Schweigegold
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Jan führte sie durch ein Gewirr enger Gässchen. Von der Gruppe war niemand mehr zu sehen. Sie hatten sie vermutlich verloren, sie würde Sepp später anrufen. Oder die anderen sowieso später in der Pension treffen. Nun gut.
Vor einer alten Synagoge stand eine Menschentraube, jemand erklärte etwas auf Russisch. Für einen Moment meinte Berenike sehen zu können, wie es früher hier gewesen sein mochte, als wäre die alte Zeit, in der hier Juden und Jüdinnen ihrem Alltag nachgingen, irgendwie noch am Leben. Als hätten sich die Bilder wie Schatten in die jetzige Wirklichkeit eingebrannt, wie Schatten, die ihnen überall hin folgten. Doch heute waren nirgendwo orthodoxe Juden zu sehen.
»Da! Das muss es sein.« Rose blieb abrupt stehen. Vor ihnen lag ein imposantes Gebäude mit schmutzig weißer Fassade und Stuckaturen, das auch auf der Wiener Ringstraße stehen hätte können, wenn es in besserem Zustand gewesen wäre. Über dem breiten braunen Haustor, das halb aus den Angeln hing, prangte vor einem Balkon eine Skulptur, die tatsächlich einen Fisch darstellte.
»Wir haben es wirklich gefunden«, brachte Berenike hervor. Sie wollte sich bei ihrem Guide bedanken, doch der war plötzlich verschwunden.
Berenike ließ die Szenerie auf sich wirken. Hier in dieser Gasse hatte also ihre Großmutter gelebt, war Kind gewesen, junge Frau. War durch dieses Haustor gegangen, um Besorgungen zu machen, in die Schule zu gehen. Hatte vielleicht vom Balkon herabgewinkt, dem damaligen Liebsten zugewinkt vielleicht. Hatte Freunde empfangen. Und irgendwann war sie für immer weggegangen.
Ob sie Sehnsucht nach hier gehabt hat?, fragte Berenike in Gedanken.
»Vielleicht war sie froh, wegzugehen, ein neues Leben anzufangen.« Rose zuckte mit den Achseln. »Nach allem, was passiert ist. Nachdem sie ihr den Liebsten erschossen haben.«
»Wie traurig!«, rief Berenike aus und etwas in ihrem Kopf klingelte, während sie den Balkon anstarrte und meinte, eine Frau in einem weißen langen Kleid dort stehen zu sehen, die ihr zuwinkte. Liebster, klang der Satz ihrer Mutter in ihr nach. Das Liebste. Die Postkarte mit dem Text über das Herzliebfeinste, das dem Unbekannten genommen worden war. Die Karte und die Geschichte der Familie hatten etwas miteinander zu tun, ganz sicher. Das hieß aber noch nicht, dass auch der Überfall auf Selene damit in Verbindung stand. Aber irgendwas sagte ihr, dass es doch zusammenhing. Die Schwester gehörte schließlich zum Liebsten in ihrem Leben. Und noch jemand, bisher.
»Ich möchte zu gern in dieses Haus hinein und es von innen sehen«, sagte Berenike.
»Du siehst, es geht nicht.« Ihr Vater hob beide Hände, resignierend. »Schau mal, es wird bewacht.«
Gerade bog ein Kerl in blauer Uniform um die Ecke, die Füße in martialischen Stiefeln, eine Schusswaffe umgeschnallt.
»Wozu denn das?« wunderte sich Berenike. »Es ist nur ein Abbruchhaus.«
Der Typ stapfte selbstbewusst die bröckelige Fassade des Gebäudes entlang, während er sein Umfeld genau musterte. Für einen Polizisten sah er zu wenig amtlich aus. Berenike tippte auf einen privaten Sicherheitsdienst. Aber wozu wurde ein abbruchreifes Gebäude überwacht? Von wem? Und warum waren die Fenster verbarrikadiert? Es war, als wolle das Haus nicht mit ihr reden, nichts mit ihr zu tun haben. Als wolle es sein Geheimnis bewahren.
Während der Security-Typ vor dem Tor stehen blieb und jede ihrer Bewegungen beobachtete, gingen sie zu dritt an der Hauswand entlang. An das Gebäude schloss eine niedrige Mauer an, über die die mageren Äste eines schmalen Baumes ragten. Ein schmales rostiges Eisentürchen war mit einer schweren Kette und mehreren Vorhangschlössern gesichert.
»Fort Knox als Bruchbude?« Ratlos blieb Berenike stehen und presste ihre Stirn an die Gitterstäbe. Zwischen wild wucherndem Grünzeug blühte ein Hollunderbusch weiß und süß duftend, darunter stand schief eine schmale Gartenbank mit abblätterndem weißen Lack, ein verbogenes, rostiges Fahrrad lehnte an einem Baumstamm.
»Irgendwas muss da drinnen sein, was die Besitzer verbergen wollen.« Rose beäugte ein paar Schritte weiter hinten mit schiefgelegtem Kopf die Mauer. Sie ging um die Ecke, Berenike folgte ihr. Heraußen stand ein mächtiger Nussbaum knapp vor der Mauer, darunter eine Bank. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war hinter einem Gitterzaun eine alte Rutsche auszumachen, daneben das Gerüst einer Schaukel, der das Sitzbrett fehlte. Auch hier war das Tor mehrfach mit Ketten und Schlössern gesichert.
Fred kam ihnen nach. Niemand außer ihnen dreien war in der Nähe. »Wer sagt, dass wir keinen Weg finden?«, fragte Rose keck und ging auf die Bank zu. »Es wird viel zu selten auf Bäume geklettert.« Etwas wackelig sah sie schon aus, als sie auf die Bank stieg und ein wenig aus dem Gleichgewicht kam. Sie streckte ihre Arme nach dem untersten Ast aus, bekam ihn zu fassen.
»Mama!«, zischte Berenike, »du kannst doch nicht einfach so da raufklettern.«
»Wer sagt, dass es eine Altersgrenze gibt, die verbietet, auf Bäume zu klettern? Hat schon Astrid Lindgren gesagt, Berry.«
»Ach, und deshalb machst du das jetzt?«
Wann hatten sich eigentlich die Rollen vertauscht, seit wann passte sie auf ihre Mutter auf statt umgekehrt?
»Wir wollen da rein! Das hast du selbst gesagt.« Rose trat von einem Bein aufs andere, knickte mit dem linken Fuß um und zog sich ein wenig an einem der Äste hoch. Das alles ohne ein weiteres Wort, vor allem ohne Schreckensschrei. »Also, was ist? Wir sind hier, um die Geschichte meiner Mutter zu ergründen und was das mit dem Überfall auf Selene zu tun hat. Willst du jetzt kneifen, Berry?«
»Rose«, mischte sich Fred ein, »sei vernünftig, wer weiß, ob die Äste tragen.«
»Dann mach du es, Fred, du bist dünner.« Rose stellte sich auf die Zehenspitzen und schielte über die Mauer.
»Ist da etwas?« Berenike sprang jetzt auch auf die Bank. Zumindest könnte sie die Mutter auffangen, wenn was wäre. Ein Vogel zwitscherte. Der Wind trug den Duft der Hollerblüten herüber.
»Verschwinden Sie.« Der Wachmann. Er stand wie aus dem Nichts plötzlich neben ihnen, die Hand an der Hüfte, bereit, seine Waffe zu ziehen. »Privatbesitz. Vääärrrrboten. Hier ist nichts.« Komisch, dass sie gleich auf Deutsch angesprochen wurden.
Berenike sprang von der Bank. »Entschuldigung, sorry. Alles okay. Kein Problem.« Sie hob die Hände in die Höhe und zog ihre Mutter herunter, Fred legte den Arm um Rose. »Komm, Mama.« Sie zog sie die Gasse entlang, weg von dem Gebäude. Ihr war, als würde ihnen jemand nachsehen, jemand aus der Jugend ihrer Großmutter. Gemeinsam gingen sie weiter, sich immer wieder umdrehend. Schritte hinter ihnen, harte Schritte. Stiefelschritte. Waren es jetzt schon mehr als einer? Ein schneller Blick über die Schulter, nein, immer noch derselbe einzelne Wachmann. Die Hand schwebte über dem Gürtel auf Höhe der Schusswaffe.
Sie gingen die Straße weiter. Am Ende der Mauer blieb er zurück. Sie rannten fast. Ein Handy klingelte. Berenike brauchte einen Moment, ehe sie die Melodie als ihre erkannte.
»Ja, bitte?« Im Laufen holte Berenike das Telefon hervor. Ihre Blicke flogen zurück, während sie über die Pflastersteine hetzten. Die Schritte ihrer Eltern klapperten hinter ihr.
»Ich lass mich nicht gern von Damen versetzen«, säuselte eine Männerstimme in ihr Ohr, während sie um eine Ecke bog. Der Pulverturm tauchte wieder vor ihr auf, dunkel, bedrohlich.
»Horst! Shit, dich habe ich komplett vergessen.«
»Das ist aber nett. So wichtig bin ich dir?«
Berenike meinte, ein Lachen zu hören. »Tut mir leid«, keuchte sie.
»Was ist denn los bei dir? Du klingst so gehetzt.«
»Erzähle ich dir nachher. Wo steckst du?«
»Beim Kafka-Museum nahe der Moldau, wie wir es ausgemacht haben. Ich wollte dich auf einen Drink einladen und dir die wunderbare Aussicht zeigen.«
»Okay. Verzeih.« Sie kam zum Stehen und sah ihre Eltern an. Fred blieb keuchend stehen und stützte die Arme in die Seiten. Rose sah sich nach allen Seiten neugierig um. Konnte sie die beiden alleine lassen? Der Wachmann war ihnen ja nicht nachgekommen. Und Horst hatte vielleicht interessante Kontakte hier, die ihnen nützlich sein konnten. Ein alter Mann stand an der Mauer des Pulverturms, lehnte sich aber nicht an, als wäre das unter seiner Würde. Seine grauen Haare waren akkurat nach hinten frisiert. So hatte sie sich ihren Urgroßvater vorgestellt, den harten Mann, der seine Tochter nicht mit einem Tschechen liiert sehen wollte.
»Geh zu deinem Treffen, Kind.« Fred strich ihr über den Rücken, noch immer schwer atmend. »Du hast ein Leben, nicht nur unsere alten Geschichten.«
»Ich komme, Horst, wartest du so lange auf mich? Ich muss dich was Wichtiges fragen. Ich weiß nur nicht, wie lange ich brauche.«
»Auf eine attraktive Frau wartet ein Mann wie ich gern.«
Machte er sich lustig? Oder war das ein Annäherungsversuch, nach all den Jahren, die sie sich kannten, in denen nie etwas gelaufen war zwischen ihnen? Hatte es sich bis zu Horst herumgesprochen, dass das mit Jonas … ja, was eigentlich? Dass es gestorben war? Ein Messer schnitt ihr mitten durchs Herz. Ein Messer, durch das sie starb, ohne dass es jemand bemerkte.
»Wo bist du, Berenike?«
»Vorm Pulverturm.«
»Das ist ja nicht so weit. Ich warte auf dich, schöne Frau!«
»Okay, Horst, bis gleich.« Sie legten auf.
»Wir werden uns schon eine Weile allein zu beschäftigen wissen«, versuchte Fred sie zu beruhigen. Rose warf sehnsüchtige Blicke zurück zu dem Gebäude, in dem ihre Vorfahren gewohnt haben mussten.
»Dass ihr mir keine Dummheiten macht, ich bitte euch.« Berenike sah ihre Eltern eindringlich und streng an.
»Wofür hältst du uns?«, fragte Rose hitzig.
»Bitte, seid einfach vorsichtig, okay?«
»Natürlich.« Fred klopfte ihr auf die Schulter. »Lass es dir gut gehen, du hast dir eine Auszeit verdient, nach allem, was passiert ist. Wir werden inzwischen deine Schwester anrufen und fragen, wie es ihr geht. Nicht wahr, Rose?«
»Mhm, mhm.« Rose klopfte ihre Taschen ab, als suchte sie etwas.
»Als dann, bis später. Am besten, ihr geht zurück zur Pension und wartet dort auf die anderen.«
»Wir werden sehen«, sagte Rose.
Mit mulmigem Gefühl trennte sich Berenike von ihren Eltern, sah ihnen nach, wie sie im grauen Zwielicht davongingen, zum Glück in die dem Haus entgegengesetzte Richtung. Die Mutter wirkte zielstrebig und aktiv, daneben klein und schmal der Vater. Was wohl mit Jelena war, seiner russischen Freundin? Ob sie noch zusammen waren?
Sie passierte noch einmal die Mauer, sicherheitshalber auf der gegenüberliegenden Straßenseite, gelangte wieder zu dem Baum, der Bank, die der Wachmann eben begutachtete, als könne sie ihm Auskunft geben. Langsamer ging sie an dem abweisenden Gebäude mit seinen toten Fensteröffnungen vorbei. Das große schiefe Tor schien sich in der Zugluft zu bewegen, und für einen Moment erwartete Berenike, die junge Sieglinde Roither heraustreten zu sehen, den Blick vielleicht noch nicht so kühl wie später. Eine junge Frau, die noch Hoffnungen hatte, Hoffnungen, die noch nicht zerstört waren. Eine, die verliebt war, die sich auf ein Treffen mit dem Geliebten freute, die noch nicht mit dem Blut von Krieg und Unterdrückung in Kontakt gekommen war. Das Bild, das sie sich vorstellte, war so anders als die behäbige Figur ihrer dicklichen Großmutter. Ein langer dunkler Rock, elegant, zielstrebig und leicht.
Berenike sah die Fassade entlang nach oben, als könne jemand im Fenster stehen und der jungen Sieglinde nachwinken. Ihr Vater, ein anderer Verwandter oder ein Dienstmädchen, das ein Tischtuch ausbeutelte. Aber nein, absolut jede Öffnung des Hauses war verbarrikadiert, als würde das Haus etwas vor ihr verschweigen, etwas verbergen wollen. Berenikes Blick wanderte über die einzelnen Stockwerke, überall das gleiche Bild.
Ratlos ging sie weiter, unsicher, ob sie die richtige Richtung eingeschlagen hatte, die Straßen wurden wieder belebter. Endlich, das da vorn sah aus wie die spitzen Türme der Teynkirche, und, ja, da war das Altstädter Rathaus. Erleichtert drängte sie sich durch die Schaulustigen, die vor der astronomischen Uhr warteten, folgte engen Gassen, überholte Gruppen von Italienern oder Russen, umrundete vor Souvenirläden herumstehende Asiaten, versuchte Abkürzung zu nehmen und landete in einer Sackgasse, ging wieder zurück, schob Kellner zur Seite, die marktschreierisch ihre Angebote offerierten ebenso wie einen Zweimeter-Mann, der sie in ein Geschäft ziehen wollte, in dem Menschen ihre Füße in Wasserbecken mit kleinen Fischen steckten. Der Riesen-Kerl sah dem Bewacher des Hauses vorhin verblüffend ähnlich. Zum Glück hatte er keine Waffe. Sie eilte weiter, tauchte im Gewühl unter, dankbar dafür, sich so tarnen zu können. Das ungute Gefühl ließ sie nicht los, als wäre da immer jemand hinter ihr, der sie verfolgte, mehrfach drehte sie sich um, aber wie sollte sie einen ihr unbekannten Verfolger erkennen? Etwas würde passieren, sie ahnte es. Ahnte es wie den Regen, der sich jeden Moment aus den dunklen Wolken ergießen würde. Das Licht in den engen Gassen wurde noch düsterer, grelle Scheinwerfer aus Juwelierläden strahlten vergeblich dagegen an.
Endlich hatte sie die Karlsbrücke erreicht. Unter dem Brückenturm stauten sich die fotografierwütigen Touristen. Sie hätte die Moldau über eine andere Brücke überqueren sollen, zu spät, sie kämpfte sich tapfer weiter durch die Massen, schwamm mit ihnen mit. Stellte sich dabei ihre Großmutter Sieglinde vor, wie sie hier entlanggegangen sein mochte, auf dem Weg zu ihrem Geliebten. Das dunkle Wasser der Moldau lockte, der beleuchtete Hradschin am gegenüberliegenden Ufer. Vor der Statue aus dunklem Stein des tschechischen Nationalheiligen Nepomuk drängten sich besonders viele Menschen. Eine lange Schlange hatte sich gebildet, um eine glänzend blankpolierte Plankette abzuküssen, auf der das Drama des Heiligen abgebildet war. Eine Fremdenführerin schrie mit schrillen Worten ohne Betonung die Legende heraus, wie man Nepomuk die Zunge abgeschnitten und ihn in die Moldau gestürzt hatte, weil er dem König trotz dessen Forderung die Beichtgeheimnisse der Königin verschwiegen hatte. Schweigen war wohl doch nicht immer Gold.
Auch beim Kleinseitner Brückenturm drängten sich die Touristen. Lokale, Geschäfte, Sightseeing-Touren, ein Fast-Food-Laden neben Kristall, hier gab es alles und nichts. Einmal abgebogen vom Hauptpfad, wurde es aber verblüffend still. Über einsame, gepflasterte Gässchen erreichte Berenike schließlich das Kafka-Museum direkt am Moldauufer. Von Weitem war ein großes Plakat mit dem Porträt des Schriftstellers zu sehen. Was er wohl heute zu diesem Rummel sagen würde, jener Mann, der seine Romanmanuskripte nach dem Tod verbrannt haben wollte?
»Da bist du ja, schöne Frau!« Horst stand lässig gegen eine Mauer gelehnt, braun gebrannt wie immer, die dunklen Haare etwas kürzer als bei ihrem letzten Treffen. Er trug einen feinen grauen Anzug, dem man ansah, wie teuer er gewesen sein musste. »Servus!«
»Grüß dich, Horst. Entschuldige bitte meine Verspätung.«
»Kein Problem, Berenike.« Er umarmte sie und küsste sie zart auf beide Wangen, die Berührung war fast nicht zu spüren und gerade dadurch sehr eindringlich. »Ich freue mich, dass wir uns wiedersehen! Aber wieso schaust du denn so?«
»Wie schau ich denn?«
»Als wär jemand hinter dir her! Du hast mich angesehen und dich gleich wieder umgedreht.«
Sie schüttelte den Kopf, drehte sich dabei tatsächlich nochmals um, doch sie waren allein. »Beobachtest du mich? Das gefällt mir gar nicht.«
»Ich musste nach dir Ausschau halten, nicht wahr?«
»Stimmt.« Sie zwang sich zu einem Lächeln, spürte, wie es an ihren Mundwinkeln hängen blieb, nicht in ihr Herz drang. »Und wo wollen wir hingehen?«
»Hier entlang, bitte schön, meine Dame!« Er bot ihr den Arm, sie ging darüber hinweg, ohne ihn anzunehmen. »Ich würde dir gern ein Lokal direkt am Wasser zeigen. Du magst doch Cocktails?«
»Aber gern.« Dem Alkohol hatte sie eine Zeit lang abgeschworen, aber diese Phase war vorbei. Es war alles nur eine Phase, hoffentlich auch das alles jetzt.
»Dann komm mit, hier lang, bitte schön. Wir gehen das kleine Stück zu Fuß, es sind nur ein paar Schritte. Wenn es dir recht ist?«
»Gern, ich geh gern zu Fuß.« Sie musste an Max denken, wie er sie im Regen aufgegabelt hatte. Am selben Tag war Selene überfallen worden. Ihr war zumute, als wäre das endlos lange her, aber es waren nur einige Tage vergangen. Die Dämmerung brach mit aller Macht über die Stadt herein, die Figuren auf der Karlsbrücke sahen aus der Entfernung wie dunkle Scherenschnitte aus, gegen die die altmodischen Laternen anleuchteten.
»Na, hast du endlich eine Auszeit für dich?«, fragte Horst mit weicher Stimme.
»So ungefähr.« Berenike blieb absichtlich vage.
Sie kamen zum Flussufer, zwischen struppigen Bäumen roch es nach feuchtem Sand, nach Schlick und Fisch. Eine Ente quakte. Hintereinander lagen die Brücken über die Moldau, die Lichter darauf wie Perlenketten. Möwen flogen kreischend über dem Fluss, umkreisten einige Ausflugsschiffe. Blitzlichter von Kameras leuchteten auf.
»Und da sind wir schon.« Horst zeigte geradeaus auf eine auf dem Fluss schwimmende Terrasse. Kerzen auf den Tischen leuchteten gegen die Dunkelheit an. Schwarz gekleidete Kellner eilten über einen Bootssteg, Schatten in der Nacht. Horst ließ Berenike den Vortritt, unter leichtem Schwanken betrat sie die Terrasse. Nur wenige Tische waren besetzt, sie fanden Plätze direkt am Wasser, das im Dunkel plätscherte. Horst überließ ihr den Platz mit Blick zum Hradschin, der alten böhmischen Königsburg mit dem Veitsdom. Er wartete, bis sie saß, ehe er ihr gegenüber Platz nahm. Alte Elmayer-Schule, das hatte sie fast vergessen. Sofort kam ein Kellner herbeigeeilt und überreichte ihnen mit devoter Geste die Karte.
»Du bist mein Gast, Berenike«, sagte Horst, als der Kellner sich entfernte. »Ich empfehle dir einen Cocktail mit Absinth, die sind hier famos.«
»Also gut. Ein Imbiss wäre ebenfalls gut.« Sie bestellten ihre Drinks und Canapés dazu.
»Was führt dich in diese schöne Stadt?«, fragte Horst schließlich mit seiner samtigen Stimme und griff nach ihrer Hand, ließ sie aber los, ehe sie sie ihm entziehen konnte. Die Berührung war nicht unangenehm, sie war nur nicht das, wonach sie sich sehnte. Was das genau war, wusste sie selbst nicht recht.
»Ich mache eine Reise in die Vergangenheit. Die Vergangenheit meiner Familie.« Sie drückte mit einer Fingerkuppe an dem weichen Wachs der Kerze herum und starrte in die Flamme, als könnte sie dort die Ereignisse der Vergangenheit sehen. »Meine Eltern sind mitgekommen. Meine Großmutter, die Mutter meiner Mutter, wuchs in Prag auf.«
»Oh, wie interessant.« Er sah sie neugierig an. »Du bist aber hoffentlich nicht wieder in eine Ermittlung verwickelt?«
Sie war offenbar bekannt für ihre Mordfälle. Berenike zögerte mit einer Antwort. Der Kellner servierte zwei knallgrüne Drinks in bauchigen Gläsern und ging wieder. Sie schüttelte den Kopf. »Kein Mordfall, nein. Nur versuchter Mord.«
»Dann bin ich froh. Lebt deine Großmutter noch?«
»Leider nein.« Eine Windböe fuhr in Berenikes Haare. Sie bewegte die Schultern, ein wenig fröstelnd trotz der Heizstrahler. Eine Möwe flog kreischend nahe an der Reling vorbei.
»Vielleicht kann ich dir bei deiner Spurensuche helfen? Ich habe gute Kontakte in Prag.« Horst, dieser Angeber!
»Vielleicht.« Sie dachte an das verbarrikadierte Haus, die Geschehnisse davor, den Mann mit der Schusswaffe. Sie schwieg.
»Sag Bescheid, wenn es so weit ist.« Horst ließ sie nicht aus den Augen. »Ich habe dir übrigens etwas mitgebracht, das könnte dir vielleicht bei der Ermittlung helfen.« Er zog ein Päckchen aus seiner Tasche und schob es ihr über den Tisch zu. »Sozusagen ein Willkommensgeschenk für Prag.«
»Danke, das ist aber nett.« Ein Kälteschauder rann ihr den Rücken hinunter, als sie nach dem Päckchen griff und das Geschenkpapier herunterriss. Ein schmaler Band mit alten Ansichtskarten kam zum Vorschein. ›Bilder aus dem alten Prag‹ lautete sein Titel. Berenike lächelte, aber sie fror immer noch. »Oh wie passend. Dabei konntest du nicht wissen, dass ich auf historischen Spuren wandle.«
»Nein, das nicht.«
Sie blätterte das Büchlein auf, erkannte das Altstädter Rathaus auf der ersten Seite, dann die Karlsbrücke, blätterte wieder um. Das nächste Foto zeigte den Pulverturm. Es musste dieselbe Aufnahme sein wie auf der anonymen Ansichtskarte, die sie bekommen hatte. Nur mühsam unterdrückte sie ein Zähneklappern, so kalt war ihr. Sie zwang sich dazu, das Buch mit ruhiger Geste zu schließen.
»Danke«, setzte sie schließlich an, um das Schweigen zu brechen, das düster lastend zwischen ihnen lag. »Und was machst du genau in Prag?« Sie spürte seinen Blick auf sich und sah schließlich auf.
»Die Geschäfte gehen gut, da heißt es expandieren. Mein Unternehmen betreut jetzt eine tschechische Vertretung der Immobilienentwickler mit Kontakten zur EU.«
»Gratuliere zu diesem Erfolg!«
»Wir haben ein zweites Büro hier in Prag eröffnet, zusätzlich zu dem in Wien, das natürlich weiterbesteht. Und ich habe hier eine Wohnung. Immer im Hotel«, er zwinkerte ihr zu, »ist auf Dauer nicht mein Fall.«
»Das mochte ich auch nie, jetzt verreise ich aber nicht mehr so viel.«
»Nicht? Geht dir das nicht ab?«
»Nein.« Schulterzucken. Oder doch? »Ich bin wohl ziemlich sesshaft geworden.«
»Du hast immer noch deinen Teesalon?«
»In Aussee, ja. Aber die Geschäfte gehen in letzter Zeit etwas schleppend.«
»Das tut mir leid. Du kannst jederzeit bei mir anfangen«, sagte er prahlerisch. »Natürlich nur, falls du zurück in die Eventplanung möchtest.«
»Danke, so schlimm ist es nicht. Ich bin froh, dass ich da weg bin.«
»Ach so.« Er nippte am Drink. »Hast du denn schon was zu eurer Familiengeschichte gefunden? Weißt du, wo deine Vorfahren gewohnt haben?«
»Woher weißt du, was wir suchen?«
»Das war nur geraten, Berenike.«
Ihre Hand spielte mit dem Ansichtskartenbuch, ein Schmerz durchzuckte eine Fingerkuppe, sie hatte sich an dem Papier geschnitten. Ein hauchdünner Blut-streifen war zu sehen. »Wir haben tatsächlich das Haus gefunden, in dem meine Großmutter und ihre Eltern gelebt haben. Obwohl sich meine Mutter nur an die Erzählungen ihrer Mutter erinnert und selbst nie hier war. Vor allem an das Hauszeichen erinnert sie sich, einen Fisch.«
»Einen Fisch? Das ist doch ein jüdisches Symbol, wenn ich mich nicht irre.«
»Stimmt.« Berenike nahm auch noch einen Schluck. Ihr wurde nicht wärmer, der Wind blies stärker, die Wellen platschten gegen die Floßwand. »Ich war überrascht, dass das Gebäude immer noch existiert.«
»Das ist in Prag nicht ungewöhnlich, Berenike. Prag wurde kaum bombardiert im Zweiten Weltkrieg, und nachher in der kommunistischen Ära fehlte das Geld, um was Neues zu bauen. So ist viel an alter Bausubstanz erhalten worden, ein Glück für meinen Auftraggeber, der ein Projekt zur Instandhaltung von Gründerzeithäusern betreibt. Die Touristen lieben alte Steine.«
»Da hätte dein Verein mit dem Haus, in dem meine Großmutter gelebt hat, noch einiges zu tun.« Sie beschrieb ihm den verwahrlosten Zustand des Gebäudes, die verbarrikadierten Fenster. Den Security-Mann ließ sie aus, sie wusste nicht, wieso.
»Wem gehört das Haus heute?«
»Wenn ich das wüsste, Horst.«
»Soll ich für dich nachforschen? Es könnte leicht sein, dass man den rechtmäßigen Eigentümer noch gar nicht kennt. Viele Gebäude wurden erst von den Nazis enteignet, danach von den Kommunisten.«
»Also könnte das Haus meiner Vorfahren Juden gehört haben?«
»Kann sein, der Fisch als Hauszeichen würde dazu passen. Die früheren Besitzer wurden womöglich in alle Winde verstreut. Es ist nicht leicht, so was heute festzustellen.«
Berenikes Frösteln wurde immer stärker. Sie erinnerte sich an die Erzählungen ihres Vaters über seine jüdische Herkunft. Da waren sie wieder, die Geister der Vergangenheit, immer und immer wieder, überall.
»Nach der Besetzung durch die Nazis wurden auch die Prager Juden verfolgt, viele von ihnen ermordet, wie überall im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten. Der alte jüdische Friedhof und die Synagogen hier haben sich nur erhalten, weil Hitler damit ein Museum einer ausgestorbenen Rasse bauen lassen wollte.«
»Bizarr.« Berenike unterdrückte ein Zähneklappern.
»Jedenfalls gibt es seit der Wende 1989 immer wieder Anträge auf Rückerstattung. Einerseits wegen der Arisierung durch die Nazis, andererseits auch von Häusern, die die Kommunisten enteignet haben. Oft dauert es lange, bis man den tatsächlich korrekten Besitzer ermittelt hat.« Horst nahm ihre Hände zwischen seine. »Dir ist kalt, stimmt’s?«
»Es geht schon.« Sie zog die Hände weg, griff nach ihrem Glas. »Ich hätte nicht gedacht, dass es immer noch darum geht, nach so langer Zeit.«
»Gut, dass du mich hast, nicht wahr? Ich kenn mich schon ganz gut in der Stadt aus. Man könnte nachfragen, ob an der Adresse ein Rechtsstreit anhängig ist.«
»Das wäre möglich?«
»Klar. Vielleicht sollte das Haus sogar dir gehören. Beziehungsweise eurer Familie.«
»Meiner Mutter, meiner Schwester.« Berenike versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, so eine Bruchbude zu besitzen. Und wer ein Interesse daran hatte, ein Haus wie dieses derart bewachen zu lassen.
»Wie lautet die Adresse? Dann frag ich einen Kontaktmann.« Er zückte bereits ein Handy.
»Da stand nur Praha, Staré Mesto 2013.«
»Hoppla, das ist aber eine gute Gegend. Wundert mich nicht, dass ein Grundstück in dieser Lage Begehrlichkeiten weckt.«
»Da stand sogar ein bewaffneter Typ vor dem Grundstück«, ergänzte sie nun doch.
»Das ist hier keine Seltenheit, Berenike. Viele Hausbesitzer haben Angst, dass sich Obdachlose dort breitmachen, das kommt des Öfteren in solchen Abbruchbuden vor.«
»Es muss einmal ein schönes Haus gewesen sein.«
»Das glaub ich dir, aber wenn es so ist, wie du es beschreibst, ist es abbruchreif. Dann geht es nur um das Grundstückseigentum.«
»Schade eigentlich.«
»Was willst du machen? Das ist der Lauf der Welt. Häuser werden gebaut und verfallen. Neue werden gebaut und verfallen auch wieder. Wir leben auch nicht mehr in Höhlen. Oder möchtest du gern in einem dieser Altstadthäuser wohnen, dessen hohe Räume kaum heizbar sind?«
»Hm, ich weiß nicht. Ich mag sie halt. Stell dir vor, jemand würde all das hier abreißen wollen und neu bauen. Statt der Burg einen Präsidentenpalast aus Glas und Stahl.«
»So weit geht es nun doch nicht, Berenike.« Er drehte sein Glas in den Händen. »Wie lange bist du übrigens noch in Prag? Morgen findet ein Ball der Architekten statt, da kann ich dich jemandem vorstellen, der dir bei deinen Nachforschungen helfen könnte.« Hoffnungsvoll guckte er sie über seinem halb vollen Glas an. »Du tanzt doch gern?«
»Das stimmt.«
»Ich würde mich über deine Begleitung freuen.« Diesmal blieb seine Hand länger auf ihrer liegen. Sie beließ es einen Moment dabei, Wärme stellte sich aber nicht ein. Dann zog sie ihre Hand unter seiner hervor und griff wieder nach dem Glas. Leer.
»Komm, wir trinken noch was.« Er winkte dem Kellner, deutete auf ihre Gläser, bestellte mit Zeichensprache dasselbe noch einmal. »Der Ball findet im Zofín statt, einem der schönsten Veranstaltungsorte in Prag. Es wäre mir eine besondere Ehre, wenn du mich begleitest.«
»Ich habe aber kein Kleid mit.«
»Dieses Problem lässt sich lösen. Hanka ist eine tolle Designerin. Und meine Kundin. Ich organisiere ihre Modenschauen. Also?«
»Na gut. Ich hab lange nicht mehr Walzer und so getanzt. Ich muss nur noch mit meinen Eltern reden.«
»Mach das und ruf mich an.«
*
Es war stockdunkel, als Berenike sich nach dem zweiten Drink auf den Weg zurück zur Pension machte. Horst hatte angeboten, sie zu begleiten, aber das hatte sie abgelehnt. Ihr war nach Alleinsein.
»Am besten nimmst du den direkten Weg von der Kampa rauf zur Karlsbrücke«, erklärte Horst ihr und sah sie ein wenig fragend an, als ob er hoffte, dass sie es sich anders überlegte. Sie schwieg, er umarmte sie zum Abschied. Eine Sekunde zu lange und einen Tick zu eng.
Auf der Kampa war es still, Leute waren nur vereinzelt unterwegs. Der gelbliche Schein der Laternen spiegelte sich im Wasser eines kleinen Baches. Ein altes Mühlrad bewegte sich träge, eine Ente schnatterte müde, wie im Schlaf. In jedem Hauseingang lauerten Schatten, die weiß der Himmel was sein mochten und sich fast immer in nichts auflösten. Einmal huschte eine Katze fauchend über den Weg, dann war es wieder still. Die Tür eines Restaurants ging von innen auf, ein Mann trat heraus und zündete sich eine Zigarette an, warf einen neugierigen Blick auf Berenike. Mit schnellen Schritten klapperte sie über das holprige Pflaster. Plötzlich waren hinter ihr Schritte zu hören. Ihr Herz schien auszusetzen, um gleich darauf umso heftiger zu schlagen. Vorsichtig sah sie sich um. Niemand war in der Nähe. Dafür befand sich hier der Stiegenaufgang zur Karlsbrücke, vielleicht waren die Schritte von dort gekommen. Hoffentlich.
Berenike eilte die Treppe hinauf. Auf der steinernen Brücke waren zum Glück noch mehr Leute unterwegs, die meisten zielstrebig gegen den starken Wind gestemmt. Auf der anderen Uferseite ging sie geradeaus weiter, wie es ihr Horst beschrieben hatte. Auch der Altstädter Ring wirkte verlassen, die beleuchteten Türme der Teynkirche hoben sich vom nachtblauen Himmel ab.
Berenike schob die Hände in die Jackentaschen. Ihre Finger ertasteten das Büchlein mit den alten Prag-Ansichten und zuckten zurück, als hätte sie sich daran verbrannt. Am liebsten hätte sie es im nächsten Mistkübel versenkt, tat es aber dann doch nicht.
Dunkel drohend tauchte der Pulverturm auf. Ob ihre Oma wohl als junge Frau nachts hier diese Straße entlanggegangen war, auf dem Heimweg von einer Theatervorstellung vielleicht? Hatte sie sich überhaupt fürs Theater interessiert? Seit sie in Prag waren, hatte Berenike das Gefühl, ihre Oma überhaupt nicht zu kennen.
Als wäre Sieglinde Roither eine Fremde, der sie gerade erst begegnete.
Eine dunkle Kutsche fuhr langsam vorbei, ein einzelnes Pferd vorgespannt, das den Kopf müde gesenkt hielt. Das Licht einer Laterne spiegelte sich auf dem schwarzen Lack der Kutsche. Berenike schlug den Kragen hoch. In der Fußgängerzone waren alle Geschäfte geschlossen, einige Bars hatten geöffnet, Musik drang heraus, ein paar Jugendliche standen lachend und rauchend vor einer Absinth-Kneipe.
Endlich kam der Kirchturm in Sicht, dann die Straße, in der ihre Pension lag. Die Straßen waren hier schwächer beleuchtet als im Zentrum. Berenikes Schritte hallten von den Häuserwänden wider, die Glocke schlug zweimal. Berenike suchte nach dem Schlüssel, sperrte auf, drückte das schwere, alte Tor auf und trat ein. Das Haustor fiel krachend hinter ihr ins Schloss.
Sie schloss die Wohnungstür hinter sich ab. Die Stimmen ihrer Eltern drangen aus dem Salon, laut, durcheinanderredend. Wieso waren die überhaupt noch wach, weit nach Mitternacht? Hoffentlich hatten die beiden nicht ausgerechnet jetzt einen ihrer handfesten Streits.
»Ich bin wieder da«, rief sie und legte ihren Schlüssel auf die dunkle Kommode neben der Tür. Dann betrat sie das Wohnzimmer mit der geblümten Tapete.
»Da bist du endlich, Berry«, sagte ihre Mutter mit etwas schwerem Zungenschlag.
»Nein, da ist sie auch nicht.« Fred kam aufgelöst aus einem anderen Zimmer in den Salon, seine Haare standen in alle Richtungen. »Ach, Berry, endlich.«
»Grüß euch, was ist denn hier los? Ich bin überrascht, dass ihr noch nicht schlaft.«
Überall lag Zeug herum, das sie doch bei Ankunft in die Kästen geräumt hatten, so hatte sie zumindest gedacht.
»Dein Vater vermisst seine Geldtasche.« Rose zog die Augenbrauen hoch.
»Was? Oh nein. Scheiße!« Berenike ließ sich auf die altertümliche Chaiselongue fallen, deren Federn quietschend unter ihr nachgaben. »Deinen Pass hast du?«
»Der ist da. Zum Glück war nicht viel Geld in der Brieftasche.«
»Wenigstens etwas. Was hast du da?« Seine Wange sah blau aus, als hätte er einen Schlag abbekommen. Oder kam das von dem Licht? Sie stand auf, wieder quietschten die Federn. Ging zu ihm. Sah aus, als hätte der Vater einen blauen Fleck auf der Wange.
»Ach, das ist nichts, Berenike.« Er nahm seine Brille ab, fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. Müde sah er aus. Müde und alt.
»Er ist mit jemandem zusammengestoßen«, erklärte Rose.
»Jemand hat mich von hinten angesprochen und dann bin ich herumgefahren. Na ja.« Er rieb sich die Augen. »So was kann passieren.«
»Und dabei ist die Geldtasche verschwunden?«
»Weiß ich nicht. Beim Abendessen war sie jedenfalls nicht mehr in meinem Jackett.«
»Wo ist das passiert?«
»Im jüdischen Viertel.«
»Ihr wart doch nicht noch einmal bei Omas Wohnhaus?«
»Doch, genau dort waren wir. Aber nicht absichtlich.«
Fred setzte seine Brille wieder auf. »Die Gassen sind wie
ein Labyrinth, aus dem man nicht herausfindet.«
»Kafkaesk«, murmelte die Mutter.
Berenike ließ sich wieder auf die Chaiselongue fallen, die das erneut quietschend kommentierte. »Ihr habt aber aufgepasst wegen dieses Wachmanns, hoffe ich?«
»Natürlich, Berry! Wofür hältst du uns?« Rose stemmte erbost die Hände in die Hüften.
»Zumindest wird uns der Freund, den ich gerade getroffen habe, Horst ist sein Name, er wird uns mit dem Gebäude helfen«, erzählte Berenike. »Er sagt, er kann womöglich rausfinden, wer die Eigentümer sind oder waren.«
»Der Wachmann war wieder dort. Es hat sich sehr komisch angefühlt, dort in der Gegend mit den alten Synagogen.«
Mit einem Mal konnte Berenike sich ihren Vater in einer jüdischen Gemeinschaft vorstellen, zwischen all den uralten Gebäuden. Sie konnte ihn sich vorstellen, wie er gelebt hätte, als Jude unter Juden, hätte es die Nazis nicht gegeben. »Tut mir leid, ich hätte euch warnen sollen.«
»Du kannst nichts dafür, Tochter. Taschendiebe gibt es überall.«
»Jetzt hört schon auf.« Rose raschelte in ihrer braunen Handtasche, zog eine Flasche mit grünem Inhalt hervor. »Seht her, was ich habe. Absinth, der ist typisch für Prag, hat man mir in dem kleinen Geschäft gesagt. Das trinken wir jetzt auf den Schrecken und dann ist alles wieder gut.«
»Ich habe das schon gekostet, danke.« Berenike stand auf. »Ich werde schon mal ins Bad gehen.«
»Was hat sie denn?«, hörte sie die Mutter ratlos fragen und den Vater irgendwas antworten.
- Autor: Anni Bürkl
- 2015, 245 Seiten, Maße: 12 x 20 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Gmeiner-Verlag
- ISBN-10: 3839216672
- ISBN-13: 9783839216675
- Erscheinungsdatum: 02.02.2015
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