Schöne neue Welt
Ein Roman der Zukunft
1932 erschien eines der größten utopischen Bücher des 20. Jahrhunderts: ein heimtückisch verführerischer Aufriss unserer Zukunft, in der das Glück verabreicht wird wie eine Droge. Sex und Konsum fegen alle Bedenken hinweg und Reproduktionsfabriken haben das...
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Produktinformationen zu „Schöne neue Welt “
Klappentext zu „Schöne neue Welt “
1932 erschien eines der größten utopischen Bücher des 20. Jahrhunderts: ein heimtückisch verführerischer Aufriss unserer Zukunft, in der das Glück verabreicht wird wie eine Droge. Sex und Konsum fegen alle Bedenken hinweg und Reproduktionsfabriken haben das Fortpflanzungsproblem gelöst. Es ist die beste aller Welten - bis einer hinter die Kulissen schaut und einen Abgrund aus Arroganz und Bosheit entdeckt.Endlich erscheint die längst fällige Neuübersetzung von Uda Strätling. Das prophetische Buch, dessen Aktualität jeden Tag aufs neue bewiesen wird, erhält eine sprachlich zeitgemäße Gestalt.
Lese-Probe zu „Schöne neue Welt “
Schöne Neue Welt von Aldous HuxleyKapitel I
Der große Raum im Erdgeschoss ging nach Norden. Kalt starrte, trotz des Sommers hinter den Scheiben, trotz der tropischen Hitze im Raum selbst, ein dürres, hartes Licht zu den Fenstern herein, suchte nach drapierten Gliederpuppen, nach der bleichen Gänsehaut erforschter Körper, fand aber nur Glas, Nickel und das kahl schimmernde Porzellan eines Labors. Der einen Wintrigkeit entsprach die andere. Die Overalls der Laborkräfte waren weiß, ihre Hände von fahlem, leichenfarbenem Gummi umschlossen. Das Licht war gefroren, tot, ein Gespenst. Nur den gelben Tuben der Mikroskope entlehnte es ein wenig Leben, legte sich Strich um satten Strich wie Butter auf die Röhren der langen, blanken Batterie auf den Labortischen.
»Und dies«, sagte der Direktor, indem er die Tür aufstieß, »ist die Fertilisationsstation.«
Tief über ihre Instrumente gebeugt, waren die dreihundert Fertilisatoren ganz bei der Sache, als der Direktor City-Brüter und Konditionierungscenter den Raum betrat - mit angehaltenem Atem oder unter abwesendem, einem Selbstgespräch ähnelnden Pfeifen beziehungsweise dem Summen höchster Konzentration. Ein Pulk neuer Studenten, sehr jung, rosig und unreif, folgte dem Direktor nervös und ziemlich devot auf den Fersen. Alle hatten sie Notizbücher dabei, in die sie, wann immer der große Mann sprach, eifrig kritzelten. Aus berufenem Munde. Seltenes Privileg. Der DCK London bestand stets darauf, Studienanfänger persönlich durch die Abteilungen des Centers zu führen.
... mehr
»Damit Sie sich ein allgemeines Bild machen können«, sagte er ihnen dann. Ein allgemeines Bild mussten sie schließlich schon haben, wenn sie qualifizierte Arbeit leisten sollten - allerdings, da aus ihnen ja gute, glückliche Mitglieder der Gesellschaft werden sollten, eben so allgemein wie nur möglich. Denn der Schlüssel zu Tugend und Glück liegt, wie wir wissen, im Besonderen; das Allgemeine ist ein intellektuell notwendiges Übel. Nicht Philosophen, sondern Laubsäger und Briefmarkensammler bilden das Rückgrat der Gesellschaft.
»Ab morgen«, fügte er gerne an und lächelte seinen Studenten mit fast verhängnisvoller Leutseligkeit zu, »werden Sie sich reinknien müssen, da wird Ihnen für das Allgemeine keine Zeit bleiben. Bis dahin aber ...«
Bis dahin war es ein seltenes Privileg. Aus berufenem Munde direkt ins Notizbuch. Die Neulinge kritzelten wie verrückt.
Hochgewachsen und etwas hager, aber sehr aufrecht führte sie der Direktor hinein. Er hatte ein langes Kinn, große Zähne und einen ausgeprägten Überbiss, den seine vollen, üppig geschwungenen Lippen gerade noch bedeckten, wenn er nicht sprach. Alt, jung? Dreißig, fünfzig, fünfundfünfzig? Schwer zu sagen. Außerdem stellte sich die Frage nicht; in diesem ihrem Jahr der Stabilität, 632 n.F., wäre sie niemandem in den Sinn gekommen.
»Ich fange am Anfang an«, verkündete der DCK, und die Streber unter den Zuhörern hielten seine Absicht in ihren Notizbüchern fest: Fange am Anfang an. »Das ...«, er wedelte mit der Hand, »sind die Inkubatoren.« Er zog eine Schutztür auf und zeigte ihnen unzählige Stellagen nummerierter Reagenzröhrchen. »Die wöchentliche Lieferung Ova«, erklärte er, »die wir hier bei Körpertemperatur lagern, während die männlichen Gameten«, er zog eine weitere Tür auf, »von siebenunddreißig auf fünfunddreißig Grad runtergeregelt werden. Volle Körpertemperatur macht steril.« Thermowäsche macht den Bock zum Hammel, aber keine Lämmer.
Sich mit einer Hand an den Inkubatoren abstützend, gab er ihnen, während Bleistifte unleserlich über Seiten hasteten, einen kurzen Abriss des modernen Fertilisationsprozesses, sprach zunächst, natürlich, von seinem operativen Vorlauf - »dem freiwilligen Eingriff zum Wohle der Gesellschaft, mal ganz abgesehen von der Prämie eines Halbjahresgehalts -«; ging dann über zu einer Grobskizzierung der zur Erhaltung lebensfähiger, ja aktiv sich fortentwickelnder Eierstöcke eingesetzten Technik; holte zu einer Erläuterung optimaler Temperatur, Salinität, Viskosität aus; sprach von dem Liquor, in den die extrahierten und gereiften Eizellen gelegt wurden; und demonstrierte gleich darauf, indem er seine Schützlinge an die Labortische führte, wie der Liquor aus den Reagenzröhrchen auf die vorgewärmten Objektträger der Mikroskope geträufelt wurde; wie die enthaltenen Eizellen auf Defekte untersucht, gezählt und in einen porösen Behälter transferiert wurden; wie dieser (dabei zog er mit ihnen zum entsprechenden Arbeitsgang weiter) in eine temperierte Nährbouillon mit frei schwimmenden Spermatozoen getaucht wurde - bei einer Mindestkonzentration von hunderttausend pro ccm, wie er betonte -; und wie der Behälter dann nach zehn Minuten der Nährlösung wieder entnommen und sein Inhalt erneut untersucht wurde; wie in der Folge, sofern noch Eizellen unbefruchtet geblieben waren, der Tauchgang wiederholt wurde, und gegebenenfalls noch ein drittes Mal; wie daraufhin die befruchteten Eizellen in die Inkubatoren zurückgelegt wurden, wo Alphas und Betas nun bleiben würden, bis man sie auf Flaschen zog, während man Gammas, Deltas und Epsilons nach nur sechsunddreißig Stunden wieder entfernte und dem Bokanowski-Verfahren unterzog.
»Dem Bokanowski-Verfahren«, betonte der Direktor, und die Studenten unterstrichen die Worte in ihren kleinen Notizbüchern.
Eine Eizelle, ein Embryo, ein Erwachsener - im Normalfall. Eine bokanowskifizierte Keimzelle dagegen knospe und proliferiere. Acht bis sechsundneunzig Zellknospen, und aus jeder entstehe ein tadellos gebildeter Embryo, aus jedem Embryo ein normalgroßer Erwachsener. Also sechsundneunzig menschliche Wesen, wo zuvor nur eines entstanden war. Fortschritt.
»Im Wesentlichen«, schloss der DCK seinen Vortrag, »besteht die Bokanowskifizierung aus einer Reihe entwicklungshemmender Schritte. Wir blockieren den Reifungsprozess, und paradoxerweise reagiert die Keimzelle mit Vermehrung durch Zellknospung.«
Er zeigte dorthin, wo auf einem sehr langsam laufenden Band eine voll beschickte Reagenzstellage in einen großen Stahlkasten befördert wurde, aus dem ein zweiter gerade wieder auftauchte. Maschinen surrten leise. Acht Minuten seien die Reagenzröhrchen darin unterwegs, sagte er ihnen. Acht Minuten starke Röntgenstrahlung seien das Äußerste, was eine Eizelle verkrafte. Einige stürben ab, von den übrigen bildeten die unempfindlichsten zwei, die meisten vier, manche auch acht Zellknospen; sie alle kämen daraufhin wieder in die Inkubatoren, wo die neuen Knospen sich weiterentwickelten, bis sie nach zwei Tagen heruntergekühlt würden, heruntergekühlt und gehemmt. Dann träten aus zwei, vier, acht Zellknospen wiederum Knospen aus, die mit einer nahezu tödlichen Dosis Alkohol behandelt würden und sich daraufhin neuerlich vermehrten: Knospe aus Knospe aus Knospe, die fortan - da weitere Wachstumsblockaden sich in der Regel als fatal erwiesen - in Ruhe reifen dürften. Unterdessen seien also aus dem ursprünglichen einen Ei acht bis sechsundneunzig Embryonen geworden - ein ungeheurer Fortschritt, nicht wahr, gegenüber der Natur. Eineiige Zwillinge - aber nicht die albernen Zweier- und Dreierpacks vergangener viviparer Tage, als eine Eizelle sich gelegentlich spontan geteilt habe, sondern gleich im Dutzend, in Mengen.
»Mengen«, wiederholte der Direktor und warf die Arme auseinander, als verteile er Spendabilität. »Mengen.«
Einer der Studenten aber war so unvorsichtig zu fragen, worin denn dabei der Vorteil liege.
»Mein lieber Junge!« Der Direktor schoss sich sofort auf ihn ein. »Verstehen Sie denn nicht? Verstehen Sie nicht?« Er hob mit feierlich ernster Miene die Hand. »Bokanowskis Verfahren ist ein Hauptinstrument gesellschaftlicher Stabilität! «
Hauptinstrument gesellschaftlicher Stabilität.
Genormte Männer und Frauen in konstanten Mengen. Aus einer einzigen bokanowskifizierten Eizelle die Belegschaft eines mittelgroßen Werks.
»Sechsundneunzig identische Zwillinge bemannen sechsundneunzig identische Maschinen!« Die Stimme bebte förmlich vor Begeisterung. »Da weiß man doch wirklich, was man hat. Zum ersten Mal in der Geschichte.« Er zitierte den planetarischen Wahlspruch: »Kollektivität, Identität, Stabilität.« Große Worte. »Könnten wir endlos bokanowskifizieren, alle unsere Probleme wären gelöst.«
Gelöst durch genormte Gammas, standardisierte Deltas, Einheits-Epsilons. Millionen eineiiger Zwillinge. Das Prinzip der Massenproduktion übertragen auf die Biologie.
»Doch leider«, der Direktor wiegte den Kopf hin und her, »können wir eben nicht endlos bokanowskifizieren.«
Sechsundneunzig schien die Obergrenze zu sein, zweiundsiebzig guter Durchschnitt. Aus ein und demselben Eierstock und mit Gameten eines einzigen Vertreters des männlichen Geschlechts die maximale Menge eineiiger Zwillinge zu produzieren - das war das Optimum (wenn auch leider suboptimal). Und selbst das war gar nicht so einfach.
»Denn in der Natur vergehen dreißig Jahre, bis zweihundert Eizellen heranreifen. Unsere Aufgabe jedoch ist es, die Bevölkerung zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu stabilisieren, hier und heute. Ein Vierteljahrhundert stockende Zwillingsproduktion - was nützte uns das?«
Fraglos gar nichts. Doch hatte der Reifungsprozess dank der Podsnap-Technik enorm beschleunigt werden können. Inzwischen waren mindestens einhundertundfünfzig Eizellen binnen zwei Jahren garantiert. Fertilisieren und bokanowskifizieren - sprich mit zweiundsiebzig multiplizieren - und man bekam innerhalb von plus minus zwei Jahren im Schnitt nahezu elftausend Brüder und Schwestern in hundertundfünfzig Chargen eineiiger Zwillinge.
»In Ausnahmefällen können wir aus einem einzigen Eierstock über fünfzehntausend Erwachsene gewinnen.«
Er machte einem hellhaarigen, rotbackigen jungen Mann, der soeben vorbeiging, Zeichen. »Mr Foster!«, rief er. Der rotbackige junge Mann kam zu ihnen. »Kennen Sie den Rekord für einen einzigen Eierstock, Mr Foster?«
»Sechzehntausendundzwölf in unserem Center«, antwortete Mr Forster wie aus der Pistole geschossen. Er sprach sehr schnell, hatte lebhafte blaue Augen und offenkundig Freude an Zahlen. »Sechzehntausendundzwölf bei einhundertundneunundachtzig baugleichen Serien. Selbstverständlich sind die Kollegen in einigen tropischen Centern weit erfolgreicher«, sprudelte er. »Singapur erreicht oft sechzehntausendfünfhundert, und Mombasa hat sogar die Siebzehntausendermarke geknackt. Aber die sind auch fein raus. Sie müssten mal sehen, wie ein negrider Eierstock auf Hypophysenpräparate anspricht! Ganz erstaunlich, wenn man nur europäisches Material gewohnt ist. Trotzdem«, fügte er mit einem Lachen (aber auch kämpferisch blitzenden Augen und herausfordernd gehobenem Kinn) hinzu, »sind wir fest entschlossen, sie zu übertreffen. Ich arbeite da gerade an einem herrlichen Delta-Minus- Eierstock. Erst achtzehn Monate alt. Und schon über zwölftausendsiebenhundert Nachkommen, teils dekantiert, teils noch im Embryonalstadium. Und kein Ende abzusehen. Denen zeigen wir's schon noch.«
»Das ist die rechte Einstellung!«, lobte der Direktor und klopfte Mr Foster auf die Schulter. »Begleiten Sie uns doch, und lassen Sie die Jungen von Ihrer Fachkenntnis profitieren. «
Mr Foster lächelte bescheiden. »Mit Vergnügen.« Sie zogen weiter.
An der Füllstation herrschten harmonische Hektik und wohlgeordneter Hochbetrieb. Lappen frischen, passgerecht vorgestanzten Schweinebauchfells sausten per Rohrpost aus dem Organmagazin in einem Untergeschoss herauf. Zzzt und klack!, flogen die Rohrpostklappen auf; der Flaschen- Auskleider brauchte nur die Hand auszustrecken, einen Lappen zu greifen, ihn einzuführen, anzudrücken, und noch ehe die ausgekleidete Ballonflasche auf dem Endlosband außer Reichweite war, zzzt, klack!, kam bereits der nächste Bauchfelllappen aus der Tiefe hochgeschossen und wartete darauf, in eine weitere Flasche eingepasst zu werden, die nächste in der endlos vorrückenden Prozession auf dem Band.
Neben den Auskleidern standen die Matrikulatoren. Die Prozession zog herauf; eine nach der anderen wurden die befruchteten Eizellen aus ihren Reagenzröhrchen in die größeren Ballonflaschen transferiert; der jeweilige Bauchfellnährboden wurde rasch angeritzt, die Morula eingeführt, die Salzlösung eingefüllt ... und schon war die Flasche vorübergezogen, und die Etikettierer kamen zum Einsatz. Heredität, Fertilisationsdatum, Bokanowski- Gruppe - die Daten wurden von den Reagenzröhrchen auf die Flaschen übertragen. Nicht länger anonym, sondern bezeichnet, identifiziert, schob sich die Prozession durch eine Wandschleuse gemächlich weiter zur Sozialprädestinationsstation.
»Achtundachtzig Kubikmeter Registersätze«, verkündete Mr Foster genussvoll bei ihrem Eintreten.
»Mit allen einschlägigen Daten«, fügte der Direktor hinzu.
»Jeden Morgen aktualisiert.«
»Und nachmittags korreliert.«
»Die Basis der Kalkulationen.«
»Soundso viele Einzelwesen der verlangten Qualität«, sagte Mr Foster.
»In der und der Stückmenge geliefert.«
»Fortlaufend optimierte Dekantier-Rate.«
»Unverzüglicher Ausgleich aller Ausfälle.«
»Unverzüglich«, wiederholte Mr Foster. »Wenn Sie wüssten, wie viele Überstunden nach dem jüngsten japanischen Erdbeben bei mir aufgelaufen sind!« Er lachte gutgelaunt und schüttelte den Kopf.
»Die Prädestinatoren legen den Fertilisatoren ihre Zahlen vor.«
»Die ihnen die bestellten Embryonen zuteilen.«
»Und hier landen die Flaschen zur Prädestinationsfeinabstimmung. «
»Um anschließend ins Embryonenmagazin befördert zu werden.«
»Wo wir selbst uns nun hinbegeben wollen.«
Und mit diesen Worten öffnete Mr Foster eine Tür und führte sie eine Treppe tiefer ins Untergeschoss.
Die Temperatur war noch immer tropisch. Sie stiegen in ein sich verdichtendes Zwielicht hinab. Zwei Türen und ein doppelt gewendeter Korridor schirmten das Untergeschoss vor jedem Lichteinfall ab.
»Embryonen sind wie fotografischer Film«, scherzte Mr Foster und stieß die zweite Tür auf. »Sie vertragen nur rotes Licht.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
»Damit Sie sich ein allgemeines Bild machen können«, sagte er ihnen dann. Ein allgemeines Bild mussten sie schließlich schon haben, wenn sie qualifizierte Arbeit leisten sollten - allerdings, da aus ihnen ja gute, glückliche Mitglieder der Gesellschaft werden sollten, eben so allgemein wie nur möglich. Denn der Schlüssel zu Tugend und Glück liegt, wie wir wissen, im Besonderen; das Allgemeine ist ein intellektuell notwendiges Übel. Nicht Philosophen, sondern Laubsäger und Briefmarkensammler bilden das Rückgrat der Gesellschaft.
»Ab morgen«, fügte er gerne an und lächelte seinen Studenten mit fast verhängnisvoller Leutseligkeit zu, »werden Sie sich reinknien müssen, da wird Ihnen für das Allgemeine keine Zeit bleiben. Bis dahin aber ...«
Bis dahin war es ein seltenes Privileg. Aus berufenem Munde direkt ins Notizbuch. Die Neulinge kritzelten wie verrückt.
Hochgewachsen und etwas hager, aber sehr aufrecht führte sie der Direktor hinein. Er hatte ein langes Kinn, große Zähne und einen ausgeprägten Überbiss, den seine vollen, üppig geschwungenen Lippen gerade noch bedeckten, wenn er nicht sprach. Alt, jung? Dreißig, fünfzig, fünfundfünfzig? Schwer zu sagen. Außerdem stellte sich die Frage nicht; in diesem ihrem Jahr der Stabilität, 632 n.F., wäre sie niemandem in den Sinn gekommen.
»Ich fange am Anfang an«, verkündete der DCK, und die Streber unter den Zuhörern hielten seine Absicht in ihren Notizbüchern fest: Fange am Anfang an. »Das ...«, er wedelte mit der Hand, »sind die Inkubatoren.« Er zog eine Schutztür auf und zeigte ihnen unzählige Stellagen nummerierter Reagenzröhrchen. »Die wöchentliche Lieferung Ova«, erklärte er, »die wir hier bei Körpertemperatur lagern, während die männlichen Gameten«, er zog eine weitere Tür auf, »von siebenunddreißig auf fünfunddreißig Grad runtergeregelt werden. Volle Körpertemperatur macht steril.« Thermowäsche macht den Bock zum Hammel, aber keine Lämmer.
Sich mit einer Hand an den Inkubatoren abstützend, gab er ihnen, während Bleistifte unleserlich über Seiten hasteten, einen kurzen Abriss des modernen Fertilisationsprozesses, sprach zunächst, natürlich, von seinem operativen Vorlauf - »dem freiwilligen Eingriff zum Wohle der Gesellschaft, mal ganz abgesehen von der Prämie eines Halbjahresgehalts -«; ging dann über zu einer Grobskizzierung der zur Erhaltung lebensfähiger, ja aktiv sich fortentwickelnder Eierstöcke eingesetzten Technik; holte zu einer Erläuterung optimaler Temperatur, Salinität, Viskosität aus; sprach von dem Liquor, in den die extrahierten und gereiften Eizellen gelegt wurden; und demonstrierte gleich darauf, indem er seine Schützlinge an die Labortische führte, wie der Liquor aus den Reagenzröhrchen auf die vorgewärmten Objektträger der Mikroskope geträufelt wurde; wie die enthaltenen Eizellen auf Defekte untersucht, gezählt und in einen porösen Behälter transferiert wurden; wie dieser (dabei zog er mit ihnen zum entsprechenden Arbeitsgang weiter) in eine temperierte Nährbouillon mit frei schwimmenden Spermatozoen getaucht wurde - bei einer Mindestkonzentration von hunderttausend pro ccm, wie er betonte -; und wie der Behälter dann nach zehn Minuten der Nährlösung wieder entnommen und sein Inhalt erneut untersucht wurde; wie in der Folge, sofern noch Eizellen unbefruchtet geblieben waren, der Tauchgang wiederholt wurde, und gegebenenfalls noch ein drittes Mal; wie daraufhin die befruchteten Eizellen in die Inkubatoren zurückgelegt wurden, wo Alphas und Betas nun bleiben würden, bis man sie auf Flaschen zog, während man Gammas, Deltas und Epsilons nach nur sechsunddreißig Stunden wieder entfernte und dem Bokanowski-Verfahren unterzog.
»Dem Bokanowski-Verfahren«, betonte der Direktor, und die Studenten unterstrichen die Worte in ihren kleinen Notizbüchern.
Eine Eizelle, ein Embryo, ein Erwachsener - im Normalfall. Eine bokanowskifizierte Keimzelle dagegen knospe und proliferiere. Acht bis sechsundneunzig Zellknospen, und aus jeder entstehe ein tadellos gebildeter Embryo, aus jedem Embryo ein normalgroßer Erwachsener. Also sechsundneunzig menschliche Wesen, wo zuvor nur eines entstanden war. Fortschritt.
»Im Wesentlichen«, schloss der DCK seinen Vortrag, »besteht die Bokanowskifizierung aus einer Reihe entwicklungshemmender Schritte. Wir blockieren den Reifungsprozess, und paradoxerweise reagiert die Keimzelle mit Vermehrung durch Zellknospung.«
Er zeigte dorthin, wo auf einem sehr langsam laufenden Band eine voll beschickte Reagenzstellage in einen großen Stahlkasten befördert wurde, aus dem ein zweiter gerade wieder auftauchte. Maschinen surrten leise. Acht Minuten seien die Reagenzröhrchen darin unterwegs, sagte er ihnen. Acht Minuten starke Röntgenstrahlung seien das Äußerste, was eine Eizelle verkrafte. Einige stürben ab, von den übrigen bildeten die unempfindlichsten zwei, die meisten vier, manche auch acht Zellknospen; sie alle kämen daraufhin wieder in die Inkubatoren, wo die neuen Knospen sich weiterentwickelten, bis sie nach zwei Tagen heruntergekühlt würden, heruntergekühlt und gehemmt. Dann träten aus zwei, vier, acht Zellknospen wiederum Knospen aus, die mit einer nahezu tödlichen Dosis Alkohol behandelt würden und sich daraufhin neuerlich vermehrten: Knospe aus Knospe aus Knospe, die fortan - da weitere Wachstumsblockaden sich in der Regel als fatal erwiesen - in Ruhe reifen dürften. Unterdessen seien also aus dem ursprünglichen einen Ei acht bis sechsundneunzig Embryonen geworden - ein ungeheurer Fortschritt, nicht wahr, gegenüber der Natur. Eineiige Zwillinge - aber nicht die albernen Zweier- und Dreierpacks vergangener viviparer Tage, als eine Eizelle sich gelegentlich spontan geteilt habe, sondern gleich im Dutzend, in Mengen.
»Mengen«, wiederholte der Direktor und warf die Arme auseinander, als verteile er Spendabilität. »Mengen.«
Einer der Studenten aber war so unvorsichtig zu fragen, worin denn dabei der Vorteil liege.
»Mein lieber Junge!« Der Direktor schoss sich sofort auf ihn ein. »Verstehen Sie denn nicht? Verstehen Sie nicht?« Er hob mit feierlich ernster Miene die Hand. »Bokanowskis Verfahren ist ein Hauptinstrument gesellschaftlicher Stabilität! «
Hauptinstrument gesellschaftlicher Stabilität.
Genormte Männer und Frauen in konstanten Mengen. Aus einer einzigen bokanowskifizierten Eizelle die Belegschaft eines mittelgroßen Werks.
»Sechsundneunzig identische Zwillinge bemannen sechsundneunzig identische Maschinen!« Die Stimme bebte förmlich vor Begeisterung. »Da weiß man doch wirklich, was man hat. Zum ersten Mal in der Geschichte.« Er zitierte den planetarischen Wahlspruch: »Kollektivität, Identität, Stabilität.« Große Worte. »Könnten wir endlos bokanowskifizieren, alle unsere Probleme wären gelöst.«
Gelöst durch genormte Gammas, standardisierte Deltas, Einheits-Epsilons. Millionen eineiiger Zwillinge. Das Prinzip der Massenproduktion übertragen auf die Biologie.
»Doch leider«, der Direktor wiegte den Kopf hin und her, »können wir eben nicht endlos bokanowskifizieren.«
Sechsundneunzig schien die Obergrenze zu sein, zweiundsiebzig guter Durchschnitt. Aus ein und demselben Eierstock und mit Gameten eines einzigen Vertreters des männlichen Geschlechts die maximale Menge eineiiger Zwillinge zu produzieren - das war das Optimum (wenn auch leider suboptimal). Und selbst das war gar nicht so einfach.
»Denn in der Natur vergehen dreißig Jahre, bis zweihundert Eizellen heranreifen. Unsere Aufgabe jedoch ist es, die Bevölkerung zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu stabilisieren, hier und heute. Ein Vierteljahrhundert stockende Zwillingsproduktion - was nützte uns das?«
Fraglos gar nichts. Doch hatte der Reifungsprozess dank der Podsnap-Technik enorm beschleunigt werden können. Inzwischen waren mindestens einhundertundfünfzig Eizellen binnen zwei Jahren garantiert. Fertilisieren und bokanowskifizieren - sprich mit zweiundsiebzig multiplizieren - und man bekam innerhalb von plus minus zwei Jahren im Schnitt nahezu elftausend Brüder und Schwestern in hundertundfünfzig Chargen eineiiger Zwillinge.
»In Ausnahmefällen können wir aus einem einzigen Eierstock über fünfzehntausend Erwachsene gewinnen.«
Er machte einem hellhaarigen, rotbackigen jungen Mann, der soeben vorbeiging, Zeichen. »Mr Foster!«, rief er. Der rotbackige junge Mann kam zu ihnen. »Kennen Sie den Rekord für einen einzigen Eierstock, Mr Foster?«
»Sechzehntausendundzwölf in unserem Center«, antwortete Mr Forster wie aus der Pistole geschossen. Er sprach sehr schnell, hatte lebhafte blaue Augen und offenkundig Freude an Zahlen. »Sechzehntausendundzwölf bei einhundertundneunundachtzig baugleichen Serien. Selbstverständlich sind die Kollegen in einigen tropischen Centern weit erfolgreicher«, sprudelte er. »Singapur erreicht oft sechzehntausendfünfhundert, und Mombasa hat sogar die Siebzehntausendermarke geknackt. Aber die sind auch fein raus. Sie müssten mal sehen, wie ein negrider Eierstock auf Hypophysenpräparate anspricht! Ganz erstaunlich, wenn man nur europäisches Material gewohnt ist. Trotzdem«, fügte er mit einem Lachen (aber auch kämpferisch blitzenden Augen und herausfordernd gehobenem Kinn) hinzu, »sind wir fest entschlossen, sie zu übertreffen. Ich arbeite da gerade an einem herrlichen Delta-Minus- Eierstock. Erst achtzehn Monate alt. Und schon über zwölftausendsiebenhundert Nachkommen, teils dekantiert, teils noch im Embryonalstadium. Und kein Ende abzusehen. Denen zeigen wir's schon noch.«
»Das ist die rechte Einstellung!«, lobte der Direktor und klopfte Mr Foster auf die Schulter. »Begleiten Sie uns doch, und lassen Sie die Jungen von Ihrer Fachkenntnis profitieren. «
Mr Foster lächelte bescheiden. »Mit Vergnügen.« Sie zogen weiter.
An der Füllstation herrschten harmonische Hektik und wohlgeordneter Hochbetrieb. Lappen frischen, passgerecht vorgestanzten Schweinebauchfells sausten per Rohrpost aus dem Organmagazin in einem Untergeschoss herauf. Zzzt und klack!, flogen die Rohrpostklappen auf; der Flaschen- Auskleider brauchte nur die Hand auszustrecken, einen Lappen zu greifen, ihn einzuführen, anzudrücken, und noch ehe die ausgekleidete Ballonflasche auf dem Endlosband außer Reichweite war, zzzt, klack!, kam bereits der nächste Bauchfelllappen aus der Tiefe hochgeschossen und wartete darauf, in eine weitere Flasche eingepasst zu werden, die nächste in der endlos vorrückenden Prozession auf dem Band.
Neben den Auskleidern standen die Matrikulatoren. Die Prozession zog herauf; eine nach der anderen wurden die befruchteten Eizellen aus ihren Reagenzröhrchen in die größeren Ballonflaschen transferiert; der jeweilige Bauchfellnährboden wurde rasch angeritzt, die Morula eingeführt, die Salzlösung eingefüllt ... und schon war die Flasche vorübergezogen, und die Etikettierer kamen zum Einsatz. Heredität, Fertilisationsdatum, Bokanowski- Gruppe - die Daten wurden von den Reagenzröhrchen auf die Flaschen übertragen. Nicht länger anonym, sondern bezeichnet, identifiziert, schob sich die Prozession durch eine Wandschleuse gemächlich weiter zur Sozialprädestinationsstation.
»Achtundachtzig Kubikmeter Registersätze«, verkündete Mr Foster genussvoll bei ihrem Eintreten.
»Mit allen einschlägigen Daten«, fügte der Direktor hinzu.
»Jeden Morgen aktualisiert.«
»Und nachmittags korreliert.«
»Die Basis der Kalkulationen.«
»Soundso viele Einzelwesen der verlangten Qualität«, sagte Mr Foster.
»In der und der Stückmenge geliefert.«
»Fortlaufend optimierte Dekantier-Rate.«
»Unverzüglicher Ausgleich aller Ausfälle.«
»Unverzüglich«, wiederholte Mr Foster. »Wenn Sie wüssten, wie viele Überstunden nach dem jüngsten japanischen Erdbeben bei mir aufgelaufen sind!« Er lachte gutgelaunt und schüttelte den Kopf.
»Die Prädestinatoren legen den Fertilisatoren ihre Zahlen vor.«
»Die ihnen die bestellten Embryonen zuteilen.«
»Und hier landen die Flaschen zur Prädestinationsfeinabstimmung. «
»Um anschließend ins Embryonenmagazin befördert zu werden.«
»Wo wir selbst uns nun hinbegeben wollen.«
Und mit diesen Worten öffnete Mr Foster eine Tür und führte sie eine Treppe tiefer ins Untergeschoss.
Die Temperatur war noch immer tropisch. Sie stiegen in ein sich verdichtendes Zwielicht hinab. Zwei Türen und ein doppelt gewendeter Korridor schirmten das Untergeschoss vor jedem Lichteinfall ab.
»Embryonen sind wie fotografischer Film«, scherzte Mr Foster und stieß die zweite Tür auf. »Sie vertragen nur rotes Licht.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Aldous Huxley
Huxley, AldousAldous Huxley (1894 - 1963) war ein englischer Schriftsteller und Journalist, ein scharfzüngiger Zeitkritiker und begeisterter Reisender. Nach dem Welterfolg seines zum Sprichwort gewordenen Romans 'Schöne Neue Welt' zog er 1937 nach Kalifornien, wo er u.a. das Drehbuch für eine Hollywood-Verfilmung von Jane Austens Roman 'Stolz und Vorurteil' schrieb. Neben zahlreichen Romanen, Essays, Kurzgeschichten und Reisetagebüchern verfasste er auch ein Kinderbuch: 'Die Krähen von Pearblossom und die Geschichte, wie dieses und jenes und überhaupt etwas sehr Komisches geschah'. Strätling, Uda
Uda Strätling lebt in Hamburg und hat u. a. Emily Dickinson, Henry David Thoreau, Sam Shepard, John Edgar Wideman, Aldous Huxley und Marilynne Robinson übersetzt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Aldous Huxley
- 2013, 368 Seiten, Maße: 13,2 x 19,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Uda Strätling
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596950155
- ISBN-13: 9783596950157
- Erscheinungsdatum: 25.09.2013
Rezension zu „Schöne neue Welt “
Uda Strätling hat sein Zukunftswerk neu übersetzt - und zwar genau so, wie der Visionär ihn damals im Original geschrieben hat. Österreichischer Rundfunk ORF.at 20131216
Pressezitat
Uda Strätling hat sein Zukunftswerk neu übersetzt - und zwar genau so, wie der Visionär ihn damals im Original geschrieben hat. Österreichischer Rundfunk ORF.at 20131216
Kommentar zu "Schöne neue Welt"
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