Der Genesis-Plan / Sigma Force Bd.3
Roman
Amoklauf in einem Kloster in Nepal: In wenigen Minuten sind alle tot. Und das sind nur die ersten Opfer einer unglaublichen Verschwörung, die nur ein Ziel verfolgt: die Schöpfung einer neuen Welt auf den Ruinen der Apokalypse. Nur Painter Crowe von der...
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Produktinformationen zu „Der Genesis-Plan / Sigma Force Bd.3 “
Amoklauf in einem Kloster in Nepal: In wenigen Minuten sind alle tot. Und das sind nur die ersten Opfer einer unglaublichen Verschwörung, die nur ein Ziel verfolgt: die Schöpfung einer neuen Welt auf den Ruinen der Apokalypse. Nur Painter Crowe von der SIGMA Force kann den grausamen Plan noch vereiteln.
Klappentext zu „Der Genesis-Plan / Sigma Force Bd.3 “
In einem Kloster in den Bergen Nepals bricht unvermittelt die Hölle los: Nur wenige Minuten dauert der blindwütige Amoklauf der buddhistischen Glaubensbrüder - dann ist keiner von ihnen mehr am Leben ... Und sie sind lediglich die ersten Opfer einer unglaublichen Verschwörung, die nur ein einziges Ziel verfolgt: die Schöpfung einer neuen Welt auf den Ruinen der Apokalypse! Allein Painter Crowe von der SIGMA Force kann den grausamen Plan jetzt noch vereiteln ...Verpassen Sie nicht die weiteren in sich abgeschlossenen Romane über die Topagenten der Sigma Force!
Lese-Probe zu „Der Genesis-Plan / Sigma Force Bd.3 “
Der Genisis-Plan von James Rollins Aus dem Englischen von Norbert Stöbe
1945
4. Mai, 06:22
Festungsstadt Breslau, Polen
Die Leiche schwamm im stinkenden Wasser, das sich durch die feuchten Abwasserkanäle wälzte. Es handelte sich um einen toten Jungen, aufgebläht und von Ratten angefressen. Schuhe, Unterhose und Hemd hatte man ihm ausgezogen. In der belagerten Stadt ließ man nichts verkommen.
SS-Obergruppenführer Jakob Sporrenberg zwängte sich an dem Leichnam vorbei und rührte dabei die trübe Brühe auf. Abfall und Exkremente. Blut und Galle. Das feuchte Tuch, das er sich vor Nase und Mund gebunden hatte, schützte kaum vor dem Gestank. So also endete der große Krieg. Die Mächtigen mussten durch Abwasserkanäle flüchten. Aber Befehl war Befehl.
Unablässig trommelte die russische Artillerie mit ihrem Ka-wumm auf die Stadt ein. Die Druckwellen der Explosionen spürte er im Bauch. Die Russen hatten die Stadttore eingenommen und bombardierten den Flughafen. In diesem Moment rollten russische Kettenpanzer über das Kopfsteinpflaster, während Transportflugzeuge auf der Kaiserstraße landeten. Die Hauptdurchgangsstraße war mittels zweier paralleler Reihen brennender Ölfässer in eine Landebahn verwandelt worden. Der Qualm stieg in den bereits raucherfüllten Himmel empor und verhinderte, dass es hell wurde. In den Straßen und in den Häusern wurde gekämpft, vom Keller bis zum Dachboden.
Jedes Haus eine Festung.
Das war Gauleiter Hankes letzter Befehl an die Bevölkerung gewesen. Die Stadt sollte so lange wie möglich Widerstand leisten. Die Zukunft des Dritten Reichs hing davon ab.
Und die von Jakob Sporrenberg.
»Beeilt euch!«, drängte er die nachfolgenden Männer.
... mehr
Die von ihm befehligte Einheit des Sicherheitsdienstes - ein Evakuierungsspezialkommando - stapfte hinter ihm durchs knietiefe Dreckwasser. Vierzehn Männer.
Alle bewaffnet. Alle schwarz uniformiert. Alle mit schweren Rucksäcken ausgestattet. In der Mitte gingen die vier größten Männer, alle ehemalige Dockarbeiter. Sie hatten Tragstangen geschultert, an denen schwere Kisten befestigt waren.
Es gab einen bestimmten Grund, weshalb die Russen diese am Fuße der Sudetengebirge zwischen Deutschland und Polen gelegene Stadt angegriffen hatten. Die Befestigungen von Breslau schützten den Zugang zum Hochland. In den vergangenen zwei Jahren hatten Zwangsarbeiter des Konzentrationslagers Groß-Rosen einen nahe gelegenen Berg ausgehöhlt. Mit bloßen Händen und mit Sprengstoff hatten sie ein Tunnelsystem von hundert Kilometern Länge angelegt, dessen einziger Zweck darin bestand, ein Geheimprojekt vor den Augen der Alliierten zu verbergen.
Das Arbeitslager Riese.
Dennoch waren Gerüchte aufgekommen. Vielleicht hatte einer der Bewohner des Dorfes in der Nähe des Wenceslas-Bergwerks hinter vorgehaltener Hand Mutmaßungen über die Krankheit angestellt, die selbst jene befallen hatte, die sich außerhalb der Anlage aufhielten.
Wenn sie die Forschungen nur hätten abschließen können ...
Gleichwohl empfand Jakob Sporrenberg eine gewisse Scheu. Er kannte nicht alle Einzelheiten des Geheimprojekts mit dem Codenamen Chronos. Doch er wusste genug. Er hatte die Leichen derer gesehen, die man Experimenten unterzogen hatte. Er hatte die Schreie gehört.
Abscheu.
Dieses Wort war ihm in den Sinn gekommen und hatte ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen.
Es war ihm nicht schwergefallen, die Wissenschaftler zu liquidieren. Er hatte die zweiundsechzig Männer und Frauen nach draußen schaffen lassen und sie mit jeweils zwei Kopfschüssen getötet. Keiner durfte erfahren, was in der Tiefe des Wenceslas-Bergwerks vorgegangen war ... oder was man dort entdeckt hatte. Eine Wissenschaftlerin freilich war noch am Leben.
Doktor Tola Hirszfeld.
Sie schlurfte hinter Jakob her, die Hände auf dem Rücken gefesselt, von einem seiner Männer halb mitgeschleift. Sie war eine groß gewachsene Frau Ende zwanzig, mit kleinen Brüsten, aber üppiger Hüfte und wohlgeformten Beinen. Sie hatte glattes, schwarzes Haar, und ihre Haut war aufgrund der langen Zeit, die sie unter der Erde verbracht hatte, so weiß wie Milch. Eigentlich hätte sie mit den anderen zusammen getötet werden sollen, doch ihr Vater, Oberarbeitsleiter Hugo Hirszfeld, der das Projekt beaufsichtigte, hatte endlich sein halbjüdisches Erbe offenbart. Er hatte versucht, die Forschungsakten zu vernichten, war aber von einem der Wachposten erschossen worden, bevor er sein unterirdisches Büro mit einer Brandbombe zerstören konnte. Seine Tochter konnte von Glück sagen, dass wenigstens einer überleben musste, der Einblick in das Projekt Glocke hatte, denn die Arbeit musste weitergeführt werden. Sie war ein Genie genau wie ihr Vater und wusste über seine Forschung besser Bescheid als jeder andere.
Von jetzt an würde man freilich nachhelfen müssen.
Jedes Mal, wenn Jakob sie ansah, funkelte sie ihn an. Der Hass strahlte von ihr aus wie die Hitze von einem offenen Backofen. Aber sie würde kooperieren ... genau wie ihr Vater es getan hatte. Jakob wusste mit Juden umzugehen, zumal mit Mischlingen. Das waren die Schlimmsten. Die Teiljuden. Einige hunderttausend Mischlinge leisteten Militärdienst. Jüdische Soldaten. Aufgrund von Ausnahmeregelungen wurden sie verschont und durften dem Reich dienen. Dazu war eine Sondererlaubnis nötig. Solche Mischlinge taten sich als Soldaten zumeist besonders hervor, denn sie mussten beweisen, dass ihre Abstammung keinen Einfluss hatte auf ihre Loyalität.
Jakob aber hatte ihnen noch nie vertraut. Tolas Vater hatte seine Zweifel bestätigt. Sein Sabotageversuch hatte Jakob nicht überrascht. Juden durfte man halt nicht trauen, man musste sie vernichten.
Hugo Hirszfelds Sondergenehmigung war vom Führer persönlich unterzeichnet worden und hatte nicht nur für den Vater und die Tochter gegolten, sondern auch für seine Eltern, die irgendwo in Mitteldeutschland lebten. Sosehr Jakob den Mischlingen misstraute, so groß war das Vertrauen, das er in den Führer setzte. Hitlers Befehle waren eindeutig gewesen: Die für die Fortsetzung der Forschungsarbeit benötigten Geräte sollten aus dem Stollen evakuiert und der Rest zerstört werden.
Das bedeutete, die Tochter zu verschonen.
Und das Kind.
Der Junge war in mehrere Decken eingewickelt, ein jüdischer, erst einen Monat alter Säugling. Um ihn ruhigzustellen, hatten sie ihm ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben.
Das Kind war der eigentliche Grund für den Abscheu, den Jakob empfand. Alle Hoffnungen des Dritten Reichs ruhten in diesen kleinen Händen - in den Händen eines Judenkinds. Bei dieser Vorstellung drehte sich ihm der Magen um. Am liebsten hätte er das Kind mit dem Bajonett aufgespießt. Aber er hatte seine Befehle.
Auch Tola beobachtete das Kind. In ihren Augen flammte eine Mischung aus Zorn und Kummer. Tola hatte nicht nur ihren Vater bei seinen Forschungen unterstützt, sondern sich auch um den Säugling gekümmert, ihn in den Schlaf gewiegt und gefüttert. Das Kind war der einzige Grund, weshalb die Frau überhaupt mit ihnen kooperiert hatte. Die Drohung, den Jungen zu töten, hatte Tola bewogen, Jakobs Forderungen nachzugeben.
Über ihnen detonierte eine Granate. Die Druckwelle warf sie alle auf die Knie nieder und löschte die anderen Geräusche in einem gewaltigen Dröhnen aus. Beton barst, Staub rieselte ins stinkende Wasser.
Fluchend richtete Jakob sich wieder auf.
Oskar Henricks, sein Stellvertreter, setzte sich vor ihn und zeigte zu einer Abzweigung des Abwasserkanals.
»Wir nehmen diesen Tunnel, Obergruppenführer. Ein alter Überlaufkanal. Der Übersichtskarte zufolge mündet der Hauptkanal nicht weit von der Kathedraleninsel in den Fluss.«
Jakob nickte. In der Nähe der Insel sollten zwei mit einer weiteren Kommandoeinheit bemannte getarnte Kanonenboote auf sie warten. Bis dorthin war es nicht mehr weit.
Während das russische Bombardement immer heftiger wurde, beschleunigte er das Tempo. Das Bombardement leitete offenbar den entscheidenden Vorstoß des Gegners ein. Die Kapitulation der Stadt war unvermeidlich.
Als Jakob die Abzweigung erreichte, kletterte er aus der stinkenden Brühe auf den Betonsims des Seitentunnels. Bei jedem Schritt machten seine Stiefel glucksende Geräusche. Der widerliche Gestank von Exkrementen und Schlamm wurde vorübergehend unerträglich, als wollte ihn der Abwasserkanal aus seinem Inneren vertreiben.
Der Rest des Kommandos folgte ihm.
Jakob leuchtete mit der Taschenlampe in den Betontunnel hinein. Roch die Luft nicht schon etwas frischer? Er schritt energischer aus als zuvor. Die Rettung war in greifbarer Nähe; sie hatten es fast geschafft. Seine Einheit würde Schlesien halb durchquert haben, bevor die Russen auch nur in das unterirdische Labyrinth des Wenceslas-Stollens vorgedrungen wären. Als Willkommensgruß hatte Jakob in den Gängen des Labortrakts Sprengfallen versteckt. In dem Berg würden die Russen und ihre Verbündeten nichts als den Tod finden.
Frischen Mutes eilte Jakob der frischen Luft entgegen. Der Betontunnel wies ein schwaches Gefälle auf. Das Tempo nahm zu. Ihre Schritte wurden beflügelt von der plötzlichen Stille zwischen den Artilleriesalven. Die Russen griffen mit aller Macht an.
Es würde knapp werden. Die Fluchtroute über den Fluss würde ihnen nicht mehr lange offen stehen.
Als spürte er die Anspannung, begann der Säugling leise zu weinen, ein dünnes Greinen. Die Wirkung des Beruhigungsmittels ließ allmählich nach. Jakob hatte dem Arzt eingeschärft, das Mittel schwach zu dosieren. Sie durften das Leben des Kindes nicht gefährden. Das war vielleicht ein Fehler gewesen ...
Das Weinen wurde durchdringender.
Irgendwo im Norden detonierte eine einzelne Granate.
Das Greinen steigerte sich zu einem lauten Wimmern, das durch den Betonschlund hallte.
»Bringen Sie das Kind zum Schweigen!«, befahl er dem Soldaten, der den Säugling trug.
Der kreidebleiche, klapperdürre Mann nahm das Bündel von der Schulter, wobei er die schwarze Mütze verlor. Er wickelte den Jungen aus seiner Decke, was das Geschrei aber nur noch weiter steigerte.
»Bitte ... lassen Sie mich das machen«, sagte Tola. Sie stemmte sich gegen den Griff des Mannes, der sie am Ellbogen festhielt. »Das Kind braucht mich.«
Der Soldat mit dem Säugling sah fragend Jakob an. Draußen war es still geworden. Das Weinen hielt an.
Jakob schnitt eine Grimasse und nickte.
Man schnitt Tola die Handfesseln durch. Sie massierte sich kurz die eingeschlafenen Hände, dann griff sie nach dem Kind. Der Soldat war froh, ihr seine Bürde übergeben zu können. Tola barg den Säugling in der Armbeuge, stützte ihm den Kopf und wiegte ihn sanft. Sie beugte sich dicht auf ihn hinunter und flüsterte beruhigende Laute. Ihr ganzes Wesen hatte sich dem Kind zugewandt.
Das Geschrei machte leisem Wimmern Platz.
Zufrieden gestellt nickte Jakob Tolas Bewacher zu. Der Mann drückte ihr seine Luger in den Rücken. Schweigend setzten sie den Weg durch das Labyrinth unter der Stadt Breslau fort.
Bald darauf ließ der Brandgeruch den Kloakengestank in den Hintergrund treten. Jakobs Taschenlampe beleuchtete eine Rauchwolke, die den Ausgang des Überlaufkanals markierte. Die Artillerie schwieg, doch das Tackern und Knattern des Maschinengewehrfeuers hielt unvermindert an - überwiegend im Osten lokalisiert. Irgendwo in der Nähe schwappte Wasser.
Jakob bedeutete seinen Männern, im Tunnel zu bleiben, dann zeigte er zum Ausgang. »Geben Sie den Booten das vereinbarte Zeichen«, befahl er dem Funker.
Der Soldat nickte knapp, eilte vor und verschwand in der rauchverhangenen Düsternis. Im nächsten Moment übermittelte er mit Lichtsignalen eine verschlüsselte Nachricht an die Nachbarinsel. Es würde eine Weile dauern, bis die Boote sie erreicht hätten.
Jakob drehte sich zu Tola um. Sie hielt immer noch das Kind. Der Junge hatte sich wieder beruhigt und die Augen geschlossen.
Tola erwiderte unerschrocken Jakobs Blick. »Sie wissen, dass mein Vater recht hatte«, sagte sie mit ruhiger Überzeugung. Ihr Blick wanderte über die verschlossenen Kisten, dann sah sie wieder Jakob an. »Das lese ich in Ihrem Gesicht. Wir ... sind zu weit gegangen.«
»Darüber steht Ihnen kein Urteil zu«, erwiderte Jakob.
»Wem dann?«
Jakob schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Er hatte seine Befehle von Heinrich Himmler persönlich. Ihm stand es nicht zu, sie in Zweifel zu ziehen. Trotzdem spürte er, dass die Frau ihn noch immer ansah.
»Es widerspricht Gottes Willen und ist wider die Natur«, flüsterte sie.
Der Funker bewahrte ihn davor, darauf antworten zu müssen. »Die Boote kommen!«, meldete er, dann kehrte er zur Tunnelmündung zurück.
Jakob raunzte ein paar Befehle und brachte seine Männer in Stellung. Er führte sie zum Ende des Tunnels, der auf das Ufer der Oder hinausging. Inzwischen war es hell geworden. Im Osten glühte der Sonnenaufgang, hier aber hing tief über dem Wasser eine schwarze, von der Flussströmung verdichtete Rauchwolke. Der Qualm würde ihnen Deckung geben.
Aber wie lange noch?
Das unheimliche, fröhliche Geknatter der MGs ging unvermindert weiter, ein Feuerwerk zur Feier der Zerstörung Breslaus.
Als der Kanal endlich hinter ihm lag, riss Jakob sich die feuchte Gesichtsmaske herunter und atmete tief durch. Er ließ den Blick über das bleigraue Flusswasser schweifen. Zwei flache Siebenmeterboote durchteilten die Wellen, die Motoren gaben ein stetiges Dröhnen von sich. Am Bug waren jeweils zwei Maschinengewehre vom Typ MG-42 montiert, die von grünen Planen notdürftig verhüllt wurden.
Hinter den Booten war verschwommen der dunkle Umriss einer Insel zu erkennen. Die Kathedraleninsel war eigentlich eine Halbinsel, denn im neunzehnten Jahrhundert hatte sich in Ufernähe so viel Schlamm angesammelt, dass eine Landverbindung entstanden war. Eine ebenfalls aus dem neunzehnten Jahrhundert datierende smaragdgrüne schmiedeeiserne Brücke führte ans Ufer. Die beiden Boote wichen den steinernen Brückenpfeilern aus und näherten sich der Tunnelmündung.
Als ein Sonnenstrahl die beiden Türme der Kathedrale traf, von der die Insel ihren Namen hatte, wanderte Jakobs Blick nach oben. Das war eine der sechs Kirchen der Insel.
Tola Hirszfelds Worte klangen ihm noch immer in den Ohren.
Es widerspricht Gottes Willen und ist wider die Natur.
Die Morgenkühle durchdrang seine nasse Kleidung, und er fröstelte. Er sehnte sich danach, von hier wegzukommen und die vergangenen Tage zu vergessen.
Das erste der beiden Boote hatte das Ufer erreicht. Froh über die Ablenkung und vor allem die Bewegung befahl er seinen Männern, die Boote zu beladen.
Tola stand etwas abseits, den Säugling im Arm, bewacht von einem einzigen Soldaten. Auch sie hatte die am verqualmten Himmel funkelnden Kirchtürme entdeckt. Das MG-Feuer hielt an und rückte immer näher. Man hörte Panzer, deren Motoren in den unteren Gängen heulten. Rufe und Schreie drangen herüber.
Wo war der Gott, gegen den sie sich nicht versündigen wollte?
Hier war er jedenfalls nicht.
Als die Boote beladen waren, ging Jakob zu Tola hinüber. »Steigen Sie ein.« Er hatte barsch sein wollen, doch ihr Gesichtsausdruck veranlasste ihn zur Mäßigung.
Sie gehorchte, mit den Augen noch immer bei der Kathedrale, mit den Gedanken noch weiter himmelwärts.
Auf einmal wurde Jakob sich ihrer Schönheit bewusst, obwohl sie doch ein Mischling war. Dann aber blieb sie mit der Stiefelkappe irgendwo hängen und geriet ins Stolpern, fand jedoch das Gleichgewicht wieder, ohne den Säugling fallen zu lassen. Sie richtete den Blick wieder aufs graue Wasser und die Rauchwolke. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich. Selbst ihre Augen wurden hart wie Kiesel, als sie sich nach einem Sitzplatz für sich und das Kind umsah.
Sie setzte sich auf die Steuerbordbank, ihr Bewacher nahm neben ihr Platz.
Jakob setzte sich ihr gegenüber und gab dem Steuermann das Zeichen zum Ablegen. »Wir müssen uns beeilen.« Suchend blickte er den Fluss entlang. Sie wandten sich nach Westen, weg von der Front im Osten, weg von der aufgehenden Sonne.
Er sah auf die Uhr. Inzwischen würde auf einem zehn Kilometer entfernten verlassenen Flugplatz ein Transportflugzeug vom Typ Ju 52 auf sie warten. Es trug das Emblem des Deutschen Roten Kreuzes und war als Verwundetentransport getarnt, um sie gegen Angriffe abzusichern.
Die Boote schwenkten ins tiefere Wasser hinaus, die Motoren kamen auf Touren. Jetzt konnten die Russen sie nicht mehr aufhalten. Sie hatten es geschafft.
Plötzlich fiel ihm an der anderen Seite des Bootes eine Bewegung ins Auge.
Tola hatte sich über den Säugling gebeugt und hauchte ihm zärtlich einen Kuss aufs flaumige Haar. Dann hob sie den Kopf und sah Jakob in die Augen. In ihrem Blick lag keine Verachtung und auch kein Zorn. Nur Entschlossenheit.
Jakob wusste, was sie vorhatte. »Nicht ...«
Zu spät.
Tola schob sich hoch, rutschte mit dem Rücken über die niedrige Reling und stieß sich mit den Füßen ab. Den Säugling an die Brust gedrückt, kippte sie rücklings ins kalte Wasser.
Ihr überraschter Bewacher drehte sich um und feuerte aufs Geratewohl hinterher.
Jakob stürzte hinüber und riss den Arm des Mannes nach oben. »Nicht. Sie könnten das Kind treffen.«
Jakob beugte sich über die Reling. Auch die anderen Männer waren aufgesprungen. Das Boot schaukelte. Das Einzige, was Jakob im bleifarbenen Wasser sah, war sein eigenes Spiegelbild. Er befahl dem Steuermann, einen Kreis zu fahren.
Nichts.
Er hielt Ausschau nach den sprichwörtlichen Luftblasen, doch das Kielwasser des schwer beladenen Bootes erzeugte zu viele Wellen. Er schlug mit der Faust auf die Reling.
Wie der Vater, so die Tochter ...
Das sah einem Mischling ähnlich. Er kannte das bereits: Jüdische Mütter, die ihre eigenen Kinder erstickten, um ihnen größeres Leid zu ersparen. Er hatte geglaubt, Tola wäre stärker. Aber vielleicht hatte sie ja gar keine andere Wahl gehabt.
Er ließ das Boot noch eine Weile kreisen. Seine Männer suchten beide Ufer ab. Die Frau blieb verschwunden. Eine Granate pfiff über sie hinweg. Sie durften nicht länger warten.
Jakob befahl seinen Männern, sich wieder hinzusetzen. Er zeigte nach Westen, zum wartenden Flugzeug. Sie hatten immer noch die Kisten mit den Akten. Es war ein Rückschlag, doch damit ließ sich leben. Das Kind war zu ersetzen.
»Rückzug«, sagte er.
Die beiden Boote fuhren unter voller Kraft weiter.
Kurz darauf verschwanden sie in der Qualmwolke der brennenden Stadt Breslau.
Tola hörte, wie der Motorenlärm in der Ferne verhallte.
Hinter einem der dicken Pfeiler verborgen, welche die alte, schmiedeeiserne Kathedralenbrücke stützten, trat sie Wasser. Mit einer Hand hielt sie dem Säugling den Mund zu, damit er nicht schrie. Sie konnte nur hoffen, dass er durch die Nase genug Luft bekam. Aber das Kind war geschwächt.
Und sie ebenfalls.
Sie hatte einen Streifschuss am Hals abbekommen. Das Blut färbte das Wasser rot. Ihr Gesichtsfeld engte sich immer mehr ein. Trotzdem kämpfte sie weiter und bemühte sich, das Kind über Wasser zu halten.
Als sie sich in den Fluss gestürzt hatte, wollte sie sich zusammen mit dem Kind eigentlich ertränken. Dann aber traf sie der Kälte- schock, und der Hals begann zu brennen, und sie änderte ihren Entschluss. Sie dachte an die funkelnden Kirchtürme. Das war nicht ihre Religion, nicht ihr kulturelles Erbe. Dennoch erinnerten die Türme sie daran, dass es jenseits des gegenwärtigen Dunkels Licht gab. Irgendwo gab es Menschen, die ihre Mitmenschen nicht quälten. Einen Ort, wo Mütter ihre Kinder nicht ertränkten.
Sie schwamm weiter auf den Fluss hinaus und ließ sich zur Brücke treiben. Unter Wasser kniff sie dem Kind die Nase zu und pustete ihm Luft in den Mund. Obwohl sie eigentlich hatte sterben wollen, flammte der Lebenswille, einmal entzündet, immer stärker in ihrer Brust.
Der Junge hatte nicht mal einen Namen.
Niemand sollte namenlos sterben.
Sie hauchte dem Kind ihren Atem ein und schwamm blindlings mit der Strömung. Es war reiner Zufall, dass sie gegen einen Brückenpfeiler getrieben wurde, hinter dem sie sich verstecken konnte.
Jetzt aber waren die Boote verschwunden, und sie durfte nicht länger warten.
Das Herz pumpte mühsam das Blut durch ihre Adern. Sie spürte, dass nur die Kälte sie am Leben erhielt. Die gleiche Kälte aber entzog dem zarten Kind die lebensnotwendige Körperwärme.
Hektisch mit den Beinen austretend, schwamm sie zum Ufer. Aufgrund ihrer Schwäche und der Kälte waren ihre Bewegungen unkoordiniert. Sie tauchte unter und zog das Kind mit sich.
Nein.
Sie kämpfte sich wieder an die Oberfläche, doch auf einmal fühlte sich das Wasser schwerer an als zuvor, und das Schwimmen wurde immer mühsamer.
Sie wollte nicht aufgeben.
Plötzlich stießen ihre Stiefel an glitschige Steine. Vor Erleichterung schrie sie auf, doch da sie vergessen hatte, dass ihr Kopf untergetaucht war, schluckte sie einen Mund voll Wasser. Sie sank noch tiefer, stieß sich von den schlammigen Steinen ab. Ihr Kopf tauchte auf, und sie warf sich dem Ufer entgegen.
Vor ihr ragte die steile Böschung auf.
Sich mit einer Hand stützend, krabbelte sie aus dem Wasser, mit der anderen Hand drückte sie den Säugling an ihre Brust. Als sie festen Boden unter sich hatte, brach sie zusammen. Sie fühlte sich vollkommen kraftlos. Ihr Blut strömte über das Kind. Mit letzter Kraft konzentrierte sie sich auf den Jungen.
Er rührte sich nicht mehr. Er hatte aufgehört zu atmen.
Sie schloss die Augen und betete, während die ewige Dunkelheit sie verschluckte.
Klagt, ihr Verdammten, klagt ...
Pater Varick hörte das Gewimmer als Erster.
Zusammen mit seinen Mitbrüdern hatte er am Vorabend, als die Bombardierung einsetzte, im Weinkeller unter der St.-Petrus-und- Paulus-Kirche Zuflucht gesucht. Kniend hatten sie darum gebetet, dass ihre Insel verschont werden möge. Die im fünfzehnten Jahrhundert erbaute Kirche hatte die ständig wechselnden Beherrscher der Grenzstadt überlebt. Sie flehten den Himmel um Beistand an, damit die Kirche auch diese Katastrophe überdauerte.
In dieser frommen Stille vernahmen die Mönche auf einmal das Wehgeschrei.
Pater Varick richtete sich auf, was ihm aufgrund seines Alters einige Mühe bereitete.
»Wo willst du hin?«, fragte Franz.
»Meine Schützlinge rufen nach mir«, sagte der Pater. Seit zwanzig Jahren verfütterte er die Speisereste an die streunenden Katzen und Hunde, die sich hin und wieder an der am Flussufer gelegenen Kirche blicken ließen.
»Du solltest besser hierbleiben«, meinte ein anderer Bruder mit angstvoll bebender Stimme.
Pater Varick hatte schon zu lange gelebt, um den Tod mit der Inbrunst der Jugend zu fürchten. Er ging durch den Keller und bog auf den kurzen Gang ein, der zum Fluss hinausführte. Über diesen Gang war früher die Heizkohle geschleppt worden, die dort gelagert worden war, wo jetzt die staubbedeckten edlen grünen Flaschen in Eichengestellen ruhten.
Er entriegelte die alte Kohlentür und drückte mit der Schulter dagegen.
Knarrend öffnete sich die Tür.
Als Erstes bemerkte er den Gestank in der Luft - dann veranlasste ihn das Wimmern, den Blick zu senken. »Allmächtiger ...«
Nur wenige Schritte von der Tür in der Festungsmauer entfernt lag eine Frau. Sie rührte sich nicht. Er eilte zu ihr und kniete, ein Gebet auf den Lippen, neben ihr nieder.
Er tastete am Hals nach dem Puls, doch da war nichts als Blut. Sie war blutüberströmt von Kopf bis Fuß und so kalt wie die Steine.
Tot.
Wieder ertönte das Wimmern - von der anderen Seite.
Und da lag der Säugling, halb unter der Frau begraben, ebenfalls blutig.
Das Kind war blau gefroren und völlig durchnässt, doch es lebte noch. Er zog es unter der Toten hervor, wobei die vollgesogene Decke verrutschte.
Ein Junge.
Er fuhr mit der Hand über den winzigen Körper des Kindes und vergewisserte sich, dass es unverletzt war.
Das Blut stammte von seiner Mutter.
Bekümmert sah er auf die Frau nieder. So viele Tote. Er blickte zum anderen Flussufer hinüber. Die Stadt stand in Flammen, Rauchwolken stiegen in den Morgenhimmel. Die Artillerie feuerte unablässig. War die Frau über den Fluss geschwommen? Hatte sie das Kind retten wollen?
»Ruhe in Frieden«, sagte er zu der Toten. »Das hast du dir verdient. «
Pater Varick ging zur Kohlentür zurück. Er wischte dem Säugling Blut und Wasser ab. Das Haar des Kindes war ganz fein, aber schneeweiß. Es war höchstens einen Monat alt.
Der Junge schrie lauter, und sein Gesicht verzerrte sich, doch er war noch immer schlaff, kraftlos und kalt.
»Ja, wein du nur, mein Kleiner.«
Als er die Stimme hörte, schlug der Junge die verquollenen Augen auf. Sie waren blau und klar. Andererseits hatten die meisten Neugeborenen blaue Augen. Varick aber hatte das Gefühl, dass sich diese Augen ihre strahlend blaue Schönheit bewahren würden.
Behutsam drückte er den Jungen an sich, um ihn zu wärmen. Plötzlich fiel ihm etwas ins Auge. Nanu, was ist denn das? Er drehte den Fuß des Jungen vorsichtig herum. Auf die Ferse hatte jemand ein Zeichen aufgemalt.
Nein, nicht aufgemalt. Der Pater rieb daran.
Das Zeichen war mit scharlachroter Tinte eintätowiert. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Krähenfuß.
Vater Varick hatte einen Großteil seiner Jugend in Finnland verbracht. Deshalb kannte er das Symbol: Es war eine nordische Rune. Allerdings hatte er keine Ahnung, welche Rune das war oder was sie bedeutete. Er schüttelte den Kopf. Wer tat so etwas?
Nachdenklich musterte er die tote Mutter.
Egal. Der Sohn soll nicht tragen die Missetat des Vaters.
Er wischte das Blut vom Scheitel des Jungen und wickelte ihn in seine warme Kutte.
»Armer Junge ... Welch ein Willkommen in der Welt.«
Eins
1
Das Dach der Welt
Gegenwart
16. Mai, 06:34
Himalaya
Basislager Mount Everest, 5360 Meter ü. d. M.
Der Wind brachte den Tod.
Taski, der Anführer der Sherpas, verkündete sein Urteil mit dem feierlichen Ernst und der Selbstgewissheit seines Berufs. Der untersetzte Mann war nur knapp einssechzig groß, und das mitsamt dem zerfledderten Cowboyhut. Dabei tat er so, als wäre er hier in den Bergen der Größte. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er die flatternden Gebetsfahnen.
Dr. Lisa Cummings nahm den Mann mit ihrer Nikon D-100 ins Visier und betätigte den Auslöser. Taski war nicht nur der Führer der Gruppe, sondern auch Lisas psychometrische Testperson. Ein perfektes Forschungsobjekt.
Sie hatte ein Stipendium bekommen, das es ihr ermöglichte, in Nepal die physiologischen Auswirkungen einer Everestbesteigung ohne Sauerstoffgeräte zu untersuchen. Bis zum Jahr 1978 hatte niemand den Everest ohne technische Hilfsmittel bestiegen. Die Luft war zu dünn. Selbst erfahrene Bergsteiger mit Sauerstoffflaschen hatten unter extremer Erschöpfung, Koordinationsschwierigkeiten, Doppeltsehen und Halluzinationen zu leiden. Es galt als unmöglich, einen Achttausender ohne Luftvorrat zu bezwingen.
1978 aber hatten Reinhold Messner und Peter Habeler das Unmögliche geschafft und den Gipfel allein mithilfe ihrer keuchenden Lungen erreicht. In den folgenden Jahren folgten etwa sechzig Männer und Frauen ihren Fußstapfen und setzten der Bergsteigerelite ein neues Ziel.
Bessere Testbedingungen unter niedrigem Luftdruck hätte sie sich nicht wünschen können.
Zuvor hatte Dr. Lisa Cummings mithilfe eines Fünfjahresstipendiums die Auswirkungen von hohem Luftdruck auf die physiologischen Vorgänge beim Menschen erforscht. Auf dem Forschungsschiff Deep Fathom hatte sie Tiefseetaucher untersucht. Anschließend hatten Veränderungen angestanden - sowohl beruflich als auch privat. Sie hatte ein Stipendium der National Science Foundation zur Durchführung antithetischer Forschungen bewilligt bekommen: zur Untersuchung der physiologischen Auswirkungen von Niederdrucksystemen.
Deshalb befand sie sich jetzt hier auf dem Dach der Welt.
Lisa wechselte die Position, um noch eine Aufnahme von Taski Sherpa zu machen. Wie so viele hatte Taski die Stammesbezeichnung als Familiennamen angenommen.
Der Mann entfernte sich von den wehenden Gebetsfahnen, nickte energisch und zeigte mit einem zwischen zwei Fingern eingeklemmten Zigarettenstummel zum Gipfel hoch. »Ein schlechter Tag. Der Wind bringt den Tod«, wiederholte er, dann steckte er sich eine neue Zigarette an und wandte sich ab. Es war alles gesagt.
Für die anderen Mitglieder der Gruppe galt das freilich nicht.
Enttäuschte Bemerkungen wurden gewechselt. Die Bergsteiger blickten zum strahlend blauen Himmel auf. Das zehnköpfige Bergsteigerteam hatte neun Tage darauf gewartet, dass sich ein Wetterfenster öffnete. Wegen des Unwetters hatte sich bislang noch keiner gegen den gesunden Menschenverstand aufgelehnt. Ein Tiefdruckgebiet im Golf von Bengalen war für das schlechte Wetter verantwortlich gewesen. Sturmböen hatten mit bis zu hundertsechzig Stundenkilometern auf das Lager eingetrommelt, eines der Zelte weggeweht und Leute im Freien umgeworfen. Der zeitweise damit einhergehende Schneefall hatte der ungeschützten Haut wie Sandpapier zugesetzt.
Der heutige Morgen aber war ebenso strahlend gewesen wie ihre Hoffnungen. Der Khumbu-Gletscher funkelte im Sonnenschein. Über allem aber schwebte der Everest, umringt von seinen Nachbargipfeln, eine Hochzeitsgesellschaft ganz in Weiß.
Lisa hatte etwa hundert Fotos aufgenommen, um das veränderliche Licht in all seiner vergänglichen Schönheit einzufangen. Jetzt verstand sie auch die Namen, die man dem Everest gegeben hatte: Auf Chinesisch hieß er Chomolungma, Muttergöttin der Welt, auf Nepalesisch Sagarmatha, Himmelsgöttin.
Der inmitten der Wolken schwebende Berg glich tatsächlich einer Göttin aus Eis und Fels. Und sie waren hergekommen, um die Göttin anzubeten und sich des Himmelskusses als würdig zu erweisen. Billig war das gerade nicht gewesen. Fünfundsechzigtausend Dollar im Voraus. Die Zeltausrüstung, Träger, Sherpas und so viele Yaks, wie man wollte, waren im Preis natürlich inbegriffen. Das Muhen eines weiblichen Yaks schallte durchs Tal. Das Yak war eines von zwei Dutzend Tieren, die dem Bergsteigerteam behilflich waren. Die Farbtupfer der gelben und roten Zelte schmückten das Lager. Fünf weitere Lager teilten sich die felsige Fläche und warteten mit ihnen darauf, dass die Sturmgötter ein Einsehen hatten.
Ihrem Sherpaführer zufolge aber würden sie noch warten müssen.
»Was für ein Mist«, sagte der Manager einer Bostoner Sportartikelfirma. Bekleidet mit einem modischen Dauneneinteiler, stand er mit vor der Brust verschränkten Armen neben seinem fertig gepackten Rucksack. »Sechshundert Dollar kostet der Spaß pro Tag, und wir drehen Däumchen. Die verarschen uns doch. Am ganzen Himmel ist kein einziges beschissenes Wölkchen zu sehen!«
Er hatte die Stimme gesenkt, als wollte er einen Aufstand anzetteln, den er selbst nicht anführen wollte.
Lisa kannte den Typ. Eine Typ-A-Persönlichkeit ... A wie Arschloch. Vielleicht hätte sie besser nicht mit ihm schlafen sollen. Bei der Erinnerung daran schauderte sie. Sie hatten sich in den Staaten miteinander verabredet, nach einer Organisationsbesprechung im Hyatt in Seattle und nach zu vielen Whiskey Sour. Boston Bob war nichts weiter gewesen als ein Hafen, den man bei Sturm anlief ... nicht der erste und wahrscheinlich auch nicht der letzte. Eines aber war sicher: In diesem Hafen würde sie nie wieder vor Anker gehen.
Wahrscheinlich war das der Hauptgrund für seine Aggressivität.
Sie wandte sich ab und überließ es ihrem jüngeren Bruder, die Wogen zu glätten. Josh, ein Bergsteiger mit zehnjähriger Erfahrung, hatte dafür gesorgt, dass sie an einer von ihm betreuten Expedition teilnehmen durfte. Mindestens zweimal im Jahr leitete er Bergsteigerexpeditionen in der ganzen Welt.
Josh Cummings hob die Hand. Er war blond und schlank wie seine Schwester und trug eine schwarze Jeans, die er in die Schäfte seiner Sportstiefel gesteckt hatte, sowie ein graues, ultraleichtes Thermohemd.
Er räusperte sich. »Taski hat den Everest schon zwölfmal bestiegen. Er kennt den Berg und seine Launen. Wenn er sagt, das Wetter ist zu unbeständig, um höher zu steigen, dann verbringen wir eben noch ein paar Tage mit Akklimatisierung und Training. Wer möchte, kann auch mit zwei Führern einen Ausflug zum Rhododendrenwald im unteren Khumbu-Tal unternehmen.«
Jemand hob die Hand. »Wie wäre es mit einem Tagesausflug zum Everest View Hotel? Wir kampieren schon seit sechs Tagen in diesen verdammten Zelten. Gegen ein heißes Bad hätte ich nichts einzuwenden.«
Der Vorschlag stieß auf zustimmendes Gemurmel.
»Ich finde, das ist keine so gute Idee«, sagte Josh. »Das Hotel ist einen Tagesmarsch entfernt, und die Luft in den Räumen wird mit Sauerstoff angereichert, um der Höhenkrankheit vorzubeugen. Das könnte die Anpassung an die Höhenverhältnisse beeinträchtigen und den Aufstieg noch weiter verzögern.«
»Als ob wir nicht schon lange genug gewartet hätten!«, nörgelte Boston Bob.
Josh beachtete ihn nicht. Lisa wusste, dass sich ihr Bruder nicht zu einem riskanten Aufstieg bei ungünstigem Wetter verleiten lassen würde. Trotz des strahlend blauen Himmels konnte sich das Wetter hier in Minutenschnelle ändern. Sie war am Meer aufgewachsen, an der Catalina-Küste. Josh ebenfalls. Dort lernte man, auch dann misstrauisch zu sein, wenn keine Wolken zu sehen waren. Josh war für die Wettervorzeichen vielleicht weniger empfänglich als die Sherpas, doch er hatte Respekt vor ihrem Urteil.
Lisa blickte zu der Schneefahne hoch, die vom Gipfel des Everest wehte. Verantwortlich dafür war der Jetstream, der mit über dreihundert Stundenkilometern über den Gipfel fegte. Die Fahne war unglaublich ausgedehnt. Obwohl der Sturm sich gelegt hatte, spielte der Luftdruck immer noch verrückt. Der Jetstream konnte den Sturm jederzeit wieder beleben.
»Wir könnten wenigstens bis zum Lager Nummer eins aufsteigen «, hakte Boston Bob nach. »Dort biwakieren und abwarten, wie das Wetter wird.«
Die Stimme des Sportartikelmanagers hatte einen quengelnden Unterton angenommen. Sein Gesicht hatte sich gerötet.
Lisa konnte nicht mehr nachvollziehen, was sie an dem Mann einmal gereizt hatte.
Bevor ihr Bruder dem Flegel antworten konnte, wurden sie alle von einem sonderbaren Geräusch abgelenkt. Von einem Woppwopp- wopp wie von Trommeln. Alle Blicke richteten sich nach Osten. Vor der gleißend hellen Sonne tauchte ein schwarzer Helikopter auf. Ein hornissenförmiger B-2 Squirrel A-Star Ecuriel. Der Rettungshubschrauber war für diese Höhe gebaut.
Schweigen senkte sich auf die Gruppe der Bergsteiger herab.
Vor einer Woche, kurz bevor der Sturm begonnen hatte, war eine Gruppe an der nepalesischen Seite aufgestiegen. Über Funk hatten sie erfahren, dass sie in Lager zwei biwakierte. In sechseinhalbtausend Metern Höhe.
Lisa beschattete die Augen mit der Hand. Hatte sich ein Unglück ereignet?
Sie kannte die Klinik der Himalaya Rescue Association in Pheriche. Dort wurden alle Krankheiten und Verletzungen behandelt, die von den Berghängen vor die Schwelle des Krankenhauses rollten: Knochenbrüche, Lungenemphyseme und Ödeme, Erfrierungen, Herzbeschwerden, Durchfall, Schneeblindheit und alle möglichen Infektionen, darunter auch Geschlechtskrankheiten. Offenbar waren selbst Chlamydien und Gonokokken entschlossen, den Everest zu besteigen.
Aber was war heute passiert? Sie hatten keinen Notruf empfangen. Aufgrund der dünnen Luft konnte der Helikopter nur geringfügig höher steigen als bis zum Basislager. Das bedeutete, dass Verletzte zunächst aus großer Höhe heruntergeschleppt werden mussten. Oberhalb von siebeneinhalbtausend Metern ließ man die Toten einfach liegen. Im Laufe der Zeit hatten sich die höchsten Hänge des Everest daher in ein Eisgrab voller Ausrüstungsteile, leerer Sauerstoffflaschen und mumifizierter Leichen verwandelt.
Das Rotorengeräusch veränderte sich.
»Sie kommen hierher«, sagte Josh und scheuchte alle zu den sturmfesten Zelten zurück, damit der Helikopter auf der kleinen Freifläche landen konnte.
Der schwarze Hubschrauber senkte sich auf sie herab. Die Rotoren wirbelten Sand und Felssplitter auf. Eine Schokoriegelverpackung flog an Lisas Nase vorbei. Die Gebetsfahnen tanzten und zerrten an den Stangen, die Yaks rannten weg. Nach der tagelangen Stille war der Lärm ohrenbetäubend.
Die Kufen des großen B-2 setzten anmutig auf. Die Türen schwenkten auf. Zwei Männer stiegen aus. Der eine trug eine grüne Tarnuniform und hatte eine Automatikwaffe geschultert, ein Soldat der königlichen nepalesischen Armee. Der andere Mann war größer, trug ein orangerotes Gewand und einen Mantel mit Schärpe, sein Kopf war kahl rasiert. Ein buddhistischer Mönch.
Die beiden kamen näher und sprachen kurz in einem nepalesischen Dialekt mit zwei Sherpas. Es wurde gestikuliert, dann hob der eine Sherpa den Arm.
Er zeigte auf Lisa.
Der Mönch ging voran, der Soldat folgte ihm. Den Fältchen in den Augenwinkeln nach zu schließen war der Mönch Mitte vierzig. Seine Haut hatte die Farbe von Milchkaffee, seine Augen waren dunkelbraun.
Die Hautfarbe des Soldaten war dunkler, die Augen hatte er zusammengekniffen. Er fixierte Lisa in Brusthöhe. Sie hatte den Reißverschluss der Jacke geöffnet, und ihm war offenbar der Sport-BH aufgefallen, den sie unter der Fleeceweste trug.
Der buddhistische Mönch hingegen sah ihr respektvoll entgegen, auch dann noch, als er den Kopf zur Begrüßung neigte. Er sprach ein akkurates Englisch mit britischem Akzent. »Doktor Cummings, bitte entschuldigen Sie die Störung, aber es liegt ein Notfall vor. Von der HRA-Klinik habe ich erfahren, dass Sie Ärztin sind.«
Lisa legte die Stirn in Falten. »Das ist richtig.«
»In einem nahe gelegenen Kloster ist eine mysteriöse Krankheit ausgebrochen, von der nahezu alle Bewohner betroffen sind. Ein Bote, ein Mann aus einem Nachbardorf, wurde losgeschickt und hat nach dreitägigem Fußmarsch das Krankenhaus in Khunde erreicht. Wir wollten zunächst einen der HRA-Ärzte zum Kloster bringen, doch wegen eines Lawinenunglücks ist das Klinikpersonal unabkömmlich. Dr. Sorenson hat uns gesagt, dass Sie hier im Basislager seien.«
Lisa dachte an die kleine kanadische Ärztin. Sie hatten mal einen Abend zusammen verbracht und dabei ein Sixpack Bier und süßen Milchtee getrunken. »Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.
»Wären Sie bereit, mit uns zu kommen? Das Kloster liegt zwar abgeschieden, ist aber mit dem Hubschrauber erreichbar.«
»Wie lange ...?«, fragte sie und blickte Josh an. Er hatte sich in der Zwischenzeit zu ihnen gesellt.
Der Mönch schüttelte den Kopf. Er wirkte besorgt und verlegen, weil er ihr Unannehmlichkeiten bereitete. »Der Flug dauert etwa drei Stunden. Ich weiß nicht, wie es dort aussieht.« Ein weiteres bekümmertes Kopfschütteln.
Josh ergriff das Wort. »Wir können heute sowieso nichts mehr unternehmen.« Er berührte Lisa am Ellbogen und beugte sich näher an sie heran. »Aber ich sollte dich begleiten.«
Lisa gefiel sein Vorschlag nicht. Sie konnte durchaus auf sich selber aufpassen. Allerdings hatte man sie darüber informiert, dass die politische Lage in Nepal seit 1996 angespannt war. Maoistische Aufständische führten im Hochland einen Guerillakrieg mit dem Ziel, die konstitutionelle Monarchie zu stürzen und eine sozialistische Republik zu errichten. Ihren Gegnern hackten sie häufig mit Sicheln die Glieder ab - eins nach dem anderen. Obwohl gegenwärtig ein Waffenstillstand herrschte, kam es immer wieder zu Gräueltaten.
Lisa warf einen Blick auf die gut geölte Waffe des Soldaten. Wenn sogar ein Mönch eine bewaffnete Eskorte brauchte, sollte sie das Angebot ihres Bruders vielleicht besser annehmen.
»Ich ... ich habe nur eine Erste-Hilfe-Ausrüstung und ein paar Untersuchungsgeräte dabei«, meinte sie zögernd. »Für einen medizinischen Notfall mit zahlreichen Patienten bin ich nicht ausgerüstet. «
Der Mönch nickte und zeigte zum wartenden Helikopter, dessen Rotoren sich noch immer drehten. »Dr. Sorenson hat uns alles für die Notfallversorgung Erforderliche mitgegeben. Wir werden Sie kaum länger als einen Tag beanspruchen. An Bord gibt es ein Satellitentelefon, damit können wir das Ergebnis Ihrer Untersuchungen übermitteln. Vielleicht hat sich die Lage ja schon wieder entspannt, dann könnten Sie zu Mittag bereits wieder hier sein.«
Seine Miene verdüsterte sich. Er glaubte selbst nicht, was er da sagte. In seinem Tonfall schwang Besorgnis mit - und vielleicht auch ein Quäntchen Angst.
Lisa atmete tief ein. Die dünne Luft füllte kaum ihre Lungen. Sie hatte den hippokratischen Eid abgelegt. Außerdem hatte sie schon genug Fotos gemacht. Allmählich wollte sie etwas zu tun bekommen.
Der Mönch sah ihr an, dass sie zu einer Entscheidung gelangt war. »Dann kommen Sie also mit.«
»Ja.«
»Lisa ...«, sagte Josh warnend.
»Ich komme schon klar.« Sie drückte seinen Arm. »Du musst hier aufpassen, dass es zu keiner Meuterei kommt.«
Seufzend blickte Josh zu Boston Bob hinüber.
»Also halt die Stellung, bis ich wieder da bin.«
Er sah wieder Lisa an; seine Meinung hatte er nicht geändert, verzichtete jedoch darauf, ihr weiter zuzusetzen. Sein Gesichtsausdruck aber war angespannt. »Pass auf dich auf.«
»Der beste Soldat der königlichen nepalesischen Armee wird mich beschützen.«
Josh warf einen Blick auf die geölte Waffe des Soldaten. »Eben- das bereitet mir Sorge.« Er hatte einen Scherz machen wollen, was ihm jedoch nicht recht gelang.
Lisa wusste, dass sie nicht mehr von ihm erwarten durfte. Sie umarmte ihn rasch und holte ihre Arzttasche aus dem Zelt, dann lief sie auch schon geduckt unter dem drehenden Rotor durch und kletterte auf den Rücksitz des Rettungshubschraubers.
Der Pilot grüßte sie nicht einmal. Der Soldat nahm auf dem Sitz des Kopiloten Platz. Der Mönch, der sich als Ang Gelu vorstellte, setzte sich neben Lisa.
Sie zog schalldämpfende Kopfhörer über die Ohren. Trotzdem hörte sie deutlich den Motorenlärm, als der Rotor schneller zu drehen begann. Der Helikopter ruckte auf den Kufen. Das Heulen ging in den Ultraschallbereich über. Schließlich hob der Hubschrauber ab und gewann rasch an Höhe.
Lisa sank der Magen bis unter den Nabel, als die Maschine über eine Nachbarschlucht schwenkte. Durch das Seitenfenster blickte sie auf die Zelte und die Yaks hinunter. Sie sah ihren Bruder. Er hatte den Arm grüßend erhoben, oder beschattete er lediglich die Augen? Neben ihm stand Taski Sherpa, aufgrund des Cowboyhuts mühelos zu erkennen. Eine Bemerkung des Sherpas folgte ihr in den Himmel, schnitt eiskalt durch ihre Gedanken und Besorgnisse.
Der Wind bringt den Tod.
Kein angenehmer Gedanke.
Der Mönch an ihrer Seite betete lautlos. Er wirkte angespannt, entweder weil er Flugangst hatte oder weil er sich fürchtete vor dem, was sie im Kloster erwartete.
Lisa lehnte sich zurück. Die Worte des Sherpas gingen ihr einfach nicht aus dem Kopf.
Wirklich ein schlechter Tag.
09:13
Höhe: 6775 Meter ü. d. M.
Leichtfüßig bewegte er sich über den von Rissen durchzogenen Boden. Die Steigeisen gruben sich tief in den Schnee und das Eis. Zu beiden Seiten ragten steile Felswände auf, die mit braunen Flechtenpiktogrammen überzogen waren. Die Schlucht stieg an.
Dort oben lag sein Ziel.
Er trug einen einteiligen Daunenanzug mit schwarz-weißer Tarnfärbung. Ein wollener Kopfschützer und die Schneebrille verbargen sein Gesicht. Sein Rucksack wog über zwanzig Kilo, dazu kamen noch die Eisaxt, die an der einen Seite festgeschnallt war, und das aufgerollte Kletterseil an der anderen. Außerdem hatte er ein Heckler-&-Koch-Sturmgewehr dabei, ein Zusatzmagazin für zwanzig Salven und eine Tasche mit neun Brandgranaten.
Trotz der großen Höhe benötigte er keinen zusätzlichen Sauerstoff. Seit vierundvierzig Jahren waren die Berge sein Zuhause. An die Lebensbedingungen des Hochlands war er ebenso gut angepasst wie die Sherpas, doch er sprach ihre Sprache nicht, und sein Blick zeugte von einer anderen Herkunft: Das eine Auge war gletscherblau, das andere reinweiß. Dieses Merkmal machte ihn ebenso unverwechselbar wie die Tätowierung an seiner Schulter. Selbst unter den Sonnenkönigen, den Rittern der Sonne.
Der Knopfhörer in seinem Ohr summte.
»Haben Sie das Kloster schon erreicht?«
Er fasste sich an den Hals. »Ich brauche noch eine Viertelstunde. «
»Von dem Unfall darf nichts nach außen dringen.«
»Ich kümmere mich darum.« Er sprach ruhig und atmete durch die Nase. Die Stimme seines Gesprächspartners klang herrisch, aber auch furchtsam. Welch jämmerliche Schwäche. Das war einer der Gründe, weshalb er das Granitschloss nur selten aufsuchte und sich lieber in dessen Umkreis aufhielt. Das war schließlich sein gutes Recht.
Bislang hatte ihn noch niemand aufgefordert, dem Schloss näher zu kommen.
Sie fragten ihn nur dann um Rat, wenn sie nicht mehr weiter- wussten.
Der Knopfhörer gab ein Knacken von sich. »Sie werden das Kloster bald erreicht haben.«
Er sparte sich die Antwort. In der Ferne hörte er dumpfes Rotorengeräusch. Im Kopf stellte er rasch ein paar Berechnungen an. Es bestand kein Grund zur Eile. Die Berge lehrten einen Geduld.
Er kontrollierte seinen Atem und näherte sich weiter der Ansammlung der Steingebäude mit den roten Ziegeldächern. Das Kloster Temp Och lag am Rande einer Felswand und besaß einen einzigen Zugang. Die Mönche und deren Schüler hatten nur selten Grund, sich über den Rest der Welt Gedanken zu machen.
Bis vor drei Tagen.
Da hatte sich der Unfall ereignet.
Seine Aufgabe war es aufzuräumen.
Der Rotorenlärm wurde lauter. Der Hubschrauber näherte sich von unten. Der Mann ging weiter, ohne schneller zu werden. Er hatte viel Zeit. Die Neuankömmlinge mussten erst das Kloster betreten.
Dann wäre es umso leichter, sie alle zu töten.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Die von ihm befehligte Einheit des Sicherheitsdienstes - ein Evakuierungsspezialkommando - stapfte hinter ihm durchs knietiefe Dreckwasser. Vierzehn Männer.
Alle bewaffnet. Alle schwarz uniformiert. Alle mit schweren Rucksäcken ausgestattet. In der Mitte gingen die vier größten Männer, alle ehemalige Dockarbeiter. Sie hatten Tragstangen geschultert, an denen schwere Kisten befestigt waren.
Es gab einen bestimmten Grund, weshalb die Russen diese am Fuße der Sudetengebirge zwischen Deutschland und Polen gelegene Stadt angegriffen hatten. Die Befestigungen von Breslau schützten den Zugang zum Hochland. In den vergangenen zwei Jahren hatten Zwangsarbeiter des Konzentrationslagers Groß-Rosen einen nahe gelegenen Berg ausgehöhlt. Mit bloßen Händen und mit Sprengstoff hatten sie ein Tunnelsystem von hundert Kilometern Länge angelegt, dessen einziger Zweck darin bestand, ein Geheimprojekt vor den Augen der Alliierten zu verbergen.
Das Arbeitslager Riese.
Dennoch waren Gerüchte aufgekommen. Vielleicht hatte einer der Bewohner des Dorfes in der Nähe des Wenceslas-Bergwerks hinter vorgehaltener Hand Mutmaßungen über die Krankheit angestellt, die selbst jene befallen hatte, die sich außerhalb der Anlage aufhielten.
Wenn sie die Forschungen nur hätten abschließen können ...
Gleichwohl empfand Jakob Sporrenberg eine gewisse Scheu. Er kannte nicht alle Einzelheiten des Geheimprojekts mit dem Codenamen Chronos. Doch er wusste genug. Er hatte die Leichen derer gesehen, die man Experimenten unterzogen hatte. Er hatte die Schreie gehört.
Abscheu.
Dieses Wort war ihm in den Sinn gekommen und hatte ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen.
Es war ihm nicht schwergefallen, die Wissenschaftler zu liquidieren. Er hatte die zweiundsechzig Männer und Frauen nach draußen schaffen lassen und sie mit jeweils zwei Kopfschüssen getötet. Keiner durfte erfahren, was in der Tiefe des Wenceslas-Bergwerks vorgegangen war ... oder was man dort entdeckt hatte. Eine Wissenschaftlerin freilich war noch am Leben.
Doktor Tola Hirszfeld.
Sie schlurfte hinter Jakob her, die Hände auf dem Rücken gefesselt, von einem seiner Männer halb mitgeschleift. Sie war eine groß gewachsene Frau Ende zwanzig, mit kleinen Brüsten, aber üppiger Hüfte und wohlgeformten Beinen. Sie hatte glattes, schwarzes Haar, und ihre Haut war aufgrund der langen Zeit, die sie unter der Erde verbracht hatte, so weiß wie Milch. Eigentlich hätte sie mit den anderen zusammen getötet werden sollen, doch ihr Vater, Oberarbeitsleiter Hugo Hirszfeld, der das Projekt beaufsichtigte, hatte endlich sein halbjüdisches Erbe offenbart. Er hatte versucht, die Forschungsakten zu vernichten, war aber von einem der Wachposten erschossen worden, bevor er sein unterirdisches Büro mit einer Brandbombe zerstören konnte. Seine Tochter konnte von Glück sagen, dass wenigstens einer überleben musste, der Einblick in das Projekt Glocke hatte, denn die Arbeit musste weitergeführt werden. Sie war ein Genie genau wie ihr Vater und wusste über seine Forschung besser Bescheid als jeder andere.
Von jetzt an würde man freilich nachhelfen müssen.
Jedes Mal, wenn Jakob sie ansah, funkelte sie ihn an. Der Hass strahlte von ihr aus wie die Hitze von einem offenen Backofen. Aber sie würde kooperieren ... genau wie ihr Vater es getan hatte. Jakob wusste mit Juden umzugehen, zumal mit Mischlingen. Das waren die Schlimmsten. Die Teiljuden. Einige hunderttausend Mischlinge leisteten Militärdienst. Jüdische Soldaten. Aufgrund von Ausnahmeregelungen wurden sie verschont und durften dem Reich dienen. Dazu war eine Sondererlaubnis nötig. Solche Mischlinge taten sich als Soldaten zumeist besonders hervor, denn sie mussten beweisen, dass ihre Abstammung keinen Einfluss hatte auf ihre Loyalität.
Jakob aber hatte ihnen noch nie vertraut. Tolas Vater hatte seine Zweifel bestätigt. Sein Sabotageversuch hatte Jakob nicht überrascht. Juden durfte man halt nicht trauen, man musste sie vernichten.
Hugo Hirszfelds Sondergenehmigung war vom Führer persönlich unterzeichnet worden und hatte nicht nur für den Vater und die Tochter gegolten, sondern auch für seine Eltern, die irgendwo in Mitteldeutschland lebten. Sosehr Jakob den Mischlingen misstraute, so groß war das Vertrauen, das er in den Führer setzte. Hitlers Befehle waren eindeutig gewesen: Die für die Fortsetzung der Forschungsarbeit benötigten Geräte sollten aus dem Stollen evakuiert und der Rest zerstört werden.
Das bedeutete, die Tochter zu verschonen.
Und das Kind.
Der Junge war in mehrere Decken eingewickelt, ein jüdischer, erst einen Monat alter Säugling. Um ihn ruhigzustellen, hatten sie ihm ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben.
Das Kind war der eigentliche Grund für den Abscheu, den Jakob empfand. Alle Hoffnungen des Dritten Reichs ruhten in diesen kleinen Händen - in den Händen eines Judenkinds. Bei dieser Vorstellung drehte sich ihm der Magen um. Am liebsten hätte er das Kind mit dem Bajonett aufgespießt. Aber er hatte seine Befehle.
Auch Tola beobachtete das Kind. In ihren Augen flammte eine Mischung aus Zorn und Kummer. Tola hatte nicht nur ihren Vater bei seinen Forschungen unterstützt, sondern sich auch um den Säugling gekümmert, ihn in den Schlaf gewiegt und gefüttert. Das Kind war der einzige Grund, weshalb die Frau überhaupt mit ihnen kooperiert hatte. Die Drohung, den Jungen zu töten, hatte Tola bewogen, Jakobs Forderungen nachzugeben.
Über ihnen detonierte eine Granate. Die Druckwelle warf sie alle auf die Knie nieder und löschte die anderen Geräusche in einem gewaltigen Dröhnen aus. Beton barst, Staub rieselte ins stinkende Wasser.
Fluchend richtete Jakob sich wieder auf.
Oskar Henricks, sein Stellvertreter, setzte sich vor ihn und zeigte zu einer Abzweigung des Abwasserkanals.
»Wir nehmen diesen Tunnel, Obergruppenführer. Ein alter Überlaufkanal. Der Übersichtskarte zufolge mündet der Hauptkanal nicht weit von der Kathedraleninsel in den Fluss.«
Jakob nickte. In der Nähe der Insel sollten zwei mit einer weiteren Kommandoeinheit bemannte getarnte Kanonenboote auf sie warten. Bis dorthin war es nicht mehr weit.
Während das russische Bombardement immer heftiger wurde, beschleunigte er das Tempo. Das Bombardement leitete offenbar den entscheidenden Vorstoß des Gegners ein. Die Kapitulation der Stadt war unvermeidlich.
Als Jakob die Abzweigung erreichte, kletterte er aus der stinkenden Brühe auf den Betonsims des Seitentunnels. Bei jedem Schritt machten seine Stiefel glucksende Geräusche. Der widerliche Gestank von Exkrementen und Schlamm wurde vorübergehend unerträglich, als wollte ihn der Abwasserkanal aus seinem Inneren vertreiben.
Der Rest des Kommandos folgte ihm.
Jakob leuchtete mit der Taschenlampe in den Betontunnel hinein. Roch die Luft nicht schon etwas frischer? Er schritt energischer aus als zuvor. Die Rettung war in greifbarer Nähe; sie hatten es fast geschafft. Seine Einheit würde Schlesien halb durchquert haben, bevor die Russen auch nur in das unterirdische Labyrinth des Wenceslas-Stollens vorgedrungen wären. Als Willkommensgruß hatte Jakob in den Gängen des Labortrakts Sprengfallen versteckt. In dem Berg würden die Russen und ihre Verbündeten nichts als den Tod finden.
Frischen Mutes eilte Jakob der frischen Luft entgegen. Der Betontunnel wies ein schwaches Gefälle auf. Das Tempo nahm zu. Ihre Schritte wurden beflügelt von der plötzlichen Stille zwischen den Artilleriesalven. Die Russen griffen mit aller Macht an.
Es würde knapp werden. Die Fluchtroute über den Fluss würde ihnen nicht mehr lange offen stehen.
Als spürte er die Anspannung, begann der Säugling leise zu weinen, ein dünnes Greinen. Die Wirkung des Beruhigungsmittels ließ allmählich nach. Jakob hatte dem Arzt eingeschärft, das Mittel schwach zu dosieren. Sie durften das Leben des Kindes nicht gefährden. Das war vielleicht ein Fehler gewesen ...
Das Weinen wurde durchdringender.
Irgendwo im Norden detonierte eine einzelne Granate.
Das Greinen steigerte sich zu einem lauten Wimmern, das durch den Betonschlund hallte.
»Bringen Sie das Kind zum Schweigen!«, befahl er dem Soldaten, der den Säugling trug.
Der kreidebleiche, klapperdürre Mann nahm das Bündel von der Schulter, wobei er die schwarze Mütze verlor. Er wickelte den Jungen aus seiner Decke, was das Geschrei aber nur noch weiter steigerte.
»Bitte ... lassen Sie mich das machen«, sagte Tola. Sie stemmte sich gegen den Griff des Mannes, der sie am Ellbogen festhielt. »Das Kind braucht mich.«
Der Soldat mit dem Säugling sah fragend Jakob an. Draußen war es still geworden. Das Weinen hielt an.
Jakob schnitt eine Grimasse und nickte.
Man schnitt Tola die Handfesseln durch. Sie massierte sich kurz die eingeschlafenen Hände, dann griff sie nach dem Kind. Der Soldat war froh, ihr seine Bürde übergeben zu können. Tola barg den Säugling in der Armbeuge, stützte ihm den Kopf und wiegte ihn sanft. Sie beugte sich dicht auf ihn hinunter und flüsterte beruhigende Laute. Ihr ganzes Wesen hatte sich dem Kind zugewandt.
Das Geschrei machte leisem Wimmern Platz.
Zufrieden gestellt nickte Jakob Tolas Bewacher zu. Der Mann drückte ihr seine Luger in den Rücken. Schweigend setzten sie den Weg durch das Labyrinth unter der Stadt Breslau fort.
Bald darauf ließ der Brandgeruch den Kloakengestank in den Hintergrund treten. Jakobs Taschenlampe beleuchtete eine Rauchwolke, die den Ausgang des Überlaufkanals markierte. Die Artillerie schwieg, doch das Tackern und Knattern des Maschinengewehrfeuers hielt unvermindert an - überwiegend im Osten lokalisiert. Irgendwo in der Nähe schwappte Wasser.
Jakob bedeutete seinen Männern, im Tunnel zu bleiben, dann zeigte er zum Ausgang. »Geben Sie den Booten das vereinbarte Zeichen«, befahl er dem Funker.
Der Soldat nickte knapp, eilte vor und verschwand in der rauchverhangenen Düsternis. Im nächsten Moment übermittelte er mit Lichtsignalen eine verschlüsselte Nachricht an die Nachbarinsel. Es würde eine Weile dauern, bis die Boote sie erreicht hätten.
Jakob drehte sich zu Tola um. Sie hielt immer noch das Kind. Der Junge hatte sich wieder beruhigt und die Augen geschlossen.
Tola erwiderte unerschrocken Jakobs Blick. »Sie wissen, dass mein Vater recht hatte«, sagte sie mit ruhiger Überzeugung. Ihr Blick wanderte über die verschlossenen Kisten, dann sah sie wieder Jakob an. »Das lese ich in Ihrem Gesicht. Wir ... sind zu weit gegangen.«
»Darüber steht Ihnen kein Urteil zu«, erwiderte Jakob.
»Wem dann?«
Jakob schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Er hatte seine Befehle von Heinrich Himmler persönlich. Ihm stand es nicht zu, sie in Zweifel zu ziehen. Trotzdem spürte er, dass die Frau ihn noch immer ansah.
»Es widerspricht Gottes Willen und ist wider die Natur«, flüsterte sie.
Der Funker bewahrte ihn davor, darauf antworten zu müssen. »Die Boote kommen!«, meldete er, dann kehrte er zur Tunnelmündung zurück.
Jakob raunzte ein paar Befehle und brachte seine Männer in Stellung. Er führte sie zum Ende des Tunnels, der auf das Ufer der Oder hinausging. Inzwischen war es hell geworden. Im Osten glühte der Sonnenaufgang, hier aber hing tief über dem Wasser eine schwarze, von der Flussströmung verdichtete Rauchwolke. Der Qualm würde ihnen Deckung geben.
Aber wie lange noch?
Das unheimliche, fröhliche Geknatter der MGs ging unvermindert weiter, ein Feuerwerk zur Feier der Zerstörung Breslaus.
Als der Kanal endlich hinter ihm lag, riss Jakob sich die feuchte Gesichtsmaske herunter und atmete tief durch. Er ließ den Blick über das bleigraue Flusswasser schweifen. Zwei flache Siebenmeterboote durchteilten die Wellen, die Motoren gaben ein stetiges Dröhnen von sich. Am Bug waren jeweils zwei Maschinengewehre vom Typ MG-42 montiert, die von grünen Planen notdürftig verhüllt wurden.
Hinter den Booten war verschwommen der dunkle Umriss einer Insel zu erkennen. Die Kathedraleninsel war eigentlich eine Halbinsel, denn im neunzehnten Jahrhundert hatte sich in Ufernähe so viel Schlamm angesammelt, dass eine Landverbindung entstanden war. Eine ebenfalls aus dem neunzehnten Jahrhundert datierende smaragdgrüne schmiedeeiserne Brücke führte ans Ufer. Die beiden Boote wichen den steinernen Brückenpfeilern aus und näherten sich der Tunnelmündung.
Als ein Sonnenstrahl die beiden Türme der Kathedrale traf, von der die Insel ihren Namen hatte, wanderte Jakobs Blick nach oben. Das war eine der sechs Kirchen der Insel.
Tola Hirszfelds Worte klangen ihm noch immer in den Ohren.
Es widerspricht Gottes Willen und ist wider die Natur.
Die Morgenkühle durchdrang seine nasse Kleidung, und er fröstelte. Er sehnte sich danach, von hier wegzukommen und die vergangenen Tage zu vergessen.
Das erste der beiden Boote hatte das Ufer erreicht. Froh über die Ablenkung und vor allem die Bewegung befahl er seinen Männern, die Boote zu beladen.
Tola stand etwas abseits, den Säugling im Arm, bewacht von einem einzigen Soldaten. Auch sie hatte die am verqualmten Himmel funkelnden Kirchtürme entdeckt. Das MG-Feuer hielt an und rückte immer näher. Man hörte Panzer, deren Motoren in den unteren Gängen heulten. Rufe und Schreie drangen herüber.
Wo war der Gott, gegen den sie sich nicht versündigen wollte?
Hier war er jedenfalls nicht.
Als die Boote beladen waren, ging Jakob zu Tola hinüber. »Steigen Sie ein.« Er hatte barsch sein wollen, doch ihr Gesichtsausdruck veranlasste ihn zur Mäßigung.
Sie gehorchte, mit den Augen noch immer bei der Kathedrale, mit den Gedanken noch weiter himmelwärts.
Auf einmal wurde Jakob sich ihrer Schönheit bewusst, obwohl sie doch ein Mischling war. Dann aber blieb sie mit der Stiefelkappe irgendwo hängen und geriet ins Stolpern, fand jedoch das Gleichgewicht wieder, ohne den Säugling fallen zu lassen. Sie richtete den Blick wieder aufs graue Wasser und die Rauchwolke. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich. Selbst ihre Augen wurden hart wie Kiesel, als sie sich nach einem Sitzplatz für sich und das Kind umsah.
Sie setzte sich auf die Steuerbordbank, ihr Bewacher nahm neben ihr Platz.
Jakob setzte sich ihr gegenüber und gab dem Steuermann das Zeichen zum Ablegen. »Wir müssen uns beeilen.« Suchend blickte er den Fluss entlang. Sie wandten sich nach Westen, weg von der Front im Osten, weg von der aufgehenden Sonne.
Er sah auf die Uhr. Inzwischen würde auf einem zehn Kilometer entfernten verlassenen Flugplatz ein Transportflugzeug vom Typ Ju 52 auf sie warten. Es trug das Emblem des Deutschen Roten Kreuzes und war als Verwundetentransport getarnt, um sie gegen Angriffe abzusichern.
Die Boote schwenkten ins tiefere Wasser hinaus, die Motoren kamen auf Touren. Jetzt konnten die Russen sie nicht mehr aufhalten. Sie hatten es geschafft.
Plötzlich fiel ihm an der anderen Seite des Bootes eine Bewegung ins Auge.
Tola hatte sich über den Säugling gebeugt und hauchte ihm zärtlich einen Kuss aufs flaumige Haar. Dann hob sie den Kopf und sah Jakob in die Augen. In ihrem Blick lag keine Verachtung und auch kein Zorn. Nur Entschlossenheit.
Jakob wusste, was sie vorhatte. »Nicht ...«
Zu spät.
Tola schob sich hoch, rutschte mit dem Rücken über die niedrige Reling und stieß sich mit den Füßen ab. Den Säugling an die Brust gedrückt, kippte sie rücklings ins kalte Wasser.
Ihr überraschter Bewacher drehte sich um und feuerte aufs Geratewohl hinterher.
Jakob stürzte hinüber und riss den Arm des Mannes nach oben. »Nicht. Sie könnten das Kind treffen.«
Jakob beugte sich über die Reling. Auch die anderen Männer waren aufgesprungen. Das Boot schaukelte. Das Einzige, was Jakob im bleifarbenen Wasser sah, war sein eigenes Spiegelbild. Er befahl dem Steuermann, einen Kreis zu fahren.
Nichts.
Er hielt Ausschau nach den sprichwörtlichen Luftblasen, doch das Kielwasser des schwer beladenen Bootes erzeugte zu viele Wellen. Er schlug mit der Faust auf die Reling.
Wie der Vater, so die Tochter ...
Das sah einem Mischling ähnlich. Er kannte das bereits: Jüdische Mütter, die ihre eigenen Kinder erstickten, um ihnen größeres Leid zu ersparen. Er hatte geglaubt, Tola wäre stärker. Aber vielleicht hatte sie ja gar keine andere Wahl gehabt.
Er ließ das Boot noch eine Weile kreisen. Seine Männer suchten beide Ufer ab. Die Frau blieb verschwunden. Eine Granate pfiff über sie hinweg. Sie durften nicht länger warten.
Jakob befahl seinen Männern, sich wieder hinzusetzen. Er zeigte nach Westen, zum wartenden Flugzeug. Sie hatten immer noch die Kisten mit den Akten. Es war ein Rückschlag, doch damit ließ sich leben. Das Kind war zu ersetzen.
»Rückzug«, sagte er.
Die beiden Boote fuhren unter voller Kraft weiter.
Kurz darauf verschwanden sie in der Qualmwolke der brennenden Stadt Breslau.
Tola hörte, wie der Motorenlärm in der Ferne verhallte.
Hinter einem der dicken Pfeiler verborgen, welche die alte, schmiedeeiserne Kathedralenbrücke stützten, trat sie Wasser. Mit einer Hand hielt sie dem Säugling den Mund zu, damit er nicht schrie. Sie konnte nur hoffen, dass er durch die Nase genug Luft bekam. Aber das Kind war geschwächt.
Und sie ebenfalls.
Sie hatte einen Streifschuss am Hals abbekommen. Das Blut färbte das Wasser rot. Ihr Gesichtsfeld engte sich immer mehr ein. Trotzdem kämpfte sie weiter und bemühte sich, das Kind über Wasser zu halten.
Als sie sich in den Fluss gestürzt hatte, wollte sie sich zusammen mit dem Kind eigentlich ertränken. Dann aber traf sie der Kälte- schock, und der Hals begann zu brennen, und sie änderte ihren Entschluss. Sie dachte an die funkelnden Kirchtürme. Das war nicht ihre Religion, nicht ihr kulturelles Erbe. Dennoch erinnerten die Türme sie daran, dass es jenseits des gegenwärtigen Dunkels Licht gab. Irgendwo gab es Menschen, die ihre Mitmenschen nicht quälten. Einen Ort, wo Mütter ihre Kinder nicht ertränkten.
Sie schwamm weiter auf den Fluss hinaus und ließ sich zur Brücke treiben. Unter Wasser kniff sie dem Kind die Nase zu und pustete ihm Luft in den Mund. Obwohl sie eigentlich hatte sterben wollen, flammte der Lebenswille, einmal entzündet, immer stärker in ihrer Brust.
Der Junge hatte nicht mal einen Namen.
Niemand sollte namenlos sterben.
Sie hauchte dem Kind ihren Atem ein und schwamm blindlings mit der Strömung. Es war reiner Zufall, dass sie gegen einen Brückenpfeiler getrieben wurde, hinter dem sie sich verstecken konnte.
Jetzt aber waren die Boote verschwunden, und sie durfte nicht länger warten.
Das Herz pumpte mühsam das Blut durch ihre Adern. Sie spürte, dass nur die Kälte sie am Leben erhielt. Die gleiche Kälte aber entzog dem zarten Kind die lebensnotwendige Körperwärme.
Hektisch mit den Beinen austretend, schwamm sie zum Ufer. Aufgrund ihrer Schwäche und der Kälte waren ihre Bewegungen unkoordiniert. Sie tauchte unter und zog das Kind mit sich.
Nein.
Sie kämpfte sich wieder an die Oberfläche, doch auf einmal fühlte sich das Wasser schwerer an als zuvor, und das Schwimmen wurde immer mühsamer.
Sie wollte nicht aufgeben.
Plötzlich stießen ihre Stiefel an glitschige Steine. Vor Erleichterung schrie sie auf, doch da sie vergessen hatte, dass ihr Kopf untergetaucht war, schluckte sie einen Mund voll Wasser. Sie sank noch tiefer, stieß sich von den schlammigen Steinen ab. Ihr Kopf tauchte auf, und sie warf sich dem Ufer entgegen.
Vor ihr ragte die steile Böschung auf.
Sich mit einer Hand stützend, krabbelte sie aus dem Wasser, mit der anderen Hand drückte sie den Säugling an ihre Brust. Als sie festen Boden unter sich hatte, brach sie zusammen. Sie fühlte sich vollkommen kraftlos. Ihr Blut strömte über das Kind. Mit letzter Kraft konzentrierte sie sich auf den Jungen.
Er rührte sich nicht mehr. Er hatte aufgehört zu atmen.
Sie schloss die Augen und betete, während die ewige Dunkelheit sie verschluckte.
Klagt, ihr Verdammten, klagt ...
Pater Varick hörte das Gewimmer als Erster.
Zusammen mit seinen Mitbrüdern hatte er am Vorabend, als die Bombardierung einsetzte, im Weinkeller unter der St.-Petrus-und- Paulus-Kirche Zuflucht gesucht. Kniend hatten sie darum gebetet, dass ihre Insel verschont werden möge. Die im fünfzehnten Jahrhundert erbaute Kirche hatte die ständig wechselnden Beherrscher der Grenzstadt überlebt. Sie flehten den Himmel um Beistand an, damit die Kirche auch diese Katastrophe überdauerte.
In dieser frommen Stille vernahmen die Mönche auf einmal das Wehgeschrei.
Pater Varick richtete sich auf, was ihm aufgrund seines Alters einige Mühe bereitete.
»Wo willst du hin?«, fragte Franz.
»Meine Schützlinge rufen nach mir«, sagte der Pater. Seit zwanzig Jahren verfütterte er die Speisereste an die streunenden Katzen und Hunde, die sich hin und wieder an der am Flussufer gelegenen Kirche blicken ließen.
»Du solltest besser hierbleiben«, meinte ein anderer Bruder mit angstvoll bebender Stimme.
Pater Varick hatte schon zu lange gelebt, um den Tod mit der Inbrunst der Jugend zu fürchten. Er ging durch den Keller und bog auf den kurzen Gang ein, der zum Fluss hinausführte. Über diesen Gang war früher die Heizkohle geschleppt worden, die dort gelagert worden war, wo jetzt die staubbedeckten edlen grünen Flaschen in Eichengestellen ruhten.
Er entriegelte die alte Kohlentür und drückte mit der Schulter dagegen.
Knarrend öffnete sich die Tür.
Als Erstes bemerkte er den Gestank in der Luft - dann veranlasste ihn das Wimmern, den Blick zu senken. »Allmächtiger ...«
Nur wenige Schritte von der Tür in der Festungsmauer entfernt lag eine Frau. Sie rührte sich nicht. Er eilte zu ihr und kniete, ein Gebet auf den Lippen, neben ihr nieder.
Er tastete am Hals nach dem Puls, doch da war nichts als Blut. Sie war blutüberströmt von Kopf bis Fuß und so kalt wie die Steine.
Tot.
Wieder ertönte das Wimmern - von der anderen Seite.
Und da lag der Säugling, halb unter der Frau begraben, ebenfalls blutig.
Das Kind war blau gefroren und völlig durchnässt, doch es lebte noch. Er zog es unter der Toten hervor, wobei die vollgesogene Decke verrutschte.
Ein Junge.
Er fuhr mit der Hand über den winzigen Körper des Kindes und vergewisserte sich, dass es unverletzt war.
Das Blut stammte von seiner Mutter.
Bekümmert sah er auf die Frau nieder. So viele Tote. Er blickte zum anderen Flussufer hinüber. Die Stadt stand in Flammen, Rauchwolken stiegen in den Morgenhimmel. Die Artillerie feuerte unablässig. War die Frau über den Fluss geschwommen? Hatte sie das Kind retten wollen?
»Ruhe in Frieden«, sagte er zu der Toten. »Das hast du dir verdient. «
Pater Varick ging zur Kohlentür zurück. Er wischte dem Säugling Blut und Wasser ab. Das Haar des Kindes war ganz fein, aber schneeweiß. Es war höchstens einen Monat alt.
Der Junge schrie lauter, und sein Gesicht verzerrte sich, doch er war noch immer schlaff, kraftlos und kalt.
»Ja, wein du nur, mein Kleiner.«
Als er die Stimme hörte, schlug der Junge die verquollenen Augen auf. Sie waren blau und klar. Andererseits hatten die meisten Neugeborenen blaue Augen. Varick aber hatte das Gefühl, dass sich diese Augen ihre strahlend blaue Schönheit bewahren würden.
Behutsam drückte er den Jungen an sich, um ihn zu wärmen. Plötzlich fiel ihm etwas ins Auge. Nanu, was ist denn das? Er drehte den Fuß des Jungen vorsichtig herum. Auf die Ferse hatte jemand ein Zeichen aufgemalt.
Nein, nicht aufgemalt. Der Pater rieb daran.
Das Zeichen war mit scharlachroter Tinte eintätowiert. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Krähenfuß.
Vater Varick hatte einen Großteil seiner Jugend in Finnland verbracht. Deshalb kannte er das Symbol: Es war eine nordische Rune. Allerdings hatte er keine Ahnung, welche Rune das war oder was sie bedeutete. Er schüttelte den Kopf. Wer tat so etwas?
Nachdenklich musterte er die tote Mutter.
Egal. Der Sohn soll nicht tragen die Missetat des Vaters.
Er wischte das Blut vom Scheitel des Jungen und wickelte ihn in seine warme Kutte.
»Armer Junge ... Welch ein Willkommen in der Welt.«
Eins
1
Das Dach der Welt
Gegenwart
16. Mai, 06:34
Himalaya
Basislager Mount Everest, 5360 Meter ü. d. M.
Der Wind brachte den Tod.
Taski, der Anführer der Sherpas, verkündete sein Urteil mit dem feierlichen Ernst und der Selbstgewissheit seines Berufs. Der untersetzte Mann war nur knapp einssechzig groß, und das mitsamt dem zerfledderten Cowboyhut. Dabei tat er so, als wäre er hier in den Bergen der Größte. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er die flatternden Gebetsfahnen.
Dr. Lisa Cummings nahm den Mann mit ihrer Nikon D-100 ins Visier und betätigte den Auslöser. Taski war nicht nur der Führer der Gruppe, sondern auch Lisas psychometrische Testperson. Ein perfektes Forschungsobjekt.
Sie hatte ein Stipendium bekommen, das es ihr ermöglichte, in Nepal die physiologischen Auswirkungen einer Everestbesteigung ohne Sauerstoffgeräte zu untersuchen. Bis zum Jahr 1978 hatte niemand den Everest ohne technische Hilfsmittel bestiegen. Die Luft war zu dünn. Selbst erfahrene Bergsteiger mit Sauerstoffflaschen hatten unter extremer Erschöpfung, Koordinationsschwierigkeiten, Doppeltsehen und Halluzinationen zu leiden. Es galt als unmöglich, einen Achttausender ohne Luftvorrat zu bezwingen.
1978 aber hatten Reinhold Messner und Peter Habeler das Unmögliche geschafft und den Gipfel allein mithilfe ihrer keuchenden Lungen erreicht. In den folgenden Jahren folgten etwa sechzig Männer und Frauen ihren Fußstapfen und setzten der Bergsteigerelite ein neues Ziel.
Bessere Testbedingungen unter niedrigem Luftdruck hätte sie sich nicht wünschen können.
Zuvor hatte Dr. Lisa Cummings mithilfe eines Fünfjahresstipendiums die Auswirkungen von hohem Luftdruck auf die physiologischen Vorgänge beim Menschen erforscht. Auf dem Forschungsschiff Deep Fathom hatte sie Tiefseetaucher untersucht. Anschließend hatten Veränderungen angestanden - sowohl beruflich als auch privat. Sie hatte ein Stipendium der National Science Foundation zur Durchführung antithetischer Forschungen bewilligt bekommen: zur Untersuchung der physiologischen Auswirkungen von Niederdrucksystemen.
Deshalb befand sie sich jetzt hier auf dem Dach der Welt.
Lisa wechselte die Position, um noch eine Aufnahme von Taski Sherpa zu machen. Wie so viele hatte Taski die Stammesbezeichnung als Familiennamen angenommen.
Der Mann entfernte sich von den wehenden Gebetsfahnen, nickte energisch und zeigte mit einem zwischen zwei Fingern eingeklemmten Zigarettenstummel zum Gipfel hoch. »Ein schlechter Tag. Der Wind bringt den Tod«, wiederholte er, dann steckte er sich eine neue Zigarette an und wandte sich ab. Es war alles gesagt.
Für die anderen Mitglieder der Gruppe galt das freilich nicht.
Enttäuschte Bemerkungen wurden gewechselt. Die Bergsteiger blickten zum strahlend blauen Himmel auf. Das zehnköpfige Bergsteigerteam hatte neun Tage darauf gewartet, dass sich ein Wetterfenster öffnete. Wegen des Unwetters hatte sich bislang noch keiner gegen den gesunden Menschenverstand aufgelehnt. Ein Tiefdruckgebiet im Golf von Bengalen war für das schlechte Wetter verantwortlich gewesen. Sturmböen hatten mit bis zu hundertsechzig Stundenkilometern auf das Lager eingetrommelt, eines der Zelte weggeweht und Leute im Freien umgeworfen. Der zeitweise damit einhergehende Schneefall hatte der ungeschützten Haut wie Sandpapier zugesetzt.
Der heutige Morgen aber war ebenso strahlend gewesen wie ihre Hoffnungen. Der Khumbu-Gletscher funkelte im Sonnenschein. Über allem aber schwebte der Everest, umringt von seinen Nachbargipfeln, eine Hochzeitsgesellschaft ganz in Weiß.
Lisa hatte etwa hundert Fotos aufgenommen, um das veränderliche Licht in all seiner vergänglichen Schönheit einzufangen. Jetzt verstand sie auch die Namen, die man dem Everest gegeben hatte: Auf Chinesisch hieß er Chomolungma, Muttergöttin der Welt, auf Nepalesisch Sagarmatha, Himmelsgöttin.
Der inmitten der Wolken schwebende Berg glich tatsächlich einer Göttin aus Eis und Fels. Und sie waren hergekommen, um die Göttin anzubeten und sich des Himmelskusses als würdig zu erweisen. Billig war das gerade nicht gewesen. Fünfundsechzigtausend Dollar im Voraus. Die Zeltausrüstung, Träger, Sherpas und so viele Yaks, wie man wollte, waren im Preis natürlich inbegriffen. Das Muhen eines weiblichen Yaks schallte durchs Tal. Das Yak war eines von zwei Dutzend Tieren, die dem Bergsteigerteam behilflich waren. Die Farbtupfer der gelben und roten Zelte schmückten das Lager. Fünf weitere Lager teilten sich die felsige Fläche und warteten mit ihnen darauf, dass die Sturmgötter ein Einsehen hatten.
Ihrem Sherpaführer zufolge aber würden sie noch warten müssen.
»Was für ein Mist«, sagte der Manager einer Bostoner Sportartikelfirma. Bekleidet mit einem modischen Dauneneinteiler, stand er mit vor der Brust verschränkten Armen neben seinem fertig gepackten Rucksack. »Sechshundert Dollar kostet der Spaß pro Tag, und wir drehen Däumchen. Die verarschen uns doch. Am ganzen Himmel ist kein einziges beschissenes Wölkchen zu sehen!«
Er hatte die Stimme gesenkt, als wollte er einen Aufstand anzetteln, den er selbst nicht anführen wollte.
Lisa kannte den Typ. Eine Typ-A-Persönlichkeit ... A wie Arschloch. Vielleicht hätte sie besser nicht mit ihm schlafen sollen. Bei der Erinnerung daran schauderte sie. Sie hatten sich in den Staaten miteinander verabredet, nach einer Organisationsbesprechung im Hyatt in Seattle und nach zu vielen Whiskey Sour. Boston Bob war nichts weiter gewesen als ein Hafen, den man bei Sturm anlief ... nicht der erste und wahrscheinlich auch nicht der letzte. Eines aber war sicher: In diesem Hafen würde sie nie wieder vor Anker gehen.
Wahrscheinlich war das der Hauptgrund für seine Aggressivität.
Sie wandte sich ab und überließ es ihrem jüngeren Bruder, die Wogen zu glätten. Josh, ein Bergsteiger mit zehnjähriger Erfahrung, hatte dafür gesorgt, dass sie an einer von ihm betreuten Expedition teilnehmen durfte. Mindestens zweimal im Jahr leitete er Bergsteigerexpeditionen in der ganzen Welt.
Josh Cummings hob die Hand. Er war blond und schlank wie seine Schwester und trug eine schwarze Jeans, die er in die Schäfte seiner Sportstiefel gesteckt hatte, sowie ein graues, ultraleichtes Thermohemd.
Er räusperte sich. »Taski hat den Everest schon zwölfmal bestiegen. Er kennt den Berg und seine Launen. Wenn er sagt, das Wetter ist zu unbeständig, um höher zu steigen, dann verbringen wir eben noch ein paar Tage mit Akklimatisierung und Training. Wer möchte, kann auch mit zwei Führern einen Ausflug zum Rhododendrenwald im unteren Khumbu-Tal unternehmen.«
Jemand hob die Hand. »Wie wäre es mit einem Tagesausflug zum Everest View Hotel? Wir kampieren schon seit sechs Tagen in diesen verdammten Zelten. Gegen ein heißes Bad hätte ich nichts einzuwenden.«
Der Vorschlag stieß auf zustimmendes Gemurmel.
»Ich finde, das ist keine so gute Idee«, sagte Josh. »Das Hotel ist einen Tagesmarsch entfernt, und die Luft in den Räumen wird mit Sauerstoff angereichert, um der Höhenkrankheit vorzubeugen. Das könnte die Anpassung an die Höhenverhältnisse beeinträchtigen und den Aufstieg noch weiter verzögern.«
»Als ob wir nicht schon lange genug gewartet hätten!«, nörgelte Boston Bob.
Josh beachtete ihn nicht. Lisa wusste, dass sich ihr Bruder nicht zu einem riskanten Aufstieg bei ungünstigem Wetter verleiten lassen würde. Trotz des strahlend blauen Himmels konnte sich das Wetter hier in Minutenschnelle ändern. Sie war am Meer aufgewachsen, an der Catalina-Küste. Josh ebenfalls. Dort lernte man, auch dann misstrauisch zu sein, wenn keine Wolken zu sehen waren. Josh war für die Wettervorzeichen vielleicht weniger empfänglich als die Sherpas, doch er hatte Respekt vor ihrem Urteil.
Lisa blickte zu der Schneefahne hoch, die vom Gipfel des Everest wehte. Verantwortlich dafür war der Jetstream, der mit über dreihundert Stundenkilometern über den Gipfel fegte. Die Fahne war unglaublich ausgedehnt. Obwohl der Sturm sich gelegt hatte, spielte der Luftdruck immer noch verrückt. Der Jetstream konnte den Sturm jederzeit wieder beleben.
»Wir könnten wenigstens bis zum Lager Nummer eins aufsteigen «, hakte Boston Bob nach. »Dort biwakieren und abwarten, wie das Wetter wird.«
Die Stimme des Sportartikelmanagers hatte einen quengelnden Unterton angenommen. Sein Gesicht hatte sich gerötet.
Lisa konnte nicht mehr nachvollziehen, was sie an dem Mann einmal gereizt hatte.
Bevor ihr Bruder dem Flegel antworten konnte, wurden sie alle von einem sonderbaren Geräusch abgelenkt. Von einem Woppwopp- wopp wie von Trommeln. Alle Blicke richteten sich nach Osten. Vor der gleißend hellen Sonne tauchte ein schwarzer Helikopter auf. Ein hornissenförmiger B-2 Squirrel A-Star Ecuriel. Der Rettungshubschrauber war für diese Höhe gebaut.
Schweigen senkte sich auf die Gruppe der Bergsteiger herab.
Vor einer Woche, kurz bevor der Sturm begonnen hatte, war eine Gruppe an der nepalesischen Seite aufgestiegen. Über Funk hatten sie erfahren, dass sie in Lager zwei biwakierte. In sechseinhalbtausend Metern Höhe.
Lisa beschattete die Augen mit der Hand. Hatte sich ein Unglück ereignet?
Sie kannte die Klinik der Himalaya Rescue Association in Pheriche. Dort wurden alle Krankheiten und Verletzungen behandelt, die von den Berghängen vor die Schwelle des Krankenhauses rollten: Knochenbrüche, Lungenemphyseme und Ödeme, Erfrierungen, Herzbeschwerden, Durchfall, Schneeblindheit und alle möglichen Infektionen, darunter auch Geschlechtskrankheiten. Offenbar waren selbst Chlamydien und Gonokokken entschlossen, den Everest zu besteigen.
Aber was war heute passiert? Sie hatten keinen Notruf empfangen. Aufgrund der dünnen Luft konnte der Helikopter nur geringfügig höher steigen als bis zum Basislager. Das bedeutete, dass Verletzte zunächst aus großer Höhe heruntergeschleppt werden mussten. Oberhalb von siebeneinhalbtausend Metern ließ man die Toten einfach liegen. Im Laufe der Zeit hatten sich die höchsten Hänge des Everest daher in ein Eisgrab voller Ausrüstungsteile, leerer Sauerstoffflaschen und mumifizierter Leichen verwandelt.
Das Rotorengeräusch veränderte sich.
»Sie kommen hierher«, sagte Josh und scheuchte alle zu den sturmfesten Zelten zurück, damit der Helikopter auf der kleinen Freifläche landen konnte.
Der schwarze Hubschrauber senkte sich auf sie herab. Die Rotoren wirbelten Sand und Felssplitter auf. Eine Schokoriegelverpackung flog an Lisas Nase vorbei. Die Gebetsfahnen tanzten und zerrten an den Stangen, die Yaks rannten weg. Nach der tagelangen Stille war der Lärm ohrenbetäubend.
Die Kufen des großen B-2 setzten anmutig auf. Die Türen schwenkten auf. Zwei Männer stiegen aus. Der eine trug eine grüne Tarnuniform und hatte eine Automatikwaffe geschultert, ein Soldat der königlichen nepalesischen Armee. Der andere Mann war größer, trug ein orangerotes Gewand und einen Mantel mit Schärpe, sein Kopf war kahl rasiert. Ein buddhistischer Mönch.
Die beiden kamen näher und sprachen kurz in einem nepalesischen Dialekt mit zwei Sherpas. Es wurde gestikuliert, dann hob der eine Sherpa den Arm.
Er zeigte auf Lisa.
Der Mönch ging voran, der Soldat folgte ihm. Den Fältchen in den Augenwinkeln nach zu schließen war der Mönch Mitte vierzig. Seine Haut hatte die Farbe von Milchkaffee, seine Augen waren dunkelbraun.
Die Hautfarbe des Soldaten war dunkler, die Augen hatte er zusammengekniffen. Er fixierte Lisa in Brusthöhe. Sie hatte den Reißverschluss der Jacke geöffnet, und ihm war offenbar der Sport-BH aufgefallen, den sie unter der Fleeceweste trug.
Der buddhistische Mönch hingegen sah ihr respektvoll entgegen, auch dann noch, als er den Kopf zur Begrüßung neigte. Er sprach ein akkurates Englisch mit britischem Akzent. »Doktor Cummings, bitte entschuldigen Sie die Störung, aber es liegt ein Notfall vor. Von der HRA-Klinik habe ich erfahren, dass Sie Ärztin sind.«
Lisa legte die Stirn in Falten. »Das ist richtig.«
»In einem nahe gelegenen Kloster ist eine mysteriöse Krankheit ausgebrochen, von der nahezu alle Bewohner betroffen sind. Ein Bote, ein Mann aus einem Nachbardorf, wurde losgeschickt und hat nach dreitägigem Fußmarsch das Krankenhaus in Khunde erreicht. Wir wollten zunächst einen der HRA-Ärzte zum Kloster bringen, doch wegen eines Lawinenunglücks ist das Klinikpersonal unabkömmlich. Dr. Sorenson hat uns gesagt, dass Sie hier im Basislager seien.«
Lisa dachte an die kleine kanadische Ärztin. Sie hatten mal einen Abend zusammen verbracht und dabei ein Sixpack Bier und süßen Milchtee getrunken. »Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.
»Wären Sie bereit, mit uns zu kommen? Das Kloster liegt zwar abgeschieden, ist aber mit dem Hubschrauber erreichbar.«
»Wie lange ...?«, fragte sie und blickte Josh an. Er hatte sich in der Zwischenzeit zu ihnen gesellt.
Der Mönch schüttelte den Kopf. Er wirkte besorgt und verlegen, weil er ihr Unannehmlichkeiten bereitete. »Der Flug dauert etwa drei Stunden. Ich weiß nicht, wie es dort aussieht.« Ein weiteres bekümmertes Kopfschütteln.
Josh ergriff das Wort. »Wir können heute sowieso nichts mehr unternehmen.« Er berührte Lisa am Ellbogen und beugte sich näher an sie heran. »Aber ich sollte dich begleiten.«
Lisa gefiel sein Vorschlag nicht. Sie konnte durchaus auf sich selber aufpassen. Allerdings hatte man sie darüber informiert, dass die politische Lage in Nepal seit 1996 angespannt war. Maoistische Aufständische führten im Hochland einen Guerillakrieg mit dem Ziel, die konstitutionelle Monarchie zu stürzen und eine sozialistische Republik zu errichten. Ihren Gegnern hackten sie häufig mit Sicheln die Glieder ab - eins nach dem anderen. Obwohl gegenwärtig ein Waffenstillstand herrschte, kam es immer wieder zu Gräueltaten.
Lisa warf einen Blick auf die gut geölte Waffe des Soldaten. Wenn sogar ein Mönch eine bewaffnete Eskorte brauchte, sollte sie das Angebot ihres Bruders vielleicht besser annehmen.
»Ich ... ich habe nur eine Erste-Hilfe-Ausrüstung und ein paar Untersuchungsgeräte dabei«, meinte sie zögernd. »Für einen medizinischen Notfall mit zahlreichen Patienten bin ich nicht ausgerüstet. «
Der Mönch nickte und zeigte zum wartenden Helikopter, dessen Rotoren sich noch immer drehten. »Dr. Sorenson hat uns alles für die Notfallversorgung Erforderliche mitgegeben. Wir werden Sie kaum länger als einen Tag beanspruchen. An Bord gibt es ein Satellitentelefon, damit können wir das Ergebnis Ihrer Untersuchungen übermitteln. Vielleicht hat sich die Lage ja schon wieder entspannt, dann könnten Sie zu Mittag bereits wieder hier sein.«
Seine Miene verdüsterte sich. Er glaubte selbst nicht, was er da sagte. In seinem Tonfall schwang Besorgnis mit - und vielleicht auch ein Quäntchen Angst.
Lisa atmete tief ein. Die dünne Luft füllte kaum ihre Lungen. Sie hatte den hippokratischen Eid abgelegt. Außerdem hatte sie schon genug Fotos gemacht. Allmählich wollte sie etwas zu tun bekommen.
Der Mönch sah ihr an, dass sie zu einer Entscheidung gelangt war. »Dann kommen Sie also mit.«
»Ja.«
»Lisa ...«, sagte Josh warnend.
»Ich komme schon klar.« Sie drückte seinen Arm. »Du musst hier aufpassen, dass es zu keiner Meuterei kommt.«
Seufzend blickte Josh zu Boston Bob hinüber.
»Also halt die Stellung, bis ich wieder da bin.«
Er sah wieder Lisa an; seine Meinung hatte er nicht geändert, verzichtete jedoch darauf, ihr weiter zuzusetzen. Sein Gesichtsausdruck aber war angespannt. »Pass auf dich auf.«
»Der beste Soldat der königlichen nepalesischen Armee wird mich beschützen.«
Josh warf einen Blick auf die geölte Waffe des Soldaten. »Eben- das bereitet mir Sorge.« Er hatte einen Scherz machen wollen, was ihm jedoch nicht recht gelang.
Lisa wusste, dass sie nicht mehr von ihm erwarten durfte. Sie umarmte ihn rasch und holte ihre Arzttasche aus dem Zelt, dann lief sie auch schon geduckt unter dem drehenden Rotor durch und kletterte auf den Rücksitz des Rettungshubschraubers.
Der Pilot grüßte sie nicht einmal. Der Soldat nahm auf dem Sitz des Kopiloten Platz. Der Mönch, der sich als Ang Gelu vorstellte, setzte sich neben Lisa.
Sie zog schalldämpfende Kopfhörer über die Ohren. Trotzdem hörte sie deutlich den Motorenlärm, als der Rotor schneller zu drehen begann. Der Helikopter ruckte auf den Kufen. Das Heulen ging in den Ultraschallbereich über. Schließlich hob der Hubschrauber ab und gewann rasch an Höhe.
Lisa sank der Magen bis unter den Nabel, als die Maschine über eine Nachbarschlucht schwenkte. Durch das Seitenfenster blickte sie auf die Zelte und die Yaks hinunter. Sie sah ihren Bruder. Er hatte den Arm grüßend erhoben, oder beschattete er lediglich die Augen? Neben ihm stand Taski Sherpa, aufgrund des Cowboyhuts mühelos zu erkennen. Eine Bemerkung des Sherpas folgte ihr in den Himmel, schnitt eiskalt durch ihre Gedanken und Besorgnisse.
Der Wind bringt den Tod.
Kein angenehmer Gedanke.
Der Mönch an ihrer Seite betete lautlos. Er wirkte angespannt, entweder weil er Flugangst hatte oder weil er sich fürchtete vor dem, was sie im Kloster erwartete.
Lisa lehnte sich zurück. Die Worte des Sherpas gingen ihr einfach nicht aus dem Kopf.
Wirklich ein schlechter Tag.
09:13
Höhe: 6775 Meter ü. d. M.
Leichtfüßig bewegte er sich über den von Rissen durchzogenen Boden. Die Steigeisen gruben sich tief in den Schnee und das Eis. Zu beiden Seiten ragten steile Felswände auf, die mit braunen Flechtenpiktogrammen überzogen waren. Die Schlucht stieg an.
Dort oben lag sein Ziel.
Er trug einen einteiligen Daunenanzug mit schwarz-weißer Tarnfärbung. Ein wollener Kopfschützer und die Schneebrille verbargen sein Gesicht. Sein Rucksack wog über zwanzig Kilo, dazu kamen noch die Eisaxt, die an der einen Seite festgeschnallt war, und das aufgerollte Kletterseil an der anderen. Außerdem hatte er ein Heckler-&-Koch-Sturmgewehr dabei, ein Zusatzmagazin für zwanzig Salven und eine Tasche mit neun Brandgranaten.
Trotz der großen Höhe benötigte er keinen zusätzlichen Sauerstoff. Seit vierundvierzig Jahren waren die Berge sein Zuhause. An die Lebensbedingungen des Hochlands war er ebenso gut angepasst wie die Sherpas, doch er sprach ihre Sprache nicht, und sein Blick zeugte von einer anderen Herkunft: Das eine Auge war gletscherblau, das andere reinweiß. Dieses Merkmal machte ihn ebenso unverwechselbar wie die Tätowierung an seiner Schulter. Selbst unter den Sonnenkönigen, den Rittern der Sonne.
Der Knopfhörer in seinem Ohr summte.
»Haben Sie das Kloster schon erreicht?«
Er fasste sich an den Hals. »Ich brauche noch eine Viertelstunde. «
»Von dem Unfall darf nichts nach außen dringen.«
»Ich kümmere mich darum.« Er sprach ruhig und atmete durch die Nase. Die Stimme seines Gesprächspartners klang herrisch, aber auch furchtsam. Welch jämmerliche Schwäche. Das war einer der Gründe, weshalb er das Granitschloss nur selten aufsuchte und sich lieber in dessen Umkreis aufhielt. Das war schließlich sein gutes Recht.
Bislang hatte ihn noch niemand aufgefordert, dem Schloss näher zu kommen.
Sie fragten ihn nur dann um Rat, wenn sie nicht mehr weiter- wussten.
Der Knopfhörer gab ein Knacken von sich. »Sie werden das Kloster bald erreicht haben.«
Er sparte sich die Antwort. In der Ferne hörte er dumpfes Rotorengeräusch. Im Kopf stellte er rasch ein paar Berechnungen an. Es bestand kein Grund zur Eile. Die Berge lehrten einen Geduld.
Er kontrollierte seinen Atem und näherte sich weiter der Ansammlung der Steingebäude mit den roten Ziegeldächern. Das Kloster Temp Och lag am Rande einer Felswand und besaß einen einzigen Zugang. Die Mönche und deren Schüler hatten nur selten Grund, sich über den Rest der Welt Gedanken zu machen.
Bis vor drei Tagen.
Da hatte sich der Unfall ereignet.
Seine Aufgabe war es aufzuräumen.
Der Rotorenlärm wurde lauter. Der Hubschrauber näherte sich von unten. Der Mann ging weiter, ohne schneller zu werden. Er hatte viel Zeit. Die Neuankömmlinge mussten erst das Kloster betreten.
Dann wäre es umso leichter, sie alle zu töten.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
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Autoren-Porträt von James Rollins
Neueste Technologiekenntnisse und fundierte wissenschaftliche Fakten, genial verknüpft mit historischen und mythologischen Themen - all das macht die Abenteuerthriller von James Rollins zum einzigartigen Leseerlebnis. Der passionierte Höhlentaucher James Rollins betreibt eine Praxis für Veterinärmedizin in Sacramento, Kalifornien. Stöbe, NorbertNorbert Stöbe, 1953 in Troisdorf geboren, begann schon als Chemiestudent zu schreiben. Neben seiner Tätigkeit als Chemiker am Institut Textilchemie und Makromolekulare Chemie der RWTH Aachen übersetzte er die ersten Bücher. Sein Roman New York ist himmlisch wurde mit dem C. Bertelsmann Förderpreis und dem Kurd-Lasswitz-Preis ausgezeichnet. Seine Erzählung Der Durst der Stadt erhielt den Kurd-Lasswitz-Preis und die Kurzgeschichte Zehn Punkte den Deutschen Science Fiction Preis. Zu seinen weiteren bekannten Romanen zählen Spielzeit, Namenlos und Der Weg nach unten. Norbert Stöbe ist einer der bekanntesten deutschen Science-Fiction-Schriftsteller. Er lebt als freier Autor und Übersetzer in Stolberg.
Bibliographische Angaben
- Autor: James Rollins
- 2013, Erstmals im TB, 544 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Norbert Stöbe
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442382610
- ISBN-13: 9783442382613
- Erscheinungsdatum: 17.10.2013
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