Ruf des Dschungels
Seit Sabine Kuegler den Dschungel verlassen musste, hat sie das Heimweh gespürt, eine Sehnsucht, die ständig in ihr brannte. Nun kehrt sie zurück in das Paradies ihrer Kindheit, um für sich herauszufinden: Wo gehöre ich hin? Wer bin ich eigentlich, Fayu...
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Seit Sabine Kuegler den Dschungel verlassen musste, hat sie das Heimweh gespürt, eine Sehnsucht, die ständig in ihr brannte. Nun kehrt sie zurück in das Paradies ihrer Kindheit, um für sich herauszufinden: Wo gehöre ich hin? Wer bin ich eigentlich, Fayu oder Deutsche?
15 Jahre ist es her, dass sie "das Dschungelkind" war und unter den Fayu gelebt hat, einem vergessenen Stamm von Kannibalen in West-Papua. Hier war sie glücklich, hat gefühlt und gehandelt wie eine Eingeborene. Nun kehrt sie zurück an den magischen Ort ihrer Kindheit.
Doch das Paradies von einst gibt es so nicht mehr. Was das Kind nicht wissen konnte, erlebt die erwachsene Frau in schmerzhafter Bewusstheit: Das abgeschiedene Leben der Fayu ist bedroht, die Zivilisation unaufhaltsam auf dem Vormarsch, mächtige wirtschaftliche Interessen drängen den Dschungel immer weiter zurück und gefährden das Leben der Ureinwohner. Und Sabine Kuegler erkennt: Sie muss das Kind in sich zurücklassen, um den Ort und die Menschen ihrer Kindheit zu retten.
Doch der Abschied von der Unschuld enthält auch ein Versprechen: die Ankunft im Land ihrer Träume.
Ruf des Dschungels von Sabine Kuegler
LESEPROBE
Ich möchte Sie mit auf die Reise nehmen, auf eine Reisedurch die Zeit, auf eine Reise, die mitten in die Herzen derjenigen führt,deren Schreie ungehört verhallen.
Es war Ende Oktober 2005. Ich saß im Zug. Neben mir auf derSitzbank standen ein großer Alukoffer und ein gelber Rucksack. Müde starrte ichaus dem Fenster. Es war noch immer dunkel, die aufgehende Sonne ließ sich nichtmal erahnen.
Ich war auf dem Weg von München nach Frankfurt, zumFlughafen.
Eigentlich hätte ich vor Freude außer mir sein sollen,aufgeregt und gespannt, doch mein Herz war schwer. Ich spürte, wie eineschleichende Angst von mir Besitz ergriff. Was, wenn ihnen etwas passiert,während ich weg bin? Was, wenn sie mich schrecklich vermissen und die ganzeZeit weinen? Ichschloss die Augen. Vor mir sah ich die Gesichter meiner Kinder, von denen ichmich gerade verabschiedet hatte. Am liebsten wäre ich am nächsten Bahnhof ausdem Zug gesprungen und umgehend zu ihnen zurückgekehrt.
Energisch verbannte ich die besorgten Gedanken aus meinemKopf. Ich verließ sie ja nicht für immer; in genau einem Monat würde ich meineKinder wieder in die Arme schließen können. Außerdem waren sie bestensaufgehoben, bei Menschen, die sie liebten. Ich musste mich jetzt auf daskonzentrieren, was vor mir lag. Nicht umsonst hatte ich gut fünfzehn Jahre langgekämpft, um endlich an dem Punkt zu sein, an dem ich heute war.
Um auf andere Gedanken zu kommen, holte ich die Zeitschriftaus dem Rucksack, die ich in München am Bahnhof noch schnell gekauft hatte. Ichbegann die glänzenden Seiten durchzublättern - perfekte Models, farbenfroheMode, Werbung für die neuesten Cremes, die in vier Wochen deutlich wenigerFalten versprachen. Dann blieb mein Blick hängen - an einem Artikel über meinletztes Buch, Dschungelkind. Mein Gesicht sprang mich geradezu vom Buchumschlag an.
Ich starrte darauf und fühlte mich mit einem Mal seltsamentfremdet von der jungen Frau auf dem Foto. Mir fiel die Reaktion meinerMutter ein, als ich ihr am Telefon erzählte, dass mein Buch auf derBestsellerliste stehe. »Oh wie schön, Sabine «, antwortete sie beiläufig undfuhr dann fort: »Weißt du, was der Arzt heute zu mir gesagt hat?«
Die Erinnerung an diese Situation brachte ein Lächeln aufmein Gesicht. Natürlich wusste ich, dass meine Eltern stolz auf mich waren,doch wie sagte Mama mal so schön? Ihr sei es wichtiger, dass ich privatglücklich bin, das bedeute mehr als beruflicher Erfolg, und sei der noch sogroß. Und überhaupt, nach all den Jahren, die sie im Dschungel verbracht hatte- was mochte ihr da schon eine Bestsellerliste sagen?
Meine Gedanken wanderten nach West-Papua zurück, zu meinerZeit bei den Fayu.
Ich habe meine Kindheit nie als ungewöhnlich empfunden,schließlich kannte ich nichts anderes. Erst die Reaktionen auf mein Buch habenmir gezeigt, wie einzigartig meine Kindheit gewesen sein muss. Immer wiederwerde ich gefragt, ob ich es meinen Eltern verüble, dass ich ihretwegen in derWildnis aufgewachsen bin. Warum aber sollte ich diese aufregende undwunderschöne Phase meines Lebens bedauern?
Natürlich war es für mich nicht leicht, mich nach einerKindheit im Dschungel in der westlichen Welt zurechtzufinden.
Es hatte mehr als zehn Jahre gedauert, mich in dieserfremden, sonderbaren Kultur zurechtzufinden - an sie gewöhnt habe ich michimmer noch nicht. Das, was ich in meinem
bisherigen Leben tatsächlich bedaure, ist, dass ich nichtzurück nach Hause zu meinem Stamm gegangen bin, als ich mit der Schule fertigwar. Wann immer ich dies jedoch meiner Mutter gegenüber erwähne, erinnert siemich daran, dass man erst am Ende seines Lebens anfangen sollte, dies oderjenes zu bedauern. »Schließlich weißt du nie, was dich alles noch erwartet undwelche Aufgaben du noch zu erfüllen hast.«
Als ob ich irgendetwas wahrhaft Bedeutendes tun könnte, dachte ich mir, ich habe ja nochnicht mal mein eigenes Leben im Griff. Das einzig wirklich Gute, was ich bisher zustande gebrachthatte, waren meine Kinder.
Ich beobachtete, wie sich die Sonne allmählich hervorwagte,wie sich die ersten gelben Strahlen ihren Weg durch den dichten Morgennebelbahnten. Ein herrlicher Anblick, aber noch war es ziemlich kalt. Ich schauderteund zog meine Jacke fester um mich. Die Augen fielen mir zu, und der Schlafergriff von meinem Körper Besitz.
Wenige Stunden später erreichte ich mein Ziel, denFrankfurter Flughafen. Ich nahm meinen Rucksack, hievte den Koffer vom Sitzneben mir, stieg aus dem Zug und machte mich auf den Weg in die Abflughalle. Daich sehr früh dran war, waren die Check-in-Schalter für meinen Flug noch nichtgeöffnet.
Also stand ich herum und wartete. Ich beobachtete dieMenschenmassen, die sich an mir vorbeischoben, hektisch, ungeduldig, ständig inBewegung. Selbst nach all den Jahren, die ich nun schon in Europa lebe, habeich mich nicht an diese Geschäftigkeit und diese Eile gewöhnen können. Wiedermusste ich an meine Mutter denken und fragte mich, wie sie das damals mit unsdrei Kindern bewältigt hat. Zuerst von Nepal nach Deutschland, und zwei Jahrespäter dann nach West-Papua. Immer wenn wir darüber sprechen, betont sie, wiewohlerzogen wir waren - ganz im Gegensatz zu meinen eigenen Kindern. Ich musstelächeln. Ja, meine vier sind in der Tat wild, aber sie sind wunderbare Kinder,die mein Leben mit so viel Freude und Fröhlichkeit füllen.
Ich holte mein Handy hervor und tippte die erstenSMS-Abschiedsgrüße an ein paar Freunde. Endlich wurde mein Flug aufgerufen, undich reihte mich in die Schlange am Check-in ein.
Nach dem Start lehnte ich mich in meinem Sitz zurück undschloss die Augen. Der Flug würde voraussichtlich elf Stunden dauern.
In Bangkok legten wir einen zweistündigen Zwischenstopp zumAuftanken ein, und die Passagiere verließen die Maschine, um sich die müdenBeine zu vertreten. Dabei fiel mir ein junger Chinese auf, der mich schon seiteiner Weile beobachtete.
Ich fragte mich, wie er wohl aufgewachsen war. Ehertraditionsbewusst oder modern?
Andere Menschen und ihre Geschichte haben mich schon immerfasziniert, ein jeder mit seiner individuellen Vergangenheit, Persönlichkeit,Erziehung und Kultur. Ein Buch über meine eigene Kindheit und Jugend zuschreiben war befreiend für mich, weil ich mich dadurch von außen betrachtenkonnte. Manchmal vor dem Einschlafen denke ich an die vielen Menschen, die meinBuch gelesen haben und nun wissen, wie hart ich darum gekämpft habe, in der mirfremden westlichen Welt Fuß zu fassen. Durch Dschungelkind habe ich zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, wie sehr die Fayu mein Denken geprägt haben. Sie haben mich alseine der ihren aufgezogen und mich auf das Leben in der Wildnis vorbereitet,auf das Überleben in einer Welt, in der die Natur die Regeln bestimmt und nichtdie moderne Technik.
Den Einfluss dieser Erziehung auf mein Leben spüre ich bisheute.
Wieder zurück an Bord, setzten wir unsere lange Reise nachBrunei und anschließend Bali fort, wo ein weiterer Zwischenstopp von mehrerenStunden geplant war. Bei der Landung sah ich aus dem Fenster und betrachteteden kristallblauen Ozean, die endlos langen Strände, wo sich ein Hotel ansnächste reihte. In mir wuchs langsam die Aufregung.
Als ich die Maschine in Bali verließ, umfing mich die heißeLuft wie eine tosende Welle. Wie wunderbar die Hitze sich anfühlte. Tief atmeteich den süßen Duft der Tropen ein. Wie sehr hatte ich genau das vermisst, dieseWärme, diesen herrlichen Geruch.
Im Taxi auf dem Weg zum Hotel betrachtete ich dievorbeiziehende Landschaft und wunderte mich über die leeren Straßen,Restaurants und Geschäfte. Auf Englisch fragte ich den Fahrer, warum die ganzeStadt wie ausgestorben wirkte. Er erklärte mir, dass der Tourismus seit demBombenanschlag auf eine Diskothek abrupt nachgelassen hatte. Vor allem dieAustralier und Japaner mieden das einst so beliebte Urlaubsziel.
Angekommen im Hotel, sprang ich schnell unter die Dusche undversuchte, die wenigen Stunden bis zum Weiterflug zu nutzen, um ein bisschen zuschlafen.
Um ein Uhr nachts stand ich wieder am Flughafen. Ich warmüde und schlecht gelaunt. Außerdem hatte ich Durst, und nach einer längerenerfolglosen Suchaktion stellte ich genervt fest, dass sämtliche Läden bereitsgeschlossen waren. Wieder zurück am Schalter, musterte ich die anderenwartenden Passagiere. Bis auf einen stammten sie alle aus Indonesien oderWest-Papua. Die meisten wirkten gelassen, während sie auf einen alten,dröhnenden Fernseher starrten, in dem irgendeine Show lief.
Endlich durften wir an Bord, und ich ließ mich erleichtertauf meinen Platz sinken. Nach wenigen Minuten fiel ich in einen tiefen Schlafund wachte erst wieder auf, als der Pilot zur Landung ansetzte. Ich blickte ausdem Fenster, in der Hoffnung, etwas wiederzuerkennen, aber ich sah nichts alsWolken vor mir. Mein Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen, als dieMaschine die Wolkendecke durchbrach. Was ich nun sah, verwirrte mich völlig.Nichts, aber auch gar nichts wirkte vertraut. Das hatte ich nun wahrlich nichterwartet.
Wo zum Teufel war ich hier? Sollten wir nicht in Jayapuralanden?
Als die Stewardess an meiner Sitzreihe vorbeiging, erklärte siemir, dass wir zunächst in Timika landen würden, einer Stadt im Süden vonWest-Papua, und dass wir in etwa einer Stunde nach Jayapura weiterflögen. Ichnickte nur stumm und schaute erneut aus dem Fenster.
Da blieb mein Blick unvermittelt an etwas hängen.Eigenartig.
Was war das unter mir? Es sah aus wie ein riesiger Fluss,ungemein breit, der sich auf seinem Weg aus den Bergen ins Meer durch dieLandschaft schlängelte. Doch das da unten konnte beim besten Willen kein Flusssein. Es hatte die Farbe von hellgrauem, glänzendem Lehm. Das Wasser darüberwirkte glasklar, und was das Absonderlichste überhaupt war: Ich erkannte nichteinen Baum, kein Grün, nicht einmal einen Grasstreifen, der in dieser Zonewuchs. Es sah aus wie Brachland. Ich konnte den Blick während der Landung nichtvon diesem seltsamen Phänomen abwenden und fragte mich, was mit diesem StückNatur nur passiert sein konnte.
Mit etwa einer Stunde Verspätung ging es zurück an Bord, undder letzte Teil meiner Reise begann. Was erwartete mich wohl in den kommendenWochen? Würde ich alles wiedererkennen, oder hatte sich die Welt, die mireinmal so vertraut war, im Laufe der Zeit völlig verändert? Und inwieweit hatteich mich selbst verändert?
Beim Landeanflug auf Jayapura hielt ich den Atem an. Dann sahich sie, meine geliebten Hügel, deren helle, grasbewachsene Kuppen nun in Sichtkamen, und gleich dahinter das traumhaft schöne dunkelblaue Meer, das sich biszum Horizont erstreckte. Mein Atem ging schneller, ich vergaß die Welt um michherum und hörte auch nicht, als über Lautsprecher die bevorstehende Landungangekündigt wurde.
Wie lange hatte ich von genau diesem Augenblick geträumt!
Wie hart hatte ich dafür gekämpft, jetzt hier zu sitzen, mitBlick auf diese vertraute Landschaft!
Ein Ruck durchfuhr mich, als die Maschine auf der Landebahnaufsetzte, als die Bremsen das Flugzeug zum Stehen brachten. Völlig versunkenstarrte ich aus dem Fenster. Allmählich erkannte ich die einzelnen Gebäude amRande der Piste wieder. Ja, es waren ein paar neue dabei. Aber dort drüben, zumeiner Linken, stand noch immer der Hangar, wo ich als Kind so oft gespielthatte. Dort hatten die kleinen Flugzeuge gestanden, mit denen wir nach DanauBira geflogen waren, der Dschungelbasis, wo wir anfangs lebten. Und jetzt sah icheine dieser Propellermaschinen, die, weiß und hellblau, in der Sonneschimmerte. Ich konnte den Blick einfach nicht abwenden, alles war wie damals -angefangen von dem Berg, auf dem man ein Flugzeugwrack aus dem ZweitenWeltkrieg gefunden hatte, über die Grashügel, die vertrauten Bäume und dieHolzhäuser bis hin zu den Menschen! Das Herz schlug mir bis zum Halse, als ichdie Papua sah. Wie schön sie waren mit ihrer dunklen, schimmernden Haut, demschwarzen, lockigen Haar, den großen dunklen Augen und charakteristischenNasen. Auch wenn ich es gar nicht wollte, ich musste sie einfach anstarren undhätte am liebsten gar nicht mehr aufhören mögen.
Jemand schob mich den Gang zwischen den Sitzreihen entlang,und ich setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen, bis ich den Ausgang derMaschine erreicht hatte. Endlich!
Mein erster Schritt nach draußen. Ein heißer Windstoßerfasste mich, eine Wolke von Düften, so aufregend, so heimatlich.
Langsam ging ich die Gangway hinunter, Stufe für Stufe, undbetrat nach mehr als fünfzehn Jahren erstmals wieder vertrauten Boden.
Ich lief los. Und mit jedem Schritt veränderte ich mich. Mitjedem einzelnen Schritt fiel eine Last von mir ab, mit jedem Schritt ließ icheinen anderen Schmerz hinter mir, eine andere Angst. Je näher ich meinem Zielkam, desto leichter fühlte ich mich. Ich hob den Kopf, straffte den Rücken,und auf einmal spürte ich, wie mein Herz zu fliegen begann. Jede Zelle inmeinem Körper erwachte zu neuem Leben, Wärme durchfloss mich, und als ich inden klaren blauen Himmel hinaufsah, hatte ich nur einen Gedanken: Ich binwieder zu Hause!
© Droemer/Knaur Verlag
Interviewmit SabineKuegler
Als ihreEltern, zwei Missionare und Sprachforscher, sie mit nach West-Papua(Indonesien) nahmen, war Sabine Kuegler gerade sieben Jahre alt. Zusammen mitdem Stamm der Fayu, Giftspinnen und Krokodilen verbrachte Sie ihre Kindheitmitten im Dschungel. Jetzt hat sie ihr Leben als „Dschungelkind“zum Bestseller gemacht.
Siehaben sehr lange nicht über Ihre Kindheit gesprochen. Warum nicht?
Wenn jemand mich gefragthat: „Woher kommen Sie?“, habe ich immer gesagt: „AusHamburg.“ Ich habe das gemacht, weil ich nicht anders sein wollte, weilich immer versucht habe, mich hier zu integrieren. Ich habe mich nichtgeschämt für meine Kindheit, aber wenn ich gesagt habe, ich komme ausdem Dschungel, dann war sofort die Stimmung anders. Ich habe gedacht, ichkönnte mich so besser anpassen, aber das Gegenteil war der Fall. Das habeich in den letzten zwei Jahren erst gemerkt, als ich anfing, meine Geschichtezu erzählen. OK, ich habe eine andere Kindheit gehabt, eine Kindheit, dieich niemals tauschen würde, weil sie für mich persönlich sehrschön war. Und jetzt gucken mich die Leute auch nicht mehr komisch an,denn sie wissen ja, ich bin erst seit 2 oder 3 Jahren in Deutschland und dakann man eben nicht alles wissen.
Der Stamm der Fayu, beidem Sie lebten, ist angeblich bekannt für Kannibalismus undBrutalität. Wie haben Sie das erlebt und wie wurde Ihre Familieaufgenommen?
Ich habe Brutalitätgesehen, aber ich empfand es nicht als brutal. Ich persönlich empfand dieMenschen hier in der westlichen Welt als viel brutaler. Das hängtvielleicht auch damit zusammen, dass ich damals noch ein Kind war. Die Fayuhaben Krieg geführt, und ich habe gemerkt, dass sie sehr viel Angst hattenund sehr in Angst lebten. Mir und meiner Familie gegenüber waren siejedoch sehr, sehr nett, denn wir standen nicht unter dem Blutrachesystem.Untereinander haben sich die einzelnen Gruppen auch geschützt. Der Verbundinnerhalb der Familie war sehr stark, nur das Verhalten gegenüber denFeinden war brutal.
Kannibalismus habe ich inmeinem Buch übrigens nur in einem einzigen Satz erwähnt, der vonMedien sofort aufgebauscht wurde. Persönlich habe ich nie Kannibalismusmiterlebt. Ich bezweifle auch, dass die Fayu so etwas während unserer Zeitim Dschungel gemacht haben. Was viele Leute auch nicht wissen: Im Urwald wurdeman nicht ohne Grund umgebracht. Man hat niemanden umgebracht, noch nicht malTiere, ohne Grund. Nur wenn jemand ein Tabu gebrochen hatte, dann hat man ihnumgebracht.
Wie sah Ihr Alltag imDschungel aus?
Wir sind aufgestanden, wenndie Sonne aufgegangen ist. Wir hatten ja keine Elektrizität, das war sozwischen sechs und sieben Uhr morgens. Zuerst haben wir gefrühstückt,dann mussten wir Schularbeiten machen bis mittags. Wir hatten englischenUnterricht, haben aber mit unseren Eltern deutsch gesprochen und mit denEingeborenen die Fayu-Sprache. Man mischt auch schon mal zwei Sprachen. Wenndie zum Beispiel etwas hatten,wofür kein Wort da war, haben wir auch schon mal das indonesische Wortbenutzt, das sie dann auch benutzt haben.
Nachmittags sind wir nachdraußen gegangen und haben bis abends gespielt. Wenn die Sonne unterging,sind wir heimgegangen und haben noch was gegessen, wenn wir Hunger hatten. Wir hatten zwei Kerosinlampenin der Hütte und haben zum Beispiel noch Spiele gespielt oder Geschichtenerzählt und dann sind wir schätzungsweise so gegen acht ins Bettgegangen. Und das jeden Tag. Außer wenn es geregnet hat, dann konnten wirnicht nach draußen und haben uns sehr, sehr gelangweilt.
Ihre Eltern sindMissionare. Wie muss man sich diese Missionarsarbeit konkret vorstellen?
Die Welt der Missionare hatsich in den letzten 50 Jahren sehr verändert. Es ist nicht mehr so wie esfrüher war, als Missionare die Bibel hochhielten und sagten, ihr seid alleSünder. Wer sich nicht bekehren lässt, kommt in die Hölle. Dieheutigen Missionare sind sehr gebildete Menschen, Sprachwissenschaftler,Anthropologen, Ärzte, Entwicklungshelfer, die zusätzlich noch einenGlauben haben. Sie sind am Schutz der Menschen und des Urwaldes interessiertund setzen sich mit der Kultur auseinander. Meine Eltern haben immer gesagt,dass man Glauben nicht predigen kann. Man kann einem Menschen nichtsaufzwingen, denn Glaube muss von Herzen kommen. Man muss das leben, woran manglaubt, und den Menschen ein Beispiel geben.
Es gab aber sicher dochauch Gelegenheiten, bei denen zwei ganz verschiedene Kulturen und Glaubenaufeinander gestoßen sind. Zum Beispiel bei der Bestattung der Toten inden Hütten.
Mein Vater hat sich niemalsin die Kultur der Fayu eingemischt, weil er der Meinung war, wenn sie etwasändern wollen, müssen sie das von selbst tun. Dass die Fayu ihreToten in ihren Hütten bestatten, empfand ich nie als eigenartig und ichhabe auch nie gesehen, dass meine Eltern das Gesicht dabei verzogen haben. MeinVater hat sich natürlich beim ersten Mal ein bisschen erschrocken, aber erhat nie was gesagt. Bis heute ist es so, dass einem erst einmal die Knochenvorgestellt werden, wenn man eine Hütte betritt. Das ist mein Onkel, dasist mein Großvater usw. Das ist Teil der Kultur und hat nichts mitReligion zu tun. Jahre später, als jemand gestorben war, bauten die Fayuplötzlich eine sehr hohe Plattform und legten den Körper drauf. Undmein Vater fragte: „Was macht ihr denn, tut ihr das nicht in eureHütte?“ „Aber nein“, sagten sie ,“das stinkt dochzu sehr“. Das Ritual änderte sich von ganz allein, auch ohneEinmischung von außen.
Warum sind Sie mit 17nach Europa zurückgekehrt?
Aus verschiedenenGründen. Ein Grund war, dass ich plötzlich merkte, dass ichweiß war. Obwohl ich vom Herzen her sehr angenommen war vom Stamm, wurdemir plötzlich bewusst, dass ein Teil von mir doch nicht dazu gehörte.Und dann kam ich auch in ein Alter, wo man anfängt darübernachzudenken, wer man ist und wohin man gehört. Ich wollte sozusagen denStamm meiner Eltern kennen lernen. Ich war auch in einem Alter, wo ich anfing,über Beziehungen nachzudenken. Die fayu waren alle wie Brüderfür mich und ich konnte mir nicht vorstellen, einen Fayu zu heiraten.Heute könnte ich das, aber damals mit 17 noch nicht. Und dann wurde ichimmer unglücklicher. Und ich fing einfach an, mir Gedanken zu machen, wasich mit meinem Leben anfangen sollte.
Wie schwer war dieEingewöhnung in die Zivilisation?
Di ersten eineinhalb Jahreim Internat waren sehr schön, die habe ich sehr genossen, das hat mir vielSpaß gemacht und mein Plan war ja eigentlich, danach wiederzurückzukehren, doch ich wurde schwanger. Und als ich aus dem Internatherauskam, da habe ich einen richtigen Schock bekommen. Ich war nicht mehr ineiner geschützten Umgebung, ich war nicht mehr mit Mädchen aus allerWelt zusammen, die Kulturen verstanden, die tolerant waren. Ich wurde mit einerWelt konfrontiert, die meiner Ansicht nach kein Erbarmen, keine Toleranzkannte. Schwarze Menschen wurden schlecht behandelt, Frauen mit Kopftuch wurdenausgeschlossen. Das war für mich einfach so schockierend. Und ich war ineiner Situation, wo ich nicht mehr wusste, wer ist mein Feind, wer ist meinFreund.
Sie habenschließlich eine Karriere gestartet, haben sich nicht unterkriegen lassenvon der Zivilisation. Hat das Leben im Dschungel Sie besonders stark gemacht?
Ich frage mich das selbstmanchmal. Ich glaube, was mich stark gemacht hat, war mein Elternhaus, meinFamilienleben. Und ich glaube, dass ich im Urwald gelernt habe, dankbar zusein. Ich weiß nicht, ob die Deutschen realisieren, wie gut sie eseigentlich hier haben. Viele kritisieren an der Zivilisation, dass wir zu vielTechnologie haben, aber nicht dieTechnologie ist das Problem, sondern die Mentalität der Menschen, dieIntoleranz und die Kritik. Ich kannte zum Beispiel keinen Neid, bis ich hierherkam.
Ich habe gehört,dass Sie zurückkehren wollen, um einen Dokumentarfilm zu drehen...
Ich möchte erstmalzurückkehren, um die Leute zu sehen und habe dann überlegt, ob icheine Kamera mitnehme, um das live aufzunehmen. Nicht als herkömmlicherDokumentarfilm, sondern um aufzunehmen, wie das ist, wenn man nach so vielenJahren in den Urwald zurückkehrt.
Ist es vielleicht eineGefahr, wenn man die Menschen dort der Öffentlichkeit so zugänglichmacht?
Erstens lebt der Stamm ineinem Gebiet, wo kein Tourist hinkommt. Zweitens glaube ich nicht, dass Wissenetwas kaputt macht. Ich glaube, es ist das Unwissen, das Dinge zerstört.Wer die Menschen hier sieht und die Natur, der wird alles besser verstehen undsorgfältiger damit umgehen. Jährlich reisen tausende von Touristen inLändern ohne sich über die Kultur zu erkundigen und darüber, wasman machen darf und was nicht. Ohne nachzudenken legen sie sich nackt an dieStrände und behandeln die Menschen wie zweiter Klasse. Und ich glaubenicht, dass sie das absichtlich tun, ich glaube, es wird einfach aus Unwissengemacht.
Sie beschreiben, dass Siein einer Art Identitätskrise stecken und nicht wirklich hier und auchnicht dorthin gehören. Hat Ihnen das Schreiben des Buchs geholfen dieseKrise zu überwinden? Wie wird es sein in den Dschungelzurückzukehren?
Das Buch hat mir sehr, sehrgeholfen. Ich würde auch jedem, der eine Krise durchmacht, vorschlagen,einfach mal über sein Leben zu schreiben. Es ist erstaunlich, man bekommtmehr Distanz dazu und dann fallen einem auch noch so viele Sachen ein,über die man sonst nie nachgedacht hätte.
Ich hoffe, dass ich durchdie Rückkehr endlich einen Abschluss finden kann, wenn ich das alles nocheinmal sehe. Es ist wichtig für mich zur Ruhe zu kommen und irgendwiezwischen den beiden Welten zu leben und dort auch glücklich zu sein.
Die Fragenstellte Nicole Brunner / lorenzspringer medien
- Autor: Sabine Kuegler
- 2006, 348 Seiten, 32 farbige Abbildungen, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Troni, Angela
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426273934
- ISBN-13: 9783426273937
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Ruf des Dschungels".
Kommentar verfassen