Rücken an Rücken
Roman
Nach dem internationalen Erfolg von 'Die Mittagsfrau' erzählt Julia Franck in ihrem großen neuen Roman eine ergreifende Familiengeschichte im Deutschland der 50er und 60er Jahre.
Ostberlin, Ende der 50er Jahre. Die Geschwister Ella und Thomas wachsen...
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Produktinformationen zu „Rücken an Rücken “
Klappentext zu „Rücken an Rücken “
Nach dem internationalen Erfolg von 'Die Mittagsfrau' erzählt Julia Franck in ihrem großen neuen Roman eine ergreifende Familiengeschichte im Deutschland der 50er und 60er Jahre.
Ostberlin, Ende der 50er Jahre. Die Geschwister Ella und Thomas wachsen auf sich allein gestellt im Haus der Bildhauerin Käthe auf. Sie sind einander Liebe und Gedächtnis, Rücken an Rücken loten sie ihr Erwachsenwerden aus. Ihre Unschuld und das Leben selbst stehen dabei auf dem Spiel.
Käthe, eine kraftvolle und schroffe Frau, hat sich für das kommunistische Deutschland entschieden. Leidenschaftlich vertritt sie die Erfindung einer neuen Gesellschaft, doch ihr Einsatz fordert Tribut. Im Schatten scheinbarer Liberalität setzen Kälte und Gewalt Ella zu. Während sie mal in Krankheit flieht und mal trotzig aufbegehrt, versucht Thomas sich zu fügen, doch nur schwer erträgt er die Erniedrigungen und flüchtet in die unglückliche Liebe zu Marie.
Julia Franck zeichnet das Bild einer Epoche, die die Frage nach Aufrichtigkeit neu stellt. Sie erzählt von großer Liebe ohne Rückhalt und einer Utopie mit tragischem Ausgang - eine Familiengeschichte, die zum Gesellschaftsroman wird.
Lese-Probe zu „Rücken an Rücken “
Rücken an Rücken von Juia FranckSchwanken
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Das Boot lag im Schilf versteckt; sie hatten es wenige Tage zuvor an der Mole gefunden, es schaukelte auf dem Wasser, der Wind trieb es in die moorige Bucht, zusammen mit Blättern, Zweigen und größeren Ästen, die der Sturm abgebrochen und angeschwemmt hatte. Es war nicht angebunden, offenbar gehörte es niemandem. Im Boot lag ein Riemen, etwas entfernt zwischen den Ästen schwamm ein zweiter.
Über die Treppe zum Hof ließen Thomas und Ella die nötigen Dinge aus dem Haus verschwinden: eine Steppdecke, zwei kleine Töpfe, Kartoffeln, Mohrrüben und einen Kanten Brot. Sie nahmen auch eine Schachtel mit Streichhölzern, etwas Papier und eine leere Weinflasche mit, denn Thomas meinte, sie würden vielleicht eine Flaschenpost schreiben wollen. Zuletzt trugen sie den Gaskocher und eine Taschenlampe durch das Moor, es wurde früh dunkel, Oktober, am Morgen hatte Raureif auf den Halmen und Blättern gelegen. Sie würden frieren.
In den letzten zwei Wochen waren sie allein im Haus gewesen, Käthe arbeitete im Steinbruch. Kurz vor ihrer Abreise war Eduard nach einem Streit verschwunden. Thomas und Ella hatten sich allein versorgt, sie hatten sich Kartoffeln gekocht und Quark mit Wasser, Salz und Schnittlauch verrührt, sie waren zur Schule gegangen, sie waren zehn und elf Jahre alt, sie konnten das. Zu Käthes Rückkehr, am Ende der zwei Wochen, hatten sie nur ein wenig aufräumen wollen, sie hatten das Geschirr abgewaschen, und während Ella noch abtrocknete, hatte Thomas begonnen, den Küchenboden zu schrubben, sie rieben die dunklen Flecken vom Türblatt und polierten die Klinke mit Asche, den Türrahmen wuschen sie mit Seife, den Fußabtreter schlugen sie mit dem Teppichklopfer aus und bürsteten ihn in der Regentonne. Meine Herren, heute sehen Sie mich Klinken abputzen und ich singe ein Lied für jeden.
Lachend hielt sich Thomas immer wieder die Ohren zu, er wollte sie nicht kränken, doch sie traf nur wenige Töne und veränderte die Melodie, wie es ihr einfiel. Der Kronleuchter konnte glänzen, wenn man ihn abrieb. Der Geruch des Messings haftete an den Fingern. Es machte Spaß, sie wollten das Haus so herrichten, wie es noch nie jemand gesehen hatte. Thomas entstaubte die Bücher und Regale mit einem trockenen Tuch, und mit einem feuchten Lappen wischte er nach, er sortierte die Kunstbücher nach Epochen und Größe, die Literatur nach dem Alphabet, die politischen Schriften nach Themen. Mit grollender Stimme, den Feldstecher des verstorbenen Vaters vor Augen, fragte er in die Tiefe des Raumes: Frollein Ella, wünschen Sie eine romantische oder eine abenteuerliche Lektüre aus der schönen Literatur zu leihen? Studieren Sie Trojas Kampf um Helena? Gern fülle ich eine Leihkarte für Sie aus. Ella beachtete ihn nicht, sie lag unter dem Tisch und reinigte mit einem Messer und einem Schwamm die Unterseite, was offensichtlich seit Jahrzehnten niemand getan hatte. Dort klebten hartnäckige Krusten, Spuren von Essen vielleicht, oder Wachs. Das Tischtuch aus italienischem Damast hatte Ella in der Zinkwanne im Garten eingeweicht, es musste gründlich gewaschen werden, Krümel und dunkle Flecken von Saucen und Wein hatten sich über lange Zeit darin eingenistet.
Hätten Ella und Thomas den Hausputz nicht in zwei Tagen bewältigen wollen, es wäre Thomas ein Vergnügen gewesen, Bibliothekar zu spielen; er wollte einen Karteikasten für die Bibliothek und ihre künftigen Nutzer anlegen und Leihkarten für jedes Buch entwerfen. Ella taten die Arme vom ausdauernden Wringen weh, als sie das safrangelbe Tischtuch auf die Leine hängte. Mit einem Zahnstocher und einem Wattebausch bewaffnet kletterte sie dann auf einen Hocker und wollte den Bilderrahmen der sizilianischen Landschaft reinigen. Der kobaltfarbene Himmel leuchtete über dem karstigen Felsen, wo nur Olivenbäume wuchsen. Doch die schimmernde Beschichtung des Rahmens löste sich und verfärbte den Wattebausch dunkel, so dass Ella Angst bekam, sie könnte nicht nur den Schmutz, sondern auch die Farbe ablösen. Selbst den Nähkasten ordnete sie, wickelte Garnrollen auf und Stickfaden um Pappschildchen, sie sortierte die Knöpfe in drei schwarze Schachteln, die Nadeln nach Größe in schmale Briefe. Seit dem Hausmädchen gekündigt worden war, hatte vermutlich niemand mehr außer Ella den Nähkasten benutzt. Sie spielte abwechselnd ihre vornehme Großmutter und deren Näherin, mit gespitztem Mund und der gestelzten Stimme ihrer Großmutter kommentierte Ella die Arbeit, mit deren französischen Worten: Alors, c'est si parfait!
Thomas antwortete im Vorbeigehen: Perfetto. Perfettamente, und sein Ton, bäuerlich und theatralisch, imitierte Käthes Trotz gegen das großbürgerliche Französisch ihrer Mutter.
Jedes Zimmer räumten sie auf, Quadratmeter für Quadratmeter, das gesamte Haus, wie es noch nie aufgeräumt worden war. In der Zinkwanne unter der Ulme hatten sie die Gardinen gewaschen und sie im Garten über der Wäscheleine vom Wind trocknen lassen. Mit dem Bügeleisen plätteten sie die Stoffe, Käthe sollte sich die Augen reiben. Dienstmädchen und Diener waren sie, die sich im Duett wohlwollend und voller Bewunderung für ihre Herrschaft aussprachen. Nur einmal änderte sich der Tenor im Gespräch über die Gutsherrin, weil sie erst kürzlich aus Ärger wegen eines stibitzten Glases Apfelkompott die Hand erhoben und dem Dienstmädchen so heftig eine gescheuert hatte, dass ihm Hören und Sehen vergangen war. Diener und Dienstmädchen wogen Güte und Gewalt ihrer Herrin ab, fegten und wischten dabei die Küche. Den Backofen reinigten sie mit einem Schwamm aus feinen Metalldrähten und verwendeten das Scheuerpulver so großzügig, bis keines mehr in der Schachtel war, die Speisekammer räumten sie auf und fanden in einem Korb voll alter Schuhe ein Nest mit neun winzigen, nackten Mäusen. Das weiche Rosa der Tierchen zitterte im Takt des schnellen Herzschlags, sie quiekten und piepsten nicht, dafür waren sie vielleicht zu jung. Thomas hob den Korb hoch, nahm einen Stiefel heraus und beschaute das Nest. Kleine Nacktmolche, seine Stimme war zärtlich, samten. Ella ekelte sich vor den blinden Tieren. Sie wollte sie nicht sehen. In der Regentonne ertränken wollte Ella sie. Thomas nicht. Wenn er die Jungen in den Keller brachte, würde ihre Mausemutter sie nicht mehr finden und sie müssten elend verenden. Also beschloss der Tierforscher, die Maus in eine Falle zu locken, damit er auch sie lebendig in den Keller schaffen könnte. Er legte ein Stück Käse in den tiefen Topf aus Steingut, darüber schob er ein Brett, das nur einen Spalt Öffnung ließ. Schon am Nachmittag fand er die Maus im Topf, er hörte sie im Innern an den Wänden hochspringen, wieder und wieder rutschte sie ab. Thomas brachte den Topf mit der Maus und den Korb mit ihren Jungen über die Verandatreppe in den Garten und von dort bis vor die Tür des Kohlenkellers. Dicht auf den Fersen folgte ihm Ella, die wusste, dass er nicht in den Keller konnte. Er traute sich nicht ins Dunkel. Er hatte Angst. Er ahnte, wie er Ella überzeugen konnte. Holst du die Kohlen, mache ich deine Matheaufgaben. Holst du die Kohlen, bekommst du geräucherte Sprotten. Holst du die Kohlen und bringst sie bis zum Haselstrauch an der Kellertür, trage ich sie nicht nur die Treppe ins Haus hinauf, ich heize die ganze Woche, ich hacke das Holz.
Bitte, sagte Thomas zu ihr, er übergab ihr den Topf und den Korb, du musst sie nur auf den Boden stellen und das Brett wegnehmen, sie werden schon allein rauskommen.
Was bekomme ich?
Eine Geschichte heute Abend.
Aber sie muss lang sein. Und noch was.
Was?
Das reicht nicht.
Ich trag' deine Schulmappe, die ganze Woche, versprochen, ich mach' Mathe für dich, und Deutsch auch.
Na gut. Ella stolperte, den Korb in der Hand und den Topf mit gestreckten Armen von sich fernhaltend, die Stufen in den Keller hinab. Unten schlug sie der Länge nach hin. Er hörte das Piepsen der Maus, der Topf war zerbrochen, allein der Korb mit den Jungen war unversehrt neben Ellas Kopf gelandet. Mühsam stand sie auf, die Hose war gerissen, ihre Knie waren wund, die Hände schwarz und aufgeschürft.
Zögerlich setzte Thomas einen Fuß vor den anderen und stakste auf Zehenspitzen ins Dunkel. Schreck und Angst hoben einander nicht auf, es war gewiss die Kälte, die seine Zähne klappern ließ. Auf der letzten Stufe blieb er stehen und reichte ihr die Hand. Das tut mir leid, er legte einen Arm um ihre Schulter. Dann untersuchte er ihre Knie und zog sie die Treppe hinauf und brachte sie in die Wohnung, wo er ihre Wunden wusch und mit einer Jodtinktur bestrich.
Später hatten Ella und Thomas die Teppiche ausgeklopft und die Böden erst gefegt, dann gewischt und nach dem Trocknen mit Wachs eingerieben, gebürstet und zuletzt mit einem Tuch blankgewichst. Stundenlang hatten sie geputzt und waren weit nach Mitternacht erschöpft ins Bett gefallen. Am nächsten Morgen standen sie früh auf, draußen war es noch dunkel, ohne Frühstück machten sie sich an die Arbeit. Alle Öfen des Hauses heizten sie ein, selbst den Badeofen, es war möglich, dass Käthe nach ihrer Rückkehr ein heißes Bad nehmen wollte, sie scheuerten die Wanne und wischten die Türen ab, sie hängten die frisch gewaschenen Gardinen vor den geputzten Fenstern auf. Mittags legten sie Kohlen nach, als Heizer brachten sie die Ascheeimer zum Müll und reinigten die Tonne von außen, sie harkten das Laub unter der Ulme, zogen die welken Stängel aus den Beeten und fegten die Treppe von der Veranda in den Garten. Mit einem Federbüschel lief Ella durch das Haus und fing die Spinnweben aus den Ecken, auch die Gemälde entstaubte sie mit den Federn. Etwas gluckste in ihr, als sie sich dem Ölbild mit den Kirschblüten im Wannsee-garten näherte. Ein Meisterwerk, nannte Käthe dieses Bild, wenn staunende Besucher es betrachteten. Das ehrfürchtige Nicken freute Ella immer. Als sie vor einigen Jahren einmal krank im Bett liegen musste und ihr über Wochen niemand Gesellschaft leistete, hatte sie auf einem Holzbrett mit Ölfarben ihre Familie malen wollen. Es war ihr nicht gelungen: Sie selbst war riesig, größer als die Mutter, schwebte frei im Raum, ihr Bruder sah nach einem Erdgeist aus, die winzigen Zwillinge hingen wie Nagetiere am Busen der Mutter, und die aus der Bluse ragenden Brüste waren alles andere als rosig, - - blutrot bläkten sie aus ihrem grünen Hemd. Damals war Ella zwar erst in die Schule gekommen, aber der Anspruch war groß und sie wusste, dass sie dieses Bild ihrer Mutter niemals zeigen könnte. Doch dann war ihr Blick auf die Kirschblüten am Wannsee gefallen und sie hatte nicht widerstehen können, sie war aufgestanden und hatte mit ihrem Pinsel winzige weiße Pünktchen auf der grünen Wiese verteilt. Ein wenig Gelb hatte sie hinzugefügt, sehr zart nur, denn ein Weiß war niemals nur weiß. Und sahen sie bei genauer Betrachtung nicht wie Gänseblümchen aus? Niemandem sollten die weißen Pünktchen auffallen, so dass Ella in den folgenden Jahren immer wieder Kleinigkeiten an dem Bild des großen Meisters veränderte. Heute war keine Zeit dafür. Sie lächelte nur, als sie mit ihrem Federbüschel über die Kirschblüten am Wannsee streichelte. Auf jedem Möbelstück im Haus wischten Thomas und Ella Staub, die Stühle rieben sie mit warmem Seifenwasser ab und ölten sie anschließend ein, so dass ihr Holz honiggolden schimmerte. Einzig Eduards Zimmer blieb unverändert, das Betreten war ihnen streng verboten. Heimlich öffnete Ella die Tür, im Zimmer roch es übel nach fauligem Blumenwasser. Aber eine Vase konnte Ella nicht entdecken. Eduards Abwesenheit reizte sie, Ella musste sein Zimmer betreten, als würde sie etwas suchen, von dem sie nicht wusste, was es war. Leise schlich sie hinein, obwohl niemand in Hörweite war und sie Thomas fern in der Küche wusste. Die Schublade des Schreibtisches war verschlossen. Wie oft hatte Ella schon versucht, diese Schublade zu öffnen? Mit einer Haarspange, mit einer Sicherheitsnadel, mit einem herrenlosen Schlüssel, den sie beim Fegen unter dem Teppich gefunden hatte. War sie es gewesen, die das Furnier rund um das Schloss zerkratzt hatte?
Im Atelier ließen sie alles an seiner Stelle, kein Wachsmodell berührten sie, auch wenn auf den älteren haarige Staubschichten klebten und bei einem die Arme vor Trockenheit und Alter abgebrochen waren. Sie entstaubten keine Gipsfigur, nur sacht strich Ella über die runden Hüften der Liegenden. Niemand hatte ihnen das Anfassen verboten, aber es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass den fragilen Modellen nichts zustoßen durfte und insbesondere Kinder in ihrer Nähe nicht spielen durften, sich hier am besten überhaupt nicht aufhalten sollten. Der Sandsteinbruch in der Tonne unter der Galerie, der feucht aufbewahrte Ton wie auch die kleineren Marmorbrocken auf dem Fensterbrett, alles blieb liegen, wo es war. Nicht einmal den Besen nahmen sie zur Hand und hoben keinen Krümel auf, entfernten keine einzige Spinnwebe. Es dämmerte, als Ella mit müden Beinen in den Garten ging und einen Strauß lila Herbstastern pflückte, dazu brach sie vom Busch kahle Zweige mit leuchtend roten Hagebutten ab.
Thomas kochte eine Linsensuppe, auch wenn er noch nie zuvor eine gemacht hatte und es im Haus kein Buch mit Rezepten gab. Dabei atmete er durch den Mund, denn es kostete ihn Überwindung, den Speck anzubraten. Der Geruch des bratenden Räucherfleischs ließ ihn würgen, er mochte Schweine nicht mehr als Hasen, aber er wollte kein Tier getötet wissen, einzig damit es gegessen würde. Er vermutete, dass Käthe eine Linsensuppe ohne Speck ungenießbar fände. Ella machte sich über seine Mundatmung lustig, wie ein schnappender Fisch sah er aus. Der Speck brutzelte auf dem Feuer, später, in der Suppe, würde er glasig und wabbelig werden. Die Kartoffeln und Möhren schnitt Thomas klein, er hatte Sellerie gekauft, weil ihm Käthes genüssliches Grunzen eingefallen war, das sie allein beim Wort Sellerie von sich gab. Zwei Knoblauchzehen hatte er in den Topf geworfen. Auch das Lorbeerblatt vergaß er nicht, mit einer Nelke piekte er es in die Zwiebel. Eine so gute Linsensuppe würde Käthe noch nie gegessen haben. Ella saß auf der Mehltruhe, ließ ihre Beine baumeln und faltete die gebügelten Servietten, sie beobachtete Thomas beim Kochen, auch sie schnappte nun Luft durch den Mund.
Ich hör' sie! Ella sprang auf. Aus der Ferne hörten sie helles Knattern, es näherte sich und schallte jetzt im Echo zwischen Haus, Atelier und Schuppen über den Hof. Kein Motorrad machte ein Geräusch wie dieses, Käthes Mucke-picke, ihr Klang war unverwechselbar. Ella und Thomas liefen in die Speisekammer, sie schauten aus dem Fenster hinab in den Hof und vergewisserten sich. Da war sie. Auf dem Kopf trug Käthe ihre lederne Pilotenmütze. Sie beugte sich über die Kiste auf dem Gepäckträger und schnallte eine große, etwas unförmige Tasche ab. Erst jetzt traf ihr Hund ein, freudig sprang er an ihr hoch, er hatte sie eingeholt. Die längste Zeit einer Reise fuhr er in der hölzernen Kiste auf dem Gepäckträger mit. Vor Rahnsdorf, im Wald an den Püttbergen, ließ Käthe ihn runter, damit er noch die letzten Kilometer laufen konnte. Hunde und Kinder liebten die hohen Dünen, zu denen sich der Sand am südöstlichen Rande des Berliner Urstromtals aufgetürmt hatte. 1954. Wald bis zum Fließ und zu den Ufern des Müggelsees. Einzelne Häuser, ein dörflicher Stadtteil am Saum Berlins, hohe märkische Kiefern mit rötlichen Stämmen ragten aus den Wipfeln von Eiche, Ahorn und Buche. Käthe fuhr selten ohne ihre Muckepicke aus der Stadt hinaus, aber sie wünschte sich ein Auto, mit dem sie ihre Materialien und Werkzeuge transportieren könnte. Kleinere Skulpturen passten in den Anhänger des Motorrads. Und wenn sie Modelle zum Brennen oder Gießen brachte, musste sie telefonieren und sich entfernte Nachbarn zu Freunden erklären, damit sie deren Auto leihen konnte.
Thomas ging zurück in die Küche, er probierte seine Suppe und verbrannte sich die Zunge. Woher sollte er wissen, ob zu viel Salz daran war? Er mochte Salz. Thomas stellte die Flamme klein. Probier du mal, bat er Ella, doch sie rannte schon vorbei. Aus dem Flur hörten sie ein Klappern, dann das Bellen von Käthes Hund. Thomas folgte Ella hinüber in den Tabaksaal.
Die Pilotenmütze auf dem Kopf, stand Käthe an dem langen Tisch, vor ihr ein Stapel Post: Briefe, Zeitungen, flache Päckchen. Guten Tag, sang Käthe mit hoher Stimme, sie hatte gehört, wie Thomas in den Raum getreten war, doch ihr Blick haftete an einer Zeitung, die sie flüchtig durchblätterte. Wenn sie von einem längeren Aufenthalt im Steinbruch zurückkehrte und selbst wenn sie nach Stunden im Atelier herauf ins Haus kam, konnte sie plötzlich mitten im Satz singen. Die Wangen leicht gerötet, leckte sie ihre Lippen und öffnete, die Hundeleine über dem Arm, ein kleines Kuvert. Sie überflog die Zeilen und wieherte dabei hell. Der Künstlerverband lädt ein! Mit stolzer Geste lehnte sie die Einladung gegen die Blumenvase. Sie musste seufzen. Lange hatte sie auf diese Einladung gewartet. Ungeduldig öffnete sie den nächsten Brief.
Ella setzte sich in einen der beiden tiefen Sessel beim Tisch, sie beobachtete, wie Käthe mit der Pilotenmütze auf dem Kopf ihre Post sichtete.
Thomas hätte Käthe gern umarmt, ihm fiel auf, dass er sie sehr vermisst hatte. Er mochte ihr freudiges Wiehern, es lag ein Begehren darin, ein Frohlocken. Wenn Käthe außer Reichweite war, imitierten Thomas und Ella manchmal unvermittelt ihr Wiehern, während des Schulwegs oder beim Einkaufen, manchmal auch in einer kleinen Runde von Freunden. Thomas überlegte, ob er ihr die Pilotenmütze und die Hundeleine abnehmen sollte, wie man anderen Menschen, die von draußen hereinkamen, Hut und Schirm abnahm. Im falschen Augenblick konnte sie eine solche Geste zudringlich empfinden, waren doch Mütze und Leine schon ein Teil ihrer selbst, die ließ man sich nicht einfach abnehmen und an einen Haken hängen. Er mochte Käthes Geruch nach Leder und Hund. Aber Käthe ging Umarmungen aus dem Weg, es schien, als würde sie in körperlicher Nähe frieren, so sehr presste sie dann ihre Arme an die Seiten, versteifte sich ihr Rücken, schüttelte sie sich. Eine Umarmung musste ihr widerwärtig sein, Thomas hielt das für möglich. Zu den Kindern hatte sie früher oft gesagt: Klammert nicht so. Nur wenn sie in ihrer Nähe waren. Es gab keine Umarmungen, zu keiner Gelegenheit. Auch mit Eduard oder einem anderen Mann hatte Thomas das nie beobachtet. Vielleicht war eine Umarmung in Käthes Augen pure Höflichkeit, Anbiederei, eine Zärtlichkeit, die sie schlicht nicht empfand. Und so blieb Thomas stehen und hoffte, dass sie ihm vielleicht die Hand geben oder ihn wenigstens ansehen würde.
Mit ihrem silbernen Brieföffner schlitzte Käthe einen großen Umschlag auf, sie brachte ein Heft und einen Brief zum Vorschein und begann zu lesen. Ohne aufzublicken, streckte sie seitlich ihre Hand aus, suchte etwas in der Luft. Vielleicht sollte Thomas die Hand ergreifen?
Na komm, sagte sie, komm her. Ihre Hand wedelte, während ihr Blick an dem Brief klebte. Thomas machte einen Schritt auf sie zu, er fragte sich, ob er gemeint sei, ob er ihre Hand fassen oder schütteln solle, noch einen Schritt machte er auf sie zu - doch der Hund kam ihm zuvor. Agotto leckte Käthes Finger ab, er schnappte nach ihrer ausgestreckten Hand, rieb seine Ohren an ihr, auf dass sie seinen Kopf streichelte.
Hast du Hunger, Käthe? Ich habe etwas gekocht, Thomas legte den Kopf schief, sie musste die Linsen schon riechen können.
Käthe nickte, schaute kurz hoch und wieder zurück auf ihre Post, sie nickte weiter, als habe sie vergessen, weshalb. Nachdenklich legte sie den Brief weg und nahm den nächsten Umschlag. Ellaellaella, dir muss der liebe Gott wohl Beine machen. Der Tisch ist ja noch nicht gedeckt.
Ella blieb in dem riesigen Sessel sitzen, wie ein drapiertes Püppchen war sie darin versunken. Sie hatte ihr kariertes Festtagskleid angezogen und den Spitzenkragen umgelegt. Nur wenige Male hatte sie das Kleid getragen, die Großmutter hatte es ihr vor zwei Jahren aus London mitgebracht, nun waren die Ärmel etwas kurz, die Handgelenke leuchteten daraus hervor. Ellas Haare waren glattgebürstet, selbst die Schuhe hatte sie noch so geputzt, bis sie glänzten - nicht nur ihre, auch alle anderen, die sie im Schuhregal in der Kammer gefunden hatte. Mit den Fingern kratzte Ella lautlos über den grünen Samt der Armlehne. Ungern stand sie aus dem Sessel auf. Den sorgsam gewundenen Blumenstrauß zwischen sich und Käthe, die noch immer nicht die letzten Umschläge geöffnet hatte, beim Lesen hin und wieder den Kopf schüttelte und ein zustimmendes oder ablehnendes Geräusch von sich gab, hoffte Ella auf einen Blick, eine noch so winzige Bemerkung.
Was ist? Käthe hob jetzt den Kopf und sah Ella fordernd an, beweg' dich.
Keine Aufmerksamkeit für das Kleid, keine für das Haar. Umständlich erhob sich Ella, ihr linkes Bein war eingeschlafen und so humpelte sie, als sie Thomas in die Küche folgte. In der Küche brauchten Thomas und sie sich nur anzusehen, der Blick enthielt die wachsende Spannung, das ungeduldige Warten, es könnte jeden Augenblick so weit sein: Käthes Blick musste nicht auf die Blumen fallen, nicht auf das Festtagskleid und die blitzenden Fensterscheiben, gewiss aber würde der Geruch der gewienerten Böden in ihrer Nase kitzeln, Käthe würde die aufgeräumten Regale entdecken. Und erst der Geschmack des Selleries zusammen mit Speck und Linsen im Mund. Sie würde staunen. Ella trug eine Karaffe Leitungswasser und drei Gläser in den Tabaksaal.
Mach mal einer das Fenster auf, Ella, das hält hier keiner aus. Wollt ihr das Haus zur Schwitzhütte machen? Was ist das für eine Verschwendung. Wir heizen im Oktober nicht den Garten, verstanden?
Nur kurz blickte Käthe Ella vorwurfsvoll an. Sie goss sich ein Glas mit Wasser ein und leerte es in einem Zug. Käthes Wangen waren gerötet, mit dem Handrücken wischte sie sich über die Stirn, jetzt studierte sie aufmerksam den Absender eines Briefes. Unschlüssig schüttelte Ella den Kopf. Vielleicht hatten sie mit dem Heizen übertrieben.
Zurück in der Küche rollte Ella die zur halben Größe gefalteten Servietten ein und schob silberne Ringe darüber. Mit rotem Buntstift malte sie ein Herz auf einen Zettel, darin zwei ineinander verschlungene kleinere Herzen. Sie wickelte die Botschaft in die grün-weiße Serviette, die Käthe gern benutzte.
Im Garten war noch Petersilie, Thomas zeigte Ella die blaue Schale. So gerade und sauber sie es konnte, schnitt Ella einige Scheiben von dem Brotlaib, legte sie in einen Korb und schlug das Tuch darüber. Sie schütteten die Suppe in eine festliche Terrine. Thomas trug die dampfende Schüssel, Ella nahm das Tablett mit den Tellern und Löffeln, dem Brot und den Servietten.
Das ist nicht zum Aushalten! Wir sind doch nicht bei Krethi und Plethi!
Käthe telefonierte, als Ella mit dem Ellenbogen die Tür zum Tabaksaal öffnete, auf den Händen balancierte sie das Tablett. Sie deckten den Tisch. Thomas schöpfte die Suppe auf die Teller. Sie warteten. Das Telefongespräch im angrenzenden Zimmer dauerte länger. Durch die große Flügeltür konnten sie Käthe sehen, wie sie an ihrer Kommode stand und wild gestikulierte, es ging wohl um irgendeinen Beschluss ihres Verbandes. Während am anderen Ende der Leitung jemand versuchte, ihr etwas zu erklären, zeichnete Käthe mit Kohle auf der Rückseite eines großen Briefumschlags. Nein, einverstanden war Käthe nicht, sie fuchtelte mit der Kohle in der Luft, das habe ich schon gesagt, unter keinen Umständen. So eine Idee muss Hand und Fuß haben. Nach einer Weile legte Käthe auf und kam zum Tisch. Ist Eduard hier mal aufgetaucht?
Thomas und Ella schüttelten den Kopf. Eduard meldete sich bei den Kindern nicht an oder ab. Selten grüßte er sie, und wenn, war es wie ein Gruß zu Fremden, deren höfliche Erwiderung er trotzig einforderte. Befanden sie sich zur selben Zeit im Haus, gehörten sie wie Möbel oder Haustiere zum Inventar, mal bemerkte er sie, mal nicht. Ellas Schuhe gefielen ihm manchmal, manchmal ihr Kleid. Es war durchaus möglich, dass er in den letzten zwei Wochen hier gewesen war, vielleicht vormittags, aber gesehen hatten sie ihn nicht.
Kein einziges Mal? Käthe setzte sich und rollte ihre Serviette aus, die Herzbotschaft segelte unbeachtet auf den Boden, sie steckte sich die Serviette oben in den Pullover, wie ein Lätzchen, und stieß ihren Löffel in den Teller. Kann denn nicht mal jemand die Suppe heiß machen?
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© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Das Boot lag im Schilf versteckt; sie hatten es wenige Tage zuvor an der Mole gefunden, es schaukelte auf dem Wasser, der Wind trieb es in die moorige Bucht, zusammen mit Blättern, Zweigen und größeren Ästen, die der Sturm abgebrochen und angeschwemmt hatte. Es war nicht angebunden, offenbar gehörte es niemandem. Im Boot lag ein Riemen, etwas entfernt zwischen den Ästen schwamm ein zweiter.
Über die Treppe zum Hof ließen Thomas und Ella die nötigen Dinge aus dem Haus verschwinden: eine Steppdecke, zwei kleine Töpfe, Kartoffeln, Mohrrüben und einen Kanten Brot. Sie nahmen auch eine Schachtel mit Streichhölzern, etwas Papier und eine leere Weinflasche mit, denn Thomas meinte, sie würden vielleicht eine Flaschenpost schreiben wollen. Zuletzt trugen sie den Gaskocher und eine Taschenlampe durch das Moor, es wurde früh dunkel, Oktober, am Morgen hatte Raureif auf den Halmen und Blättern gelegen. Sie würden frieren.
In den letzten zwei Wochen waren sie allein im Haus gewesen, Käthe arbeitete im Steinbruch. Kurz vor ihrer Abreise war Eduard nach einem Streit verschwunden. Thomas und Ella hatten sich allein versorgt, sie hatten sich Kartoffeln gekocht und Quark mit Wasser, Salz und Schnittlauch verrührt, sie waren zur Schule gegangen, sie waren zehn und elf Jahre alt, sie konnten das. Zu Käthes Rückkehr, am Ende der zwei Wochen, hatten sie nur ein wenig aufräumen wollen, sie hatten das Geschirr abgewaschen, und während Ella noch abtrocknete, hatte Thomas begonnen, den Küchenboden zu schrubben, sie rieben die dunklen Flecken vom Türblatt und polierten die Klinke mit Asche, den Türrahmen wuschen sie mit Seife, den Fußabtreter schlugen sie mit dem Teppichklopfer aus und bürsteten ihn in der Regentonne. Meine Herren, heute sehen Sie mich Klinken abputzen und ich singe ein Lied für jeden.
Lachend hielt sich Thomas immer wieder die Ohren zu, er wollte sie nicht kränken, doch sie traf nur wenige Töne und veränderte die Melodie, wie es ihr einfiel. Der Kronleuchter konnte glänzen, wenn man ihn abrieb. Der Geruch des Messings haftete an den Fingern. Es machte Spaß, sie wollten das Haus so herrichten, wie es noch nie jemand gesehen hatte. Thomas entstaubte die Bücher und Regale mit einem trockenen Tuch, und mit einem feuchten Lappen wischte er nach, er sortierte die Kunstbücher nach Epochen und Größe, die Literatur nach dem Alphabet, die politischen Schriften nach Themen. Mit grollender Stimme, den Feldstecher des verstorbenen Vaters vor Augen, fragte er in die Tiefe des Raumes: Frollein Ella, wünschen Sie eine romantische oder eine abenteuerliche Lektüre aus der schönen Literatur zu leihen? Studieren Sie Trojas Kampf um Helena? Gern fülle ich eine Leihkarte für Sie aus. Ella beachtete ihn nicht, sie lag unter dem Tisch und reinigte mit einem Messer und einem Schwamm die Unterseite, was offensichtlich seit Jahrzehnten niemand getan hatte. Dort klebten hartnäckige Krusten, Spuren von Essen vielleicht, oder Wachs. Das Tischtuch aus italienischem Damast hatte Ella in der Zinkwanne im Garten eingeweicht, es musste gründlich gewaschen werden, Krümel und dunkle Flecken von Saucen und Wein hatten sich über lange Zeit darin eingenistet.
Hätten Ella und Thomas den Hausputz nicht in zwei Tagen bewältigen wollen, es wäre Thomas ein Vergnügen gewesen, Bibliothekar zu spielen; er wollte einen Karteikasten für die Bibliothek und ihre künftigen Nutzer anlegen und Leihkarten für jedes Buch entwerfen. Ella taten die Arme vom ausdauernden Wringen weh, als sie das safrangelbe Tischtuch auf die Leine hängte. Mit einem Zahnstocher und einem Wattebausch bewaffnet kletterte sie dann auf einen Hocker und wollte den Bilderrahmen der sizilianischen Landschaft reinigen. Der kobaltfarbene Himmel leuchtete über dem karstigen Felsen, wo nur Olivenbäume wuchsen. Doch die schimmernde Beschichtung des Rahmens löste sich und verfärbte den Wattebausch dunkel, so dass Ella Angst bekam, sie könnte nicht nur den Schmutz, sondern auch die Farbe ablösen. Selbst den Nähkasten ordnete sie, wickelte Garnrollen auf und Stickfaden um Pappschildchen, sie sortierte die Knöpfe in drei schwarze Schachteln, die Nadeln nach Größe in schmale Briefe. Seit dem Hausmädchen gekündigt worden war, hatte vermutlich niemand mehr außer Ella den Nähkasten benutzt. Sie spielte abwechselnd ihre vornehme Großmutter und deren Näherin, mit gespitztem Mund und der gestelzten Stimme ihrer Großmutter kommentierte Ella die Arbeit, mit deren französischen Worten: Alors, c'est si parfait!
Thomas antwortete im Vorbeigehen: Perfetto. Perfettamente, und sein Ton, bäuerlich und theatralisch, imitierte Käthes Trotz gegen das großbürgerliche Französisch ihrer Mutter.
Jedes Zimmer räumten sie auf, Quadratmeter für Quadratmeter, das gesamte Haus, wie es noch nie aufgeräumt worden war. In der Zinkwanne unter der Ulme hatten sie die Gardinen gewaschen und sie im Garten über der Wäscheleine vom Wind trocknen lassen. Mit dem Bügeleisen plätteten sie die Stoffe, Käthe sollte sich die Augen reiben. Dienstmädchen und Diener waren sie, die sich im Duett wohlwollend und voller Bewunderung für ihre Herrschaft aussprachen. Nur einmal änderte sich der Tenor im Gespräch über die Gutsherrin, weil sie erst kürzlich aus Ärger wegen eines stibitzten Glases Apfelkompott die Hand erhoben und dem Dienstmädchen so heftig eine gescheuert hatte, dass ihm Hören und Sehen vergangen war. Diener und Dienstmädchen wogen Güte und Gewalt ihrer Herrin ab, fegten und wischten dabei die Küche. Den Backofen reinigten sie mit einem Schwamm aus feinen Metalldrähten und verwendeten das Scheuerpulver so großzügig, bis keines mehr in der Schachtel war, die Speisekammer räumten sie auf und fanden in einem Korb voll alter Schuhe ein Nest mit neun winzigen, nackten Mäusen. Das weiche Rosa der Tierchen zitterte im Takt des schnellen Herzschlags, sie quiekten und piepsten nicht, dafür waren sie vielleicht zu jung. Thomas hob den Korb hoch, nahm einen Stiefel heraus und beschaute das Nest. Kleine Nacktmolche, seine Stimme war zärtlich, samten. Ella ekelte sich vor den blinden Tieren. Sie wollte sie nicht sehen. In der Regentonne ertränken wollte Ella sie. Thomas nicht. Wenn er die Jungen in den Keller brachte, würde ihre Mausemutter sie nicht mehr finden und sie müssten elend verenden. Also beschloss der Tierforscher, die Maus in eine Falle zu locken, damit er auch sie lebendig in den Keller schaffen könnte. Er legte ein Stück Käse in den tiefen Topf aus Steingut, darüber schob er ein Brett, das nur einen Spalt Öffnung ließ. Schon am Nachmittag fand er die Maus im Topf, er hörte sie im Innern an den Wänden hochspringen, wieder und wieder rutschte sie ab. Thomas brachte den Topf mit der Maus und den Korb mit ihren Jungen über die Verandatreppe in den Garten und von dort bis vor die Tür des Kohlenkellers. Dicht auf den Fersen folgte ihm Ella, die wusste, dass er nicht in den Keller konnte. Er traute sich nicht ins Dunkel. Er hatte Angst. Er ahnte, wie er Ella überzeugen konnte. Holst du die Kohlen, mache ich deine Matheaufgaben. Holst du die Kohlen, bekommst du geräucherte Sprotten. Holst du die Kohlen und bringst sie bis zum Haselstrauch an der Kellertür, trage ich sie nicht nur die Treppe ins Haus hinauf, ich heize die ganze Woche, ich hacke das Holz.
Bitte, sagte Thomas zu ihr, er übergab ihr den Topf und den Korb, du musst sie nur auf den Boden stellen und das Brett wegnehmen, sie werden schon allein rauskommen.
Was bekomme ich?
Eine Geschichte heute Abend.
Aber sie muss lang sein. Und noch was.
Was?
Das reicht nicht.
Ich trag' deine Schulmappe, die ganze Woche, versprochen, ich mach' Mathe für dich, und Deutsch auch.
Na gut. Ella stolperte, den Korb in der Hand und den Topf mit gestreckten Armen von sich fernhaltend, die Stufen in den Keller hinab. Unten schlug sie der Länge nach hin. Er hörte das Piepsen der Maus, der Topf war zerbrochen, allein der Korb mit den Jungen war unversehrt neben Ellas Kopf gelandet. Mühsam stand sie auf, die Hose war gerissen, ihre Knie waren wund, die Hände schwarz und aufgeschürft.
Zögerlich setzte Thomas einen Fuß vor den anderen und stakste auf Zehenspitzen ins Dunkel. Schreck und Angst hoben einander nicht auf, es war gewiss die Kälte, die seine Zähne klappern ließ. Auf der letzten Stufe blieb er stehen und reichte ihr die Hand. Das tut mir leid, er legte einen Arm um ihre Schulter. Dann untersuchte er ihre Knie und zog sie die Treppe hinauf und brachte sie in die Wohnung, wo er ihre Wunden wusch und mit einer Jodtinktur bestrich.
Später hatten Ella und Thomas die Teppiche ausgeklopft und die Böden erst gefegt, dann gewischt und nach dem Trocknen mit Wachs eingerieben, gebürstet und zuletzt mit einem Tuch blankgewichst. Stundenlang hatten sie geputzt und waren weit nach Mitternacht erschöpft ins Bett gefallen. Am nächsten Morgen standen sie früh auf, draußen war es noch dunkel, ohne Frühstück machten sie sich an die Arbeit. Alle Öfen des Hauses heizten sie ein, selbst den Badeofen, es war möglich, dass Käthe nach ihrer Rückkehr ein heißes Bad nehmen wollte, sie scheuerten die Wanne und wischten die Türen ab, sie hängten die frisch gewaschenen Gardinen vor den geputzten Fenstern auf. Mittags legten sie Kohlen nach, als Heizer brachten sie die Ascheeimer zum Müll und reinigten die Tonne von außen, sie harkten das Laub unter der Ulme, zogen die welken Stängel aus den Beeten und fegten die Treppe von der Veranda in den Garten. Mit einem Federbüschel lief Ella durch das Haus und fing die Spinnweben aus den Ecken, auch die Gemälde entstaubte sie mit den Federn. Etwas gluckste in ihr, als sie sich dem Ölbild mit den Kirschblüten im Wannsee-garten näherte. Ein Meisterwerk, nannte Käthe dieses Bild, wenn staunende Besucher es betrachteten. Das ehrfürchtige Nicken freute Ella immer. Als sie vor einigen Jahren einmal krank im Bett liegen musste und ihr über Wochen niemand Gesellschaft leistete, hatte sie auf einem Holzbrett mit Ölfarben ihre Familie malen wollen. Es war ihr nicht gelungen: Sie selbst war riesig, größer als die Mutter, schwebte frei im Raum, ihr Bruder sah nach einem Erdgeist aus, die winzigen Zwillinge hingen wie Nagetiere am Busen der Mutter, und die aus der Bluse ragenden Brüste waren alles andere als rosig, - - blutrot bläkten sie aus ihrem grünen Hemd. Damals war Ella zwar erst in die Schule gekommen, aber der Anspruch war groß und sie wusste, dass sie dieses Bild ihrer Mutter niemals zeigen könnte. Doch dann war ihr Blick auf die Kirschblüten am Wannsee gefallen und sie hatte nicht widerstehen können, sie war aufgestanden und hatte mit ihrem Pinsel winzige weiße Pünktchen auf der grünen Wiese verteilt. Ein wenig Gelb hatte sie hinzugefügt, sehr zart nur, denn ein Weiß war niemals nur weiß. Und sahen sie bei genauer Betrachtung nicht wie Gänseblümchen aus? Niemandem sollten die weißen Pünktchen auffallen, so dass Ella in den folgenden Jahren immer wieder Kleinigkeiten an dem Bild des großen Meisters veränderte. Heute war keine Zeit dafür. Sie lächelte nur, als sie mit ihrem Federbüschel über die Kirschblüten am Wannsee streichelte. Auf jedem Möbelstück im Haus wischten Thomas und Ella Staub, die Stühle rieben sie mit warmem Seifenwasser ab und ölten sie anschließend ein, so dass ihr Holz honiggolden schimmerte. Einzig Eduards Zimmer blieb unverändert, das Betreten war ihnen streng verboten. Heimlich öffnete Ella die Tür, im Zimmer roch es übel nach fauligem Blumenwasser. Aber eine Vase konnte Ella nicht entdecken. Eduards Abwesenheit reizte sie, Ella musste sein Zimmer betreten, als würde sie etwas suchen, von dem sie nicht wusste, was es war. Leise schlich sie hinein, obwohl niemand in Hörweite war und sie Thomas fern in der Küche wusste. Die Schublade des Schreibtisches war verschlossen. Wie oft hatte Ella schon versucht, diese Schublade zu öffnen? Mit einer Haarspange, mit einer Sicherheitsnadel, mit einem herrenlosen Schlüssel, den sie beim Fegen unter dem Teppich gefunden hatte. War sie es gewesen, die das Furnier rund um das Schloss zerkratzt hatte?
Im Atelier ließen sie alles an seiner Stelle, kein Wachsmodell berührten sie, auch wenn auf den älteren haarige Staubschichten klebten und bei einem die Arme vor Trockenheit und Alter abgebrochen waren. Sie entstaubten keine Gipsfigur, nur sacht strich Ella über die runden Hüften der Liegenden. Niemand hatte ihnen das Anfassen verboten, aber es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass den fragilen Modellen nichts zustoßen durfte und insbesondere Kinder in ihrer Nähe nicht spielen durften, sich hier am besten überhaupt nicht aufhalten sollten. Der Sandsteinbruch in der Tonne unter der Galerie, der feucht aufbewahrte Ton wie auch die kleineren Marmorbrocken auf dem Fensterbrett, alles blieb liegen, wo es war. Nicht einmal den Besen nahmen sie zur Hand und hoben keinen Krümel auf, entfernten keine einzige Spinnwebe. Es dämmerte, als Ella mit müden Beinen in den Garten ging und einen Strauß lila Herbstastern pflückte, dazu brach sie vom Busch kahle Zweige mit leuchtend roten Hagebutten ab.
Thomas kochte eine Linsensuppe, auch wenn er noch nie zuvor eine gemacht hatte und es im Haus kein Buch mit Rezepten gab. Dabei atmete er durch den Mund, denn es kostete ihn Überwindung, den Speck anzubraten. Der Geruch des bratenden Räucherfleischs ließ ihn würgen, er mochte Schweine nicht mehr als Hasen, aber er wollte kein Tier getötet wissen, einzig damit es gegessen würde. Er vermutete, dass Käthe eine Linsensuppe ohne Speck ungenießbar fände. Ella machte sich über seine Mundatmung lustig, wie ein schnappender Fisch sah er aus. Der Speck brutzelte auf dem Feuer, später, in der Suppe, würde er glasig und wabbelig werden. Die Kartoffeln und Möhren schnitt Thomas klein, er hatte Sellerie gekauft, weil ihm Käthes genüssliches Grunzen eingefallen war, das sie allein beim Wort Sellerie von sich gab. Zwei Knoblauchzehen hatte er in den Topf geworfen. Auch das Lorbeerblatt vergaß er nicht, mit einer Nelke piekte er es in die Zwiebel. Eine so gute Linsensuppe würde Käthe noch nie gegessen haben. Ella saß auf der Mehltruhe, ließ ihre Beine baumeln und faltete die gebügelten Servietten, sie beobachtete Thomas beim Kochen, auch sie schnappte nun Luft durch den Mund.
Ich hör' sie! Ella sprang auf. Aus der Ferne hörten sie helles Knattern, es näherte sich und schallte jetzt im Echo zwischen Haus, Atelier und Schuppen über den Hof. Kein Motorrad machte ein Geräusch wie dieses, Käthes Mucke-picke, ihr Klang war unverwechselbar. Ella und Thomas liefen in die Speisekammer, sie schauten aus dem Fenster hinab in den Hof und vergewisserten sich. Da war sie. Auf dem Kopf trug Käthe ihre lederne Pilotenmütze. Sie beugte sich über die Kiste auf dem Gepäckträger und schnallte eine große, etwas unförmige Tasche ab. Erst jetzt traf ihr Hund ein, freudig sprang er an ihr hoch, er hatte sie eingeholt. Die längste Zeit einer Reise fuhr er in der hölzernen Kiste auf dem Gepäckträger mit. Vor Rahnsdorf, im Wald an den Püttbergen, ließ Käthe ihn runter, damit er noch die letzten Kilometer laufen konnte. Hunde und Kinder liebten die hohen Dünen, zu denen sich der Sand am südöstlichen Rande des Berliner Urstromtals aufgetürmt hatte. 1954. Wald bis zum Fließ und zu den Ufern des Müggelsees. Einzelne Häuser, ein dörflicher Stadtteil am Saum Berlins, hohe märkische Kiefern mit rötlichen Stämmen ragten aus den Wipfeln von Eiche, Ahorn und Buche. Käthe fuhr selten ohne ihre Muckepicke aus der Stadt hinaus, aber sie wünschte sich ein Auto, mit dem sie ihre Materialien und Werkzeuge transportieren könnte. Kleinere Skulpturen passten in den Anhänger des Motorrads. Und wenn sie Modelle zum Brennen oder Gießen brachte, musste sie telefonieren und sich entfernte Nachbarn zu Freunden erklären, damit sie deren Auto leihen konnte.
Thomas ging zurück in die Küche, er probierte seine Suppe und verbrannte sich die Zunge. Woher sollte er wissen, ob zu viel Salz daran war? Er mochte Salz. Thomas stellte die Flamme klein. Probier du mal, bat er Ella, doch sie rannte schon vorbei. Aus dem Flur hörten sie ein Klappern, dann das Bellen von Käthes Hund. Thomas folgte Ella hinüber in den Tabaksaal.
Die Pilotenmütze auf dem Kopf, stand Käthe an dem langen Tisch, vor ihr ein Stapel Post: Briefe, Zeitungen, flache Päckchen. Guten Tag, sang Käthe mit hoher Stimme, sie hatte gehört, wie Thomas in den Raum getreten war, doch ihr Blick haftete an einer Zeitung, die sie flüchtig durchblätterte. Wenn sie von einem längeren Aufenthalt im Steinbruch zurückkehrte und selbst wenn sie nach Stunden im Atelier herauf ins Haus kam, konnte sie plötzlich mitten im Satz singen. Die Wangen leicht gerötet, leckte sie ihre Lippen und öffnete, die Hundeleine über dem Arm, ein kleines Kuvert. Sie überflog die Zeilen und wieherte dabei hell. Der Künstlerverband lädt ein! Mit stolzer Geste lehnte sie die Einladung gegen die Blumenvase. Sie musste seufzen. Lange hatte sie auf diese Einladung gewartet. Ungeduldig öffnete sie den nächsten Brief.
Ella setzte sich in einen der beiden tiefen Sessel beim Tisch, sie beobachtete, wie Käthe mit der Pilotenmütze auf dem Kopf ihre Post sichtete.
Thomas hätte Käthe gern umarmt, ihm fiel auf, dass er sie sehr vermisst hatte. Er mochte ihr freudiges Wiehern, es lag ein Begehren darin, ein Frohlocken. Wenn Käthe außer Reichweite war, imitierten Thomas und Ella manchmal unvermittelt ihr Wiehern, während des Schulwegs oder beim Einkaufen, manchmal auch in einer kleinen Runde von Freunden. Thomas überlegte, ob er ihr die Pilotenmütze und die Hundeleine abnehmen sollte, wie man anderen Menschen, die von draußen hereinkamen, Hut und Schirm abnahm. Im falschen Augenblick konnte sie eine solche Geste zudringlich empfinden, waren doch Mütze und Leine schon ein Teil ihrer selbst, die ließ man sich nicht einfach abnehmen und an einen Haken hängen. Er mochte Käthes Geruch nach Leder und Hund. Aber Käthe ging Umarmungen aus dem Weg, es schien, als würde sie in körperlicher Nähe frieren, so sehr presste sie dann ihre Arme an die Seiten, versteifte sich ihr Rücken, schüttelte sie sich. Eine Umarmung musste ihr widerwärtig sein, Thomas hielt das für möglich. Zu den Kindern hatte sie früher oft gesagt: Klammert nicht so. Nur wenn sie in ihrer Nähe waren. Es gab keine Umarmungen, zu keiner Gelegenheit. Auch mit Eduard oder einem anderen Mann hatte Thomas das nie beobachtet. Vielleicht war eine Umarmung in Käthes Augen pure Höflichkeit, Anbiederei, eine Zärtlichkeit, die sie schlicht nicht empfand. Und so blieb Thomas stehen und hoffte, dass sie ihm vielleicht die Hand geben oder ihn wenigstens ansehen würde.
Mit ihrem silbernen Brieföffner schlitzte Käthe einen großen Umschlag auf, sie brachte ein Heft und einen Brief zum Vorschein und begann zu lesen. Ohne aufzublicken, streckte sie seitlich ihre Hand aus, suchte etwas in der Luft. Vielleicht sollte Thomas die Hand ergreifen?
Na komm, sagte sie, komm her. Ihre Hand wedelte, während ihr Blick an dem Brief klebte. Thomas machte einen Schritt auf sie zu, er fragte sich, ob er gemeint sei, ob er ihre Hand fassen oder schütteln solle, noch einen Schritt machte er auf sie zu - doch der Hund kam ihm zuvor. Agotto leckte Käthes Finger ab, er schnappte nach ihrer ausgestreckten Hand, rieb seine Ohren an ihr, auf dass sie seinen Kopf streichelte.
Hast du Hunger, Käthe? Ich habe etwas gekocht, Thomas legte den Kopf schief, sie musste die Linsen schon riechen können.
Käthe nickte, schaute kurz hoch und wieder zurück auf ihre Post, sie nickte weiter, als habe sie vergessen, weshalb. Nachdenklich legte sie den Brief weg und nahm den nächsten Umschlag. Ellaellaella, dir muss der liebe Gott wohl Beine machen. Der Tisch ist ja noch nicht gedeckt.
Ella blieb in dem riesigen Sessel sitzen, wie ein drapiertes Püppchen war sie darin versunken. Sie hatte ihr kariertes Festtagskleid angezogen und den Spitzenkragen umgelegt. Nur wenige Male hatte sie das Kleid getragen, die Großmutter hatte es ihr vor zwei Jahren aus London mitgebracht, nun waren die Ärmel etwas kurz, die Handgelenke leuchteten daraus hervor. Ellas Haare waren glattgebürstet, selbst die Schuhe hatte sie noch so geputzt, bis sie glänzten - nicht nur ihre, auch alle anderen, die sie im Schuhregal in der Kammer gefunden hatte. Mit den Fingern kratzte Ella lautlos über den grünen Samt der Armlehne. Ungern stand sie aus dem Sessel auf. Den sorgsam gewundenen Blumenstrauß zwischen sich und Käthe, die noch immer nicht die letzten Umschläge geöffnet hatte, beim Lesen hin und wieder den Kopf schüttelte und ein zustimmendes oder ablehnendes Geräusch von sich gab, hoffte Ella auf einen Blick, eine noch so winzige Bemerkung.
Was ist? Käthe hob jetzt den Kopf und sah Ella fordernd an, beweg' dich.
Keine Aufmerksamkeit für das Kleid, keine für das Haar. Umständlich erhob sich Ella, ihr linkes Bein war eingeschlafen und so humpelte sie, als sie Thomas in die Küche folgte. In der Küche brauchten Thomas und sie sich nur anzusehen, der Blick enthielt die wachsende Spannung, das ungeduldige Warten, es könnte jeden Augenblick so weit sein: Käthes Blick musste nicht auf die Blumen fallen, nicht auf das Festtagskleid und die blitzenden Fensterscheiben, gewiss aber würde der Geruch der gewienerten Böden in ihrer Nase kitzeln, Käthe würde die aufgeräumten Regale entdecken. Und erst der Geschmack des Selleries zusammen mit Speck und Linsen im Mund. Sie würde staunen. Ella trug eine Karaffe Leitungswasser und drei Gläser in den Tabaksaal.
Mach mal einer das Fenster auf, Ella, das hält hier keiner aus. Wollt ihr das Haus zur Schwitzhütte machen? Was ist das für eine Verschwendung. Wir heizen im Oktober nicht den Garten, verstanden?
Nur kurz blickte Käthe Ella vorwurfsvoll an. Sie goss sich ein Glas mit Wasser ein und leerte es in einem Zug. Käthes Wangen waren gerötet, mit dem Handrücken wischte sie sich über die Stirn, jetzt studierte sie aufmerksam den Absender eines Briefes. Unschlüssig schüttelte Ella den Kopf. Vielleicht hatten sie mit dem Heizen übertrieben.
Zurück in der Küche rollte Ella die zur halben Größe gefalteten Servietten ein und schob silberne Ringe darüber. Mit rotem Buntstift malte sie ein Herz auf einen Zettel, darin zwei ineinander verschlungene kleinere Herzen. Sie wickelte die Botschaft in die grün-weiße Serviette, die Käthe gern benutzte.
Im Garten war noch Petersilie, Thomas zeigte Ella die blaue Schale. So gerade und sauber sie es konnte, schnitt Ella einige Scheiben von dem Brotlaib, legte sie in einen Korb und schlug das Tuch darüber. Sie schütteten die Suppe in eine festliche Terrine. Thomas trug die dampfende Schüssel, Ella nahm das Tablett mit den Tellern und Löffeln, dem Brot und den Servietten.
Das ist nicht zum Aushalten! Wir sind doch nicht bei Krethi und Plethi!
Käthe telefonierte, als Ella mit dem Ellenbogen die Tür zum Tabaksaal öffnete, auf den Händen balancierte sie das Tablett. Sie deckten den Tisch. Thomas schöpfte die Suppe auf die Teller. Sie warteten. Das Telefongespräch im angrenzenden Zimmer dauerte länger. Durch die große Flügeltür konnten sie Käthe sehen, wie sie an ihrer Kommode stand und wild gestikulierte, es ging wohl um irgendeinen Beschluss ihres Verbandes. Während am anderen Ende der Leitung jemand versuchte, ihr etwas zu erklären, zeichnete Käthe mit Kohle auf der Rückseite eines großen Briefumschlags. Nein, einverstanden war Käthe nicht, sie fuchtelte mit der Kohle in der Luft, das habe ich schon gesagt, unter keinen Umständen. So eine Idee muss Hand und Fuß haben. Nach einer Weile legte Käthe auf und kam zum Tisch. Ist Eduard hier mal aufgetaucht?
Thomas und Ella schüttelten den Kopf. Eduard meldete sich bei den Kindern nicht an oder ab. Selten grüßte er sie, und wenn, war es wie ein Gruß zu Fremden, deren höfliche Erwiderung er trotzig einforderte. Befanden sie sich zur selben Zeit im Haus, gehörten sie wie Möbel oder Haustiere zum Inventar, mal bemerkte er sie, mal nicht. Ellas Schuhe gefielen ihm manchmal, manchmal ihr Kleid. Es war durchaus möglich, dass er in den letzten zwei Wochen hier gewesen war, vielleicht vormittags, aber gesehen hatten sie ihn nicht.
Kein einziges Mal? Käthe setzte sich und rollte ihre Serviette aus, die Herzbotschaft segelte unbeachtet auf den Boden, sie steckte sich die Serviette oben in den Pullover, wie ein Lätzchen, und stieß ihren Löffel in den Teller. Kann denn nicht mal jemand die Suppe heiß machen?
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© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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Autoren-Porträt von Julia Franck
Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin. 1997 erschien ihr Debüt 'Der neue Koch', danach 'Liebediener' (1999), 'Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen' (2000) und 'Lagerfeuer' (2003). Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Für ihren Roman 'Die Mittagsfrau' erhielt Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007. Der Roman wurde in 40 Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt (2023, Regie: Barbara Albert). Nach 'Rücken an Rücken' (2011) erschien zuletzt 'Welten auseinander' (Platz 1 der SWR-Bestenliste). Für ihr Werk wurde sie 2022 mit dem Schiller-Gedächtnis-Preis ausgezeichnet.Literaturpreise:1995 Siegerin beim Open Mike-Wettbewerb1998 Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste1999 Stipendium der Stiftung Niedersachsen2000 3sat-Preis in Klagenfurt2004 Marie Luise Kaschnitz Preis2005 "Roswitha Preis" der Stadt Bad Gandersheim2007 Deutscher Buchpreis2010 war die englische Ausgabe der 'Mittagsfrau' auf der Shortlist des Independent Foreign Fiction Prize und auf der Shortlist des 'Jewish Quaterly' sowie für den internationalen IMPAC nominiert.2022 Schiller-Gedächtnis-Preis
Bibliographische Angaben
- Autor: Julia Franck
- 2011, 1. Auflage., 384 Seiten, Maße: 13,5 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100226054
- ISBN-13: 9783100226051
- Erscheinungsdatum: 21.10.2011
Kommentar zu "Rücken an Rücken"
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