Schattenspiel
Kriminalroman
Fünf Jugendfreunde kennen für ihre gescheiterten Träume nur einen Schuldigen: David Bellino - reich, skrupellos und ohne echte Freunde. Doch der Tag der Abrechnung ist nah. David wird ermordet - und eine albtraumhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nimmt ihren Lauf.
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Produktinformationen zu „Schattenspiel “
Fünf Jugendfreunde kennen für ihre gescheiterten Träume nur einen Schuldigen: David Bellino - reich, skrupellos und ohne echte Freunde. Doch der Tag der Abrechnung ist nah. David wird ermordet - und eine albtraumhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nimmt ihren Lauf.
Lese-Probe zu „Schattenspiel “
Schattenspiel von Charlotte LinkNew York, Silvesternacht 1988/89
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Das neue Jahr war fünf Minuten alt, und über New York rasten die bunten Feuerwerkskörper in den Himmel, als Andreas Bredow einen stechenden Schmerz in der linken Brust spürte und für Sekunden um Atem rang. Am ganzen Körper brach ihm der Schweiß aus. Dann war es vorbei, so plötzlich, wie es gekommen war, aber kaum hatte er tief Luft geholt und sich wieder in seinen Sessel zurückgelehnt, setzte der Schmerz erneut ein, ein krampfartiger, furchtbarer Schmerz, der ihm die Kehle zuschnürte und ihm ein Zittern durch Arme und Beine jagte. Er preßte beide Hände gegen die Brust, krümmte sich zusammen.
Ein Infarkt. Es konnte nur ein Infarkt sein.
Seit Jahren verfolgte ihn die Angst, ihm könnte so etwas passieren. Er war infarktgefährdet, das hatte ihm sein Arzt immer wieder gesagt. Herztabletten und Kreislaufmittel vervollständigten alle seine Mahlzeiten. Eine gewisse Zuversicht hatte Andreas aus der Tatsache gezogen, daß immer genügend Menschen um ihn sein würden, die ihm helfen könnten. Chauffeur, Butler, Putzfrau, Sekretärin, Dienstmädchen. Und David, der auch nachts in der Wohnung schlief.
Tatsächlich war Andreas Bredow in den letzten Jahren kaum eine Minute allein gewesen, denn wohin hätte ein 61jähriger vollkommen blinder Mann allein auch gehen sollen? Irgend jemand hatte ihn stets an der Hand genommen, immer hinter ihm gestanden. Er brauchte nur zu rufen oder zu klingeln, und ein halbes Dutzend dienstbare Geister stürzte herbei. Immer. Bloß in dieser Nacht nicht. In der Silvesternacht der Jahre 1988/89 war Andreas Bredow, einer der reichsten Männer an der amerikanischen Ostküste, in seinem Nobelappartement hoch über der Fifth Avenue vollkommen allein. Er mußte sich plötzlich übergeben. Das verschaffte ihm eine kurze Erleichterung, in der er einen klaren Gedanken fassen konnte: Er mußte nur den Telefonhörer abheben und die 1 drükken, dann war er mit dem Portier unten in der Eingangshalle verbunden. Der Portier kannte die Nummer des Arztes, besaß außerdem die Sicherheitsschlüssel zum Penthouse. Er würde Dr. Harper also auch nach oben bringen können, zwanzig Etagen hoch. Ja, der Portier. Er brauchte nur den Portier.
Das Zimmer, Andreas' Arbeitszimmer mit Blick über den ganzen Central Park, war so eingerichtet, daß sich alle Möbel entlang den Wänden aufreihten und sich in der Mitte des Raumes nichts befand. Andreas konnte sich daher rasch und ohne zu stolpern bewegen. Jetzt schien sich alles um ihn zu drehen. Auf Händen und Füßen kroch er über den Teppich, einen Perser, alt und sehr kostbar. Die Schmerzen waren kaum mehr auszuhalten. Irgendwo mitten im Zimmer brach er zusammen, lag gekrümmt wie ein Embryo, spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen, griff mit der Hand an den Hals, zerrte die Krawatte herab.
Ich sterbe. Ich sterbe. Ich sterbe.
Die Todesangst trieb ihn, weiterzukriechen. Bis zum Schreibtisch... dort stand das Telefon... wenn er das Telefon erreichte... Krachend und tosend zerbarsten draußen die Silvesterraketen. Es war ihm, als hätten sich die Bilder früherer Neujahrsnächte tief in seine Erinnerungen eingebrannt und als könnte er die roten Blitze, die grünen Sterne, die goldenen Feuer am schwarzen Himmel sehen. Röchelnd, halb besinnungslos vor Schmerz, tastete er nach der Schreibtischkante, zog sich an ihr hoch. Seine Hand griff nach dem Telefonhörer und erstarrte.
Das Telefon stand nicht an seinem Platz!
Natürlich glaubte er sofort, er habe sich getäuscht. Er war an der falschen Seite des Schreibtischs angelangt. Schwindel und Atemnot hatten ihn durcheinandergebracht. Er wußte nicht mehr, wo oben und unten, wo rechts und links war.
Jesus, wenn nur der Schmerz nachließe! Er hätte in sein Herz hineinfassen, es mit beiden Händen umklammern, ihm Platz und Raum schaffen mögen, damit es wieder frei schlagen konnte. Vor dem Schreibtisch kniend, versuchte er es noch einmal, ließ seine Hand zitternd über die Schreibplatte tasten. Das Diktiergerät... die gerahmte Fotografie seiner Eltern... die Schale mit Bleistiften... aber dann mußte hier das Telefon stehen! Er schluchzte auf und versuchte, die Einrichtung zu rekonstruieren: Hinter ihm lag die Sitzecke, dann war vor ihm das Fenster, dann war rechts die Lampe, dann war links, verdammt noch mal, das Telefon!
Nachdem er ein zweites Mal erbrochen hatte, rutschte er zu Boden. Seine Wange kam auf seiner Hand zu liegen, und der schwere goldene Ring, den er von seinem Vater geerbt hatte, schnitt in seine Haut.
Der Ring rief jäh eine Erinnerung in ihm wach. Obwohl die Ereignisse beinahe ein halbes Jahrhundert zurücklagen, waren die Bilder so scharf und klar, als seien sie erst gestern entstanden.
Berlin 1940. Er war dreizehn gewesen in jenem Kriegssommer, ein warmer Sommer, wie er noch wußte, und eine Zeit, in der überall noch frohgemut vom Endsieg gesprochen wurde, und die deutschen Truppen von allen Fronten berauschende Erfolge vermelden konnten. Andreas saß oft vor dem Radio, dem Volksempfänger, und lauschte Joseph Goebbels' scharfer Stimme, mit der er die Herrschaft der Deutschen über alle Welt propagierte. Andreas mochte Goebbels nicht, und Adolf Hitler auch nicht. Natürlich hatte er das nie laut geäußert, zumal er nicht genau sagen konnte, worauf sich seine Abneigung gründete. Schließlich veranstaltete die Partei tolle Sachen, gerade für die Jugend. Andreas war im Jungvolk, und da gab es an jedem Wochenende Wanderungen und Zelten, Lagerfeuer, spannende Spiele und Kameradschaft und Tapferkeit. Alles in allem wunderbare Dinge für einen dreizehnjährigen Jungen, aber dahinter stand mehr als einfach nur Spiel und Spaß, und das flößte Andreas oft ein leises Grauen ein. Er war ein aufgewecktes und sehr sensibles Kind, und er witterte eine ungreifbare, unnennbare Gefahr. In jenem Sommer also, genauer gesagt, am 25. Mai, ereigneten sich zwei Dinge: Die eine Angelegenheit betraf Christine, Andreas' Spielgefährtin, sie war Andreas' beste Freundin, Kamera-
din, Vertraute, Mitwisserin aller seiner Seelengeheimnisse. Sie hatten Indianer zusammen gespielt und König und Prinzessin, aber jetzt saßen sie oft auch nur einfach stundenlang zusammen und redeten, besonders dann, wenn Andreas schwermütig und traurig war, wenn kein Mensch ihn verstand außer Christine. Sie war die Stärkere von beiden, aber an diesem Tag erschien sie mit verweinten Augen und aufgelösten Zöpfen. »Sie haben meinen Vater verhaftet, Andreas! Sie haben meinen Vater verhaftet!«
»Wer?«
»Die Gestapo. Heute in aller Frühe. Sie haben unser ganzes Haus verwüstet und ihn dann weggezerrt. Andreas, was soll ich tun?«
»Warum haben sie ihn verhaftet, Christine?«
Christine fing wieder an zu schluchzen. »Weil er gegen Adolf Hitler ist. Er sagt, Hitler ist ein Verbrecher, der uns alle ins Unglück stürzt. Und jemand hat ihn angezeigt deswegen... Andreas, ich habe solche Angst.«
Er legte den Arm um sie. »Ich bin bei dir, Christine. Hab keine Angst.« Aber er konnte ihr nicht helfen, das wußte er. Niemand konnte etwas ausrichten gegen die Gestapo. Sie war allmächtig. Man munkelte von Folterkellern, furchtbaren Gefängnissen, Lagern, von Menschen, die nie wiederkehrten. Er sagte: »Sie werden ihn vielleicht nur kurz verhören und dann wieder gehen lassen.« Aber er glaubte es selber nicht. Und Christine auch nicht. Mit einem herzzerreißenden Ausdruck von Trostlosigkeit in den Augen sagte sie, sie sei überzeugt, ihr Vater werde niemals zurückkommen. Dann schlich sie nach Hause, denn sie mußte sich um ihre Mutter kümmern, die wie erstarrt in ihrer Wohnung saß und nicht faßte, was passiert war.
Wie sich später herausstellte, kam Christines Vater tatsächlich nicht zurück; seine Spur ließ sich in eines der berüchtigten Todeslager verfolgen und verlor sich dort. Und es schien wie ein merkwürdiges Spiel des Schicksals, daß Andreas am selben Tag erfuhr, daß sein Vater in Frankreich gefallen war.
Tante Gudrun sagte es ihm, als er abends nach Hause kam. Sie tat es auf die ihr eigene, unsensible, ungeschickte Art. Erst druckste sie ewig lange herum, wich aus und redete etwas von Tapferkeit und deutschem Heldentum (Tante Gudrun war eine gute Patriotin!), und als Andreas schon ganz aufgelöst war und lauter schreckliche Dinge vermutete, sagte sie unvermittelt: »Ja, also, da ist ein Telegramm gekommen heute. Dein Vater ist gefallen, Andreas. Man kann nichts mehr tun.« Dann drehte sie sich wieder zu ihrem Herd um und rührte verbissen in einem großen Kochtopf, unfähig, das blasse, erschreckte Kind, das fassungslos hinter ihr stand, auch nur anzusehen, geschweige denn, es in die Arme zu nehmen oder ihm wenigstens über die Haare zu streichen.
Alles, was Andreas in diesen Minuten denken konnte, war: Nun habe ich niemanden mehr. Niemanden auf der Welt.
Andreas' Mutter war bei seiner Geburt gestorben, und seinen Vater, den Oberstleutnant Bredow, hatte die Situation, allein für ein Baby sorgen zu müssen, vollkommen überfordert. Er war Offizier von altem preußischem Schlag, ernst, korrekt und pflichtbewußt, immer ein wenig streng und unnahbar. Im Innern empfand er sowohl Stolz als auch Liebe für seinen kleinen Sohn, aber er sah sich völlig außerstande, dem Kind das zu vermitteln. Er besorgte eine Kinderschwester, bezahlte sie fürstlich, zog sich erleichtert zurück und ließ sie vergleichsweise unbeaufsichtigt tun, was sie tun wollte.
Natürlich blieb es nicht bei einer; Aufsichtspersonen dieser Art pflegen häufig aus den verschiedensten Gründen zu wechseln, und bis zu seinem achten Lebensjahr hatte Andreas bereits sieben »Fräuleins« um sich gehabt und seinen Vater nur sehr selten gesehen. Er verehrte und bewunderte diesen Mann, der immer eine so schöne Uniform trug und stets würdevoll und ruhig auftrat, und oft weinte er sich abends in den Schlaf, weil er gedacht hatte, sein Vater käme heute und würde ihm gute Nacht sagen, er aber war wieder einmal nicht erschienen.
Von den Kinderschwestern gab es nur eine, die Andreas wirklich mochte, und die blieb nur ein halbes Jahr, dann heiratete sie und ging fort von Berlin. Alle anderen hatten irgendeinen Fehler. Eine war trocken und humorlos und schüchterte das Kind immer nur ein, eine andere lachte ständig überdreht und redete so viel, daß man Kopfweh davon bekam. Eine ließ ihn völlig verwahrlosen und wurde schließlich gefeuert, eine klaute wie ein Rabe. Die letzte hatte einen Freund, der immer im Hause Bredow herumlungerte, wenn der Oberstleutnant nicht da war, und der Andreas sagte, er werde ihn »abmurksen«, wenn er das seinem Vater petzte. Andreas beobachtete die beiden einmal, während sie sich auf dem Wohnzimmerteppich liebten; er reagierte mit einem Schock, bekam nächtliche Alpträume und behielt kein Essen mehr bei sich. Nicht einmal dem fast ständig abwesenden Oberstleutnant konnte das verborgen bleiben, und schließlich brachte er aus dem Sohn heraus, was passiert war. Damit war das Ende der Kindermädchen gekommen, und Tante Gudrun trat auf den Plan.
Bei Tante Gudrun stand jedenfalls nicht zu erwarten, daß sie sich irgendeinem unmoralischen Tun hingeben würde. Sie war des Oberstleutnants ältere Schwester und eine typische alte Jungfer. Sie haßte alle Männer - hauptsächlich deshalb, weil sich nie einer um sie bemüht hatte -, und sie war verbissen darum bemüht, den Makel ihrer Ehelosigkeit durch besonderen Fleiß und unsagbare Tüchtigkeit auszugleichen. Sie zog in das Haus ihres Bruders mit Sack und Pack ein, versäumte es aber von da an keinen einzigen Tag, alle Welt darauf hinzuweisen, welch ungeheures Werk der Nächstenliebe sie damit tat. Der Satz, den Klein-Andreas von nun an am häufigsten zu hören bekam, lautete: »Du weißt überhaupt nicht, wie dankbar du mir sein kannst!«
Als der Krieg begann und der Oberstleutnant an die Front mußte, wurde Andreas' Einsamkeit noch größer. Sein Leben war zwar ausgefüllt mit Schule und Jungvolk und Christine, aber es gab keinen erwachsenen Menschen mehr, dem er Vertrauen und Liebe entgegenbringen, an dem er sich orientieren konnte. Alles, woran er festhielt, war der Gedanke: Bald ist der Krieg vorbei und Vater kommt zurück!
Nun war Vater tot. Für sein ganzes Leben würde ihm die Szene dieses Abends gegenwärtig bleiben. Der blaßblaue Abendhimmel jenseits des Fensters, ein paar rot angestrahlte Wolken, drinnen der Geruch nach Eintopf und Schweiß. Tante Gudrun verausgabte sich immer vollkommen bei der Arbeit. Andreas sah nur ihren breiten Rücken, die dicken, roten Arme, die sich beinahe wütend bewegten. Ohne ihn anzusehen sagte sie: »Die Frage ist, was nun aus dir werden soll!«
Nie würde er das Gefühl völliger Hilflosigkeit vergessen, das ihn in diesem Augenblick befiel.
Eine Woche später erschien ein junger Soldat im Hause Bredow. Er hatte die letzten Minuten des Oberstleutnants miterlebt und berichtete, die Gedanken des Sterbenden hätten dem Sohn gegolten.
»Er war besorgt um dich. Er sagte mir, ich solle dich von ihm grüßen und dir sagen, daß er dich sehr liebt. Und er gab mir das hier für dich.« Der Soldat griff in seine Jackentasche und zog etwas hervor. Es war der goldene Ring, den der Vater immer getragen hatte und der in der Familie Bredow schon seit Generationen vom Vater an den jeweils ältesten Sohn weitergegeben wurde. »Der ist jetzt für dich, hat er gesagt. Und du sollst ihn nie vergessen.«
Nie. Nie würde er ihn vergessen.
Kurz darauf begann Tante Gudrun immer öfter zu jammern, sie sei zu alt und zu müde, um ein Kind allein aufzuziehen, außerdem habe sie viel geleistet in ihrem Leben, und es sei ihr Recht, jetzt endlich auch einmal an sich zu denken.
»Wenn ich nur wüßte, was man mit dir macht!« sagte sie immer wieder zu Andreas, der keine Ahnung hatte, was er darauf erwidern sollte.
Glücklicherweise gab es da noch einen Verwandten, einen Cousin von Tante Gudrun und dem Oberstleutnant. Rudolf Bredow war als ganz junger Mann nach Amerika ausgewandert und hatte es dort innerhalb kurzer Zeit zu einem Vermögen gebracht; er war clever und risikofreudig und verwaltete inzwischen ein Imperium, Bredow Industries, wozu eine Hotelkette, Restaurants, Ölfelder in Texas und eine private Fluggesellschaft gehörten. Andreas hatte den legendären Onkel Rudolf nie gesehen, wußte aber, daß er als schwarzes Schaf galt, denn soviel Geschäftemacherei war in der Familie als ordinär verpönt. Das hinderte Tante Gudrun aber natürlich nicht daran, Kontakt mit ihrem Cousin aufzunehmen und ihm brieflich so lange zuzusetzen, bis er sich bereit erklärte, die Vollwaise bei sich aufzunehmen. Er hatte keine eigenen Kinder, seine Frau Judith wünschte sich jedoch lange schon eines, und so schien das eine vernünftige Lösung. Tante Gudrun war ganz aufgeregt. »Du ziehst das große Los, Andreas, das ist dir hoffentlich klar! Am Ende erbst du einmal alles. Vielleicht denkst du dann mal an deine Tante Gudrun! Du hast ja keine Ahnung, wie dankbar du mir sein kannst!«
Benommen erlebte Andreas die sich überschlagenden Ereignisse. Ehe er es sich versah, war eine Schiffspassage für ihn gebucht, standen seine Koffer gepackt im Hausflur. Er war außer sich vor Kummer, weil er Christine verlassen mußte, um die er sich Sorgen machte und die er am liebsten mitgenommen hätte, anstatt sie im Hitler-Deutschland zurückzulassen. Die Gestapo war noch einmal erschienen und hatte sie und ihre Mutter verhört. Es kam Andreas fast wie ein Verrat vor, sich über den Atlantik hinweg abzusetzen.
Rudolf und Judith Bredow nahmen ihn mit offenen Armen auf, und besonders Judith liebte ihn von der ersten Sekunde an mit aller Zärtlichkeit. Tragischerweise kam diese Liebe zu spät, um Andreas aus seiner Einsamkeit und Verstörtheit zu befreien, um gutzumachen, was er als Kind an Verlassenheitsgefühlen und Kälte hatte durchstehen müssen. Immer häufiger befielen ihn schwermütige Stimmungen. Er bemühte sich, sein Traurig-sein nicht zu zeigen, weil er wußte, daß Judith darunter litt, aber es war ihm an den Augen abzulesen. Manchmal dachte er, es wäre vielleicht besser, wenn er Christine bei sich hätte, und dann dachte er an die Nachmittage, die sie miteinander verbracht, an die Geheimnisse, die sie geteilt hatten, und Sehnsucht und Kummer überwältigten ihn. Überdies hörte man immer Schlimmeres aus Deutschland, je mehr die Zeit voranschritt, die Städte wurden bombardiert, Tausende starben bei Luftangriffen. Beklommen fragte er sich immer wieder, ob Christine und ihre Mutter immer noch in Berlin säßen oder ob sie sich auf dem Land in Sicherheit gebracht hätten.
New York bedeutete für Andreas den Eintritt in eine neue Welt, ein Leben hoch über dem Central Park, Ferientage auf Martha's Vineyard oder auf der texanischen Ranch, es bedeutete Private School und später ein wirtschaftswissenschaftliches und juristisches Studium in Harvard, feine Restaurants und Bälle, Chauffeur, eigenes Bad und Tennisstunden. An seinen Geburtstagen durfte er seine Schulfreunde einladen, und für alle gab es Eis und Glückslose, und Judith selbst unterhielt die ganze Gesellschaft mit Spielen. Alles, was sie an Gefühlen zu geben hatte, schenkte sie dem fremden Kind. Andreas dankte es ihr mit Anhänglichkeit und Treue, und das einzige, was er ihr nicht geben konnte, und was sie sich so sehr gewünscht hätte, war die natürliche, unbeschwerte Fröhlichkeit eines heranwachsenden Jungen.
»Du bist zu ernst für dein Alter«, sagte sie oft. »Was macht dich so traurig?«
Er lächelte nur, aber er hätte ihr antworten können: Meine Traurigkeit wird mich begleiten, solange ich lebe.
An seinem achtzehnten Geburtstag - es war im Mai 1945, und Deutschland hatte gerade kapituliert - ließ Rudolf seinen Stiefsohn in sein Arbeitszimmer kommen und reichte ihm einen dicken Briefumschlag. »Für dich, Andreas«, sagte er, »eine Kopie meines Testaments. Ich habe dich zu meinem Alleinerben gemacht. Alles, was mir gehört, sollst du einmal bekommen.«
Alles, was ihm gehörte, waren Millionen. Andreas wollte etwas sagen, aber Rudolf winkte ab. »Ich täte es nicht, wenn ich nicht wüßte, daß du damit umgehen kannst. Du hast immer wieder deinen Verstand und deine Zuverlässigkeit bewiesen. Ich habe großes Vertrauen in dich, Andreas.«
»Glaubst du wirklich, ich bin all dem gewachsen?« fragte Andreas zweifelnd.
»Ich bin felsenfest davon überzeugt«, erwiderte Rudolf. Andreas war fünfundzwanzig, als Judith an einem Gehirntumor starb. Vier Jahre später kam Rudolf bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben. Er lag noch einen Tag lang schwerverletzt in einem texanischen Krankenhaus, und als er, kurz bevor er starb, noch einmal das Bewußtsein erlangte, sah er Andreas, der sofort aus New York gekommen war und nun an seinem Bett saß. »Andreas, du solltest heiraten«, sagte er, »und Kinder haben. Allein sein ist nicht gut.«
Andreas erinnerte sich dieser Worte in den folgenden Jahren immer wieder, wenn ihm die Einsamkeit weh tat und er mit zusammengebissenen Zähnen durch seine Depressionen ging. Er stürzte sich in seine Arbeit, sorgte dafür, daß er auch an den Wochenenden keinen Moment unbeschäftigt war. Seine Sekretärinnen stöhnten, weil er soviel Streß verursachte. Im Sommer 1967, Andreas war gerade vierzig, erlitt er einen Herzinfarkt. »Wenn's geht«, sagte sein Arzt betont, »dann möglichst keinen zweiten, Mr. Bredow. Sie sind zu jung, als daß Ihre Pumpe jetzt schon schlappmachen sollte.«
Copyright © 1991/2011 by Blanvalet Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Das neue Jahr war fünf Minuten alt, und über New York rasten die bunten Feuerwerkskörper in den Himmel, als Andreas Bredow einen stechenden Schmerz in der linken Brust spürte und für Sekunden um Atem rang. Am ganzen Körper brach ihm der Schweiß aus. Dann war es vorbei, so plötzlich, wie es gekommen war, aber kaum hatte er tief Luft geholt und sich wieder in seinen Sessel zurückgelehnt, setzte der Schmerz erneut ein, ein krampfartiger, furchtbarer Schmerz, der ihm die Kehle zuschnürte und ihm ein Zittern durch Arme und Beine jagte. Er preßte beide Hände gegen die Brust, krümmte sich zusammen.
Ein Infarkt. Es konnte nur ein Infarkt sein.
Seit Jahren verfolgte ihn die Angst, ihm könnte so etwas passieren. Er war infarktgefährdet, das hatte ihm sein Arzt immer wieder gesagt. Herztabletten und Kreislaufmittel vervollständigten alle seine Mahlzeiten. Eine gewisse Zuversicht hatte Andreas aus der Tatsache gezogen, daß immer genügend Menschen um ihn sein würden, die ihm helfen könnten. Chauffeur, Butler, Putzfrau, Sekretärin, Dienstmädchen. Und David, der auch nachts in der Wohnung schlief.
Tatsächlich war Andreas Bredow in den letzten Jahren kaum eine Minute allein gewesen, denn wohin hätte ein 61jähriger vollkommen blinder Mann allein auch gehen sollen? Irgend jemand hatte ihn stets an der Hand genommen, immer hinter ihm gestanden. Er brauchte nur zu rufen oder zu klingeln, und ein halbes Dutzend dienstbare Geister stürzte herbei. Immer. Bloß in dieser Nacht nicht. In der Silvesternacht der Jahre 1988/89 war Andreas Bredow, einer der reichsten Männer an der amerikanischen Ostküste, in seinem Nobelappartement hoch über der Fifth Avenue vollkommen allein. Er mußte sich plötzlich übergeben. Das verschaffte ihm eine kurze Erleichterung, in der er einen klaren Gedanken fassen konnte: Er mußte nur den Telefonhörer abheben und die 1 drükken, dann war er mit dem Portier unten in der Eingangshalle verbunden. Der Portier kannte die Nummer des Arztes, besaß außerdem die Sicherheitsschlüssel zum Penthouse. Er würde Dr. Harper also auch nach oben bringen können, zwanzig Etagen hoch. Ja, der Portier. Er brauchte nur den Portier.
Das Zimmer, Andreas' Arbeitszimmer mit Blick über den ganzen Central Park, war so eingerichtet, daß sich alle Möbel entlang den Wänden aufreihten und sich in der Mitte des Raumes nichts befand. Andreas konnte sich daher rasch und ohne zu stolpern bewegen. Jetzt schien sich alles um ihn zu drehen. Auf Händen und Füßen kroch er über den Teppich, einen Perser, alt und sehr kostbar. Die Schmerzen waren kaum mehr auszuhalten. Irgendwo mitten im Zimmer brach er zusammen, lag gekrümmt wie ein Embryo, spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen, griff mit der Hand an den Hals, zerrte die Krawatte herab.
Ich sterbe. Ich sterbe. Ich sterbe.
Die Todesangst trieb ihn, weiterzukriechen. Bis zum Schreibtisch... dort stand das Telefon... wenn er das Telefon erreichte... Krachend und tosend zerbarsten draußen die Silvesterraketen. Es war ihm, als hätten sich die Bilder früherer Neujahrsnächte tief in seine Erinnerungen eingebrannt und als könnte er die roten Blitze, die grünen Sterne, die goldenen Feuer am schwarzen Himmel sehen. Röchelnd, halb besinnungslos vor Schmerz, tastete er nach der Schreibtischkante, zog sich an ihr hoch. Seine Hand griff nach dem Telefonhörer und erstarrte.
Das Telefon stand nicht an seinem Platz!
Natürlich glaubte er sofort, er habe sich getäuscht. Er war an der falschen Seite des Schreibtischs angelangt. Schwindel und Atemnot hatten ihn durcheinandergebracht. Er wußte nicht mehr, wo oben und unten, wo rechts und links war.
Jesus, wenn nur der Schmerz nachließe! Er hätte in sein Herz hineinfassen, es mit beiden Händen umklammern, ihm Platz und Raum schaffen mögen, damit es wieder frei schlagen konnte. Vor dem Schreibtisch kniend, versuchte er es noch einmal, ließ seine Hand zitternd über die Schreibplatte tasten. Das Diktiergerät... die gerahmte Fotografie seiner Eltern... die Schale mit Bleistiften... aber dann mußte hier das Telefon stehen! Er schluchzte auf und versuchte, die Einrichtung zu rekonstruieren: Hinter ihm lag die Sitzecke, dann war vor ihm das Fenster, dann war rechts die Lampe, dann war links, verdammt noch mal, das Telefon!
Nachdem er ein zweites Mal erbrochen hatte, rutschte er zu Boden. Seine Wange kam auf seiner Hand zu liegen, und der schwere goldene Ring, den er von seinem Vater geerbt hatte, schnitt in seine Haut.
Der Ring rief jäh eine Erinnerung in ihm wach. Obwohl die Ereignisse beinahe ein halbes Jahrhundert zurücklagen, waren die Bilder so scharf und klar, als seien sie erst gestern entstanden.
Berlin 1940. Er war dreizehn gewesen in jenem Kriegssommer, ein warmer Sommer, wie er noch wußte, und eine Zeit, in der überall noch frohgemut vom Endsieg gesprochen wurde, und die deutschen Truppen von allen Fronten berauschende Erfolge vermelden konnten. Andreas saß oft vor dem Radio, dem Volksempfänger, und lauschte Joseph Goebbels' scharfer Stimme, mit der er die Herrschaft der Deutschen über alle Welt propagierte. Andreas mochte Goebbels nicht, und Adolf Hitler auch nicht. Natürlich hatte er das nie laut geäußert, zumal er nicht genau sagen konnte, worauf sich seine Abneigung gründete. Schließlich veranstaltete die Partei tolle Sachen, gerade für die Jugend. Andreas war im Jungvolk, und da gab es an jedem Wochenende Wanderungen und Zelten, Lagerfeuer, spannende Spiele und Kameradschaft und Tapferkeit. Alles in allem wunderbare Dinge für einen dreizehnjährigen Jungen, aber dahinter stand mehr als einfach nur Spiel und Spaß, und das flößte Andreas oft ein leises Grauen ein. Er war ein aufgewecktes und sehr sensibles Kind, und er witterte eine ungreifbare, unnennbare Gefahr. In jenem Sommer also, genauer gesagt, am 25. Mai, ereigneten sich zwei Dinge: Die eine Angelegenheit betraf Christine, Andreas' Spielgefährtin, sie war Andreas' beste Freundin, Kamera-
din, Vertraute, Mitwisserin aller seiner Seelengeheimnisse. Sie hatten Indianer zusammen gespielt und König und Prinzessin, aber jetzt saßen sie oft auch nur einfach stundenlang zusammen und redeten, besonders dann, wenn Andreas schwermütig und traurig war, wenn kein Mensch ihn verstand außer Christine. Sie war die Stärkere von beiden, aber an diesem Tag erschien sie mit verweinten Augen und aufgelösten Zöpfen. »Sie haben meinen Vater verhaftet, Andreas! Sie haben meinen Vater verhaftet!«
»Wer?«
»Die Gestapo. Heute in aller Frühe. Sie haben unser ganzes Haus verwüstet und ihn dann weggezerrt. Andreas, was soll ich tun?«
»Warum haben sie ihn verhaftet, Christine?«
Christine fing wieder an zu schluchzen. »Weil er gegen Adolf Hitler ist. Er sagt, Hitler ist ein Verbrecher, der uns alle ins Unglück stürzt. Und jemand hat ihn angezeigt deswegen... Andreas, ich habe solche Angst.«
Er legte den Arm um sie. »Ich bin bei dir, Christine. Hab keine Angst.« Aber er konnte ihr nicht helfen, das wußte er. Niemand konnte etwas ausrichten gegen die Gestapo. Sie war allmächtig. Man munkelte von Folterkellern, furchtbaren Gefängnissen, Lagern, von Menschen, die nie wiederkehrten. Er sagte: »Sie werden ihn vielleicht nur kurz verhören und dann wieder gehen lassen.« Aber er glaubte es selber nicht. Und Christine auch nicht. Mit einem herzzerreißenden Ausdruck von Trostlosigkeit in den Augen sagte sie, sie sei überzeugt, ihr Vater werde niemals zurückkommen. Dann schlich sie nach Hause, denn sie mußte sich um ihre Mutter kümmern, die wie erstarrt in ihrer Wohnung saß und nicht faßte, was passiert war.
Wie sich später herausstellte, kam Christines Vater tatsächlich nicht zurück; seine Spur ließ sich in eines der berüchtigten Todeslager verfolgen und verlor sich dort. Und es schien wie ein merkwürdiges Spiel des Schicksals, daß Andreas am selben Tag erfuhr, daß sein Vater in Frankreich gefallen war.
Tante Gudrun sagte es ihm, als er abends nach Hause kam. Sie tat es auf die ihr eigene, unsensible, ungeschickte Art. Erst druckste sie ewig lange herum, wich aus und redete etwas von Tapferkeit und deutschem Heldentum (Tante Gudrun war eine gute Patriotin!), und als Andreas schon ganz aufgelöst war und lauter schreckliche Dinge vermutete, sagte sie unvermittelt: »Ja, also, da ist ein Telegramm gekommen heute. Dein Vater ist gefallen, Andreas. Man kann nichts mehr tun.« Dann drehte sie sich wieder zu ihrem Herd um und rührte verbissen in einem großen Kochtopf, unfähig, das blasse, erschreckte Kind, das fassungslos hinter ihr stand, auch nur anzusehen, geschweige denn, es in die Arme zu nehmen oder ihm wenigstens über die Haare zu streichen.
Alles, was Andreas in diesen Minuten denken konnte, war: Nun habe ich niemanden mehr. Niemanden auf der Welt.
Andreas' Mutter war bei seiner Geburt gestorben, und seinen Vater, den Oberstleutnant Bredow, hatte die Situation, allein für ein Baby sorgen zu müssen, vollkommen überfordert. Er war Offizier von altem preußischem Schlag, ernst, korrekt und pflichtbewußt, immer ein wenig streng und unnahbar. Im Innern empfand er sowohl Stolz als auch Liebe für seinen kleinen Sohn, aber er sah sich völlig außerstande, dem Kind das zu vermitteln. Er besorgte eine Kinderschwester, bezahlte sie fürstlich, zog sich erleichtert zurück und ließ sie vergleichsweise unbeaufsichtigt tun, was sie tun wollte.
Natürlich blieb es nicht bei einer; Aufsichtspersonen dieser Art pflegen häufig aus den verschiedensten Gründen zu wechseln, und bis zu seinem achten Lebensjahr hatte Andreas bereits sieben »Fräuleins« um sich gehabt und seinen Vater nur sehr selten gesehen. Er verehrte und bewunderte diesen Mann, der immer eine so schöne Uniform trug und stets würdevoll und ruhig auftrat, und oft weinte er sich abends in den Schlaf, weil er gedacht hatte, sein Vater käme heute und würde ihm gute Nacht sagen, er aber war wieder einmal nicht erschienen.
Von den Kinderschwestern gab es nur eine, die Andreas wirklich mochte, und die blieb nur ein halbes Jahr, dann heiratete sie und ging fort von Berlin. Alle anderen hatten irgendeinen Fehler. Eine war trocken und humorlos und schüchterte das Kind immer nur ein, eine andere lachte ständig überdreht und redete so viel, daß man Kopfweh davon bekam. Eine ließ ihn völlig verwahrlosen und wurde schließlich gefeuert, eine klaute wie ein Rabe. Die letzte hatte einen Freund, der immer im Hause Bredow herumlungerte, wenn der Oberstleutnant nicht da war, und der Andreas sagte, er werde ihn »abmurksen«, wenn er das seinem Vater petzte. Andreas beobachtete die beiden einmal, während sie sich auf dem Wohnzimmerteppich liebten; er reagierte mit einem Schock, bekam nächtliche Alpträume und behielt kein Essen mehr bei sich. Nicht einmal dem fast ständig abwesenden Oberstleutnant konnte das verborgen bleiben, und schließlich brachte er aus dem Sohn heraus, was passiert war. Damit war das Ende der Kindermädchen gekommen, und Tante Gudrun trat auf den Plan.
Bei Tante Gudrun stand jedenfalls nicht zu erwarten, daß sie sich irgendeinem unmoralischen Tun hingeben würde. Sie war des Oberstleutnants ältere Schwester und eine typische alte Jungfer. Sie haßte alle Männer - hauptsächlich deshalb, weil sich nie einer um sie bemüht hatte -, und sie war verbissen darum bemüht, den Makel ihrer Ehelosigkeit durch besonderen Fleiß und unsagbare Tüchtigkeit auszugleichen. Sie zog in das Haus ihres Bruders mit Sack und Pack ein, versäumte es aber von da an keinen einzigen Tag, alle Welt darauf hinzuweisen, welch ungeheures Werk der Nächstenliebe sie damit tat. Der Satz, den Klein-Andreas von nun an am häufigsten zu hören bekam, lautete: »Du weißt überhaupt nicht, wie dankbar du mir sein kannst!«
Als der Krieg begann und der Oberstleutnant an die Front mußte, wurde Andreas' Einsamkeit noch größer. Sein Leben war zwar ausgefüllt mit Schule und Jungvolk und Christine, aber es gab keinen erwachsenen Menschen mehr, dem er Vertrauen und Liebe entgegenbringen, an dem er sich orientieren konnte. Alles, woran er festhielt, war der Gedanke: Bald ist der Krieg vorbei und Vater kommt zurück!
Nun war Vater tot. Für sein ganzes Leben würde ihm die Szene dieses Abends gegenwärtig bleiben. Der blaßblaue Abendhimmel jenseits des Fensters, ein paar rot angestrahlte Wolken, drinnen der Geruch nach Eintopf und Schweiß. Tante Gudrun verausgabte sich immer vollkommen bei der Arbeit. Andreas sah nur ihren breiten Rücken, die dicken, roten Arme, die sich beinahe wütend bewegten. Ohne ihn anzusehen sagte sie: »Die Frage ist, was nun aus dir werden soll!«
Nie würde er das Gefühl völliger Hilflosigkeit vergessen, das ihn in diesem Augenblick befiel.
Eine Woche später erschien ein junger Soldat im Hause Bredow. Er hatte die letzten Minuten des Oberstleutnants miterlebt und berichtete, die Gedanken des Sterbenden hätten dem Sohn gegolten.
»Er war besorgt um dich. Er sagte mir, ich solle dich von ihm grüßen und dir sagen, daß er dich sehr liebt. Und er gab mir das hier für dich.« Der Soldat griff in seine Jackentasche und zog etwas hervor. Es war der goldene Ring, den der Vater immer getragen hatte und der in der Familie Bredow schon seit Generationen vom Vater an den jeweils ältesten Sohn weitergegeben wurde. »Der ist jetzt für dich, hat er gesagt. Und du sollst ihn nie vergessen.«
Nie. Nie würde er ihn vergessen.
Kurz darauf begann Tante Gudrun immer öfter zu jammern, sie sei zu alt und zu müde, um ein Kind allein aufzuziehen, außerdem habe sie viel geleistet in ihrem Leben, und es sei ihr Recht, jetzt endlich auch einmal an sich zu denken.
»Wenn ich nur wüßte, was man mit dir macht!« sagte sie immer wieder zu Andreas, der keine Ahnung hatte, was er darauf erwidern sollte.
Glücklicherweise gab es da noch einen Verwandten, einen Cousin von Tante Gudrun und dem Oberstleutnant. Rudolf Bredow war als ganz junger Mann nach Amerika ausgewandert und hatte es dort innerhalb kurzer Zeit zu einem Vermögen gebracht; er war clever und risikofreudig und verwaltete inzwischen ein Imperium, Bredow Industries, wozu eine Hotelkette, Restaurants, Ölfelder in Texas und eine private Fluggesellschaft gehörten. Andreas hatte den legendären Onkel Rudolf nie gesehen, wußte aber, daß er als schwarzes Schaf galt, denn soviel Geschäftemacherei war in der Familie als ordinär verpönt. Das hinderte Tante Gudrun aber natürlich nicht daran, Kontakt mit ihrem Cousin aufzunehmen und ihm brieflich so lange zuzusetzen, bis er sich bereit erklärte, die Vollwaise bei sich aufzunehmen. Er hatte keine eigenen Kinder, seine Frau Judith wünschte sich jedoch lange schon eines, und so schien das eine vernünftige Lösung. Tante Gudrun war ganz aufgeregt. »Du ziehst das große Los, Andreas, das ist dir hoffentlich klar! Am Ende erbst du einmal alles. Vielleicht denkst du dann mal an deine Tante Gudrun! Du hast ja keine Ahnung, wie dankbar du mir sein kannst!«
Benommen erlebte Andreas die sich überschlagenden Ereignisse. Ehe er es sich versah, war eine Schiffspassage für ihn gebucht, standen seine Koffer gepackt im Hausflur. Er war außer sich vor Kummer, weil er Christine verlassen mußte, um die er sich Sorgen machte und die er am liebsten mitgenommen hätte, anstatt sie im Hitler-Deutschland zurückzulassen. Die Gestapo war noch einmal erschienen und hatte sie und ihre Mutter verhört. Es kam Andreas fast wie ein Verrat vor, sich über den Atlantik hinweg abzusetzen.
Rudolf und Judith Bredow nahmen ihn mit offenen Armen auf, und besonders Judith liebte ihn von der ersten Sekunde an mit aller Zärtlichkeit. Tragischerweise kam diese Liebe zu spät, um Andreas aus seiner Einsamkeit und Verstörtheit zu befreien, um gutzumachen, was er als Kind an Verlassenheitsgefühlen und Kälte hatte durchstehen müssen. Immer häufiger befielen ihn schwermütige Stimmungen. Er bemühte sich, sein Traurig-sein nicht zu zeigen, weil er wußte, daß Judith darunter litt, aber es war ihm an den Augen abzulesen. Manchmal dachte er, es wäre vielleicht besser, wenn er Christine bei sich hätte, und dann dachte er an die Nachmittage, die sie miteinander verbracht, an die Geheimnisse, die sie geteilt hatten, und Sehnsucht und Kummer überwältigten ihn. Überdies hörte man immer Schlimmeres aus Deutschland, je mehr die Zeit voranschritt, die Städte wurden bombardiert, Tausende starben bei Luftangriffen. Beklommen fragte er sich immer wieder, ob Christine und ihre Mutter immer noch in Berlin säßen oder ob sie sich auf dem Land in Sicherheit gebracht hätten.
New York bedeutete für Andreas den Eintritt in eine neue Welt, ein Leben hoch über dem Central Park, Ferientage auf Martha's Vineyard oder auf der texanischen Ranch, es bedeutete Private School und später ein wirtschaftswissenschaftliches und juristisches Studium in Harvard, feine Restaurants und Bälle, Chauffeur, eigenes Bad und Tennisstunden. An seinen Geburtstagen durfte er seine Schulfreunde einladen, und für alle gab es Eis und Glückslose, und Judith selbst unterhielt die ganze Gesellschaft mit Spielen. Alles, was sie an Gefühlen zu geben hatte, schenkte sie dem fremden Kind. Andreas dankte es ihr mit Anhänglichkeit und Treue, und das einzige, was er ihr nicht geben konnte, und was sie sich so sehr gewünscht hätte, war die natürliche, unbeschwerte Fröhlichkeit eines heranwachsenden Jungen.
»Du bist zu ernst für dein Alter«, sagte sie oft. »Was macht dich so traurig?«
Er lächelte nur, aber er hätte ihr antworten können: Meine Traurigkeit wird mich begleiten, solange ich lebe.
An seinem achtzehnten Geburtstag - es war im Mai 1945, und Deutschland hatte gerade kapituliert - ließ Rudolf seinen Stiefsohn in sein Arbeitszimmer kommen und reichte ihm einen dicken Briefumschlag. »Für dich, Andreas«, sagte er, »eine Kopie meines Testaments. Ich habe dich zu meinem Alleinerben gemacht. Alles, was mir gehört, sollst du einmal bekommen.«
Alles, was ihm gehörte, waren Millionen. Andreas wollte etwas sagen, aber Rudolf winkte ab. »Ich täte es nicht, wenn ich nicht wüßte, daß du damit umgehen kannst. Du hast immer wieder deinen Verstand und deine Zuverlässigkeit bewiesen. Ich habe großes Vertrauen in dich, Andreas.«
»Glaubst du wirklich, ich bin all dem gewachsen?« fragte Andreas zweifelnd.
»Ich bin felsenfest davon überzeugt«, erwiderte Rudolf. Andreas war fünfundzwanzig, als Judith an einem Gehirntumor starb. Vier Jahre später kam Rudolf bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben. Er lag noch einen Tag lang schwerverletzt in einem texanischen Krankenhaus, und als er, kurz bevor er starb, noch einmal das Bewußtsein erlangte, sah er Andreas, der sofort aus New York gekommen war und nun an seinem Bett saß. »Andreas, du solltest heiraten«, sagte er, »und Kinder haben. Allein sein ist nicht gut.«
Andreas erinnerte sich dieser Worte in den folgenden Jahren immer wieder, wenn ihm die Einsamkeit weh tat und er mit zusammengebissenen Zähnen durch seine Depressionen ging. Er stürzte sich in seine Arbeit, sorgte dafür, daß er auch an den Wochenenden keinen Moment unbeschäftigt war. Seine Sekretärinnen stöhnten, weil er soviel Streß verursachte. Im Sommer 1967, Andreas war gerade vierzig, erlitt er einen Herzinfarkt. »Wenn's geht«, sagte sein Arzt betont, »dann möglichst keinen zweiten, Mr. Bredow. Sie sind zu jung, als daß Ihre Pumpe jetzt schon schlappmachen sollte.«
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Autoren-Porträt von Charlotte Link
Charlotte Link, geboren in Frankfurt/Main, ist die erfolgreichste deutsche Autorin der Gegenwart. Ihre Kriminalromane sind internationale Bestseller, auch »Ohne Schuld« und zuletzt »Einsame Nacht« eroberten wieder auf Anhieb die SPIEGEL-Bestsellerliste. Allein in Deutschland wurden bislang über 33 Millionen Bücher von Charlotte Link verkauft; ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Charlotte Link lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Charlotte Link
- 2011, Neuveröffentlichung, 523 Seiten, Maße: 11,9 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442377323
- ISBN-13: 9783442377329
- Erscheinungsdatum: 11.05.2011
Rezension zu „Schattenspiel “
"Psychologisch raffiniert erzählt, spannend aufgebaut, mit einem Netz voller Verstrickungen."
Pressezitat
"Psychologisch raffiniert erzählt, spannend aufgebaut, mit einem Netz voller Verstrickungen." Centaur
Kommentar zu "Schattenspiel"