Schändung
Carl Mørck/Sonderdezernat Q, Band 2
Grausamer Mord in höchsten Kreisen ...
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Grausamer Mord in höchsten Kreisen ...
Lese-Probe zu „Schändung “
Schändung von Jussi Adler-OlsenProlog
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Wieder krachte ein Schuss über die Baumwipfel.
Das Rufen der Treiber war jetzt schon deutlich zu hören. Das Blut pochte in den Ohren, und die Lungen schmerzten vom scharfen Einatmen der feuchten Luft.
Los, los, weiter, lauf, und fall bloß nicht hin. Du kommst sonst nie wieder hoch. Scheiße, Scheiße, warum bekomme ich die Hände nicht frei? Weiter, na los ... oh Shit ... Die dürfen mich nicht hören. Haben die mich gehört? War's das jetzt? Soll mein Leben etwa so enden?
Die Zweige peitschten ins Gesicht und hinterließen blutige Streifen, das Blut mischte sich mit dem Schweiß.
Wieder krachten Schüsse. Die Projektile pfiffen jetzt dicht an den Ohren vorbei, der Schweiß lief in Strömen. Wie eine Kompresse legte er sich um den Körper.
Noch eine Minute oder zwei, dann würden sie dort stehen. Verdammt, die Hände auf dem Rücken, warum gehorchen die nicht? Was ist das bloß für ein Scheißklebeband?
Laut flügelschlagend erhoben sich plötzlich aufgeschreckte Vögel über die Baumwipfel. Die tanzenden Schatten des dichten Tannenwaldes wurden immer deutlicher. Jetzt fehlten vielleicht noch hundert Meter bis dorthin. Alles wurde klarer. Auch die Stimmen. Der Blutdurst der Jäger.
Wie werden sie es machen? Ein einzelner Schuss? Ein Pfeil? Schluss, aus, vorbei?
Nein, wohl kaum, warum sollten sie sich damit begnügen? So gnädig waren die nicht, diese Schweine. Die nicht. Die hatten ihre Gewehre und ihre verschmierten Messer. Und wussten genau, wie effektiv eine Armbrust ist.
Wo kann ich mich verkriechen? Gibt's da nirgendwo ein Versteck? Oder doch wieder zurück? Schaffe ich das?
Der Blick suchte den Waldboden ab. Wanderte vor und zurück. Aber das Klebeband bedeckte die Augen fast vollständig, das machte es so mühsam. Die Füße stolperten immer weiter.
Jetzt spüre ich gleich am eigenen Leib, wie es ist, in ihrer Gewalt zu sein. Die werden mit mir keine Ausnahme machen. Das brauchen die doch, nur so kriegen die doch ihren Kick. Und nur so haben sie eine Chance, davonzukommen.
Das Herz hämmerte jetzt so wild, dass es wehtat.
1
Den Strøget in Kopenhagens Zentrum hinunterzugehen, empfand sie wie einen Tanz auf Messers Schneide. Ein echtes Risiko. Das Gesicht halb hinter einem schlammgrünen Tuch versteckt, hastete sie an den hell erleuchteten Schaufenstern der Fußgängerzone vorbei. Hellwach scannte sie ihre Umgebung. Andere zu erkennen, aber selbst nicht erkannt zu werden, darum ging es. Darum, mit den eigenen Dämonen in Frieden zu leben und alles andere denen zu überlassen, die vorübereilten. Die mit leerem, gleichgültigem Blick einen Bogen um sie machten. Und diesen Schweinen, die ihr Böses wollten.
Kimmie sah zu den Straßenlampen hoch, deren kaltes Licht die Vesterbrogade erhellte. Sie schnupperte. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, dann würden die Nächte kühl werden. Sie musste das Winterlager vorbereiten.
Sie stand in einer Menschentraube zwischen lauter durchgefrorenen Tivoli-Besuchern an der Fußgängerampel und sah hinüber zum Hauptbahnhof. Da bemerkte sie die Frau im Tweedmantel neben sich. Die musterte sie aus zusammengekniffenen Augen, rümpfte die Nase und trat einen Schritt zur Seite. Wenige Zentimeter nur, aber die reichten.
Na, na, Kimmie!, pulsierte das Warnsignal in ihrem Hinterkopf, als die Wut sie packen wollte.
Ihr Blick wanderte über den Körper der Frau bis hinunter zu den Beinen. Hauchdünne, glänzende Strumpfhosen, hochhackige Schuhe. Kimmie spürte, wie ein verräterisches Lächeln ihre Lippen kräuselte. Einmal fest zutreten, und die zarten Knöchel würden knacken. Wenn die Schnepfe erst mal auf dem nassen Gehweg lag, würde sie schon sehen, dass auch ein Christian-Lacroix-Kostüm schmutzig werden konnte. Das wäre ihr dann hoffentlich eine Lehre.
Kimmie blickte auf und sah der Frau direkt ins Gesicht. Markanter Eyeliner, gepuderte Nase, die Locken kunstvoll geschnitten. Der Blick starr und abweisend. O ja, sie kannte diese Sorte Frau. Sie hatte selbst einmal dazugehört. Zu den arroganten Oberklasseziegen mit dröhnend leerem Inneren. So waren ihre Freundinnen damals auch gewesen. So war ihre Stiefmutter.
Wie sie die alle hasste!
Dann tu doch was!, flüsterte die Stimme in ihrem Hinterkopf. Lass dir nichts gefallen! Zeig ihr, wer du bist. Na komm schon, los!
Kimmie starrte hinüber zu der Gruppe dunkelhäutiger Jungen auf der anderen Straßenseite. Wären da nicht deren umherstreifende Blicke gewesen, dann hätte sie der Frau tatsächlich einen Stoß versetzt, direkt vor den 47er. Deutlich sah sie den wunderbaren Blutfleck vor sich, den der Bus hinterlassen würde. Den zerquetschten Körper. Eine Schockwelle würde sich von ihm ausgehend durch die Menge fortpflanzen. Was für eine Genugtuung!
Aber Kimmie schubste nicht. In so einer Menschenmenge gab es immer irgendwo ein hellwaches Auge. Und dann war da auch in ihr etwas, das dagegenhielt. Dieses entsetzliche Echo aus fernen Tagen.
Sie hielt sich kurz ihren Arm unter die Nase und schnüffelte. Es stimmte, die Frau hatte recht. Ihre Sachen stanken fürchterlich.
Als es grün wurde, überquerte sie die Straße. Auf schiefen Rädern rumpelte der Koffer hinter ihr her. Das würde sein letzter Weg sein. Höchste Zeit, dieses alte Gelump wegzuschmeißen.
Höchste Zeit, sich zu häuten.
Vor dem Bahnhofskiosk hingen an einem Ständer die Titelseiten der Zeitungen mit den riesigen Schlagzeilen der Aufmacher. Für Vorbeihastende und Blinde war der Zeitungsständer, bewusst mitten in der Bahnhofshalle platziert, ein einziges Ärgernis. Auf dem Weg durch die Stadt hatte Kimmie die Schlagzeilen immer wieder gesehen. Vor Ekel hätte sie kotzen können.
»Diese Sau«, murmelte sie und sah stur geradeaus, als sie an dem Ständer vorbeiging. Dann drehte sie den Kopf doch und betrachtete das Foto neben der Schlagzeile.
Allein schon bei seinem Anblick fing ihr Körper an zu zittern.
Unter dem Bild stand: »Ditlev Pram kauft für zwölf Milliarden Kronen Privatkliniken in Polen auf. « Sie spuckte aus und blieb einen Moment stehen, wartete ab, bis die körperlichen Reaktionen nachließen. Wie sie Ditlev Pram hasste! Wie sie Torsten und Ulrik hasste! Aber sie würden schon sehen! Sie würde sie fertigmachen, alle drei.
Beim Weitergehen lachte sie auf, woraufhin ihr ein Passant zulächelte. Noch so ein gutgläubiger Idiot, der zu wissen meinte, was in den Köpfen anderer Leute vorging.
Abrupt blieb sie stehen.
Ein Stück weiter stand Ratten -Tine an ihrem üblichen Platz. Halb vorgebeugt und leicht schwankend hielt sie die dreckigen Hände auf. Wie bescheuert, darauf zu vertrauen, dass in diesem Ameisengewimmel jemand einen Zehner für sie übrig hatte! Stundenlang so zu stehen brachten auch nur die Drogis fertig. Arme Teufel.
Kimmie schlich hinter ihr auf die Treppe zu, die zur Reventlowsgade hinunterführte. Aber Tine hatte sie längst entdeckt.
»Hallo Kimmie! Mensch, verdammt, Kimmie!«, kam es von hinten. Aber Kimmie reagierte nicht. So in der Öffentlichkeit funktionierte das nicht mit Ratten -Tine, da konnte man nichts mit ihr anfangen. Nur wenn man mit ihr auf der Bank saß, dann tickte ihr Gehirn einigermaßen.
Andererseits war sie der einzige Mensch, den Kimmie ertrug.
Aus unerfindlichen Gründen pfiff der Wind an diesem Tag eiskalt durch die Straßen. Deshalb hatten es alle Leute eilig, nach Hause zu kommen. Deshalb standen fünf schwarze Mercedes-Taxis mit laufendem Motor in der Schlange vor der Bahnhofstreppe gegenüber der Istedgade. Eines davon würde sicher für sie übrig bleiben, wenn sie gleich eins brauchte. Mehr wollte sie im Moment nicht wissen.
Sie zog den Koffer schräg über die Straße zu dem Thai-Laden im Souterrain. Dort stellte sie ihn neben dem Fenster ab. Nur einmal war ihr ein Koffer geklaut worden, als sie ihn dort deponiert hatte. Bei diesem Wetter, wo selbst die Diebe zu Haus blieben, würde das garantiert nicht passieren. Außerdem war es egal. Da war nichts Wertvolles drin.
Geschlagene zehn Minuten wartete sie auf dem Bahnhofsvorplatz, dann war es so weit. Aus einem Taxi stieg eine elegante Frau im Nerzmantel und mit einem Koffer auf soliden Gummirädern. Sie war sehr schlank, Kimmie tippte auf Größe achtunddreißig, höchstens. Früher war sie ausschließlich auf Frauen mit Größe vierzig aus gewesen, aber das war schon mehrere Jahre her. Vom Leben auf der Straße wurde man nicht fett.
Sie nahm den Koffer, als sich die Frau in der Bahnhofsvorhalle an einem Fahrkartenautomaten informierte. Damit ging sie schnurstracks zum Ausgang und erreichte in kürzester Zeit den Taxistand an der Reventlowsgade.
Übung macht den Meister.
Sie legte den Koffer in den Kofferraum des vordersten Wagens und bat den Fahrer, mit ihr eine kleine Runde zu drehen.
Aus der Manteltasche zog sie ein dickes Bündel mit Hundertkronenscheinen. »Du bekommst noch zweihundert extra, wenn du tust, was ich dir sage«, fügte sie hinzu und ignorierte bewusst seinen misstrauischen Blick und die zuckenden Nasenflügel.
In etwa einer Stunde würde sie zurückkommen und den alten Koffer abholen: in neuen Klamotten und mit dem Duft einer Fremden am Körper.
Dann würden die Nasenflügel des Taxifahrers mit Sicherheit ganz anders zucken.
2
Ditlev Pram war ein gut aussehender Mann, und das wusste er. Im Flugzeug gab es in der Business Class immer genug Frauen, die nicht protestierten, wenn er von seinem Lamborghini erzählte und wie schnell er mit dem zur Villa in Rungsted fuhr.
Dieses Mal hatte er ein Auge auf eine Frau mit weichem, vollem Haar geworfen. Sie trug ein kräftiges schwarzes Brillengestell, wodurch sie unnahbar wirkte. Das reizte ihn.
Er hatte sie angesprochen, aber kein Glück gehabt. Hatte ihr ›The Economist‹ angeboten, mit einem Atomkraftwerk im Gegenlicht auf der Titelseite. Aber sie hatte nur eine abwehrende Handbewegung gemacht. Er hatte dafür gesorgt, dass sie einen Drink bekam. Sie hatte ihn nicht angerührt. Als die Maschine aus Posen überpünktlich in Kastrup aufsetzte, waren die kostbaren siebzig Minuten vertan.
So etwas machte ihn aggressiv.
Er eilte schnurstracks durch die gläsernen Gänge des Terminals. Als er das Laufband fast erreicht hatte, sah er sein Opfer: einen alten Mann, der schlecht gehen konnte und ebenfalls auf das Laufband zusteuerte.
Ditlev Pram beschleunigte seinen Schritt und war exakt in dem Augenblick da, als der Mann einen Fuß auf das Band setzte. Ditlev sah es deutlich vor sich: ein unauffällig gestelltes Bein - und der knochige Körper würde gegen die Plexiglasscheibe knallen und das Gesicht mit der verrutschten Brille daran entlangschrammen, während sich der Alte fieberhaft bemühte, wieder auf die Beine zu kommen.
Es zuckte förmlich in Ditlev Prams Bein. So war er. Und seine Freunde auch. Was weder besonders verdienstvoll noch besonders beschämend war. Sie hatten es einfach schon mit der Muttermilch eingesogen. Dabei wäre es bei dem alten Knacker hier in gewisser Weise sogar die Schuld dieser Zicke aus dem Flieger. Die hätte doch mit ihm nach Hause gehen können. In einer Stunde hätten sie in seinem Bett gelegen.
Das hatte sie sich doch verdammt noch mal selbst zuzuschreiben.
Als der Strandmølle Kro im Rückspiegel erschien und sich das Meer wieder glänzend vor ihm erstreckte, klingelte sein Handy. »Ja«, sagte er nach einem Blick auf das Display. Ulrik war dran.
»Eine Bekannte hat sie vor ein paar Tagen gesehen«, sagte er. »In der Bernstorffsgade, am Fußgängerübergang zum Hauptbahnhof.«
Ditlev schaltete den mp3-Player aus. »Okay. Wann ge nau?« »Letzten Montag. 10. September. Abends gegen einundzwanzig Uhr. «
»Was hast du unternommen?«
»Torsten und ich haben uns dort umgesehen. Haben sie aber nicht gefunden.«
»Torsten war dabei?«
»Ja. Du weißt schon, wie. Er ist keine große Hilfe.« »Wer ist auf die Aufgabe angesetzt?«
»Aalbæk.«
»Gut. Wie sah sie aus?«
»Angezogen war sie ziemlich okay, hab ich gehört. Ist dünner als früher. Und sie stank.«
»Sie stank?«
»Ja, nach Schweiß und Pisse.«
Ditlev nickte. Das war das Schlimmste bei Kimmie. Nicht nur, dass sie monate-, sogar jahrelang verschwinden konnte. Nein, man wusste nie, wer sie war. Ewig lange unsichtbar und dann urplötzlich unheimlich sichtbar. Kimmie war in ihrer aller Leben das größte Risiko. Die Einzige, die ihnen tatsächlich gefährlich werden konnte.
»Dieses Mal müssen wir sie kriegen, Ulrik, ist das klar?« »Warum, zum Teufel, glaubst du eigentlich, hab ich dich angerufen?«
3
Erst als er im Keller des Präsidiums stand, ging es Carl Mørck auf, dass der Sommer und der Urlaub endgültig zu Ende waren. Die Büroräume des Sonderdezernats Q waren dunkel. Er machte Licht an. Sein Blick fiel auf seinen überquellenden Schreibtisch, auf dem sich Stapel von Aktenbündeln gegenseitig stützten. Am liebsten hätte er sich umgedreht und die Tür hinter sich zugeknallt. Es half auch nichts, dass Assad mitten in das geordnete Chaos einen Strauß Gladiolen gepflanzt hatte, groß genug, um damit eine mittelgroße Hauptstraße zu blockieren.
»Willkommen zurück, Boss!«, tönte es hinter ihm.
Er drehte sich um und sah direkt in Assads hellwache braune Augen. Das dünne dunkle Haar stand gewissermaßen entgegenkommend in alle Richtungen ab. Der ganze Mensch trahlte Vitalität aus und schien es kaum erwarten zu können, wieder in den Ring zu steigen, leider Gottes.
»Nanu!«, sagte Assad, als er den matten Blick seines Chefs wahrnahm. »Man sollte kaum glauben, dass du gerade aus dem Urlaub kommst, Carl.«
Carl schüttelte den Kopf. »Tu ich das etwa?«
Die oben im zweiten Stock waren wieder mal umgezogen. Verdammte Polizeireform. Demnächst würde er das Büro von Marcus Jacobsen, Chef der Mordkommission, nur noch per GPS finden. Drei Wochen war er weg gewesen, und schon gafften ihn mindestens fünf neue Gesichter an, als käme er vom Mond.
Wer zum Teufel war das?
»Carl, ich habe eine gute Nachricht für dich«, sagte Jacob-sen. Carls Blick glitt über die Wände des neuen Büros. Mit den hell grünen Scheiben dort kam es ihm vor wie ein Mittelding aus OP-Saal und dem Raum für Krisenmeetings aus dem LenDeighton -Thriller, den er gerade gelesen hatte. Wie verloren starrten von überall die fahlen Augen von Leichen auf ihn herab. Karten und Diagramme und Einsatzpläne hingen dort in einem vielfarbigen Durcheinander. Alles wirkte deprimierend effektiv.
»Eine gute Nachricht, sagst du. Das klingt nicht gut.« Carl ließ sich seinem Chef gegenüber auf einen Stuhl fallen.
»Du bekommst bald Besuch aus Norwegen, Carl, ich hatte das vor einiger Zeit schon mal erwähnt.«
Carl Mørck sah ihn unter schweren Lidern müde an.
»Eine Delegation der Obersten Polizeibehörde in Oslo, erinnerst du dich? Na, die kommen jetzt jedenfalls mit fünf oder sechs Mann und wollen sich das Sonderdezernat Q anschauen, und zwar am nächsten Freitag um zehn Uhr. Du denkst doch dran?« Marcus lächelte. »Sie freuen sich schon, soll ich ausrichten«, fuhr er fort und blinzelte ihm zu.
Damit standen sie verdammt allein.
»Ich habe aus diesem Anlass dein Team verstärkt. Sie heißt Rose.«
An der Stelle kam Carl kurz von seinem Stuhl hoch.
Anschließend stand er vor der Tür des Chefs und gab sich alle Mühe, die hochgezogenen Augenbrauen wieder in ihre alte Position zu bringen. Hieß es nicht, dass eine schlechte Nachricht nie allein kommt? Wie wahr! Kaum fünf Minuten bei der Arbeit, und schon sollte er den Nachhilfelehrer für eine Sekretariatsanwärterin und den Guide für eine Gruppe Berggorillas spielen. Letzteres hatte er bisher glücklich verdrängt.
»Wo ist denn die Neue, die zu mir nach unten kommen soll?«, fragte er Frau Sørensen, die wie immer hinter der Theke des Sekretariats saß.
Die hob nicht mal den Blick von der Tastatur, diese Frauensperson.
Er haute leicht auf die Theke. Probieren konnte man es ja mal.
Dann spürte er, wie ihm jemand auf die Schulter tippte. »Hier hast du ihn in höchsteigener Person, Rose«, hörte er hinter sich. »Darf ich vorstellen? Carl Mørck. «
Er drehte sich um und blickte in zwei verblüffend ähnliche Gesichter. Der Erfinder der schwarzen Farbe hat nicht umsonst gelebt, schoss es ihm durch den Kopf. Rabenschwarzes Haar, ultrakurz und fransig geschnitten, pechschwarz umrandete Augen und düstere Kleidung. Hui, verdammt unheimlich.
»Lis, zum Teufel. Was ist denn mit dir passiert?«
Die effektivste Sekretärin des Dezernats fuhr sich mit der Hand durch ihr früher so herrlich blondes Haar. Ein Lächeln blitzte in ihren Augen auf. »Ja, schick, was?«
Carl nickte langsam, bevor sein Blick weiter zu der anderen Frau wanderte. Ihre Schuhe hatten turmhohe Absätze. Sie betrachtete ihn mit einem umwerfenden Lächeln. Dann schaute er wieder zu Lis. Die beiden sahen sich irgendwie zum Verwechseln ähnlich. Es war ihm ein Rätsel, wer von beiden wen angesteckt hatte.
»Das hier ist also Rose. Sie ist ein paar Wochen bei uns gewesen und hat mit ihrer herrlich positiven Ausstrahlung unser Sekretariat belebt. Jetzt überlasse ich sie deiner Obhut. Pass gut auf sie auf, Carl.«
Übersetzung: Hannes Thiess
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Wieder krachte ein Schuss über die Baumwipfel.
Das Rufen der Treiber war jetzt schon deutlich zu hören. Das Blut pochte in den Ohren, und die Lungen schmerzten vom scharfen Einatmen der feuchten Luft.
Los, los, weiter, lauf, und fall bloß nicht hin. Du kommst sonst nie wieder hoch. Scheiße, Scheiße, warum bekomme ich die Hände nicht frei? Weiter, na los ... oh Shit ... Die dürfen mich nicht hören. Haben die mich gehört? War's das jetzt? Soll mein Leben etwa so enden?
Die Zweige peitschten ins Gesicht und hinterließen blutige Streifen, das Blut mischte sich mit dem Schweiß.
Wieder krachten Schüsse. Die Projektile pfiffen jetzt dicht an den Ohren vorbei, der Schweiß lief in Strömen. Wie eine Kompresse legte er sich um den Körper.
Noch eine Minute oder zwei, dann würden sie dort stehen. Verdammt, die Hände auf dem Rücken, warum gehorchen die nicht? Was ist das bloß für ein Scheißklebeband?
Laut flügelschlagend erhoben sich plötzlich aufgeschreckte Vögel über die Baumwipfel. Die tanzenden Schatten des dichten Tannenwaldes wurden immer deutlicher. Jetzt fehlten vielleicht noch hundert Meter bis dorthin. Alles wurde klarer. Auch die Stimmen. Der Blutdurst der Jäger.
Wie werden sie es machen? Ein einzelner Schuss? Ein Pfeil? Schluss, aus, vorbei?
Nein, wohl kaum, warum sollten sie sich damit begnügen? So gnädig waren die nicht, diese Schweine. Die nicht. Die hatten ihre Gewehre und ihre verschmierten Messer. Und wussten genau, wie effektiv eine Armbrust ist.
Wo kann ich mich verkriechen? Gibt's da nirgendwo ein Versteck? Oder doch wieder zurück? Schaffe ich das?
Der Blick suchte den Waldboden ab. Wanderte vor und zurück. Aber das Klebeband bedeckte die Augen fast vollständig, das machte es so mühsam. Die Füße stolperten immer weiter.
Jetzt spüre ich gleich am eigenen Leib, wie es ist, in ihrer Gewalt zu sein. Die werden mit mir keine Ausnahme machen. Das brauchen die doch, nur so kriegen die doch ihren Kick. Und nur so haben sie eine Chance, davonzukommen.
Das Herz hämmerte jetzt so wild, dass es wehtat.
1
Den Strøget in Kopenhagens Zentrum hinunterzugehen, empfand sie wie einen Tanz auf Messers Schneide. Ein echtes Risiko. Das Gesicht halb hinter einem schlammgrünen Tuch versteckt, hastete sie an den hell erleuchteten Schaufenstern der Fußgängerzone vorbei. Hellwach scannte sie ihre Umgebung. Andere zu erkennen, aber selbst nicht erkannt zu werden, darum ging es. Darum, mit den eigenen Dämonen in Frieden zu leben und alles andere denen zu überlassen, die vorübereilten. Die mit leerem, gleichgültigem Blick einen Bogen um sie machten. Und diesen Schweinen, die ihr Böses wollten.
Kimmie sah zu den Straßenlampen hoch, deren kaltes Licht die Vesterbrogade erhellte. Sie schnupperte. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, dann würden die Nächte kühl werden. Sie musste das Winterlager vorbereiten.
Sie stand in einer Menschentraube zwischen lauter durchgefrorenen Tivoli-Besuchern an der Fußgängerampel und sah hinüber zum Hauptbahnhof. Da bemerkte sie die Frau im Tweedmantel neben sich. Die musterte sie aus zusammengekniffenen Augen, rümpfte die Nase und trat einen Schritt zur Seite. Wenige Zentimeter nur, aber die reichten.
Na, na, Kimmie!, pulsierte das Warnsignal in ihrem Hinterkopf, als die Wut sie packen wollte.
Ihr Blick wanderte über den Körper der Frau bis hinunter zu den Beinen. Hauchdünne, glänzende Strumpfhosen, hochhackige Schuhe. Kimmie spürte, wie ein verräterisches Lächeln ihre Lippen kräuselte. Einmal fest zutreten, und die zarten Knöchel würden knacken. Wenn die Schnepfe erst mal auf dem nassen Gehweg lag, würde sie schon sehen, dass auch ein Christian-Lacroix-Kostüm schmutzig werden konnte. Das wäre ihr dann hoffentlich eine Lehre.
Kimmie blickte auf und sah der Frau direkt ins Gesicht. Markanter Eyeliner, gepuderte Nase, die Locken kunstvoll geschnitten. Der Blick starr und abweisend. O ja, sie kannte diese Sorte Frau. Sie hatte selbst einmal dazugehört. Zu den arroganten Oberklasseziegen mit dröhnend leerem Inneren. So waren ihre Freundinnen damals auch gewesen. So war ihre Stiefmutter.
Wie sie die alle hasste!
Dann tu doch was!, flüsterte die Stimme in ihrem Hinterkopf. Lass dir nichts gefallen! Zeig ihr, wer du bist. Na komm schon, los!
Kimmie starrte hinüber zu der Gruppe dunkelhäutiger Jungen auf der anderen Straßenseite. Wären da nicht deren umherstreifende Blicke gewesen, dann hätte sie der Frau tatsächlich einen Stoß versetzt, direkt vor den 47er. Deutlich sah sie den wunderbaren Blutfleck vor sich, den der Bus hinterlassen würde. Den zerquetschten Körper. Eine Schockwelle würde sich von ihm ausgehend durch die Menge fortpflanzen. Was für eine Genugtuung!
Aber Kimmie schubste nicht. In so einer Menschenmenge gab es immer irgendwo ein hellwaches Auge. Und dann war da auch in ihr etwas, das dagegenhielt. Dieses entsetzliche Echo aus fernen Tagen.
Sie hielt sich kurz ihren Arm unter die Nase und schnüffelte. Es stimmte, die Frau hatte recht. Ihre Sachen stanken fürchterlich.
Als es grün wurde, überquerte sie die Straße. Auf schiefen Rädern rumpelte der Koffer hinter ihr her. Das würde sein letzter Weg sein. Höchste Zeit, dieses alte Gelump wegzuschmeißen.
Höchste Zeit, sich zu häuten.
Vor dem Bahnhofskiosk hingen an einem Ständer die Titelseiten der Zeitungen mit den riesigen Schlagzeilen der Aufmacher. Für Vorbeihastende und Blinde war der Zeitungsständer, bewusst mitten in der Bahnhofshalle platziert, ein einziges Ärgernis. Auf dem Weg durch die Stadt hatte Kimmie die Schlagzeilen immer wieder gesehen. Vor Ekel hätte sie kotzen können.
»Diese Sau«, murmelte sie und sah stur geradeaus, als sie an dem Ständer vorbeiging. Dann drehte sie den Kopf doch und betrachtete das Foto neben der Schlagzeile.
Allein schon bei seinem Anblick fing ihr Körper an zu zittern.
Unter dem Bild stand: »Ditlev Pram kauft für zwölf Milliarden Kronen Privatkliniken in Polen auf. « Sie spuckte aus und blieb einen Moment stehen, wartete ab, bis die körperlichen Reaktionen nachließen. Wie sie Ditlev Pram hasste! Wie sie Torsten und Ulrik hasste! Aber sie würden schon sehen! Sie würde sie fertigmachen, alle drei.
Beim Weitergehen lachte sie auf, woraufhin ihr ein Passant zulächelte. Noch so ein gutgläubiger Idiot, der zu wissen meinte, was in den Köpfen anderer Leute vorging.
Abrupt blieb sie stehen.
Ein Stück weiter stand Ratten -Tine an ihrem üblichen Platz. Halb vorgebeugt und leicht schwankend hielt sie die dreckigen Hände auf. Wie bescheuert, darauf zu vertrauen, dass in diesem Ameisengewimmel jemand einen Zehner für sie übrig hatte! Stundenlang so zu stehen brachten auch nur die Drogis fertig. Arme Teufel.
Kimmie schlich hinter ihr auf die Treppe zu, die zur Reventlowsgade hinunterführte. Aber Tine hatte sie längst entdeckt.
»Hallo Kimmie! Mensch, verdammt, Kimmie!«, kam es von hinten. Aber Kimmie reagierte nicht. So in der Öffentlichkeit funktionierte das nicht mit Ratten -Tine, da konnte man nichts mit ihr anfangen. Nur wenn man mit ihr auf der Bank saß, dann tickte ihr Gehirn einigermaßen.
Andererseits war sie der einzige Mensch, den Kimmie ertrug.
Aus unerfindlichen Gründen pfiff der Wind an diesem Tag eiskalt durch die Straßen. Deshalb hatten es alle Leute eilig, nach Hause zu kommen. Deshalb standen fünf schwarze Mercedes-Taxis mit laufendem Motor in der Schlange vor der Bahnhofstreppe gegenüber der Istedgade. Eines davon würde sicher für sie übrig bleiben, wenn sie gleich eins brauchte. Mehr wollte sie im Moment nicht wissen.
Sie zog den Koffer schräg über die Straße zu dem Thai-Laden im Souterrain. Dort stellte sie ihn neben dem Fenster ab. Nur einmal war ihr ein Koffer geklaut worden, als sie ihn dort deponiert hatte. Bei diesem Wetter, wo selbst die Diebe zu Haus blieben, würde das garantiert nicht passieren. Außerdem war es egal. Da war nichts Wertvolles drin.
Geschlagene zehn Minuten wartete sie auf dem Bahnhofsvorplatz, dann war es so weit. Aus einem Taxi stieg eine elegante Frau im Nerzmantel und mit einem Koffer auf soliden Gummirädern. Sie war sehr schlank, Kimmie tippte auf Größe achtunddreißig, höchstens. Früher war sie ausschließlich auf Frauen mit Größe vierzig aus gewesen, aber das war schon mehrere Jahre her. Vom Leben auf der Straße wurde man nicht fett.
Sie nahm den Koffer, als sich die Frau in der Bahnhofsvorhalle an einem Fahrkartenautomaten informierte. Damit ging sie schnurstracks zum Ausgang und erreichte in kürzester Zeit den Taxistand an der Reventlowsgade.
Übung macht den Meister.
Sie legte den Koffer in den Kofferraum des vordersten Wagens und bat den Fahrer, mit ihr eine kleine Runde zu drehen.
Aus der Manteltasche zog sie ein dickes Bündel mit Hundertkronenscheinen. »Du bekommst noch zweihundert extra, wenn du tust, was ich dir sage«, fügte sie hinzu und ignorierte bewusst seinen misstrauischen Blick und die zuckenden Nasenflügel.
In etwa einer Stunde würde sie zurückkommen und den alten Koffer abholen: in neuen Klamotten und mit dem Duft einer Fremden am Körper.
Dann würden die Nasenflügel des Taxifahrers mit Sicherheit ganz anders zucken.
2
Ditlev Pram war ein gut aussehender Mann, und das wusste er. Im Flugzeug gab es in der Business Class immer genug Frauen, die nicht protestierten, wenn er von seinem Lamborghini erzählte und wie schnell er mit dem zur Villa in Rungsted fuhr.
Dieses Mal hatte er ein Auge auf eine Frau mit weichem, vollem Haar geworfen. Sie trug ein kräftiges schwarzes Brillengestell, wodurch sie unnahbar wirkte. Das reizte ihn.
Er hatte sie angesprochen, aber kein Glück gehabt. Hatte ihr ›The Economist‹ angeboten, mit einem Atomkraftwerk im Gegenlicht auf der Titelseite. Aber sie hatte nur eine abwehrende Handbewegung gemacht. Er hatte dafür gesorgt, dass sie einen Drink bekam. Sie hatte ihn nicht angerührt. Als die Maschine aus Posen überpünktlich in Kastrup aufsetzte, waren die kostbaren siebzig Minuten vertan.
So etwas machte ihn aggressiv.
Er eilte schnurstracks durch die gläsernen Gänge des Terminals. Als er das Laufband fast erreicht hatte, sah er sein Opfer: einen alten Mann, der schlecht gehen konnte und ebenfalls auf das Laufband zusteuerte.
Ditlev Pram beschleunigte seinen Schritt und war exakt in dem Augenblick da, als der Mann einen Fuß auf das Band setzte. Ditlev sah es deutlich vor sich: ein unauffällig gestelltes Bein - und der knochige Körper würde gegen die Plexiglasscheibe knallen und das Gesicht mit der verrutschten Brille daran entlangschrammen, während sich der Alte fieberhaft bemühte, wieder auf die Beine zu kommen.
Es zuckte förmlich in Ditlev Prams Bein. So war er. Und seine Freunde auch. Was weder besonders verdienstvoll noch besonders beschämend war. Sie hatten es einfach schon mit der Muttermilch eingesogen. Dabei wäre es bei dem alten Knacker hier in gewisser Weise sogar die Schuld dieser Zicke aus dem Flieger. Die hätte doch mit ihm nach Hause gehen können. In einer Stunde hätten sie in seinem Bett gelegen.
Das hatte sie sich doch verdammt noch mal selbst zuzuschreiben.
Als der Strandmølle Kro im Rückspiegel erschien und sich das Meer wieder glänzend vor ihm erstreckte, klingelte sein Handy. »Ja«, sagte er nach einem Blick auf das Display. Ulrik war dran.
»Eine Bekannte hat sie vor ein paar Tagen gesehen«, sagte er. »In der Bernstorffsgade, am Fußgängerübergang zum Hauptbahnhof.«
Ditlev schaltete den mp3-Player aus. »Okay. Wann ge nau?« »Letzten Montag. 10. September. Abends gegen einundzwanzig Uhr. «
»Was hast du unternommen?«
»Torsten und ich haben uns dort umgesehen. Haben sie aber nicht gefunden.«
»Torsten war dabei?«
»Ja. Du weißt schon, wie. Er ist keine große Hilfe.« »Wer ist auf die Aufgabe angesetzt?«
»Aalbæk.«
»Gut. Wie sah sie aus?«
»Angezogen war sie ziemlich okay, hab ich gehört. Ist dünner als früher. Und sie stank.«
»Sie stank?«
»Ja, nach Schweiß und Pisse.«
Ditlev nickte. Das war das Schlimmste bei Kimmie. Nicht nur, dass sie monate-, sogar jahrelang verschwinden konnte. Nein, man wusste nie, wer sie war. Ewig lange unsichtbar und dann urplötzlich unheimlich sichtbar. Kimmie war in ihrer aller Leben das größte Risiko. Die Einzige, die ihnen tatsächlich gefährlich werden konnte.
»Dieses Mal müssen wir sie kriegen, Ulrik, ist das klar?« »Warum, zum Teufel, glaubst du eigentlich, hab ich dich angerufen?«
3
Erst als er im Keller des Präsidiums stand, ging es Carl Mørck auf, dass der Sommer und der Urlaub endgültig zu Ende waren. Die Büroräume des Sonderdezernats Q waren dunkel. Er machte Licht an. Sein Blick fiel auf seinen überquellenden Schreibtisch, auf dem sich Stapel von Aktenbündeln gegenseitig stützten. Am liebsten hätte er sich umgedreht und die Tür hinter sich zugeknallt. Es half auch nichts, dass Assad mitten in das geordnete Chaos einen Strauß Gladiolen gepflanzt hatte, groß genug, um damit eine mittelgroße Hauptstraße zu blockieren.
»Willkommen zurück, Boss!«, tönte es hinter ihm.
Er drehte sich um und sah direkt in Assads hellwache braune Augen. Das dünne dunkle Haar stand gewissermaßen entgegenkommend in alle Richtungen ab. Der ganze Mensch trahlte Vitalität aus und schien es kaum erwarten zu können, wieder in den Ring zu steigen, leider Gottes.
»Nanu!«, sagte Assad, als er den matten Blick seines Chefs wahrnahm. »Man sollte kaum glauben, dass du gerade aus dem Urlaub kommst, Carl.«
Carl schüttelte den Kopf. »Tu ich das etwa?«
Die oben im zweiten Stock waren wieder mal umgezogen. Verdammte Polizeireform. Demnächst würde er das Büro von Marcus Jacobsen, Chef der Mordkommission, nur noch per GPS finden. Drei Wochen war er weg gewesen, und schon gafften ihn mindestens fünf neue Gesichter an, als käme er vom Mond.
Wer zum Teufel war das?
»Carl, ich habe eine gute Nachricht für dich«, sagte Jacob-sen. Carls Blick glitt über die Wände des neuen Büros. Mit den hell grünen Scheiben dort kam es ihm vor wie ein Mittelding aus OP-Saal und dem Raum für Krisenmeetings aus dem LenDeighton -Thriller, den er gerade gelesen hatte. Wie verloren starrten von überall die fahlen Augen von Leichen auf ihn herab. Karten und Diagramme und Einsatzpläne hingen dort in einem vielfarbigen Durcheinander. Alles wirkte deprimierend effektiv.
»Eine gute Nachricht, sagst du. Das klingt nicht gut.« Carl ließ sich seinem Chef gegenüber auf einen Stuhl fallen.
»Du bekommst bald Besuch aus Norwegen, Carl, ich hatte das vor einiger Zeit schon mal erwähnt.«
Carl Mørck sah ihn unter schweren Lidern müde an.
»Eine Delegation der Obersten Polizeibehörde in Oslo, erinnerst du dich? Na, die kommen jetzt jedenfalls mit fünf oder sechs Mann und wollen sich das Sonderdezernat Q anschauen, und zwar am nächsten Freitag um zehn Uhr. Du denkst doch dran?« Marcus lächelte. »Sie freuen sich schon, soll ich ausrichten«, fuhr er fort und blinzelte ihm zu.
Damit standen sie verdammt allein.
»Ich habe aus diesem Anlass dein Team verstärkt. Sie heißt Rose.«
An der Stelle kam Carl kurz von seinem Stuhl hoch.
Anschließend stand er vor der Tür des Chefs und gab sich alle Mühe, die hochgezogenen Augenbrauen wieder in ihre alte Position zu bringen. Hieß es nicht, dass eine schlechte Nachricht nie allein kommt? Wie wahr! Kaum fünf Minuten bei der Arbeit, und schon sollte er den Nachhilfelehrer für eine Sekretariatsanwärterin und den Guide für eine Gruppe Berggorillas spielen. Letzteres hatte er bisher glücklich verdrängt.
»Wo ist denn die Neue, die zu mir nach unten kommen soll?«, fragte er Frau Sørensen, die wie immer hinter der Theke des Sekretariats saß.
Die hob nicht mal den Blick von der Tastatur, diese Frauensperson.
Er haute leicht auf die Theke. Probieren konnte man es ja mal.
Dann spürte er, wie ihm jemand auf die Schulter tippte. »Hier hast du ihn in höchsteigener Person, Rose«, hörte er hinter sich. »Darf ich vorstellen? Carl Mørck. «
Er drehte sich um und blickte in zwei verblüffend ähnliche Gesichter. Der Erfinder der schwarzen Farbe hat nicht umsonst gelebt, schoss es ihm durch den Kopf. Rabenschwarzes Haar, ultrakurz und fransig geschnitten, pechschwarz umrandete Augen und düstere Kleidung. Hui, verdammt unheimlich.
»Lis, zum Teufel. Was ist denn mit dir passiert?«
Die effektivste Sekretärin des Dezernats fuhr sich mit der Hand durch ihr früher so herrlich blondes Haar. Ein Lächeln blitzte in ihren Augen auf. »Ja, schick, was?«
Carl nickte langsam, bevor sein Blick weiter zu der anderen Frau wanderte. Ihre Schuhe hatten turmhohe Absätze. Sie betrachtete ihn mit einem umwerfenden Lächeln. Dann schaute er wieder zu Lis. Die beiden sahen sich irgendwie zum Verwechseln ähnlich. Es war ihm ein Rätsel, wer von beiden wen angesteckt hatte.
»Das hier ist also Rose. Sie ist ein paar Wochen bei uns gewesen und hat mit ihrer herrlich positiven Ausstrahlung unser Sekretariat belebt. Jetzt überlasse ich sie deiner Obhut. Pass gut auf sie auf, Carl.«
Übersetzung: Hannes Thiess
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Jussi Adler-Olsen
Jussi Adler-Olsen, geb. am 2.8.1950 in Kopenhagen, studierte Medizin, Soziologie, Politische Geschichte und Film und arbeitete in vielen verschiedenen Berufen. Er gilt als bestverkaufter dänischer Krimiautor. Jussi Adler-Olsen ist verheiratet und Vater eines Sohnes.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jussi Adler-Olsen
- 2011, 1, 458 Seiten, Maße: 13,2 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868006931
- ISBN-13: 9783868006933
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