Sehnsucht ist ein Notfall
Am Tag vor Silvester bekommt Eva einen Anruf von ihrer Oma: Sie macht mit Opa Schluss und verlässt ihn. Nach sechzig Jahren Ehe. Und Eva? Liebt ihren Freund. Es ist...
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"An einem sonnigen Tag im Januar gingen wir ins Meer und schrien vor Glück."
Am Tag vor Silvester bekommt Eva einen Anruf von ihrer Oma: Sie macht mit Opa Schluss und verlässt ihn. Nach sechzig Jahren Ehe. Und Eva? Liebt ihren Freund. Es ist gut, wie es ist. Aber reicht "gut" in einer Beziehung aus? Kann es anders besser sein? Eva und Johannes sind beide über dreißig und leben seit ein paar Jahren zusammen. Johannes liebt seinen Job als Lehrer und Eva ihren als Physiotherapeutin. Eva will vielleicht ein Kind, Johannes nicht. Darüber reden sie nicht, denn eigentlich ist die Sache entschieden. Aber dann stolpert Eva Hals über Kopf in eine Affäre mit Tobias, dem jungen Vater eines ihrer kleinen Patienten. Eigentlich ist es nur eine Nacht - aber passiert das, wenn man glücklich ist? Als ihre Oma anruft und erzählt, dass sie es zu Hause nicht mehr aushält, beschließen die beiden: Wir hauen ab! Nach Italien, ans Meer. Familie und Freunde sind in Aufruhr, Johannes und Tobias schicken eine SMS nach der anderen. Aber es geht ums Eingemachte: Kann man immer wieder neu anfangen? Wie viele Kompromisse verträgt eine Beziehung? Wird man glücklich ohne Kinder? Und vor allem: Wie wird man Sophia Loren? Sabine Heinrichs Debüt ist ein ganz besonderer Generationenroman: eine turbulente Road Novel über zwei Frauen vor einer großen Entscheidung, eine komisch-melancholische Fahrt durch Italien im Januar und eine hinreißend leicht erzählte Geschichte über das Verlangen nach Verlangen.
Am Tag vor Silvester bekommt Eva einen Anruf von ihrer Oma: Sie macht mit Opa Schluss und verlässt ihn. Nach sechzig Jahren Ehe. Und Eva? Liebt ihren Freund. Es ist gut, wie es ist. Aber reicht »gut« in einer Beziehung aus? Kann es anders besser sein?Eva und Johannes sind beide über dreißig und leben seit ein paar Jahren zusammen. Johannes liebt seinen Job als Lehrer und Eva ihren als Physiotherapeutin. Eva will vielleicht ein Kind, Johannes nicht. Darüber reden sie nicht, denn eigentlich ist die Sache entschieden. Aber dann stolpert Eva Hals über Kopf in eine Affäre mit Tobias, dem jungen Vater eines ihrer kleinen Patienten. Eigentlich ist es nur eine Nacht - aber passiert das, wenn man glücklich ist?Als ihre Oma anruft und erzählt, dass sie es zu Hause nicht mehr aushält, beschließen die beiden: Wir hauen ab! Nach Italien, ans Meer. Familie und Freunde sind in Aufruhr, Johannes und Tobias schicken eine SMS nach der anderen. Aber es geht ums Eingemachte: Kann man immer wieder neu anfangen? Wie viele Kompromisse verträgt eine Beziehung? Wird man glücklich ohne Kinder? Und vor allem: Wie wird man Sophia Loren?Sabine Heinrichs Debüt ist ein ganz besonderer Generationenroman: eine turbulente Road Novel über zwei Frauen vor einer großen Entscheidung, eine komisch-melancholische Fahrt durch Italien im Januar und eine hinreißend leicht erzählte Geschichte über das Verlangen nach Verlangen.
31. Dezember
»Eva, ich muss dir was sagen: Ich ziehe aus, ich will nicht mehr, ich mache Schluss und verlasse ihn. Das ist jetzt meine Chance auf einen Neuanfang und die Wohnung ist schön, ich habe sie mir gerade angeguckt. Sie ist sauber und es gibt eine Badewanne auf der Etage und eine Heizung. Ich habe noch nie eine Heizung gehabt, ich hatte immer nur einen Ofen und jetzt steht meine Entscheidung fest, er kann sehen, wie er klarkommt. Da liegt noch ein Haufen Wäsche, die wasche ich ihm nicht mehr. Wirst du mir beim Umzug helfen? Es ist nicht viel. Nächste Woche bin ich weg.«
»Oma?«
»Jaja, du hast viel zu tun, ich will nicht stören. Onkel Richard hat ja einen großen Kofferraum. Ich brauche auch nichts, ich nehme nichts mit.«
»Oma, es ist Silvester und ich stehe quasi unter der Dusche und du erzählst mir, dass du mit Opa Schluss machst?«
»Wenn du das so sagen willst, dann mache ich mit Opa Schluss. Pass auf, wenn du noch was aus der Wohnung haben willst, dann komm vorbei: Ich frage Onkel Richard, ob er einen Container bestellen kann. Dann kommt alles weg.«
»Und was sagt Opa dazu?«
»Dem sage ich es morgen, ich glaube, er kommt gerade die Treppe runter, ich muss auflegen. Und denk daran, heute die Wäsche abzunehmen. Tschüss, Evakind.«
Es klickt in der Leitung.
»Ja, Oma. Wäsche über den Jahreswechsel hängen zu lassen, bringt Unglück. Ich weiß. Guten Rutsch!«, sage ich in die tote Leitung.
Johannes hat sich mittlerweile auf den Klodeckel neben der Badewanne gesetzt und drückt mir ein Glas Sekt in die Hand. »Hier, zum Vorglühen. Was wollte sie denn, das nicht bis nach dem Duschen warten konnte?«
»Warte -«, ich kippe den Sekt in einem runter und gebe ihm das leere Glas zurück, »könnte ich noch einen haben? Oder noch besser: Bring die ganze Flasche mit. Oma macht mit Opa Schluss. Prosit Neujahr!«
»Was?« Er schüttelt den Kopf: »Hatte sie ein Mon Chéri zu viel?«
»Ich glaube, sie meinte das ernst.«
»Dann hole ich lieber mal eine Flasche Schnaps. Hat sie einen neuen Typen?«
»Spinnst du? Sie ist 79, da hat man keinen neuen Kerl. Hol endlich mehr Alkohol, sonst suche ich mir noch einen.«
Johannes geht in die Küche und kommt mit der Flasche Sekt zurück. Er gießt nach und stellt sie auf das Spülbecken.
»Die Oma ist krass drauf«, sage ich in den Duschkopf. Das Glas halte ich so, dass kein Wasser reinkommt. Der kalte Sekt im Mund in Kombination mit dem heißen Wasser fühlt sich toll an. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass sich Johannes auszieht. Er legt seine Sachen ordentlich auf die kleine Anrichte neben dem Waschbecken. Was ist denn hier los, so ist er doch sonst nicht drauf? Nicht, dass das jetzt in ungelenkem Silvestersex unter der Dusche endet. Er steigt zu mir und schiebt sich an mich heran, wahrscheinlich um auch Wasser abzubekommen.
»Ich verstehe Oma nicht. Ich meine, wenn jetzt Kati oder Anne noch schnell vor dem neuen Jahr Thomas oder Jan abschießen würden ... Mit 180 km/h unterwegs in die Zukunft. Häppienujier.«
»Mäuschen, deine Mädels schieben mit 3,6 km/h ihren Bugaboo Richtung Latte macchiato. Kati hat ihr Kind schon und Anne castet wöchentlich einen neuen potenziellen Vater.«
»Woher willst du das denn wissen?«
»Ach komm, ihr Frauen. Unter 30 mit dem Rucksack die Welt erobern und ab 30 redet ihr nur noch über Kinder ... Zum Glück erobern wir zusammen die Welt. Komm Süße, wir trinken auf Patagonien! Nur wir zwei und der W-Trek. Das wird super nächstes Jahr!«
»Ach, Johannes!« Ich friere, weil ich nicht mehr genug heißes Wasser abbekomme.
»Erst mal muss ich gucken, was mit Oma ist«, sage ich und tauche unter seinem Arm durch raus aus der Dusche.
»Was denn? Kein Silvestersex in der Dusche? Wofür habe ich dir den Sekt gebracht?«
»Keine Zeit, Hase. Ich muss noch die Wäsche abnehmen, es ist ja Silvester.«
»Alles klar, Mutti.«
Neujahr
Der erste Januar gilt gemeinhin als Zäsur: Man kann eine Diät beginnen, mit dem Rauchen aufhören oder den Opa abschießen. Oder sich selbst, stelle ich fest, als ich an gestern Abend denke. Mein Vorsatz fürs neue Jahr lautet: auf dem Sofa liegen bleiben. Am Abend werde ich sehr stolz auf mich sein, weil ich das durchgehalten habe.
Johannes und ich leben jetzt drei Jahre zusammen und ich freue mich jeden Tag, dass sich mein Sofa gegen seins durchsetzen konnte.
»Du musst Pissmarken setzen im neuen Revier: Lass ihn bloß nicht sein Ivar-Regal aus der Studibude aufbauen, auch nicht ›erst einmal‹ - dann hast du es ewig da stehen«, war ein sehr guter Ratschlag einer Freundin.
Und in der Tat: Lehrer haben anscheinend eine Schwäche für diese Regale. Selbst als Johannes schon länger mit dem Referendariat fertig war, konnte er sich nur schwer von Ivar trennen. Jetzt wohnt Billy bei uns. Johannes hat von seinen Kumpels wahrscheinlich gehört: »Sieh zu, dass du richtige Stühle in die Wohnung stellst ... diese Physio-Tanten sitzen nämlich ganztägig auf grünen oder pinkfarbenen Gymnastikbällen.«
Stimmt. Oder sie liegen auf dem Kuschelsofa. Das darf nicht aus Leder sein, denn das wäre viel zu kalt. Und es braucht eine Decke.
Das Sofa ist perfekt. Besonders, wenn man nicht mehr im Bett liegen kann und eine Veränderung braucht. Wunderbar! Einfach im Schlafanzug rüberschlurfen, unter die Decke krabbeln und die Kissen platzieren. Meine alte Stoffkuh Kuhno liegt auf meinem Bauch. Ich mache ein Instagram von uns und lade es mit dem Hashtag #fromwhereIcouch hoch.
Leider herrscht hier striktes Duftkerzenverbot. Dass Johannes bei seinem Einzug kein Verbotsschild aufgehängt hat - so ein rundes mit einer durchgestrichenen Kerze drauf -, wundert mich immer noch. Johannes hasst Duftkerzen. Alle Männer hassen Duftkerzen. Als sich Jan und Kati getrennt haben, hat Kati uns Mädels in einer Prozession durch die ganze Wohnung geführt: In jedem Zimmer hat sie eine Duftkerze angezündet und ein Glas Sekt gereicht. Sie nannte es »Ex-orzismus«.
Allerdings ist Jan vier Wochen später wieder eingezogen. Er hat darauf verzichtet, mit seinen Kumpels und einem Bollerwagen voll Bier durch die Wohnung zu ziehen. Der Einzige, der jetzt mit einem Bollerwagen durch die Wohnung zieht, ist der kleine Leo.
Ach, Johannes, wieso nicht wir? Ich will nicht durch die Wildnis wandern, ich will ein Kind. Achtung, Eva! Heute keine solchen Gedanken, dein Kopf ist auch so schon viel zu schwer. Jetzt ist Dösen auf dem Sofa angesagt! Der erste Januar sieht auch draußen nach nichts aus, es ist Mittag und der Tag mag nicht hell sein. Johannes ist vom Laufen zurück und ich höre aus der Küche dieses »Tacktacktack« - er kann einfach nicht herumliegen, wenn er wach ist. Er findet, dass man sich nur hinlegen muss, wenn man schlafen will. Ich schlurfe auf meinen Kuschelsocken in die Küche. Seine Laufschuhe stehen auf einer Zeitung aus dem vergangenen Jahr im Flur und die Sohlen hat er rausgenommen und auf die Heizung gelegt.
»Tacktacktack«, Johannes schneidet Paprika in Rauten. Das ist seine Art zu entspannen, das ist sein Yoga.
Die passende Hose habe allerdings heute ich an.
»Na, Süßer, war es gut auf der Runde?« Ich halte mich von hinten an ihm fest und lege mein Ohr auf seinen Rücken. »Ja, war schön. Hast du was von deiner Oma gehört?« »Nö. Gibst du mir 'ne Rote?« Ich fingere blind vor seinem
Körper herum und bin überrascht, dass ich tatsächlich eine rote Raute erwische.
»Finger weg!«
»Ich traue mich nicht, bei ihr anzurufen.«
»Stell dir vor, du hast so lange durchgehalten und dann stolperst du auf der Zielgeraden«, sinniert er schnibbelnd. »Sie hätte sich doch viel Stress sparen können, wenn sie früher gehandelt hätte. Jeder sollte sich ein Beispiel an deiner Oma nehmen.«
»Aha, wollen wir sofort Schluss machen?« Ich setze mich auf die Fensterbank und stelle die Füße auf dem Heizkörper ab. »Eigentlich hatte ich mich für ›eine Diät machen‹ als Vorsatz entschieden und nicht für ›Beziehung beenden‹.«
»Ja, klar, Eva«, er wirft mir einen Kuss rüber. »Aber denk doch mal nach. Die findet doch jetzt keinen neuen Typen mehr. Das hätte sie sich vor 20, nein ... 40 Jahren überlegen sollen.«
»Geht's denn immer um einen Typen? Vielleicht hat sie jetzt erst gemerkt, dass sie sich mit ihm einsam fühlt. Soll vorkommen. Dann ist es doch egal, wann die Beziehung beendet wird.«
Er schaut mich fragend an.
»Jo, gib mir einen echten Kuss!«
»Na gut, zur Sicherheit.« Er nimmt den Teller mit den Paprika, gibt mir einen Kuss auf die Nasenspitze und verlässt die Küche. »Ich gehe jetzt Mathearbeiten korrigieren«, ruft er aus dem Flur.
»Neujahr?«, frage ich. »Gucken wir nicht Skispringen? Wie jedes Jahr?«
»Nein, öfter mal was Neues. Du willst Kilos loswerden, deine Oma den Opa und ich das schlechte Gewissen, die Arbeiten nicht am ersten Schultag zurückgeben zu können.«
»Gib allen eine Eins und schreib einen lieben Gruß von mir drunter.«
Okay. Dear Sofa, I am back again. Ich schalte den Fernseher an und werde schläfrig. Oma steht am Schanzentisch und traut sich nicht zu springen. Ich will sie schubsen, Johannes will sie zurückhalten. Derweil steht Opa am Mikrofon des Sportreporters und spricht von Trainingsrückständen und versäumter Skisprung-Nachwuchs-Förderung. Als Oma springt, wache ich auf. Meine Wange ist verdächtig feucht. Warum sabbere ich eigentlich nur im Schlaf, wenn ich auf dem Sofa liege?
Mittlerweile ist es dunkel geworden, aber es kann noch nicht spät sein. Vom Sofa aus sehe ich einen Lichtschein aus Jos Arbeitszimmer im Flur. Er setzt seinen Neujahrsvorsatz um. Ich werde auch etwas verändern, beschließe ich. Aber für heute muss es reichen, wenn ich vom Sofa ins Bett wechsle.
2. Januar
Die Praxis hat heute noch Ferien und ich beschließe, zu Oma zu fahren. Sie öffnet mir die Tür in ihrem Lieblingskittel. Es ist der blaue mit den roten Knöpfen und der Bordüre an den Seitentaschen, in denen sie immer ein Feuerzeug und ein Stofftaschentuch hat. Mit dem kann sie zur Not auch fremde Kinderrotznasen putzen. Ich umarme sie und folge ihr in die Wohnung. Es ist extrem warm, denn der Kohleofen bollert ordentlich. Oma setzt sich und trinkt einen Schluck Cola aus ihrem Glas. Daneben liegt eine offene Schachtel Marlboro 100.
»Er hat mir mehr Haushaltsgeld angeboten, damit ich bleibe.«
»Ist er ausgeflippt?«
»Gar nicht. Ich soll alles mitnehmen. Er sei sowieso schon längst weg gewesen und habe auch die Nase voll. Hat mich nicht überrascht. Was soll er auch anderes sagen? Ich nehme hier gar nichts mit, er kann den ganzen Kram behalten!«
»Oma!«
»Die neue Wohnung hat drei Zimmer. Zweiter Stock, überall Laminat. Fliesen im Bad und die Badewanne im selben Raum wie das Klo. Alles auf einer Etage.« Oma lehnt sich zurück und legt einen Fuß auf den Schemel. Sie atmet den Qualm ihrer Zigarette durch die Nase aus. »Ich brauche nichts zu kaufen. Die alte Frau, die da vorher gewohnt hat, geht ins Altersheim und lässt alles dort.«
»Du ziehst also wirklich in deine erste eigene Wohnung, oder? Wann geht's los?«
»Weiß ich noch nicht. Die von der Genossenschaft machen das Bad noch neu.«
Plötzlich cool, meine Oma. Mit 79.
Sie war 19, als Opa sie an der Bushaltestelle getroffen hat. Eigentlich war er mit einem anderen Mädchen verabredet, das kam aber nicht. Stattdessen stieg Oma aus dem Bus. »Hätte ich den Bus mal besser verpasst«, hat Oma manchmal gesagt. Ich hielt das immer für einen Scherz. Noch bevor sie über Liebe gesprochen hatten, war sie schwanger - ein Dreimonatskind. Geheiratet wurde im Wohnzimmer, kurz vor Ostern. Mama kam im Juli. Barbara, die Schutzpatronin der Bergleute. Opa war bei der Geburt auf Schicht unter Tage. Glückauf!
Kind zwei kam zwei Jahre später, an Kind drei war Oma nicht beteiligt. Sie sah es beim Einkaufen an der Hand einer Frau aus dem Dorf und dachte kurz, es sei ihr Sohn Richard. Die beiden Frauen standen sich wortlos gegenüber. Oma hat Opa nie von der Begegnung erzählt. Was hätte sie auch sagen sollen, geändert hätte es nichts. In Momenten wie diesem griff ihr Überlebensmotto: »Jammern macht die Dinge nicht ungeschehen «.
Heute sieht Oma den Jungen alle zwei Wochen in der Apotheke. Er verkauft ihr die Tabletten, die sie für ihr Herz braucht. Auch damit macht sie nun Schluss. In der Nähe der neuen Wohnung ist eine andere Apotheke.
»Ich brauche noch nicht einmal Bettwäsche. Die lässt die Frau auch in der Wohnung. Im Heim braucht man nämlich keine eigene.«
»Aber ihre Nachthemden nimmt sie schon mit, oder? Oma, du kannst doch nicht in fremder Bettwäsche schlafen! Deine Laken sind doch noch in Ordnung und sie riechen nach Zuhause. Nimm sie mit.«
»Nee, ich will alles loswerden, was mich an Opa erinnert.«
»Aber ein paar private Sachen brauchst du doch, oder? Sollen wir mal zum Aldi fahren und Bananenkartons holen, dann können wir anfangen zu packen?«
»Nein, Eva! Ich pack den Kram nicht ein. Ich will nichts. Dein Onkel hat heute einen Container bestellt, wir werfen alles weg. Nimm dir, was du haben willst.«
»Wir können auch ein paar Sachen bei Ebay verkaufen. Du kannst die Kohle brauchen, oder glaubst du, Opa zahlt dir was? Wo sind denn die Kontoauszüge vom letzten Monat?«
»Die liegen da, in der zweiten Schublade.«
In Omas Wohnzimmerschrank steckt ihr ganzes Leben, nebst Schlüpfern und Strümpfen. So muss sie nicht nach oben in den ersten Stock gehen, wenn sie sich morgens in der Küche wäscht - ein richtiges Badezimmer gibt es in den Zechenhäuschen nicht, nur eine einzelne Toilette ohne Waschbecken. Die Badewanne ist im Keller. Warmes Wasser gibt es nur, wenn Oma vorher Feuer im Kessel gemacht hat. Herzlich willkommen in der Neuzeit.
Unter der Wäsche liegt ein grüner Schnellhefter. In dem Streifen erkenne ich meine Schreibschrift »Eva Ludwig 2a« - Oma neigt nämlich nicht zum Wegwerfen und heftet ihre Unterlagen in meinen alten Schulmappen ab.
»Wo sind denn die anderen Kontoauszüge?«
»Das sind alle.« Oma raucht jetzt Kringel.
»Sag mal, mehr ist das nicht? Große Sprünge kannst du damit nicht machen, oder?«
»Mach ich schon wegen meiner Hüfte nicht.« Oma hebt sich aus dem Sessel und ihre nylonbestrumpften Füße suchen nach den Schlappen, die unterm Tisch liegen. »Reicht doch, wenn das Herz springt.«
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie das romantisch oder medizinisch meint. Wäre Oma meine Freundin, würde ich wahrscheinlich mit einem dünnen Männer-Gag kontern. Ich traue mich nicht.
»Wo ist eigentlich Opa?«
»Weggefahren. Mit dem Bus.«
So schließt sich der Kreis.
Irgendwie scheint die Wohnung mit den Jahren kleiner geworden zu sein. Ich habe hier zusammen mit Oma gewohnt, in der kleinen Oma-Eva-WG, weil Opa meist in seinem Schrebergarten war. Das war sein Reich und da durfte Oma nie hin, vielleicht wollte sie auch nicht. Mir war es recht, so konnte ich Oma oft über Nacht im großen Bett besuchen.
Bei Oma gab es verbotenes Fernsehen, Sprudelkuchen und Cola zum Frühstück und abends saß sie im Kittel mit den Nachbarn der Zechensiedlung vor der Tür. Das Schlafzimmerfenster auf Kipp gestellt, konnte ich immer gut einschlafen. Das Gequassel unten auf der Straße hat mich beruhigt. Johannes kommt leider immer noch nicht klar damit, dass ich zum Einschlafen ein dudelndes Radio brauche.
»Oma, kann ich den Hähnchengrill haben?«
»Das olle Ding! Was willst du denn damit?«
Es hat immer so gut gerochen, wenn Oma uns samstags ein Hähnchen gegrillt hat. Dazu gab es Gummibrötchen.
»Ach, Oma, ich hab's! Ich könnte den Staublappen mitnehmen! «
»Ja, Eva! Nimm den Staublappen, du doofe Trulla«, lacht sie aus ihrem Sessel.
Das war als Kind mein erster Job im Haushalt: Staub wischen an der Schrankwand. Gelsenkirchener Barock, was sonst? Voll mit den kostbarsten Besitztümern meiner Großeltern: kleine Vasen, Fotos der Kinder, ein Souvenirtellerchen aus dem Schwarzwald. Frau Wolter hat damit in den Siebzigern ihren nachbarschaftlichen Dank dafür ausgedrückt, dass Oma den Mülleimer für sie rausstellte, wenn sie im Urlaub war. Oma musste nie Dankbarkeit in Form von Tellerchen ausdrücken. Sie war nie im Urlaub.
»Den Ofen, Oma. Was ist mit dem Ofen? Wie soll ich denn meine Haare trocken bekommen, wenn du den nicht mehr hast?«
»Oh, da haben wir Ärger mit Mama bekommen, weißt du noch? Weil du nach dem Baden Die Pyramide geguckt und dabei mit dem Rücken zum Ofen die Haare getrocknet hast und sie dann angesengt waren.«
»Hat das gestunken«, stelle ich leise fest. In meiner Nase kribbelt es, oben an der Wurzel. Nein, nicht weinen. Das sind doch die Geschichten, die bleiben, auch wenn es die Wohnung nicht mehr geben wird.
»Oma? Willst du das wirklich tun? Willst du wirklich ausziehen, dein Leben hier einfach beenden?«
»Ja, meine Eva. Ich mache das jetzt und es ist nicht so, als würde ich ein Leben beenden. Komm, hilf mir mal hoch. Ich hole Kohlen aus dem Keller, sonst geht der Ofen aus.«
»Ich nehme die Keramikdose hier, darf ich? Die mit dem Holzdeckel aus der Küche, wo das Salz drin ist.«
»Wie du willst.« Sie guckt skeptisch.
Eine weiße Dose mit einer orangefarbenen Siebzigerjahre- Blume drauf. Salz muss immer im Haus sein, das darf man nicht verschütten: Das bringt Unglück, da war sie sich immer sicher. Aber was hat es ihr gebracht, immer Salz im Haus gehabt zu haben?
3. Januar
»Da! Nee, etwas weiter links, so knapp über dem BH. Ah! Nee, Moment ...« »Ist schon in Ordnung, Frau Fender. Ich finde die Stelle und dann können Sie sich bald wieder bewegen.«
Ich finde es immer ein wenig lustig, wie die Patienten so vor mir liegen und ungelenk zeigen, wo sie blockiert sind. Manchmal stelle ich mir einen dicken Marienkäfer in Rückenlage vor, der völlig verzweifelt versucht, wieder auf die Füßchen zu kommen. In diesem Fall bin ich diejenige, die versucht, Frau Fender wieder auf die Füßchen zu stellen. Leider ist sie gerade so angespannt, dass ich nicht weiterkomme.
»Atmen Sie doch erst mal durch, kommen Sie an und entspannen Sie sich.« Es gibt eben Patienten, die erwarten diese leicht angehauchte Eso-Stimmung bei einer Osteopathin - sollen sie haben!
Auch Frau Fender mag die Entspannungs-CD sehr. Mich fragt da keiner. Die Musik macht mich wahnsinnig. Warum nicht mal Linkin Park?
»Neeee ... Frau Ludwig, doch knapp rechts unterhalb des BHs.« »Frau Fender, ich glaube, ich könnte am gesamten Rücken drücken, es tut gerade überall weh.« »Das stimmt«, seufzt sie. Ihr Körper sackt zusammen, als würde er kapitulieren.
Jetzt ist sie da, wo ich sie haben wollte. Ich kann anfangen. Und so beginnen die Panflötenvögel von der NicePrice-CD und ich unsere Arbeit an Frau Fenders Nerven und nach drei Minuten ist sie eingeschlafen.
Ich muss gar nicht mit dem Kopf dabei sein, meine Hände wissen, was zu tun ist.
Die Wanduhr im Behandlungsraum zeigt kurz vor halb zehn und Johannes müsste gerade erste Pause haben. Wahrscheinlich hängt er mit Steffen im Lehrerzimmer rum und bespricht die nächste Klassenfahrt.
Manchmal glaube ich, die beiden sind nahtlos von der Oberstufe ins Lehrerzimmer umgezogen. Die haben doch nicht zwischendurch studiert, oder?
»Aua!« Frau Fender ist aufgewacht.
»Ja, Frau Fender, das ist der Knoten. Da sitzt die Verspannung, das kann jetzt mal wehtun. Verzeihung.«
Was Oma wohl gerade macht? Im Zweifel ihre Bingokarten kontrollieren. Es ist erstaunlich, wie sie das wegsteckt. Ich könnte mir gar nicht vorstellen, mich von Johannes zu trennen. Haben alte Leute eigentlich Liebeskummer? Vielleicht hört das irgendwann einfach auf. Wäre eigentlich ganz schön - Liebeskummer braucht kein Mensch.
Unter meinen Händen wird es wärmer und weicher. So eine Verspannung im Rücken lässt sich wirklich gut wegkneten, eine Verspannung in der Beziehung leider nicht. Meine Kollegin Anne meint, bei Liebeskummer gebe es nur ein wirksames Medikament, und das trage die Namen Andi, Alex und Daniel. Es sei rezeptfrei, habe jedoch Nebenwirkungen. Anne kennt sich aus: Montags liegt sie regelmäßig in Kabine drei und ich streichle ihr dann den Kopf und höre mir ihr Leid zum zwölfendrölfzigsten Mal an.
»Nein, Anne. Kein Problem ... du erzählst wirklich nicht jede Woche das Gleiche. Da war ein Halbsatz dabei, den ich so noch nicht gehört habe, und ein neuer Name.«
Ob Oma wohl weint? Ich würde weinen.
Jetzt wird's heller im Raum, das bedeutet, Frau Fender könnte langsam aufwachen. Es war eine gute Investition, die Lichtanlage mit einem Timer zu versehen, denn so wird das Aufwachen für die Patienten viel angenehmer. Noch einmal den ganzen Rücken streicheln und Frau Fenders Gesichtsausdruck genießen.
Wie ich das liebe, wenn die Damen und Herren beim Rausgehen plötzlich eine Wolke unter den Füßen haben.
Keine Nachricht auf dem Handy, das in der Praxisküche am Strom hängt. Die Steckdosen sind zugeordnet und meine ist die an der Fensterbank. Die musste ich mir hart erarbeiten, denn Annes Steckdose ist die unterm Tisch.
SMS an Johannes, 10.41 Uhr
Hallo Mann. Ich denke gerade an dich. Und du? Hab ich eine Chance gegen die 8a? Wie läuft's bei dir? Kuss!
In Kabine vier liegt der nächste Marienkäfer und wir hoffen beide auf die Wolke in 45 Minuten. Warum sind nach Weihnachten eigentlich alle so verspannt?
SMS an Johannes, 11.37 Uhr
Hier kommt ein lieber Kaffee zwischendurch (_)* Kussing.
Licht gedämpft, Stimme des Patienten in der Zwei nicht. Herr Albert fragt nun schon zum vierten Mal nach meiner Ausbildung und meinen Qualifikationen. Und, ja, Herr Albert: Sie sind Privatpatient. Und, ja: Das kann manchmal wehtun, auch bei Privatpatienten. Nein, Herr Albert, heute habe ich leider keine Wolke für Sie.
SMS an Johannes, 12.30 Uhr
Mahlzeit, Schatz. Handy vergessen? Bei WhatsApp warst Du doch vor 20 Minuten das letzte Mal online. Wasnlos? Kuss, Eva Kontroletti.
SMS an Johannes, 12.31 Uhr
Tut mir leid.
SMS an Johannes, 12.31 Uhr
Tut mir doch nicht leid.
Wieso antwortet der Vogel nicht? Wieso schreibt Johannes nie zurück? Daran habe ich mich in sechs Jahren Beziehung noch nicht gewöhnt.
»Na, Thore, was macht Werder?«
»Ist doch Winterpause, da spielen die nicht.«
»Ach, ich bin ja auch doof. Und was macht dein Bauchweh? « Ich setze meinen Lieblingspatienten auf die Liege und fasse nach seinem Köpfchen. Thore hat schon mit fünf Jahren ein Reizdarmsyndrom. Er hat oft schlimme Bauchkrämpfe. Seine Ernährung wurde umgestellt, es geht ihm aber immer noch nicht gut.
»Das ist auch doof.« Er guckt zu seiner Mutter.
»Am Wochenende war es wieder ganz schlimm. Wir dachten erst, er habe vielleicht Weihnachten zu viele Süßigkeiten gegessen. Aber das kann es nicht gewesen sein.«
»Pass auf, Thore, ich drücke jetzt ein bisschen an deinen Rücken und halte dann noch ein wenig deinen Kopf. Wie immer: Es tut nicht weh und wenn doch, dann gebe ich dir ein Eis aus. Abgemacht?«
Ich schaue Thore in die Augen und er strahlt mir ins Gesicht: »Aua!«
»Thooore?! Verschaukelst du mich, bekomme ich ein Eis.« Dann fange ich an, seinen Rücken sanft zu behandeln. Wollen wir doch mal sehen, ob die doofen Bauchschmerzen nicht bald weggehen.
Wenn Thore in die Praxis kommt, wird es gleich etwas heller. Wie das wohl ist, so ein lustiges Thore-Kind zu haben? Ich erwische mich dabei, wie ich seine Mutter neidisch anschaue. Thore hat eine schöne, nette Mutter und es wäre fairer, wenn wenigstens sein Vater, der auch regelmäßig mit Thore in die Praxis kommt, hässlich und unfreundlich wäre, aber das Leben ist ja selten fair, denke ich und lächle Thore an.
»Fertig?«
»Ja, Thore. Leider schon fertig - heute kein Eis für dich.«
Und schwupps, ist er von der Liege gehüpft.
»Nächste Woche kommt sein Vater mit ihm«, sagt Thores Mutter knapp.
Alles klar. Adieu, kleine perfekte Familie.
»Ja, ja, ich habe gesehen, dass du geschrieben hast.«
»Und? Finger abgefallen, oder warum hast du nicht geantwortet? «
Johannes sitzt wieder am Schreibtisch und prüft Jugendherbergen für die Klassenfahrt. »Ich hab dich echt vermisst. Heute war so ein Scheißtag, alle waren verspannt und ich musste die ganzen Weihnachtsprobleme wegkneten.«
»Und gleichzeitig hast du SMS verschickt? Ruf mich doch an, wenn was Wichtiges ist.«
»Johannes? Reden? Wir beide?«
»Was denn, Mäuschen?«
»Nix ›Mäuschen‹«, meine Stimme wird angestrengt und das bringt ihn dazu, sich umzudrehen. »Als wir gerade zusammengekommen sind und ich mit den Mädels auf Ibiza war und du mit den Jungs in Schweden, haben wir jeden Abend stundenlang telefoniert. Wir haben uns alles Wichtige des Tages erzählt. Ich so: Und dann habe ich Eis gegessen. Und du so: Ach! Und ich so: Ja. Und du so: Toll. Und dann hatten wir Handy-Sex am Strand. Mit Vorspiel. Du in Schweden und ich auf Ibiza.«
»Wenn ich jetzt einen Kuss auf ein Bötchen setze, wie lange braucht es, bis es ankommt - ich erinnere mich.« Er schaut mich lächelnd an. »Aber erinnerst du dich auch an die Telefonrechnungen? Davon hätten wir noch mal zusammen verreisen können.« Sein Blick sucht meine Einsicht.
»678,32 Euro. Ich habe die Handyrechnung in meiner Schatztruhe unterm Bett und keinen Cent bereut.« Diese Diskussion ist unnötig, weil wir uns bei diesem Thema auf zwei unterschiedlichen Planeten bewegen. Ihm geht es gar nicht ums Geld. Es geht ihm ums Prinzip. Das ist mir zu billig.
»Süße, ein Handy ist für den Notfall da.«
»Johannes, Sehnsucht ist ein Notfall.«
Er steht auf und nimmt mich in den Arm. »Frieden? Oder soll ich dir das per SMS schicken?«
»Ach, Jo. Schreib mir mal was Liebes. Das wirst du doch hinkriegen. Sonst klau ich dir mit meinen erschöpften Händchen die Nase.« Ich lege meinen Kopf an seine Brust: »Was gibt's zum Abendessen? Nutella?«
»Ich fürchte, die Löffel sind aus.« Er drückt mir einen Kuss auf den Kopf.
»Manno!« Ich gucke zu ihm hoch, während er mich weiter festhält. »Muss ich dann etwa Nutella mit Brot essen? Das ist ja fürchterlich!«
Ach, dann antwortet er eben nicht auf meine SMS. Aber wie er da so sitzt und sich für Achtklässler Jugendherbergen im Harz anschaut, ist er ja doch ganz süß.
»Kommst du?«
»Nee, tut mir leid, ich muss hier gerade mal prüfen, ob irgendwelche gefährlichen Kneipen in der Nähe der Jugendherberge sind. Nicht, dass ich meine Pappenheimer da jeden Abend rausholen muss.«
Dann feiere ich das Nutellafest eben allein. Ich gehe ins Bett und lege das leere Glas auf sein Kopfkissen.
4. Januar
Guten Morgen, Nutellamonster, bin schon früher los. Steffen und ich wollen vor Unterrichtsbeginn noch Sport machen. Hast ganz lieb geschlafen und ich wollte dich nicht wecken. Tun die Hände noch weh? Hab deine Handschuhe auf die Heizung gelegt und sie vorgewärmt, dann ist's gleich aufm Rad schöner. Kuss, Jo.
Ach, guck, ein Zettelchen. Analog-SMS. Hat doch was gebracht gestern.
Das Morgenritual sieht vor, erst mal im Bademantel auf der Fensterbank zu sitzen und klarzukommen. Fünf Minuten dumpf auf die Straße gucken. Dicke Socken an, die Füße auf der Heizung. Vor zwei Wochen war es zu dieser Zeit noch dunkelblau draußen und die Sterne funkelten. Es gibt einen Himmel vor Weihnachten und einen danach. Jetzt ist die Welt dunkelgrau und die Sterne bauen Überstunden ab. Im Januar tauscht irgendjemand den Himmel aus.
Ich frage mich, ob Johannes überhaupt im Bett war, denn ich habe ihn in der Nacht nicht gespürt. Das würde ich allerdings nie zugeben, weil ich glaube, wer sich nachts im Traum loslässt, der fasst sich bald auch wach nicht mehr an.
Was wäre, wenn Johannes hier nicht mehr wohnen würde? Als ich darüber nachdenke, erwische ich mich dabei, dass ich es nicht ganz so schlimm fände. Jede Woche zöge ein neues Nutellaglas bei mir ein, am Wochenende auch mal zwei.
Ach, Dreck, ist doch doof! Allein wohnen ist Quatsch. Ohne Johannes würde ich wirklich nur noch von Nutella leben, er ist derjenige, der kocht und es ist auch wirklich sehr schön, abends nach Hause zu kommen und es brennt schon Licht. Und wenn es die Lampe in seinem Arbeitszimmer ist.
In der Dusche liegt Johannes' Zahnbürste und immer wenn ich ihn vermisse, benutze ich sie. Wenn er das wüsste, würde er ausflippen.
Das Badezimmer ist tabu, wenn er drin ist. Er will allein pinkeln und allein duschen und sich allein unter der Dusche einen runterholen - er glaubt tatsächlich, dass ich es nicht merke.
Zur Feier des Tages rasiere ich mir mit seiner astreinen Doppelklinge die Beine. Uuuuh, Eva, tststs. Machtmannich. Pfff. Und plötzlich: Gute Laune. Und das im Januar! So schnell kann sich die Lage ändern. Hallo Welt, hier ist Eva! Glatte Beine, geputzte Zähne. Die Hände sind wieder fit und warm und dürfen gleich in die vorgewärmten Handschuhe und los geht's - yeahyeah!
Heute die blau-silbernen Discosöckchen, die hängen noch auf dem Wäscheständer. Aber warum stehen unter dem Wäscheständer Jos Sportschuhe?
Er macht doch gerade Sport, mit Steffen. Verdammt. Ja, so schnell ändert sich die Lage. Anrufen bringt nichts, das Handy ist ihm ja egal - oder ist das jetzt ein Notfall?
Die Praxis liegt im dritten Stock über einem Supermarkt. Als Physiotherapeutin darf ich natürlich nicht den Fahrstuhl nehmen, weil ich ja topfit bin. Ich bin aber auch topfit darin zu prüfen, ob keine Patienten in der Nähe sind und ich doch fahren kann.
Anne hat sich schon umgezogen und macht den Morgentee. Aus Rücksicht auf unsere ersten Patienten wärmen wir die Hände an Teetassen vor.
»Jetzt reg dich mal nicht so auf, es sind nur Turnschuhe. Vielleicht machen er und Steffen ja gerade Yoga, da braucht man nur dicke Socken.«
»Yoga? Jungs? Yoga? Mann, Anne, finde den Fehler.«
Anne lehnt überzeugt von ihrer Theorie an der Spüle in der kleinen Praxisküche.
»Eva, wir reden hier von Johannes. Was soll er denn morgens vor der ersten Stunde anderes tun? Die Direktorin flachlegen?«
Ich gucke in die Kerze des Adventskranzes. Sie ist noch nicht vollständig heruntergebrannt, deswegen bleibt der Kranz noch auf dem Holztisch stehen. Ich nehme meine Augen nicht von der Flamme, wer zuerst blinzelt, hat verloren.
»Vielleicht machen sie Bodenturnen, da würden Turnschuhe stören.«
Auf dem Weg in die erste Kabine zum ersten Patienten ruft Anne noch hinter mir her: »Es sind nur Turnschuhe.«
Die hat Herr Albert lang nicht mehr angehabt: übler Verschleiß in der Schulter, Anfang 70, kann nicht mehr richtig liegen, weil die Schulter so wehtut. Seine Frau ist vor einem halben Jahr gestorben. Ich glaube, dass diese Last für seine Schultern einfach zu groß ist. Er sitzt schon auf der Liege und ich bitte ihn, sich auf den Bauch zu legen.
»Das Gesicht bitte in das Loch, Herr Albert. Ich fahre die Liege jetzt hoch. Soll ich heute mal eine Fangopackung auf Ihre Schulter legen? Etwas Wärme?«
Er nickt stumm und ich ziehe auf dem Weg zum Heilschlamm mein Handy aus der Hosentasche. Ein Anruf in Abwesenheit: Oma. Ich muss mich dringend bei ihr melden oder wenigstens mal Onkel Richard anrufen. Von Johannes ist keine Nachricht dabei, der rechnet sich gerade nicht im Ansatz aus, wie es mir geht.
»Herr Albert, könnten Sie Ihre Tochter bitten, dass sie Ihnen später noch Salbe auf den Rücken reibt?«
»Die ist doch in München.«
»Sonst jemand da?«
»Nein, hmm ... meine Nachbarn. Aber ... nee.«
»Dann komme ich nach Feierabend noch schnell bei Ihnen vorbei, und Sie ruhen sich heute bitte aus.«
»Das ist lieb, Frau Ludwig, aber ich mache den ganzen Tag nichts anderes, als mich auszuruhen. Und wissen Sie was? Das ist ganz schön anstrengend.«
Das glaube ich ihm sogar und ich erwische mich dabei, wie ich mir gerade vorstelle, dass Oma Herrn Albert kennenlernt. Wieso sollen eigentlich zwei so nette Menschen allein bleiben? Ich könnte ja die beiden mal zufällig ...
»Eva? Kommst du mal? Herr Pauli ist am Telefon, es geht um den Termin für Thore.« Meine Chefin steht am Empfang und hat den Hörer an ihre Brust gedrückt. »Er fragt, ob du auch später könntest, er würde ihn an dem Tag erst später bei seiner Mutter abholen.« Sie reicht mir den Hörer rüber.
»Ja? Ludwig, Herr Pauli?«
»Hallo Frau Ludwig, ich weiß, dass Thore den Termin immer zur gleichen Zeit hat, aber bei uns hat sich was verschoben und es würde uns sehr helfen, wenn ich mit Thore später kommen könnte. Ginge das?«
Ich blättere im Terminbuch und stelle fest, dass ich zu der Zeit leider eine Mobilisierung habe. Der Termin ist in pink eingetragen, das bedeutet, dass es eine Privatpatientin ist.
»Schwiiiiiierig«, sage ich eher zu mir.
»Ach, Frau Luuudwig. Thore und ich backen auch einen Kuchen für Sie.«
»So wie ich Thore einschätze, würde es aber ein grüner Werder- Bremen-Kuchen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich da freuen würde.« Ich male Kringel und Sternchen ins Terminbuch.
»Was hätten Sie denn gerne für einen Kuchen?«, fragt er. Ich grinse ins Telefon, klemme den Hörer zwischen Kopf und Schulter und schnipse die Chefin ran.
»Ach, da bin ich eigentlich nicht so wählerisch. Aber ich fürchte, Sie müssen den Kuchen der Patientin backen, die da den Termin hat.«
Ich fuchtle mit den Händen und zeige mit dem Kuli auf den pinkfarbenen Termin. Darf ich den tauschen? Sie nickt und geht wieder.
»Ich versuche, den Termin mit der Patientin zu tauschen, mehr kann ich Ihnen leider nicht anbieten.« Ich habe Angst, er könne den Termin sonst absagen, und Thore ist doch immer mein Highlight.
»Super, Frau Ludwig. Sie sind ein Schatz.« And you made my day! Der coole Herr Pauli hat gesagt, ich sei ein Schatz. Strike! »Alles klar, ich nehme einen Marmorkuchen. Grüßen Sie Thore.«
»Wird gemacht, Frau Ludwig. Bis nächste Woche.«
Ich lege den Hörer auf, tausche den Termin und male hinter Thores Namen ein pinkfarbenes Herzchen. Das mit der Patientin kläre ich schon noch. Zur Not muss sie halt absagen.
»Jemand zu Hause?«, rufe ich, als ich nach Feierabend in die Wohnung komme.
»Hier, ja!«, kommt es knapp zurück aus Johannes' Arbeitszimmer. Mein Freund sitzt am Rechner und sieht sehr wichtig aus.
Ich stehe im Mantel am Türrahmen seines Arbeitszimmers und kann nichts Ungewöhnliches erkennen. »Na?«
»Na?«, fragt er zurück und dreht sich zu mir. Er sitzt auf seinem Flummistuhl. So nenne ich die Halbkugel auf dem Federfuß, den er hat, damit er nicht mehr krumm am Schreibtisch sitzt.
»Hast du heute Sport gemacht?« Mist. Ich wollte die Frage doch nicht stellen.
»Jap, ich war schwimmen.«
Er war schwimmen?
Er war schwimmen!
»Wir haben den Hausmeister bestochen und wollen mit einigen Leuten aus dem Kollegium nun zweimal die Woche schwimmen gehen, dienstags und donnerstags. Ich habe gerade mal zwei Bahnen kraulen können, so unfit bin ich.«
»Du warst einfach schwimmen? Nicht in der Turnhalle?«
»Nö, wie kommst du darauf? Wir bauen uns doch morgens um sieben keinen Stufenbarren auf. Wie war dein Tag? Hast ja heute gar keine SMS geschrieben.« »Mein Tag war dufte, kann das nicht anders formulieren. Aber ich bin müde, ich gehe gleich ins Bett.«
»Warte mal kurz. Weißt du, wer mich heute angerufen hat? Deine Oma. Dich hat sie auf dem Handy nicht erreicht. Sie will, dass wir ihr eine Kündigung für das Häuschen schreiben. Dein Opa will auch ausziehen. Schau mal, ich habe schon angefangen zu schreiben.« Er lehnt sich zur Seite, damit ich auf den Bildschirm gucken kann.
Sehr geehrte Damen und Herren,
hiermit kündigen wir das Mietverhältnis für die Wohneinheit am Saturnweg 3 fristgerecht zum 15. Februar. Laut Mietvertrag vom 1. März 1965 ist eine Kündigungsfrist von vier Wochen vorgesehen. Ein Nachmieter wird nicht gestellt.
Fünf Zeilen und fertig, so einfach ist das. Ich ziehe den Mantel aus und lasse ihn auf den Boden fallen und mich hinterher. Es ist warm in Johannes' Arbeitszimmer, und wie ich da zwischen den Stapeln aus Klassenarbeitsheften am Regal gelehnt sitze, fühle ich mich auf einmal klein und verloren.
Mir kommen die Tränen und ich hoffe, dass Jo sie nicht sieht. Johannes steht auf die taffe Eva, die immer alles im Griff hat. Dieser Teil in mir hat anscheinend den Jahreswechsel nicht mitgemacht. Ich muss jetzt schon öfter geheult haben als im gesamten vergangenen Jahr.
So halte ich mir eines der Klassenarbeitshefte vors Gesicht und tue so, als würde mich das interessieren.
»Ich drucke das jetzt so aus, ja? Willst du für deine Oma unterschreiben? «
Er merkt wirklich nicht, dass ich traurig bin. Bin ich eine gute Schauspielerin oder ist er wirklich so stumpf?
»Nö, das soll sie mal selbst erledigen.«
»Komm, ich unterschreibe für deinen Opa und dann können wir das morgen wegschicken. Ich möchte das erledigt wissen. Es ist nur eine Wohnung. Es sind 55 Quadratmeter. Alt und marode, wie das Verhältnis deiner Großeltern.«
Ich stelle mir vor, wie wir die Wohnung leer räumen.
»Im Keller müsste noch mein Schlitten stehen, auf dem ich immer hinten im Garten den Berg heruntergefahren bin«, erzähle ich und lasse das Heft auf den Schoß sinken, mein Blick schreit: »Nimm mich bitte in den Arm.«
»Berg? Wohl eher Schutthügel«, stellt er respektlos fest. »Ich verstehe, dass das für dich alles viel größer wirkt, als es ist. Aber du bist nicht mehr die kleine Eva. Das ist ein ganz natürlicher Prozess. Zwei Menschen verstehen sich nicht mehr und gehen getrennte Wege.«
»Steht das so in deinem Lehrplan? Hier geht es aber um zwei Leben und nicht um Bruchrechnung.«
Das durchsichtige Druckerkabel leuchtet blau auf. Der Auftrag wird in diesem Moment an den Drucker gesendet. Dem ist egal, ob er die Hausaufgaben der 8a ausdruckt oder die Kündigung für Omas und Opas Haus.
»Opa spricht übrigens kein Wort mit mir. Ich habe heute Morgen angerufen und er hat den Hörer wortlos zur Seite gelegt. Er hat Oma nicht einmal Bescheid gesagt, dass ich das am Telefon bin. Einfach weggegangen ist er. Kotzbrocken.«
»Was willst du eigentlich? Du findest es schlimm, wie dein Opa sich verhält, wünschst dir aber gleichzeitig, dass die beiden zusammenbleiben. Soll ich auch einen Umschlag drucken? Ich habe eine Vorlage in Excel.«
»Der hat sie am langen Arm verhungern lassen. Da ist kein Gefühl, da ist nur Kälte. Ich verstehe Oma total. Sie sagt was und er antwortet nicht. Seit Jahren. Jetzt sucht er sich einfach eine neue Wohnung. Wahrscheinlich checkt er gleich in die nächste Seniorenresidenz ein.«
Er schiebt die Maus sauber über das Mousepad und fügt den Text in eine Vorlage ein. Copy/Paste.
»Onkel Richard hat die Kontoauszüge gesehen. Wenn du mal auf dem Pütt gearbeitet hast, hast du Kohle. Oma hat all die Jahre im Supermarkt bei Herrn Schmitt ohne Steuerkarte geschuftet und dann noch die Putzstellen. Die kriegt doch fast keine Rente und kann jetzt mal schön gucken, wie sie klarkommt.«
Johannes schiebt die Maus ruhig hin und her und freut sich sichtlich, dass es so schön klappt mit seinem Programm.
»Johannes, auf wessen Seite bist du eigentlich? Du hast doch keine Ahnung, was da läuft. Deine Eltern sind nach 35 Jahren noch total dufte miteinander. Deine Großeltern sind auch dufte miteinander, und dein Bruder führt eine todlangweilige Ehe und macht in seiner spießigen Doppelhaushälfte mit Volvo im Carport auf Super-Papi. Vollkasko-Spießer. Du hast keine Idee, dass es anders laufen kann.« Er guckt mich verständnislos an. »Wie klingt das denn: ›Hallo, mein Name ist Eva Ludwig. Meine Mutter ist früh gestorben, mein Vater ist daraufhin abgehauen und meine Oma hat sich dann mit 79 von meinem Opa getrennt.‹«
»Eva, jetzt warte doch mal ...«
»Ich darf weder heiraten, noch darf ich sterben. Die Feierlichkeiten möchte ich sehen. Das wird auf meiner Seite ganz schön mickrig und kaputt aussehen. Hast du für so eine Situation vielleicht auch eine Vorlage in Excel?«
»Eva, sei nicht albern. Beruhig dich. Hier wird weder geheiratet noch gestorben. Komm mal wieder runter.«
Johannes schließt das Dokument, speichert »Wohnungskündigung_ OmaOpa.doc« und klappt den Rechner zu.
»Sollen deine Großeltern zusammenbleiben, nur weil sie alt sind und nur weil die kleine Eva gerne an die Liebe bis ans Ende des Lebens glauben möchte? Da ist nichts mehr. Aufwachen, Prinzessin Lillifee.« Er wirkt genervt. »Würdest du bitte jetzt die Unterschrift deiner Oma fälschen? Ich unterschreibe für deinen Opa, dann können wir das abschicken und zu den Akten legen.«
»Zu den Akten legen? Nein! Ich werde das ganz bestimmt nicht unterschreiben. Und herzlichen Dank für ›hier wird weder gestorben noch geheiratet‹. Dass du mich nicht heiraten willst, habe ich auch vorher schon verstanden. Ich bin vielleicht naiv. Aber nicht doof.«
© 2014, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
- Autor: Sabine Heinrich
- 2014, 5. Aufl., 288 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462046217
- ISBN-13: 9783462046212
- Erscheinungsdatum: 04.03.2014
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