Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur
Mit einem Nachwort von Erich Kleinschmidt
Alfred Döblins wichtigste Schriften über Kunst und Literatur
Ob er gegen den Futurismus oder die Psychologie des Romans polemisiert, ob er mehr »Tatsachenphantasie« oder größere politische Verantwortung fordert - stets ist Döblin auch auf dem Feld der...
Ob er gegen den Futurismus oder die Psychologie des Romans polemisiert, ob er mehr »Tatsachenphantasie« oder größere politische Verantwortung fordert - stets ist Döblin auch auf dem Feld der...
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Klappentext zu „Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur “
Alfred Döblins wichtigste Schriften über Kunst und LiteraturOb er gegen den Futurismus oder die Psychologie des Romans polemisiert, ob er mehr »Tatsachenphantasie« oder größere politische Verantwortung fordert - stets ist Döblin auch auf dem Feld der ästhetischen Reflexion ein radikal gegenwärtiger Autor, der sich aus der Dynamik der eigenen literarischen Praxis heraus einmischt und sich bei keiner These beruhigen kann. Diesem unorthodoxen, engagierten Grundzug seiner Essays verdankt sich ihre Lebendigkeit bis heute, und ihre produktive Unruhe macht sie zu wichtigen Impulsgebern auch für gegenwärtiges Nachdenken über Kunst, Musik und Literatur.
Mit einem Nachwort von Erich Kleinschmidt
Lese-Probe zu „Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur “
Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur von Alfred DöblinGespräche mit Kalypso Über die Musik
Erstes Gespräch: Die Verzauberten unter sich
(Strand einer Insel, darauf gelbes kraftvolles Sonnenlicht vom dunkelblauen Himmel. Der Morgenwind reibt die leichten Steinchen aneinander, fegt sie von den Dünenerhebungen herunter, klatscht das Meerwasser gegen die weit vorspringenden Klippen. Das graugrüne Meer, draußen mit zahllosen purpurnen Lichtblitzen, vor dem Gestade mit brillantener Gischt, rollt satt. Öfter züngeln Wellen mit Surren weit über den Sand, belecken rasch die braunen Schiffstrümmer, die Türen, Masten, Blöcke, Balken, Tonnen, Seile, die das Meer erbrochen hat. Zwischen dem Gewirr springen zwerghafte Männer und Frauen, vom Leib abwärts Vogelkörper mit schwarzem, struppigen Gefieder und sehnigen Klauen, spitze gelbbraune Gesichter, schwarzäugig mit Flügelstümpfen am Rücken; schleppen die Trümmer auseinander, hüpfen in die Tonnen, daß oft nur ihr strähniges Schwarzhaar herlugt. Das Volk, bald kreischend, bald lautlos tätig, hat verbissene faltige Fratzen; ihre unruhigen Glieder sind von gieriger Magerkeit. Sie schnarren Menschensprache.)
Ein alter (sich auf einen Balken setzend): Wir finden nichts mehr. ein anderer: Er ist satt, er hat genug. ein dritter: Es hat nichts mehr; lauter Plunder. der alte: Kinder, laßt gut sein; es ist nichts mehr da. Wir wollen
... mehr
Heim vor der [F]lut. (Das Volk schlägt noch Holz zusammen, belädt sich mit Körben. Während sie sich sammeln und landeinwärts ziehen, gegen das Meer gewendet, bitter, für sich.) Ich möchte einen von diesen gesehen haben. Sie trugen Kettchen, Amulette, seltene Steine mit sich, Vasen, geschnitzte Truhen, Seidenstoffe, zart geknüpfte Decken; Zithern, Lauten und Schellen hatten sie auf dem Schiff; wie zur Hochzeit sind sie ausgefahren. Von meinem Lande müssen sie gewesen sein. Aber das Wasser schluckt jedes, jedes herunter, das dickwanstige Ungeheuer, wie wenn nichts leben dürfte als das Meer.
Ein jüngerer: (Volles, nur leicht braunes Gesicht; geht mit Tränen neben dem Alten.) Wurdest du so alt und hast noch nichts vergessen?
Der alte: Du quälst dich schon?
Der junge: Bald ertrag ich es nicht.
Der alte: Mein Kind, es gibt Krankheiten, die wie Ratten am Mark unserer Glieder nagen. Denk dir einen so kranken Menschen, dem die Glieder immer wieder wachsen, die ihm abgefressen sind von jenen Ratten, und dann kennst du uns. Du bist hier auf der Hochschule für Sentimentalität.
Der junge: Es wächst ein Kraut, das heißt Mord. Damit speis ich sie, wenn anders ich Hände hab.
Der alte (Lacht gutmütig, fährt ihm über das Haar.): Was schwatzt du? Ich dulde, was in den Knien der Göttin ruht. Keiner unter uns, der nicht eines Nachts mit berauschtem Hirn aufgestanden, in ihre Grotte geschlichen wäre und den Dolch an ihren Hals gesetzt hätte. Sie ist unsterblich. Kaum, daß sie eine Schramme hat, so brennt der Dolch auf, wie ein Stück Zunder, von ihrem Blute angesteckt; und mit Blasen in Händen und Gesicht laufen sie fort von ihr, jammernd von ihr, die nicht einmal aufgewacht ist[,] und kühlen sich die Wunden und weinen vor Bitternis und Schmerz. Ein Weib wollte sie einmal erwürgen, die der Göttin dienen mußte; ihre langen Zöpfe schnürte sie der Göttin um die Kehle; es war hier am hellen Strande. Von hinten sprang die Bestie an und warf die Unsterbliche auf die Stirn, während wir jubelten. Aber die Haut der Unsterblichen rollt und biegt sich elastisch wie Stahl. Kalypso richtete sich langsam auf, nahm die Kreischende in die Arme, löste der Gefangenen langsam die Zöpfe auf und wies sie von sich fort; aber von dem Kopfe der Ärmsten klapperten von da ab Eisenkettchen herab, eins um das andere, jedes Haar ein Kettchen, das auf den Rücken und die Schultern peitscht. Man erzählt sich: Ein Tollkopf, wie Du, wollte sie in Schande stürzen, sie, während sie schlief, vergewaltigen. Sie wehrte sich gar nicht, während er bei ihr lag; sie genoß seiner in Ruhe, er gefiel ihr. Aber man sah ihn nicht wieder; eine Schildkröte kroch am Morgen aus ihrer Grotte, schläfrig die Lider senkend, auf der sie mittags sitzt, wenn sie ins Bad steigt.
Der junge: Nimm mir etwas ab.
Der alte: (Packt sich von dem Holz des Jüngeren auf; sie gehen stumm nebeneinander.)
Der junge: Meine Eltern warten auf mich; ich habe Vogel- klauen! - Dies ist unglaublich, ist unglaublich. Ich hatte die Besinnung verloren, als unser Bremer Schiff brach; seit diesem Augenblick bin ich nicht, nicht, nicht erwacht, sag' ich, - ich träume. Ich bin untergegangen, faule auf dem Meeresboden.
Der alte (Stumm nickend): Ja, ja, es ist ein Geheimnis um uns. Glaub' mir, ich habe schon oft zu Kalypso gebetet und ihr gedankt, daß sie mich dieses Geheimnisvolle lehrte. Aber auch um die Göttliche ist ein finsteres Rätsel. Sie soll, als die alten Götter starben, die leichtherzigen, verschwenderischen Olympier, vergessen sein; der eine neue Gott, der die andern alle unter Felsen und Bergen begrub, vergaß sie in seiner Siegeswonne, die hier flötend und leise singend, umging auf einem Inselchen im Weltmeere. Nun ist die Welt so glatt und blank geworden, überall und an jedem Ende, - nur hier verfinstert es sich, brausen unheimliche blaue und graue Schatten auf, wird noch einmal hinter stillen Mauern der entsetzliche Zorn der Götterschlacht aufzucken, bis auch sie vertilgt ist. (Flüsternd): Sie wird sterben, wir mit ihr. Kindisch und schwach wird sie, mehr von Tag zu Tag. Die süße Versonnene gärt jetzt von Haß und Ekel; sie weiß, ihre Tage sind gezählt. Einen Mann schleppt sie mit sich, der aus dem Hochzeitsschiff sich gerettet hat; sie pflegt ihn, schwatzt mit ihm. Nur Blumen und Flöten waren sonst ihre Gespielen; ja sie ist krank.
Der junge: Ich will zu Gott beten; meine Not ist arg. der alte: Hilft nichts; kein Gebet dringt zu Gott durch; leg dich schlafen, mein Kind.
Zweites Gespräch: Flötentöne und Geschrei
(Flötentöne hinter der Düne. Eine Sänfte, überwölbt vom dunkelblauen Baldachin, taucht hinter einem Hügel auf, bewegt sich sehr langsam gegen das graugrüne Meer zu. Die Stangen der Bahre ruhen auf den Rükken von vier Riesenschildkröten, die sich gemächlich fortschieben. Auf der Decke des Baldachins sitzt ein weißbärtiger, greiser Pavian, lenkt mit zwei goldenen Ketten die vorderen Schildkröten. In der Sänfte liegt ein Weib, halb aufgesetzt, die Hände hinter der schweren Haarpracht des Kopfes gefaltet. Volle regelmäßige kalte Züge; ernster leerer Blick, elfenbeinfarbene Haut. Unter der blauen Tunika, die breit mit schwarzer Seide durchwirkt ist, tritt die Reife des Leibes hervor. Um den bloßen Hals hängen Perlenschnüre, deren Weiße der starblinder Augen gleicht. Goldgelbe Sandalen der Füße; eine Kette um den Knöchel des linken Fußes. Dies ist Kalypso . Hinter der Sänfte taumelt ein Mann, zerlumptes Maskenkostüm, vielleicht hellenisch; stumpfer Gesichtsausdruck, verwildertes Haar, hängender Schnurrbart. Durch die Nase ein Eisenring, daran hängt frei bis auf den Boden ein Strick. Von dem Vogelvolk folgen einige mit Flöten. Lange auf- und absteigende Flötentöne; bisweilen eine Art Abschluß mit Triller. Sie sind dicht am Wellenschlag. Kalypso klatscht in die Hände. Die Sänfte hält. Die Schildkröten ziehen sich in ihre Schale zurück. Die übrigen hüpfen zur Seite, legen sich hinter Balken und Sandhaufen. Der Mann, der Musiker, bleibt unbeweglich, ohne aufzusehen, stehn.)
Kalypso (Ihn betrachtend, lächelt.): Wie nennst du dich? musiker: (Unbewegt, schweigt.) kalypso: Sprich doch zu mir.
Musiker: Wo ist meine blonde Freundin? Wo sind meine Freunde?
Kalypso: Ich kenne sie nicht.
Musiker (Steht wieder abwesend da.)
Kalypso (Nimmt den Strick lächelnd in die Hand, spielt mit ihm.)
Musiker (Zuckt, beißt die Zähne zusammen; vor sich hinsprechend.): Ich frage nichts, ich will es ja gut meinen mit meinem Kopf; ich will es ja gut - meinen.
Kalypso (Dozierend): Unser Strand ist ein weitoffenes Maul. Was ihm zufällig nah kommt, schlürft er ein. Sind es Menschen, so drehen wir ihnen teils den Hals um, teils plaudern wir vorher mit ihnen.
Musiker (Stürzt sich aufglühend auf sie, die ihn gewähren läßt, ihn mit halboffenen Augen kalt beobachtet.)
Kalypso: Nun leg dich wieder in den Sand.
Musiker (Verzweifelt): Ich will es gut meinen mit meinem Kopf.
Kalypso: Nun? Du bist auf der Insel der Kalypso.
Musiker: Laß mich heim, ich fleh' dich an. Wenn nur ein Hauch von Mitleid in deiner Brust weht, du Unbegreifliche, laß mich fort von deiner Insel. Du fühlst nicht, was mir geschah. Laß mich fort, jetzt oder bald, bald. Ich will geduldig warten, was du über mich verhängst.
Kalypso (Aufbrausend): Geduld, du? Oh, ich will dich schweigen lehren. (Klatschend, laut rufend) Ho, ho! In die Tore. Du kommst, ich schone dich, und schon wimmerst du? Hund, Hund. (Die Vogelleute[,] aufgescheucht, machen sich an einer niedrigen Klippe zu schaffen, an der ein schwarzes Eisentor angebracht ist. Sie flüstern sich zu: - »[V]erspielt. Gönn' es ihm. Ist brav, Freundchen, gehst hinein, hüpfst hinaus. -«) An der Qual sollst du dein Heimweh stillen. Deine Mutter, die Pein und Angst, soll dich streicheln. (Schüttelt ihn mit bitterem Munde. Aus dem offenen Tor dringt nun schwerer Qualm. Der Musiker wirft sich auf die Erde. Die Vogelleute, einige mit schmerzlichem Murren, andere mit höhnischem Grinsen, zerren ihn, binden ihn auf den Rücken einer Schildkröte fest, die ihn bis an das Tor trägt. Kurz vor dem Tor reißt er sich los und folgt aufrecht Kalypso. Die Tiere und Begleiter sträuben sich am Eingang, stellen sich auf, werfen sich halb erstickt an dem Tore hin, bleiben dort liegen. Kalypso geht hinein, das Seil des Mannes um den rechten Arm gewunden. Die Flöten blasen von neuem. Ein kurzes Schreien aus dem Tore verstummt bald.)
Drittes Gespräch: Auf purpurnen Decken
Von der Frage der Musik
(Die Grotte der Kalypso. Ein bläuliches Schimmern und Aufleuchten. Der Boden feine Steinmosaik. Dicht am hohen, aber sehr engen Eingang ein brennender Altar. In einer seitlichen Vertiefung der Grotte zwei Ruhelager, purpurbedeckt; davor ein niedriger Tisch. Neben dem Altar Hörner, Flöten, Trommeln, Lauten. Vor ihm betet Kalypso, die Hehre der Göttinnen, in den Schnee der Priesterin gehüllt, mit breiter Stirnspange und Gehängen, verbrennt murmelnd Fleisch, betrachtet die Eingeweide. Weißbekleidete Vogelfrauen bedienen sie. Nun geht Kalypso langsam zur Nische hinüber, an das Lager, gegenüber dem des Musikers. Ihn umhüllt eine schwere, altgriechische Tracht, schwarzblau und ohne Schmuck. Sie ruhen stumm [einander] gegenüber.)
Kalypso: Du sagst, Du seiest Musiker. Erzähl mir von der Musik.
Musiker: Wir feierten ein heiteres bräutliches Spiel auf unserem Schiff. In meiner Trunkenheit nannte ich mich Odysseus, der nach Kalypsos Gestaden fortverlangte, wollte den reichsten Kranz von ihren Händen. Oh, unsrer Lustfahrt, unsrer Wehfahrt! Ich hasse Dich, daß Du mich nicht verstehst. Wir haben nichts gemein. Sieh, dies muß ich dulden, daß viele Dinge Herr über mich sind, aber daß dir meine Seele verfallen will -
Kalypso (Gleichg[ü]ltig): Du wolltest von Musik sprechen.
Musiker: Ich verachte sie. Es gibt viele Arten des Todes wie des Sterbens. Aber daß Du, auf der der starrste Tod liegt -
Kalypso (Klatscht in die Hände.): Feuer schüren!
Musiker (Beißt sich auf die Lippe.): Mißversteh mich nicht, Kalypso.
Kalypso (Lächelt): Ich versteh dich. (Pause)
Musiker: - Du wolltest von der Musik hören.
Kalypso: Oft wollen wir von ihr sprechen. Du sollst mir alles von ihr sagen, was Du weißt. -
Musiker: - Es spricht sich schwer von ihr. Sie ist, fast scheint mir, eine Brücke zwischen Sein und Nichtsein. - Sie ist auch mehr etwas Unnennbares, Unwirkliches, als irgend etwas anderes Wirkliches. Es läßt sich schwer begreifen, wenn man einen Stein, einen Baumstamm, einen Tierleib sieht, was sein Leben ist - wie dies lebt, was bewirkt, daß es lebt, die Augen öffnet, wächst. An der Musik begreift man es vielleicht. Das formlos Regsame, das Unsichtbare, Durchsichtige, Blasse ist - sie selbst. Wirklicher, wirksamer ist sie, als etwas Wirkliches. Ein Mensch kann schlafen, erstarren, sterben; sie schwimmt dahin, unablässig, wird nimmer etwas als schäumen, schimmern, glimmern. Sie zeigt, was Unsterblichkeit ist. - Willst du mir gefällig sein?
Kalypso: Nein.
Musiker: Laß deine Flötenbläser kommen.
Kalypso: - Wenn mein Lehrer mir nicht grollt, fahre ich fort.
Musiker: Ich aber will dich fragen: Was lockt Dich zur Musik? Lockt Dich etwas zu ihr?
Kalypso: Sieh, ich denke gern an Musik. Wir sind hier einsam, »wir«, »der starrste Tod«. Und es ist, wie Du sagst. Sie ist mehr wirklich, als irgend etwas Wirkliches. Ich kann an einer Bildsäule vorübergehen, eine farbige Wand nicht beachten; aber die Musik ist aufdringlicher, sie verlangt mich, sie will. Sie faßt mich bei den Händen und wühlt sich in mein Haar ein. Das Gehör muß ein geselligerer Sinn sein, als das Gesicht; kürzer mag der Weg zur Seele sein durch das Ohr, als durch das Auge. Und so macht Stille die Einsamkeit einsamer als Leere. Wo Musik ist, erfüllt sie die Gegenwart, daß ein lachendes Bild zur blöden Grimasse wird vor einem Trauergesang; sie kann alles zur Lüge machen und zaubert wahrhaft, daß ich Eifersucht fühle. Sie verdunkelt jede Landschaft, verteilt Gewitter, ist Herrin über Sonne, Mond und Gestirne. Und eine fürstliche Kunst ist sie. Ich muß die Schweigsamkeit lieben, aber wenn es mich nach einer Stimme verlangt, zu wem soll ich sprechen, wer soll zu mir sprechen?
Ich lasse die Menschen nur in der Musik an mich herankommen. Sie redet in großem, feierlichen Ton von ihnen, ohne Umschweif, sachlich, streng überlegen, ohne Wort für das Bestimmte, Kleinliche, Peinliche. Ein vielsagendes Mienenspiel geht über ihr Gesicht.
Musiker (Schweigt): - - Ich bitte Dich um Verzeihung, wenn ich dich im Stillen unterschätzte.
Kalypso (lacht): Ihr betet zu einem Gott, einem einzigen, ihr Sparsamen, der die Kraft besessen hätte, glaubt Ihr, die ganze Unermeßlichkeit der Welt zu schaffen, die doch von Urbeginn war und keines Schöpfers bedurfte. Nun, was sich euer Meistergott am köstlichen Vorabend des ersten Schöpfungstages dachte - der dunkle Plan der Schöpfung - das Brüten über dem Riesenei - mag wohl von Art der Musik gewesen sein -.
Musiker: Du redest so fein. Aber du redest in Bildern, Kalypso. (Kalypso sieht ihn an.) Ich sage, dies ist eine rätselvolle Kunst und ein Land, dessen Schluchten und Pfade keiner kennt, mag er auch wochenlang vom Morgen bis zum Abend drin gewandert sein.
Kalypso: Wir wandern viel, aber immer führt uns ein Weg und immer der Weg.
Musiker: Doch träumen wir zuviel, wir lassen unsern Geist in [Farben] sprechen. Wie ist dies möglich, wie ist die Musik gleichsam wirklichkeitsschwanger, wie kann sie gleichsam sprechen, die keines Wortes mächtig ist? Töne gehen hin und her. Wie saugt sie sich schwellend voll mit Leben, daß sie als Vorform der Welt erscheint und als Mutter und zeugender Gott? Dieses »Gleichsam« ist eine Schlucht, in die ich oft gestiegen bin.
Kalypso: Setz dich zu mir. - Sollen meine Flöten blasen?
Musiker: Bitte. - Ich frage nicht ins Leere hinein. Die Musik ist wohl die freieste aller Künste. In jeder Kunst wachsen Pflanzen, die nicht in der Erde wurzeln, schlagen Kobolde, die keine Mutter gebar, einen Purzelbaum. Wirres Fabeltier waltet da, verschlungene Begebenheiten, die dämonisch durch geballte Nebel fratzen. Man nennt die Herrichter solcher Werke Phantasten und schilt sie, daß sie sündigen Umgang mit Wolken trieben. Gibt es ein Tier, das so wirr gestaltet, ohne Gleichnis wäre, wie ein Lied? Ist ein Phantast so phantastisch wie ein Musiker? Seine Arbeit spottet der Wirklichkeit und ihres Reichtums. Du kennst die Freunde der Weisheit, die Herrlichen, die dein Land einmal trug. Einer unter ihnen nannte die Nachahmung die nährende Erde der Kunst. Viele dachten seine Gedanken nach. Die Kunst sollte die Natur nicht treffen, sondern übertreffen. Allen irdischen Dingen sollte im Künstler eine zweite Hebeamme erstehen. Er sollte ihr Wesen, ihr halb von der Umwelt erdrücktes Wesen ans Licht heben.
Kalypso: Ich bin nicht stolz auf sie, meine allzuklugen Landsleute, die naseweisen. Sie hielten unsere Erde für ein Krüppelhaus. Nichts auf Erden verirrt und verfehlt sich, denk ich. Die Trauer, die Armut, die Schwäche täuscht sich damit.
Musiker: Nun möchte ich Deine anmaßlichen Weltweisen fragen, - sie wissen auf vieles eine Antwort, zum wenigsten ein Wort[,] und können auch Hohn ertragen -: Welcher Natur spielt Musik, die gleichnislose, beispiellose, die hilfreiche Freundin in den Geburtswehen? Ist Musik dann noch Kunst in ihrem Sinn und nicht vielmehr weniger oder ganz anderes als Kunst? Die Musiker haben sich stolz die Werkzeuge selbst gerichtet; eigenherrlich wandeln die Töne ab. Nun stimmt die Musik mit nichts überein.
Woher, wenn sie prahlend über die Wirklichkeit haust, nimmt die Musik den Sinn und bleibt nicht, was sie ist, ein krankes Auf und Ab? Sie saugt sich schwellend voll mit Leben? Was macht sie zu diesem Gleichsam fähig? Oder ist das Gleichsam geträumt? Und doch will, wie Du fühlst, dieses Wirrste des Wirren einen Hellblick in die Welt und unter ihren Boden tun, begreifender als die Sprache, gebärdet sich gar als Auftakt der Schöpfung.
Nun siehst Du, Kalypso, die beiden Punkte, die ich male. -
Kalypso: Fast auch die Linie zwischen ihnen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Heim vor der [F]lut. (Das Volk schlägt noch Holz zusammen, belädt sich mit Körben. Während sie sich sammeln und landeinwärts ziehen, gegen das Meer gewendet, bitter, für sich.) Ich möchte einen von diesen gesehen haben. Sie trugen Kettchen, Amulette, seltene Steine mit sich, Vasen, geschnitzte Truhen, Seidenstoffe, zart geknüpfte Decken; Zithern, Lauten und Schellen hatten sie auf dem Schiff; wie zur Hochzeit sind sie ausgefahren. Von meinem Lande müssen sie gewesen sein. Aber das Wasser schluckt jedes, jedes herunter, das dickwanstige Ungeheuer, wie wenn nichts leben dürfte als das Meer.
Ein jüngerer: (Volles, nur leicht braunes Gesicht; geht mit Tränen neben dem Alten.) Wurdest du so alt und hast noch nichts vergessen?
Der alte: Du quälst dich schon?
Der junge: Bald ertrag ich es nicht.
Der alte: Mein Kind, es gibt Krankheiten, die wie Ratten am Mark unserer Glieder nagen. Denk dir einen so kranken Menschen, dem die Glieder immer wieder wachsen, die ihm abgefressen sind von jenen Ratten, und dann kennst du uns. Du bist hier auf der Hochschule für Sentimentalität.
Der junge: Es wächst ein Kraut, das heißt Mord. Damit speis ich sie, wenn anders ich Hände hab.
Der alte (Lacht gutmütig, fährt ihm über das Haar.): Was schwatzt du? Ich dulde, was in den Knien der Göttin ruht. Keiner unter uns, der nicht eines Nachts mit berauschtem Hirn aufgestanden, in ihre Grotte geschlichen wäre und den Dolch an ihren Hals gesetzt hätte. Sie ist unsterblich. Kaum, daß sie eine Schramme hat, so brennt der Dolch auf, wie ein Stück Zunder, von ihrem Blute angesteckt; und mit Blasen in Händen und Gesicht laufen sie fort von ihr, jammernd von ihr, die nicht einmal aufgewacht ist[,] und kühlen sich die Wunden und weinen vor Bitternis und Schmerz. Ein Weib wollte sie einmal erwürgen, die der Göttin dienen mußte; ihre langen Zöpfe schnürte sie der Göttin um die Kehle; es war hier am hellen Strande. Von hinten sprang die Bestie an und warf die Unsterbliche auf die Stirn, während wir jubelten. Aber die Haut der Unsterblichen rollt und biegt sich elastisch wie Stahl. Kalypso richtete sich langsam auf, nahm die Kreischende in die Arme, löste der Gefangenen langsam die Zöpfe auf und wies sie von sich fort; aber von dem Kopfe der Ärmsten klapperten von da ab Eisenkettchen herab, eins um das andere, jedes Haar ein Kettchen, das auf den Rücken und die Schultern peitscht. Man erzählt sich: Ein Tollkopf, wie Du, wollte sie in Schande stürzen, sie, während sie schlief, vergewaltigen. Sie wehrte sich gar nicht, während er bei ihr lag; sie genoß seiner in Ruhe, er gefiel ihr. Aber man sah ihn nicht wieder; eine Schildkröte kroch am Morgen aus ihrer Grotte, schläfrig die Lider senkend, auf der sie mittags sitzt, wenn sie ins Bad steigt.
Der junge: Nimm mir etwas ab.
Der alte: (Packt sich von dem Holz des Jüngeren auf; sie gehen stumm nebeneinander.)
Der junge: Meine Eltern warten auf mich; ich habe Vogel- klauen! - Dies ist unglaublich, ist unglaublich. Ich hatte die Besinnung verloren, als unser Bremer Schiff brach; seit diesem Augenblick bin ich nicht, nicht, nicht erwacht, sag' ich, - ich träume. Ich bin untergegangen, faule auf dem Meeresboden.
Der alte (Stumm nickend): Ja, ja, es ist ein Geheimnis um uns. Glaub' mir, ich habe schon oft zu Kalypso gebetet und ihr gedankt, daß sie mich dieses Geheimnisvolle lehrte. Aber auch um die Göttliche ist ein finsteres Rätsel. Sie soll, als die alten Götter starben, die leichtherzigen, verschwenderischen Olympier, vergessen sein; der eine neue Gott, der die andern alle unter Felsen und Bergen begrub, vergaß sie in seiner Siegeswonne, die hier flötend und leise singend, umging auf einem Inselchen im Weltmeere. Nun ist die Welt so glatt und blank geworden, überall und an jedem Ende, - nur hier verfinstert es sich, brausen unheimliche blaue und graue Schatten auf, wird noch einmal hinter stillen Mauern der entsetzliche Zorn der Götterschlacht aufzucken, bis auch sie vertilgt ist. (Flüsternd): Sie wird sterben, wir mit ihr. Kindisch und schwach wird sie, mehr von Tag zu Tag. Die süße Versonnene gärt jetzt von Haß und Ekel; sie weiß, ihre Tage sind gezählt. Einen Mann schleppt sie mit sich, der aus dem Hochzeitsschiff sich gerettet hat; sie pflegt ihn, schwatzt mit ihm. Nur Blumen und Flöten waren sonst ihre Gespielen; ja sie ist krank.
Der junge: Ich will zu Gott beten; meine Not ist arg. der alte: Hilft nichts; kein Gebet dringt zu Gott durch; leg dich schlafen, mein Kind.
Zweites Gespräch: Flötentöne und Geschrei
(Flötentöne hinter der Düne. Eine Sänfte, überwölbt vom dunkelblauen Baldachin, taucht hinter einem Hügel auf, bewegt sich sehr langsam gegen das graugrüne Meer zu. Die Stangen der Bahre ruhen auf den Rükken von vier Riesenschildkröten, die sich gemächlich fortschieben. Auf der Decke des Baldachins sitzt ein weißbärtiger, greiser Pavian, lenkt mit zwei goldenen Ketten die vorderen Schildkröten. In der Sänfte liegt ein Weib, halb aufgesetzt, die Hände hinter der schweren Haarpracht des Kopfes gefaltet. Volle regelmäßige kalte Züge; ernster leerer Blick, elfenbeinfarbene Haut. Unter der blauen Tunika, die breit mit schwarzer Seide durchwirkt ist, tritt die Reife des Leibes hervor. Um den bloßen Hals hängen Perlenschnüre, deren Weiße der starblinder Augen gleicht. Goldgelbe Sandalen der Füße; eine Kette um den Knöchel des linken Fußes. Dies ist Kalypso . Hinter der Sänfte taumelt ein Mann, zerlumptes Maskenkostüm, vielleicht hellenisch; stumpfer Gesichtsausdruck, verwildertes Haar, hängender Schnurrbart. Durch die Nase ein Eisenring, daran hängt frei bis auf den Boden ein Strick. Von dem Vogelvolk folgen einige mit Flöten. Lange auf- und absteigende Flötentöne; bisweilen eine Art Abschluß mit Triller. Sie sind dicht am Wellenschlag. Kalypso klatscht in die Hände. Die Sänfte hält. Die Schildkröten ziehen sich in ihre Schale zurück. Die übrigen hüpfen zur Seite, legen sich hinter Balken und Sandhaufen. Der Mann, der Musiker, bleibt unbeweglich, ohne aufzusehen, stehn.)
Kalypso (Ihn betrachtend, lächelt.): Wie nennst du dich? musiker: (Unbewegt, schweigt.) kalypso: Sprich doch zu mir.
Musiker: Wo ist meine blonde Freundin? Wo sind meine Freunde?
Kalypso: Ich kenne sie nicht.
Musiker (Steht wieder abwesend da.)
Kalypso (Nimmt den Strick lächelnd in die Hand, spielt mit ihm.)
Musiker (Zuckt, beißt die Zähne zusammen; vor sich hinsprechend.): Ich frage nichts, ich will es ja gut meinen mit meinem Kopf; ich will es ja gut - meinen.
Kalypso (Dozierend): Unser Strand ist ein weitoffenes Maul. Was ihm zufällig nah kommt, schlürft er ein. Sind es Menschen, so drehen wir ihnen teils den Hals um, teils plaudern wir vorher mit ihnen.
Musiker (Stürzt sich aufglühend auf sie, die ihn gewähren läßt, ihn mit halboffenen Augen kalt beobachtet.)
Kalypso: Nun leg dich wieder in den Sand.
Musiker (Verzweifelt): Ich will es gut meinen mit meinem Kopf.
Kalypso: Nun? Du bist auf der Insel der Kalypso.
Musiker: Laß mich heim, ich fleh' dich an. Wenn nur ein Hauch von Mitleid in deiner Brust weht, du Unbegreifliche, laß mich fort von deiner Insel. Du fühlst nicht, was mir geschah. Laß mich fort, jetzt oder bald, bald. Ich will geduldig warten, was du über mich verhängst.
Kalypso (Aufbrausend): Geduld, du? Oh, ich will dich schweigen lehren. (Klatschend, laut rufend) Ho, ho! In die Tore. Du kommst, ich schone dich, und schon wimmerst du? Hund, Hund. (Die Vogelleute[,] aufgescheucht, machen sich an einer niedrigen Klippe zu schaffen, an der ein schwarzes Eisentor angebracht ist. Sie flüstern sich zu: - »[V]erspielt. Gönn' es ihm. Ist brav, Freundchen, gehst hinein, hüpfst hinaus. -«) An der Qual sollst du dein Heimweh stillen. Deine Mutter, die Pein und Angst, soll dich streicheln. (Schüttelt ihn mit bitterem Munde. Aus dem offenen Tor dringt nun schwerer Qualm. Der Musiker wirft sich auf die Erde. Die Vogelleute, einige mit schmerzlichem Murren, andere mit höhnischem Grinsen, zerren ihn, binden ihn auf den Rücken einer Schildkröte fest, die ihn bis an das Tor trägt. Kurz vor dem Tor reißt er sich los und folgt aufrecht Kalypso. Die Tiere und Begleiter sträuben sich am Eingang, stellen sich auf, werfen sich halb erstickt an dem Tore hin, bleiben dort liegen. Kalypso geht hinein, das Seil des Mannes um den rechten Arm gewunden. Die Flöten blasen von neuem. Ein kurzes Schreien aus dem Tore verstummt bald.)
Drittes Gespräch: Auf purpurnen Decken
Von der Frage der Musik
(Die Grotte der Kalypso. Ein bläuliches Schimmern und Aufleuchten. Der Boden feine Steinmosaik. Dicht am hohen, aber sehr engen Eingang ein brennender Altar. In einer seitlichen Vertiefung der Grotte zwei Ruhelager, purpurbedeckt; davor ein niedriger Tisch. Neben dem Altar Hörner, Flöten, Trommeln, Lauten. Vor ihm betet Kalypso, die Hehre der Göttinnen, in den Schnee der Priesterin gehüllt, mit breiter Stirnspange und Gehängen, verbrennt murmelnd Fleisch, betrachtet die Eingeweide. Weißbekleidete Vogelfrauen bedienen sie. Nun geht Kalypso langsam zur Nische hinüber, an das Lager, gegenüber dem des Musikers. Ihn umhüllt eine schwere, altgriechische Tracht, schwarzblau und ohne Schmuck. Sie ruhen stumm [einander] gegenüber.)
Kalypso: Du sagst, Du seiest Musiker. Erzähl mir von der Musik.
Musiker: Wir feierten ein heiteres bräutliches Spiel auf unserem Schiff. In meiner Trunkenheit nannte ich mich Odysseus, der nach Kalypsos Gestaden fortverlangte, wollte den reichsten Kranz von ihren Händen. Oh, unsrer Lustfahrt, unsrer Wehfahrt! Ich hasse Dich, daß Du mich nicht verstehst. Wir haben nichts gemein. Sieh, dies muß ich dulden, daß viele Dinge Herr über mich sind, aber daß dir meine Seele verfallen will -
Kalypso (Gleichg[ü]ltig): Du wolltest von Musik sprechen.
Musiker: Ich verachte sie. Es gibt viele Arten des Todes wie des Sterbens. Aber daß Du, auf der der starrste Tod liegt -
Kalypso (Klatscht in die Hände.): Feuer schüren!
Musiker (Beißt sich auf die Lippe.): Mißversteh mich nicht, Kalypso.
Kalypso (Lächelt): Ich versteh dich. (Pause)
Musiker: - Du wolltest von der Musik hören.
Kalypso: Oft wollen wir von ihr sprechen. Du sollst mir alles von ihr sagen, was Du weißt. -
Musiker: - Es spricht sich schwer von ihr. Sie ist, fast scheint mir, eine Brücke zwischen Sein und Nichtsein. - Sie ist auch mehr etwas Unnennbares, Unwirkliches, als irgend etwas anderes Wirkliches. Es läßt sich schwer begreifen, wenn man einen Stein, einen Baumstamm, einen Tierleib sieht, was sein Leben ist - wie dies lebt, was bewirkt, daß es lebt, die Augen öffnet, wächst. An der Musik begreift man es vielleicht. Das formlos Regsame, das Unsichtbare, Durchsichtige, Blasse ist - sie selbst. Wirklicher, wirksamer ist sie, als etwas Wirkliches. Ein Mensch kann schlafen, erstarren, sterben; sie schwimmt dahin, unablässig, wird nimmer etwas als schäumen, schimmern, glimmern. Sie zeigt, was Unsterblichkeit ist. - Willst du mir gefällig sein?
Kalypso: Nein.
Musiker: Laß deine Flötenbläser kommen.
Kalypso: - Wenn mein Lehrer mir nicht grollt, fahre ich fort.
Musiker: Ich aber will dich fragen: Was lockt Dich zur Musik? Lockt Dich etwas zu ihr?
Kalypso: Sieh, ich denke gern an Musik. Wir sind hier einsam, »wir«, »der starrste Tod«. Und es ist, wie Du sagst. Sie ist mehr wirklich, als irgend etwas Wirkliches. Ich kann an einer Bildsäule vorübergehen, eine farbige Wand nicht beachten; aber die Musik ist aufdringlicher, sie verlangt mich, sie will. Sie faßt mich bei den Händen und wühlt sich in mein Haar ein. Das Gehör muß ein geselligerer Sinn sein, als das Gesicht; kürzer mag der Weg zur Seele sein durch das Ohr, als durch das Auge. Und so macht Stille die Einsamkeit einsamer als Leere. Wo Musik ist, erfüllt sie die Gegenwart, daß ein lachendes Bild zur blöden Grimasse wird vor einem Trauergesang; sie kann alles zur Lüge machen und zaubert wahrhaft, daß ich Eifersucht fühle. Sie verdunkelt jede Landschaft, verteilt Gewitter, ist Herrin über Sonne, Mond und Gestirne. Und eine fürstliche Kunst ist sie. Ich muß die Schweigsamkeit lieben, aber wenn es mich nach einer Stimme verlangt, zu wem soll ich sprechen, wer soll zu mir sprechen?
Ich lasse die Menschen nur in der Musik an mich herankommen. Sie redet in großem, feierlichen Ton von ihnen, ohne Umschweif, sachlich, streng überlegen, ohne Wort für das Bestimmte, Kleinliche, Peinliche. Ein vielsagendes Mienenspiel geht über ihr Gesicht.
Musiker (Schweigt): - - Ich bitte Dich um Verzeihung, wenn ich dich im Stillen unterschätzte.
Kalypso (lacht): Ihr betet zu einem Gott, einem einzigen, ihr Sparsamen, der die Kraft besessen hätte, glaubt Ihr, die ganze Unermeßlichkeit der Welt zu schaffen, die doch von Urbeginn war und keines Schöpfers bedurfte. Nun, was sich euer Meistergott am köstlichen Vorabend des ersten Schöpfungstages dachte - der dunkle Plan der Schöpfung - das Brüten über dem Riesenei - mag wohl von Art der Musik gewesen sein -.
Musiker: Du redest so fein. Aber du redest in Bildern, Kalypso. (Kalypso sieht ihn an.) Ich sage, dies ist eine rätselvolle Kunst und ein Land, dessen Schluchten und Pfade keiner kennt, mag er auch wochenlang vom Morgen bis zum Abend drin gewandert sein.
Kalypso: Wir wandern viel, aber immer führt uns ein Weg und immer der Weg.
Musiker: Doch träumen wir zuviel, wir lassen unsern Geist in [Farben] sprechen. Wie ist dies möglich, wie ist die Musik gleichsam wirklichkeitsschwanger, wie kann sie gleichsam sprechen, die keines Wortes mächtig ist? Töne gehen hin und her. Wie saugt sie sich schwellend voll mit Leben, daß sie als Vorform der Welt erscheint und als Mutter und zeugender Gott? Dieses »Gleichsam« ist eine Schlucht, in die ich oft gestiegen bin.
Kalypso: Setz dich zu mir. - Sollen meine Flöten blasen?
Musiker: Bitte. - Ich frage nicht ins Leere hinein. Die Musik ist wohl die freieste aller Künste. In jeder Kunst wachsen Pflanzen, die nicht in der Erde wurzeln, schlagen Kobolde, die keine Mutter gebar, einen Purzelbaum. Wirres Fabeltier waltet da, verschlungene Begebenheiten, die dämonisch durch geballte Nebel fratzen. Man nennt die Herrichter solcher Werke Phantasten und schilt sie, daß sie sündigen Umgang mit Wolken trieben. Gibt es ein Tier, das so wirr gestaltet, ohne Gleichnis wäre, wie ein Lied? Ist ein Phantast so phantastisch wie ein Musiker? Seine Arbeit spottet der Wirklichkeit und ihres Reichtums. Du kennst die Freunde der Weisheit, die Herrlichen, die dein Land einmal trug. Einer unter ihnen nannte die Nachahmung die nährende Erde der Kunst. Viele dachten seine Gedanken nach. Die Kunst sollte die Natur nicht treffen, sondern übertreffen. Allen irdischen Dingen sollte im Künstler eine zweite Hebeamme erstehen. Er sollte ihr Wesen, ihr halb von der Umwelt erdrücktes Wesen ans Licht heben.
Kalypso: Ich bin nicht stolz auf sie, meine allzuklugen Landsleute, die naseweisen. Sie hielten unsere Erde für ein Krüppelhaus. Nichts auf Erden verirrt und verfehlt sich, denk ich. Die Trauer, die Armut, die Schwäche täuscht sich damit.
Musiker: Nun möchte ich Deine anmaßlichen Weltweisen fragen, - sie wissen auf vieles eine Antwort, zum wenigsten ein Wort[,] und können auch Hohn ertragen -: Welcher Natur spielt Musik, die gleichnislose, beispiellose, die hilfreiche Freundin in den Geburtswehen? Ist Musik dann noch Kunst in ihrem Sinn und nicht vielmehr weniger oder ganz anderes als Kunst? Die Musiker haben sich stolz die Werkzeuge selbst gerichtet; eigenherrlich wandeln die Töne ab. Nun stimmt die Musik mit nichts überein.
Woher, wenn sie prahlend über die Wirklichkeit haust, nimmt die Musik den Sinn und bleibt nicht, was sie ist, ein krankes Auf und Ab? Sie saugt sich schwellend voll mit Leben? Was macht sie zu diesem Gleichsam fähig? Oder ist das Gleichsam geträumt? Und doch will, wie Du fühlst, dieses Wirrste des Wirren einen Hellblick in die Welt und unter ihren Boden tun, begreifender als die Sprache, gebärdet sich gar als Auftakt der Schöpfung.
Nun siehst Du, Kalypso, die beiden Punkte, die ich male. -
Kalypso: Fast auch die Linie zwischen ihnen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Alfred Döblin
Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman 'Berlin Alexanderplatz'. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alfred Döblin
- 2013, 1. Auflage, 640 Seiten, Maße: 12,6 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596904625
- ISBN-13: 9783596904624
- Erscheinungsdatum: 15.01.2013
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