. »Was wollen Sie?« Er sprach so selten, dass sich seine Stimme in seinen Ohren fremd anhörte.
Die roten Beulen im Gesicht des Kommissars zeigten deutlich, wo die Mücken ihn gestochen hatten. »Sie sollen mit mir kommen«, sagte er.
»Warum?«, fragte Pekkala.
»Wenn Sie gehört haben, was ich Ihnen zu sagen habe, werden Sie freiwillig mitkommen.«
»Sie geben sich sehr optimistisch, Kommissar.«
»Die Leute, die mich geschickt haben ...«
»Wer hat Sie geschickt?«
»Sie werden Sie früh genug kennenlernen.«
»Und haben Ihnen diese Leute auch gesagt, wer ich bin?« Der junge Kommissar zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur, dass Ihr Name Pekkala lautet und dass Ihre wie auch immer gearteten Fertigkeiten jetzt anderweitig vonnöten sind.« Er sah sich auf der fahlen Lichtung um. »Ich hätte mir gedacht, Sie würden vor Freude in die Luft springen, wenn Sie von diesem gottverlassenen Ort fortkönnten.« »Sie und Ihre Leute haben Gott verlassen.«
Der Kommissar lächelte. »Man sagte mir, Sie seien ein schwieriger Mensch.«
»Man scheint mich zu kennen«, erwiderte Pekkala. »Wer immer diese Leute auch sind.«
»Man sagte mir auch«, fuhr der Kommissar fort, »dass Sie mich wahrscheinlich töten, bevor ich Sie überhaupt zu Gesicht bekommen habe, falls ich mit einer Waffe hier aufkreuze.« Der Kommissar hob die offenen Hände. »Wie Sie sehen, habe ich mich an diesen Ratschlag gehalten.«
Pekkala trat auf die Lichtung. In seinen zusammengeflickten Lumpen ragte er wie ein prähistorischer Riese über dem herausgeputzten Kommissar auf. Zum ersten Mal seit Jahren wurde ihm der Geruch seines ungewaschenen Körpers bewusst. »Wie heißen Sie?«, fragte Pekkala.
»Kirow. « Der junge Mann streckte den Rücken durch. »Kommissar Kirow.«
»Und wie lange sind Sie schon Kommissar?«
»Einen Monat und zwei Tage.« Leise fügte er hinzu: »Heute eingeschlossen.«
»Wie alt sind Sie?«, fragte Pekkala.
»Fast zwanzig.«
»Leutnant Kirow, Sie müssen jemanden ziemlich verärgert haben, wenn Sie mit der Aufgabe betraut wurden, mich zu holen.«
Der Kommissar kratzte sich an den Mückenstichen. »Sie müssen selbst ein paar Leute ziemlich verärgert haben, sonst wären Sie nicht in Sibirien gelandet.«
»Gut, Leutnant Kirow«, sagte Pekkala. »Sie haben Ihre Botschaft überbracht. Jetzt können Sie wieder nach Hause gehen und mich allein lassen.«
»Man wies mich an, Ihnen das hier zu geben.« Kirow hob die Aktentasche neben dem Baumstumpf auf.
»Was ist da drin?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Pekkala packte den Ledergriff. Die Tasche war schwerer als erwartet.
Der junge Kommissar drehte sich um. »Sie haben Zeit bis morgen zum Sonnenuntergang. Am Ende des Weges wartet ein Wagen auf Sie.«
Pekkala sah Kirow nach, der den Weg zurückging, den er gekommen war. Lange hörte er noch das Knacken der Zweige. Irgendwann war es still, und Pekkala war wieder allein.
Mit der Aktentasche trat er in seine Erdhütte, setzte sich auf die mit Kiefernnadeln gefüllten Säcke, auf denen er schlief, und legte sich die Aktentasche auf die Knie. Der Inhalt rutschte schwer in der Tasche hin und her. Pekkala löste die beiden Messingschnallen.
Als er den Deckel anhob, schlug ihm durchdringender Schimmelgeruch entgegen.
© 2012 Knaur Taschenbuch
Plötzlich ließen die Schmerzen nach. Schwärze schien ihm wie eine Flüssigkeit durch die Augen zu sickern und ertränkte seine Ängste, seine Wünsche, seine Erinnerungen, bis nichts mehr da war außer einer bebenden Leere, in der alles ausgelöscht wurde...
Mit einem Aufschrei fuhr er hoch. Er war allein im Wald. Wieder hatte der Traum ihn aus dem Schlaf gerissen.
Er schlug die alte, taufeuchte Pferdedecke zurück. Steif richtete er sich auf, sah blinzelnd in den Morgennebel und die schräg zwischen den Bäumen einfallenden Sonnenstrahlen. Er rollte die Decke zusammen, schnürte die Enden mit einem Lederriemen fest und schulterte sie, so dass sie ihm über den Rücken und die Brust fiel. Er nahm ein verschrumpeltes Stück Räucherfleisch aus der Tasche und kaute langsam, lauschte auf das Rascheln der Mäuse unter dem Laubteppich, die zeternden Vögel in den Ästen und den Wind, der durch die Kiefern strich.
Er war groß, breitschultrig, hatte eine schiefe, mehrfach gebrochene Nase und kräftige, weiße Zähne. Seine Augen waren grünlich braun, die Iris hatte etwas seltsam Silbriges an sich, was anderen nur auf~ el, wenn er ihnen direkt in die Augen sah. Vorzeitig ergraute Strähnen zogen sich durch die langen, schwarzen Haare, auf den wettergegerbten Wangen wucherte ein Vollbart.
Er hatte keinen Namen mehr. Er war nur noch der Gefangene 4745-P aus dem Arbeitslager Borodok.
Kurz darauf war er unterwegs, durchquerte ein Kieferngehölz und näherte sich auf leicht abschüssigem Gelände einem Bach. Er stützte sich auf einen kräftigen Knüppel, einen knorrigen Wurzelstock, aus dem Hufnägel mit Vierkantköpfen ragten. Sonst hatte er nur noch einen Eimer mit roter Farbe bei sich. Damit markierte er die Bäume, die von den Lagerinsassen gefällt würden - das war ihre Arbeit, das Holzfällen im Wald von Krasnagoljana. Er benutzte dafür keinen Pinsel, sondern hielt nur die Hand in die rote Farbe und hinterließ seinen Abdruck auf den Stämmen. Diese Abdrücke waren alles, was die anderen Insassen von ihm zu sehen bekamen.
Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Baummarkierers im Wald von Krasnagoljana betrug ein halbes Jahr. Diese Männer arbeiteten allein, fernab von anderen Menschen und ohne die geringste Fluchtmöglichkeit; sie erfroren oder verhungerten oder starben an Einsamkeit. Wer sich verirrte, wer stürzte und sich dabei ein Bein brach, fiel meist den Wölfen zum Opfer. Bäumemarkieren war die einzige Tätigkeit in Borodok, die noch gefürchteter war als die Todesstrafe.
Der Gefangene 4745-P, im neunten Jahr seiner dreißigjährigen Strafe, zu der er wegen Verbrechen gegen den Staat verurteilt worden war, hatte länger durchgehalten als jeder andere Baummarkierer im Gulag. Gleich nach seiner Ankunft in Borodok hatte der Lagerleiter ihn in die Wälder geschickt, aus Furcht, die anderen Insassen könnten seine wahre Identität herausfinden. Jeder ging davon aus, dass er nach einem Jahr tot sein würde.
Dreimal im Jahr wurden ihm am Ende eines Waldwegs Nahrungsmittel und andere Güter abgestellt. Petroleum, Dosenfleisch, Nägel. Um alles andere musste er sich selbst kümmern. Nur selten wurde er von den Holzfällern in den Wäldern gesichtet. Was sie erhaschten, war ein Wesen, das mit einem Menschen kaum mehr etwas gemein hatte. In seiner mit roter Farbe verkrusteten Gefängniskleidung, mit seinen langen Zottelhaaren glich er eher einem wilden Tier, dem das Fell abgezogen worden war und das man zum Sterben hatte liegen lassen - und das es trotzdem irgendwie geschafft hatte, zu überleben. Wilde Gerüchte umgaben ihn: Er esse Menschenfleisch, er trage einen Brustpanzer aus den Knochen derer, die in den Wäldern verschwunden waren, er habe eine Mütze aus zusammengenähten Skalps. Sie nannten ihn den Mann mit den blutigen Händen. Keiner außer dem Kommandanten von Borodok wusste, woher dieser Gefangene gekommen oder wer er früher gewesen war.
Die gleichen Männer, die eine Heidenangst davor hatten, ihm über den Weg zu laufen, hatten nicht die geringste Ahnung, dass er Pekkala war - dessen Namen sie einst angerufen hatten wie ihre Vorfahren die Götter.
Er watete durch den Bach, stieg aus dem kalten, hüfthohen Wasser und verschwand zwischen den weißen Birken auf der anderen Uferseite.
Zwischen den Bäumen verborgen lag eine halb in den Boden gegrabene Erdhütte, eine Semljanka. Pekkala hatte sie eigenhändig errichtet. Dort drinnen überstand er die sibirischen Winter, an denen das Schlimmste nicht die Kälte war, sondern die Stille - eine Stille, so vollkommen, dass sie einen ganz eigenen, zischenden, rauschenden Klang zu haben schien.
Pekkala näherte sich der Hütte, blieb stehen und schnupperte angespannt. Er stand nun völlig reglos, wie ein Reiher im Wasser, während seine nackten Füße im moosigen Untergrund einsanken.
Er hielt den Atem an.
Auf dem Baumstumpf am Rand der Lichtung saß mit dem Rücken zu ihm ein Mann. Er trug eine olivbraune Uniform mit kniehohen schwarzen Stiefeln. Er war kein gewöhnlicher Soldat. Seine Uniform glänzte seidig wie Gabardine, sie war nicht aus dem kratzigen Stoff, den die Männer von der örtlichen Kaserne trugen, die bei ihren Patrouillen manchmal bis zum Ende des Weges kamen, aber niemals so tief im Wald auftauchten.
Er schien sich weder verirrt zu haben, noch schien er bewaffnet zu sein. Zumindest konnte Pekkala keine Waffe erkennen. Er hatte lediglich eine Aktentasche mitgebracht. Sie war von guter Qualität, mit glänzenden Messingschnallen, die hier im Wald völlig fehl am Platz wirkten. Der junge Mann schien zu warten.
In den folgenden Stunden, während die Sonne über die Baumwipfel stieg und der Geruch des Kiefernharzes die Luft erfüllte, betrachtete Pekkala den Fremden, prägte sich ein, wie er den Kopf neigte, wie er die Beine übereinander-schlug und wieder löste, wie er sich räusperte, um den Blütenstaub im Rachen loszuwerden. Einmal erhob er sich, ging auf der Lichtung umher und schlug hektisch nach den Mücken. Als er sich umdrehte, sah Pekkala die rosigen Wangen eines jungen Mannes, der kaum älter als zwanzig sein konnte. Er war von schmächtiger Statur, mit dünnen Beinen und zarten Händen.
Unwillkürlich musste Pekkala sie mit seinen eigenen schwieligen Händen vergleichen, seinen schorfigen, aufgerissenen Knöcheln und muskulösen Beinen.
Pekkala bemerkte den roten Stern, der jeweils auf dem Unterarm seiner Gymnastiorka, des Waffenrocks, aufgenäht war. Der Fremde hatte also den Rang eines Kommissars inne; er war Politoffizier der Roten Armee.
Den ganzen Tag wartete der Kommissar auf der Lichtung, gequält von Insekten, bis das letzte Tageslicht verschwunden war. In der Dämmerung zog er eine langstielige Pfeife heraus und stopfte sie mit Tabak aus einem Beutel, den er um den Hals trug. Er entzündete sie mit einem Messingfeuerzeug, paffte zufrieden vor sich hin und hielt damit die Mücken auf Abstand.
Langsam atmete Pekkala ein. Der würzige Tabakgeruch überflutete seine Sinne. Er sah, wie der junge Mann häufig die Pfeife aus dem Mund nahm, sie betrachtete und sich daraufhin wieder zwischen die Zähne schob, was mit einem leisen Klacken einherging, als würde ein Schlüssel in einem Schloss umgedreht.
Er hatte die Pfeife noch nicht lange, mutmaßte Pekkala. Er zog die Pfeife den Zigaretten vor, weil er glaubte, er würde dadurch älter wirken.
Hin und wieder sah der Kommissar auf die roten Sterne an den Unterarmen, als erstaunte ihn ihr Anblick. Wahrscheinlich lag seine Beförderung noch nicht lange zurück. Je mehr er über diesen Mann erfuhr, umso weniger erschloss sich Pekkala, was dieser im Wald tat. Widerwillig musste er sich eingestehen, dass ihm der Kommissar sogar so etwas wie Bewunderung abnötigte: Er drang nicht in seine Hütte ein, sondern blieb eisern auf dem harten Baumstumpf sitzen.
Die Nacht brach herein, Pekkala lehnte sich gegen einen Baum, hielt sich die Hände vor den Mund und wärmte sie mit seinem Atem, merkte, wie er schläfrig wurde, wie er mit einem Ruck erwachte und feststellte, dass Nebel aufgezogen war, der den Geruch von totem Laub und Erde mit sich gebracht hatte.
Er sah zur Hütte. Der Kommissar hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Mit verschränkten Armen saß er auf dem Stumpf, das Kinn ruhte auf der Brust. Seine leisen Schnarchgeräusche hallten über die Lichtung.
Am Morgen wird er fort sein, dachte sich Pekkala. Er zog den ausgefransten Kragen seines Mantels hoch und schloss erneut die Augen.
Am Morgen allerdings, stellte Pekkala überrascht fest, war der Kommissar immer noch da. Er war von seinem Baumstumpf gefallen und lag auf dem Rücken, ein Bein ruhte noch auf dem Stumpf, als wäre er eine von ihrem Podest gestürzte Statue in Siegerpose.
Jetzt, dachte sich Pekkala, wird er hoffentlich bald zu Verstand kommen und mich in Ruhe lassen.
Der Kommissar erhob sich, griff sich mit den Händen in den Rücken und stöhnte. Und plötzlich drehte er sich um und starrte unumwunden zu der Stelle, wo Pekkala sich versteckte. »Kommen Sie jetzt endlich da raus?«, rief er.
Pekkala war, als wäre ihm Sand ins Gesicht geworfen worden. Zögernd trat er aus dem Schutz des Baumes und stützte sich auf seinen nagelbewehrten Stock. »Was wollen Sie?« Er sprach so selten, dass sich seine Stimme in seinen Ohren fremd anhörte.
Die roten Beulen im Gesicht des Kommissars zeigten deutlich, wo die Mücken ihn gestochen hatten. »Sie sollen mit mir kommen«, sagte er.
»Warum?«, fragte Pekkala.
»Wenn Sie gehört haben, was ich Ihnen zu sagen habe, werden Sie freiwillig mitkommen.«
»Sie geben sich sehr optimistisch, Kommissar.«
»Die Leute, die mich geschickt haben ...«
»Wer hat Sie geschickt?«
»Sie werden Sie früh genug kennenlernen.«
»Und haben Ihnen diese Leute auch gesagt, wer ich bin?« Der junge Kommissar zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur, dass Ihr Name Pekkala lautet und dass Ihre wie auch immer gearteten Fertigkeiten jetzt anderweitig vonnöten sind.« Er sah sich auf der fahlen Lichtung um. »Ich hätte mir gedacht, Sie würden vor Freude in die Luft springen, wenn Sie von diesem gottverlassenen Ort fortkönnten.« »Sie und Ihre Leute haben Gott verlassen.«
Der Kommissar lächelte. »Man sagte mir, Sie seien ein schwieriger Mensch.«
»Man scheint mich zu kennen«, erwiderte Pekkala. »Wer immer diese Leute auch sind.«
»Man sagte mir auch«, fuhr der Kommissar fort, »dass Sie mich wahrscheinlich töten, bevor ich Sie überhaupt zu Gesicht bekommen habe, falls ich mit einer Waffe hier aufkreuze.« Der Kommissar hob die offenen Hände. »Wie Sie sehen, habe ich mich an diesen Ratschlag gehalten.«
Pekkala trat auf die Lichtung. In seinen zusammengeflickten Lumpen ragte er wie ein prähistorischer Riese über dem herausgeputzten Kommissar auf. Zum ersten Mal seit Jahren wurde ihm der Geruch seines ungewaschenen Körpers bewusst. »Wie heißen Sie?«, fragte Pekkala.
»Kirow. « Der junge Mann streckte den Rücken durch. »Kommissar Kirow.«
»Und wie lange sind Sie schon Kommissar?«
»Einen Monat und zwei Tage.« Leise fügte er hinzu: »Heute eingeschlossen.«
»Wie alt sind Sie?«, fragte Pekkala.
»Fast zwanzig.«
»Leutnant Kirow, Sie müssen jemanden ziemlich verärgert haben, wenn Sie mit der Aufgabe betraut wurden, mich zu holen.«
Der Kommissar kratzte sich an den Mückenstichen. »Sie müssen selbst ein paar Leute ziemlich verärgert haben, sonst wären Sie nicht in Sibirien gelandet.«
»Gut, Leutnant Kirow«, sagte Pekkala. »Sie haben Ihre Botschaft überbracht. Jetzt können Sie wieder nach Hause gehen und mich allein lassen.«
»Man wies mich an, Ihnen das hier zu geben.« Kirow hob die Aktentasche neben dem Baumstumpf auf.
»Was ist da drin?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Pekkala packte den Ledergriff. Die Tasche war schwerer als erwartet.
Der junge Kommissar drehte sich um. »Sie haben Zeit bis morgen zum Sonnenuntergang. Am Ende des Weges wartet ein Wagen auf Sie.«
Pekkala sah Kirow nach, der den Weg zurückging, den er gekommen war. Lange hörte er noch das Knacken der Zweige. Irgendwann war es still, und Pekkala war wieder allein.
Mit der Aktentasche trat er in seine Erdhütte, setzte sich auf die mit Kiefernnadeln gefüllten Säcke, auf denen er schlief, und legte sich die Aktentasche auf die Knie. Der Inhalt rutschte schwer in der Tasche hin und her. Pekkala löste die beiden Messingschnallen.
Als er den Deckel anhob, schlug ihm durchdringender Schimmelgeruch entgegen.
© 2012 Knaur Taschenbuch
... weniger
Autoren-Porträt von Sam Eastland
Sam Eastland ist das Pseudonym des amerikanischen Schriftstellers Paul Watkins, geboren 1964, der sich auch mit literarischen Werken einen Namen gemacht hat. Seinen ersten Roman veröffentlichte er im Alter von sechzehn Jahren. Mit seiner Familie lebt er in Hightstown, New Jersey.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sam Eastland
- 2012, 4. Aufl., 384 Seiten, Maße: 12,4 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Karl-Heinz Ebnet
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426510499
- ISBN-13: 9783426510490
- Erscheinungsdatum: 26.10.2012
Rezension zu „Roter Zar / Inspektor Pekkala Bd.1 “
"Der russische James Bond in Diensten Stalins." WELT Online 20121128
Pressezitat
"Der russische James Bond in Diensten Stalins." WELT Online 20121128
Kommentar zu "Roter Zar / Inspektor Pekkala Bd.1"
4 von 5 Sternen
5 Sterne 0Schreiben Sie einen Kommentar zu "Roter Zar / Inspektor Pekkala Bd.1".
Kommentar verfassen