Solange du mich siehst, zwei Erzählungen
Zwei Erzählungen
Wer sich erinnert, ist niemals allein: zwei kurze, magische Geschichten der jungen irischen Bestsellerautorin über Erinnerung, Liebe und Betrug. Voller Hoffnung und Wunder, aber auch voller unheimlicher Rätsel. Cecelia Ahern hat sie zwischen...
Leider schon ausverkauft
Buch (Gebunden)
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Solange du mich siehst, zwei Erzählungen “
Wer sich erinnert, ist niemals allein: zwei kurze, magische Geschichten der jungen irischen Bestsellerautorin über Erinnerung, Liebe und Betrug. Voller Hoffnung und Wunder, aber auch voller unheimlicher Rätsel. Cecelia Ahern hat sie zwischen ihren großen Romanen geschrieben, in ihrem Auszeit-Jahr nach der Geburt ihrer Tochter. Ganz unabhängig voneinander zu lesen, gehen beide Geschichten den bewegenden Fragen nach: Was bedeutet die Vergangenheit? Kann und darf ich die Zukunft beeinflussen?
- Das Lächeln der Erinnerung: Ein Mann, der eine unglaubliche Maschine erfunden hat - mit der er die Erinnerungen der Menschen verändern kann. Doch was ist mit seinen eigenen Erinnerungen?
- Das Mädchen im Spiegel: Eine junge Frau, die vor dem schönsten Tag ihres Lebens steht - und hinter den verhängten Spiegeln im Haus ihrer Großmutter eine unheimliche Entdeckung macht.
GLAMOUR
"Außergewöhnlich und berührend."
DAILY EXPRESS
Lese-Probe zu „Solange du mich siehst, zwei Erzählungen “
Solange du mich siehst von Cecelia Ahern... mehr
...
»Grellie, Grellie, ich bin da!« Lila klopfte aufgeregt an die Tür. Weil sie von einem Bein auf das andere hüpfte, rutschte ein weißer Baumwollkniestrumpf herunter wie ein betrunkener Feuerwehrmann an der Stange und kitzelte sie, bis er schließlich schlaff um ihren Knöchel hing. Sie zupfte ihren Schlüpfer zurecht, pustete fliegende Haare weg, die an ihren feuchten Lippen klebten, und pochte weiter an die Tür, obwohl ihre Fingergelenke schon gerötet waren.
»Warum nennst du sie Grellie?« Das kleine Mädchen neben ihr meldete sich endlich zu Wort. Ihre Stimme klang vor der riesigen Haustür winzig klein. Als sie das bemerkte, trat sie sicherheitshalber etwas näher an Lila heran. Zum Schutz, auch wenn sie nicht genau wusste, wovor.
Der Vorgarten, durch den sie gegangen waren, sah aus wie ein Dschungel, denn er war verwildert und ungepflegt und ganz anders als der Garten bei Sarah zu Hause. Dort kam nämlich alle zwei Wochen der Gärtner und richtete alles makellos ordentlich her, und wenn er sie am Fenster sah, zwinkerte er ihr immer zu. Sobald sie alt genug war, würde sie ihn heiraten. Doch dieser Garten war ganz anders. Ihr war, als wäre sie für immer verloren, falls sie versehentlich neben eine der wahllos verteilten Steinplatten trat, die zur Haustür führten. Dichte, duftende Wildblumen reckten sich über sie, als müssten sie sich ihren Platz erkämpfen, und schienen neugierig ins Haus zu blicken. Die Äste der Bäume verbogen und verrenkten sich in so absonderlichen Winkeln, dass Sarah schauderte.
»Grellie!« Wieder klopfte Lila ungeduldig.
»Hör auf, sie so zu nennen«, sagte Sarah ängstlich. »Warum nennst du sie immer so?«
Daraufhin nahm sich Lila endlich zusammen, hörte auf zu zappeln und blickte Sarah neugierig an. Sie schien sich verteidigen zu wollen, und ihre Augen wurden schmal. »Das ist meine Großmutter Ellie. Also nenne ich sie Grellie.«
»Oh. Vielleicht ist sie gar nicht da. Vielleicht gehen wir einfach wieder.«
Sarah war froh, nicht länger bleiben zu müssen, drehte sich eilig um und wollte gerade auf die erste bemooste Steinplatte treten, als ihr Puls sich wieder beschleunigte. Sie hörte, wie der Riegel der riesigen Tür zurückgeschoben wurde, und dann knarrte etwas so laut, als hätten sie einen Riesen aus hundertjährigem Schlaf geweckt.
»Grellie«, schrie Lila aufgeregt, und Sarah verabschiedete sich im Stillen vorläufig vom Gartentor.
Eine ergraute Frau nahm Lila liebevoll in die Arme. Ihr Haar war vorn ganz weiß und hinten zu einem Knoten aufgesteckt. Sie hatte einen Stock in der Hand, den sie hinter Lilas Rücken hielt, als sie das Mädchen an sich drückte. Wie liebevoll diese Umarmung wirkte. So herzlich. Sarah beruhigte sich ein wenig.
»Was bist du doch heute für ein ungeduldiges kleines Ding!« Ellie lachte und löste sich von ihrer Enkelin. »Ich war ganz hinten im Garten beim Jäten und konnte dich bis dorthin hören.«
»Ich dachte, du bist nicht da, ich dachte, du hast es vergessen«, sagte Lila atemlos.
»Aber natürlich nicht. Wie könnte ich vergessen, dass ich heute deine beste Freundin kennenlernen soll. Ich freue mich schon den ganzen Tag darauf.«
Sarah lächelte und wurde rot.
Ellies Stimme klang hart, und sie sprach, als hätte sie etwas im Hals, als säße dort etwas fest.
Sarah konnte nicht anders, sie musste einfach auf dieses Etwas lauschen, das dort saß, und dann räusperte sie sich.
Ellie sah sie unverwandt an. Sarah lächelte. »Das ist Sarah«, sagte Lila stolz. »Sarah, das ist Grellie.«
Nun wusste Sarah nicht, ob sie lächeln sollte oder nicht. Doch sie lächelte weiter.
»Tag«, sagte sie, und ihre Stimme klang wieder winzig klein.
»Hallo, Sarah, herzlich willkommen. Kommt doch herein und schaut euch an, was ich für euch gemacht habe.« Ellie drehte sich um und ging ins Haus, und Lila verschwand aufgeregt hüpfend mit ihr.
»Hast du deine Törtchen gemacht? Die mit dem rosa Zuckerguss? Mit Marshmallows drauf? Hast du die gemacht? Hast du deine Erdbeermarmelade gemacht? Ich habe Sarah erzählt, dass du sie selbst machst, und das hat sie mir nicht geglaubt. Hast du welche für die Scones gemacht? Sind die Scones mit Obst? Dann hätte ich nämlich gern Sahne dazu.«
Lila plapperte ausgelassen und überdreht immer weiter, während Sarah draußen vor der Haustür stand und der Brandung lauschte, die unten an die steilen Klippen schlug. Es war ein schöner, sonniger Tag. Es war Juli, und alle waren ganz aufgeregt gewesen, weil es Sommerferien gegeben hatte. Der Unterricht war ins Freie verlegt worden, aber sie hatten nur eine Geschichte gelesen und dann auf dem Rasen ein Fest gefeiert. Als sie sich dann auf den Weg zu Ellie gemacht hatten, waren alle Autos mit offenen Fenstern gefahren, und Sarah hatte die Musik und die Stimmen gehört, die daraus hervordrangen und am Himmel verschmolzen und die Vögel verwirrten, die dort vorüberflogen.
Aber hier war alles anders. Hier war es kalt.
Sarah blickte noch einmal zum Gartentor, das sie ein wenig offen gelassen hatte. Weit genug für eine gelbbraune Katze, die sich gerade hindurchschob. Die Katze hielt inne, als hätte sie Sarahs Blick gespürt, machte einen Buckel und sah sie an. So standen beide eine Weile da.
»Sarah, wo bist du?«
Sofort nahm Sarah Haltung an.
»Da bist du ja.« Lila erschien an der Haustür. »Was machst du denn?«
»Ich habe nur ...« Sag es ihr, sag ihr, dass du gehen willst.
»Oh, da ist ja Gingersnap. Grellie!«, schrie Lila, so laut sie konnte.
»Ich bin nicht taub, Liebes!«, rief Grellie daraufhin.
»Gingersnap ist wieder da!«
Sarah hörte, dass Grellie etwas rief, verstand es aber nicht. Und sie hörte dieses Etwas in ihrer Kehle.
Sie räusperte sich noch einmal.
»Komm, das musst du unbedingt sehen«, sagte Lila mit leuchtenden Augen.
Als Lila sie an die Hand nahm, fühlte sich Sarah schon viel wohler.
Lila zog Sarah ins Haus, und beide lachten, weil Sarah sich so mitschleppen ließ. Die Diele war sehr groß. Bei ihrem Anblick blieb Sarah wie angewurzelt stehen, so dass auch Lila innehalten musste. Sie blickte sich um. Es gab in der Diele einen Kamin. Und einen Kronleuchter. Er war ganz verstaubt, und hier und da zogen sich von einem Kandelaber zum nächsten Spinnennetze, die schimmerten, wenn Sonnenlicht darauffiel. Die Dielenbretter mussten früher einmal auf Hochglanz gebohnert gewesen sein, doch nun waren sie abgenutzt und uneben und knarrten, selbst wenn man auf Zehenspitzen ging. Dicht an den Wänden konnte man noch erkennen, wie sie einmal ausgesehen hatten, denn dort gab es noch eine Art gebohnerten Rand. Auf dem Kaminsims aus dunklem Holz standen zwei Kerzenleuchter. Es waren keine Kerzen darin. Und darüber war ein schwarzes Tuch über einen Gegenstand drapiert, von dem man nur den Messingrahmen sah.
»Was ist auf dem Bild?«, fragte Sarah, die inzwischen wieder unsicher war.
»Auf welchem Bild?«, fragte Lila verwirrt. »Da, über dem Kamin.«
»Das ist kein Bild, das ist ein schwarzes Tuch«, sagte Lila, als wäre Sarah nicht ganz bei Trost. »Und was ist unter dem Tuch?«
Lila packte Sarahs Hand und zog sie weiter. »Ein Spiegel. Grellie mag keine Spiegel. Komm, ich zeige dir das Haus. Hier können wir jede Menge Abenteuer erleben.«
Lila führte Sarah voller Aufregung herum, riss überall Türen auf und verkündete jedes Mal, welchen Sinn und Zweck das betreffende Zimmer hatte und welche Abenteuer es versprach, und wenn sie die Tür dann rasch wieder geschlossen hatte, eilte sie mit Sarah im Schlepptau weiter zur nächsten.
Das Haus war tatsächlich so prachtvoll, wie Lila versprochen hatte, denn es gab hohe Decken, Fenster, die bis zum Boden reichten, allerhand Nippes und allerhand Verstecke. Und es gab viele dunkle Ecken, was Lila nicht zu bemerken schien. Für sie war das Haus voller Farben, voller Vergnügen, Geheimnisse und Erinnerungen. Doch wo Lila Licht sah, sah Sarah Schatten, und wo Lila Wärme spürte, fröstelte sie. In jedem Zimmer, das Sarah sah, war es kälter als in dem zuvor. Und in jedem Zimmer waren ganze Wände oder Teile davon mit schwarzen Tüchern verdeckt. Sie hingen an den Wänden und grinsten ihr entgegen wie der Sensenmann.
Sie stürmten an einer Tür vorbei, die Lila ausnahmsweise nicht aufriss.
»Was ist da drin?«, fragte Sarah.
Lila blieb stehen. »Oh.« Sie beugte sich über das Treppengeländer und blickte nach unten, um zu sehen, ob Grellie in der Nähe war. Doch sie konnten in der Küche Teller klappern hören. »Da darf ich nicht rein, aber ich zeige es dir trotzdem.«
»Nein, schon gut. Ich will gar nicht rein, wenn du das nicht darfst.«
»Ich zeige es dir.« Lila lächelte. »Ist nichts Besonderes. Nur ein Zimmer, das nicht benutzt wird.«
»Warum darfst du dann nicht rein?«
Lila zuckte mit den Schultern. »Ich habe nie gefragt, aber ich war schon hundertmal drin.«
Lila reckte sich, nahm den Schlüssel vom Türrahmen, wo er versteckt war, schob ihn ins Schlüsselloch und drehte ihn. Sarahs Herz raste, und sie sah sich um, weil sie erwartete, dass Grellie jeden Moment neben ihnen stehen würde, obwohl sie unten zu hören war.
»Nein, Lila, nicht. Ich will keinen Ärger haben.«
»Wir kriegen keinen Ärger«, flüsterte Lila.
Als Lila die schwere Tür öffnete, rechnete Sarah damit, dass etwas sie anspringen würde, doch nichts geschah. Gar nichts. Das Zimmer sah langweilig aus. Ein Doppelbett, in gebrochenem Weiß bezogen, zwei Nachtschränkchen, ein Kamin. Doch beherrscht wurde das Zimmer von einem hohen, frei stehenden Spiegel, der von oben bis unten schwarz verhängt war.
Sarah schluckte. Der Spiegel war nicht das größte Stück im Zimmer, aber so eindrucksvoll, dass es nur aus ihm zu bestehen schien.
»Gehen wir rein«, flüsterte Lila.
»Nein.« Sarah zog sie zurück. Sie versuchte, das Entsetzen in ihrer Stimme zu verbergen, und setzte ein schiefes Lächeln auf. »Ich möchte jetzt diese leckeren Törtchen sehen, von denen du erzählt hast.«
Lila strahlte, als hätte sie die Törtchen ganz vergessen. Sie schloss die Tür ab, und als beide nach unten stürmten, meinten sie, durch Dutzende Zimmer zu laufen, bis sie endlich im Wintergarten angekommen waren. Stolz zeigte Lila ihr die Leckereien. Sie hatte nicht übertrieben. Der Tisch bog sich unter Törtchen, Keksen, Scones und Kuchen, und nach den Töpfen und Pfannen zu urteilen, die sich in der Spüle türmten, war alles selbstgemacht. Obst quoll aus mehreren Schalen auf den Tisch, und in den kleinen Gefäßen, die überall auf dem Tisch verteilt waren, breiteten sich träge Sahnekleckse aus. Krüge mit Saft und Limonade, ohne Zweifel ebenfalls hausgemacht.
Doch um diesen schönen Anblick herum versuchte der Garten, ins Haus zu dringen, er streckte seine Äste wie Arme aus und seine Zweige wie Klauen, die an der Scheibe kratzten, wie Zombies in einem schlechten Spätfilm. Die Blumen mit den schönen, bunten Gesichtern sahen gespenstisch aus, geradezu böse, wie sie von draußen die Leckereien anstarrten, Sarah anstarrten, sie alle anstarrten, wie sie alles beobachteten und darauf warteten, dass etwas geschah. Sarah begriff nicht, wie und wo Ellie gejätet haben mochte. Sie konnte sich nicht erklären, wie sie auch nur einen Schritt aus dem Haus getreten war.
»Na? Was sagst du?«, fragte Lila.
Ellie stand neben dem Tisch und hielt ihren Stock in der Hand, dessen Spitze sich in einen Riss in den Terrakottafliesen bohrte.
In diesem Raum klang Sarahs Stimme noch kleiner, als sie schließlich sagte: »Ich möchte jetzt nach Hause.«
»Was?«, fragte Lila erschrocken. »Warum?«
Sarah ging nicht auf Lila ein und sah Ellie an. »Ich möchte jetzt bitte nach Hause«, wiederholte sie höflich.
»Ich rufe deine Mutter an«, sagte Ellie gelassen, als hätte sie nichts anderes erwartet.
»Warum denn?« Lila blickte zwischen Ellie und Sarah hin und her, als gäbe es etwas, das die beiden wussten und sie nicht. »Bist du krank? Magst du keine Törtchen? Du musst keine essen.«
»Komm, Lila«, sagte Ellie sanft. »Bedränge Sarah nicht so. Du möchtest sicher am Tor auf deine Mutter warten?«
Am Tor. Das immer noch ein Stückchen offen stand. Sarah konnte es gar nicht erwarten, endlich hindurchzugehen.
Sarah nickte, doch dann erinnerte sie sich an ihre Manieren. »Ja, gern.«
Wenig später saßen Lila und Sarah nebeneinander auf der Mauer, baumelten mit den Beinen und ließen die Hacken gegen die bröckelnden Ziegel prallen. Keine sagte ein Wort, bis endlich das Auto von Sarahs Mutter zu sehen war.
»Danke für die Einladung«, sagte Sarah höflich. Sie war erleichtert.
»Es hat dir keinen Spaß gemacht. Du warst nur ganz kurz da. Ich konnte dir nicht mal mein Versteck hinten im Garten zeigen.«
Sarah schauderte. Sie sprang von der Mauer, als das Auto vor ihnen hielt, und umarmte Lila liebevoll.
»Sehen wir uns im Sommer mal?«, fragte Lila. Sarah nickte.
Doch sie würden sich nicht sehen.
Sarah winkte ihrer Freundin vom Beifahrersitz
aus zu und gab acht, nicht zum Haus zurückzubli-
cken. So etwas brachte Unglück, das wusste sie.
»Was war denn, Schätzchen, habt ihr euch gestritten?«, fragte ihre Mutter.
Sarah schüttelte den Kopf.
»Ist dir nicht gut?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
Die Mutter fühlte ihr die Stirn. »Heiß bist du nicht.«
»Nein.«
»Ist etwas passiert?« Ihre Mutter fragte nun eindringlicher, und Sarah wusste, dass sie es ihr erklären musste, sonst würde es ewig so weitergehen. Sie würde sogar ihren Vater in ihr Zimmer schicken, wenn er von der Arbeit kam, damit er sie ausfragte, auf diese verdrehte, indirekte Weise, die sie immer so durchschaubar fand, auch wenn die Eltern dachten, dass Sarah nicht wusste, was sie im Schilde führten.
Also sagte sie es.
»Da waren alle Spiegel mit schwarzen Tüchern verhängt. Jeder einzelne Spiegel in jedem einzelnen Zimmer. Überall schwarze Tücher.«
Die Mutter schwieg. Überlegte.
»Wurde denn gerade renoviert?«
Sarah schüttelte den Kopf. »Lila hat gesagt, ihre Großmutter mag keine Spiegel.«
Ihre Mutter schwieg, doch dann tat sie munter und sagte: »Tja, da haben wir's, die Großmutter mag eben keine Spiegel. Jeder hat seine Vorlieben, Sarah, das wirst du im Lauf des Lebens lernen. Es leuchtet einem nicht immer ein, aber so ist es nun mal.«
»Warum mag sie die denn nicht?«
»Vielleicht sieht sie sich selbst nicht gern,
Schätzchen. Manche Leute sind eben so.« »Mama, daran kann es aber nicht liegen.« »Warum nicht?«
»Weil die Großmutter blind ist.« Sarah dämpfte ihre Stimme und flüsterte, obwohl das Haus schon weit hinter ihnen lag. »Sie hat gar keine Augen.«
Lila wusste nicht, warum ihre Grellie keine Spiegel mochte. Sie wuchs einfach mit dem Wissen auf, dass es so war, genau wie sie wusste, dass ihr Vater keinen Zucker im Tee haben wollte und dass ihre Mutter es nicht ertrug, im Kino oder im Theater mitten in einer Reihe zu sitzen. Sie wusste nicht, warum ihr Vater süßen Tee nicht mochte und warum ihre Mutter an einer leichten Klaustrophobie litt, sie wusste nur, dass es so war, und das genügte ihr.
Grellie sagte immer nur: »Es war der Preis der Freiheit.« Niemand hatte das verstanden, und das Rätsel war damit nicht gelöst. Also wusste Lila nicht, warum es so war, doch sie dachte sich auch nichts dabei. Dann waren die Spiegel eben schwarz verhängt, und es war in den Zimmern dunkler als bei den meisten anderen Leuten. Es störte sie nicht, dass sie nicht wusste, warum ihr Vater keinen Zucker in den Tee nahm und warum ihre Mutter jedes Mal glaubte, dass die Wände näher rückten, wenn sie in der Mitte einer Reihe saß. Auch wenn Sarah das Haus überstürzt verlassen hatte und Lila anschließend in der Schule immer wieder Gerüchte über ihre komische blinde Großmutter hörte, die sich vor Spiegeln fürchtete und allein in einem Haus auf den Klippen wohnte - sie konnte damit leben, nichts darüber zu wissen und sich nicht darum zu kümmern.
Und doch.
Sie hätte fragen sollen.
...
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
...
»Grellie, Grellie, ich bin da!« Lila klopfte aufgeregt an die Tür. Weil sie von einem Bein auf das andere hüpfte, rutschte ein weißer Baumwollkniestrumpf herunter wie ein betrunkener Feuerwehrmann an der Stange und kitzelte sie, bis er schließlich schlaff um ihren Knöchel hing. Sie zupfte ihren Schlüpfer zurecht, pustete fliegende Haare weg, die an ihren feuchten Lippen klebten, und pochte weiter an die Tür, obwohl ihre Fingergelenke schon gerötet waren.
»Warum nennst du sie Grellie?« Das kleine Mädchen neben ihr meldete sich endlich zu Wort. Ihre Stimme klang vor der riesigen Haustür winzig klein. Als sie das bemerkte, trat sie sicherheitshalber etwas näher an Lila heran. Zum Schutz, auch wenn sie nicht genau wusste, wovor.
Der Vorgarten, durch den sie gegangen waren, sah aus wie ein Dschungel, denn er war verwildert und ungepflegt und ganz anders als der Garten bei Sarah zu Hause. Dort kam nämlich alle zwei Wochen der Gärtner und richtete alles makellos ordentlich her, und wenn er sie am Fenster sah, zwinkerte er ihr immer zu. Sobald sie alt genug war, würde sie ihn heiraten. Doch dieser Garten war ganz anders. Ihr war, als wäre sie für immer verloren, falls sie versehentlich neben eine der wahllos verteilten Steinplatten trat, die zur Haustür führten. Dichte, duftende Wildblumen reckten sich über sie, als müssten sie sich ihren Platz erkämpfen, und schienen neugierig ins Haus zu blicken. Die Äste der Bäume verbogen und verrenkten sich in so absonderlichen Winkeln, dass Sarah schauderte.
»Grellie!« Wieder klopfte Lila ungeduldig.
»Hör auf, sie so zu nennen«, sagte Sarah ängstlich. »Warum nennst du sie immer so?«
Daraufhin nahm sich Lila endlich zusammen, hörte auf zu zappeln und blickte Sarah neugierig an. Sie schien sich verteidigen zu wollen, und ihre Augen wurden schmal. »Das ist meine Großmutter Ellie. Also nenne ich sie Grellie.«
»Oh. Vielleicht ist sie gar nicht da. Vielleicht gehen wir einfach wieder.«
Sarah war froh, nicht länger bleiben zu müssen, drehte sich eilig um und wollte gerade auf die erste bemooste Steinplatte treten, als ihr Puls sich wieder beschleunigte. Sie hörte, wie der Riegel der riesigen Tür zurückgeschoben wurde, und dann knarrte etwas so laut, als hätten sie einen Riesen aus hundertjährigem Schlaf geweckt.
»Grellie«, schrie Lila aufgeregt, und Sarah verabschiedete sich im Stillen vorläufig vom Gartentor.
Eine ergraute Frau nahm Lila liebevoll in die Arme. Ihr Haar war vorn ganz weiß und hinten zu einem Knoten aufgesteckt. Sie hatte einen Stock in der Hand, den sie hinter Lilas Rücken hielt, als sie das Mädchen an sich drückte. Wie liebevoll diese Umarmung wirkte. So herzlich. Sarah beruhigte sich ein wenig.
»Was bist du doch heute für ein ungeduldiges kleines Ding!« Ellie lachte und löste sich von ihrer Enkelin. »Ich war ganz hinten im Garten beim Jäten und konnte dich bis dorthin hören.«
»Ich dachte, du bist nicht da, ich dachte, du hast es vergessen«, sagte Lila atemlos.
»Aber natürlich nicht. Wie könnte ich vergessen, dass ich heute deine beste Freundin kennenlernen soll. Ich freue mich schon den ganzen Tag darauf.«
Sarah lächelte und wurde rot.
Ellies Stimme klang hart, und sie sprach, als hätte sie etwas im Hals, als säße dort etwas fest.
Sarah konnte nicht anders, sie musste einfach auf dieses Etwas lauschen, das dort saß, und dann räusperte sie sich.
Ellie sah sie unverwandt an. Sarah lächelte. »Das ist Sarah«, sagte Lila stolz. »Sarah, das ist Grellie.«
Nun wusste Sarah nicht, ob sie lächeln sollte oder nicht. Doch sie lächelte weiter.
»Tag«, sagte sie, und ihre Stimme klang wieder winzig klein.
»Hallo, Sarah, herzlich willkommen. Kommt doch herein und schaut euch an, was ich für euch gemacht habe.« Ellie drehte sich um und ging ins Haus, und Lila verschwand aufgeregt hüpfend mit ihr.
»Hast du deine Törtchen gemacht? Die mit dem rosa Zuckerguss? Mit Marshmallows drauf? Hast du die gemacht? Hast du deine Erdbeermarmelade gemacht? Ich habe Sarah erzählt, dass du sie selbst machst, und das hat sie mir nicht geglaubt. Hast du welche für die Scones gemacht? Sind die Scones mit Obst? Dann hätte ich nämlich gern Sahne dazu.«
Lila plapperte ausgelassen und überdreht immer weiter, während Sarah draußen vor der Haustür stand und der Brandung lauschte, die unten an die steilen Klippen schlug. Es war ein schöner, sonniger Tag. Es war Juli, und alle waren ganz aufgeregt gewesen, weil es Sommerferien gegeben hatte. Der Unterricht war ins Freie verlegt worden, aber sie hatten nur eine Geschichte gelesen und dann auf dem Rasen ein Fest gefeiert. Als sie sich dann auf den Weg zu Ellie gemacht hatten, waren alle Autos mit offenen Fenstern gefahren, und Sarah hatte die Musik und die Stimmen gehört, die daraus hervordrangen und am Himmel verschmolzen und die Vögel verwirrten, die dort vorüberflogen.
Aber hier war alles anders. Hier war es kalt.
Sarah blickte noch einmal zum Gartentor, das sie ein wenig offen gelassen hatte. Weit genug für eine gelbbraune Katze, die sich gerade hindurchschob. Die Katze hielt inne, als hätte sie Sarahs Blick gespürt, machte einen Buckel und sah sie an. So standen beide eine Weile da.
»Sarah, wo bist du?«
Sofort nahm Sarah Haltung an.
»Da bist du ja.« Lila erschien an der Haustür. »Was machst du denn?«
»Ich habe nur ...« Sag es ihr, sag ihr, dass du gehen willst.
»Oh, da ist ja Gingersnap. Grellie!«, schrie Lila, so laut sie konnte.
»Ich bin nicht taub, Liebes!«, rief Grellie daraufhin.
»Gingersnap ist wieder da!«
Sarah hörte, dass Grellie etwas rief, verstand es aber nicht. Und sie hörte dieses Etwas in ihrer Kehle.
Sie räusperte sich noch einmal.
»Komm, das musst du unbedingt sehen«, sagte Lila mit leuchtenden Augen.
Als Lila sie an die Hand nahm, fühlte sich Sarah schon viel wohler.
Lila zog Sarah ins Haus, und beide lachten, weil Sarah sich so mitschleppen ließ. Die Diele war sehr groß. Bei ihrem Anblick blieb Sarah wie angewurzelt stehen, so dass auch Lila innehalten musste. Sie blickte sich um. Es gab in der Diele einen Kamin. Und einen Kronleuchter. Er war ganz verstaubt, und hier und da zogen sich von einem Kandelaber zum nächsten Spinnennetze, die schimmerten, wenn Sonnenlicht darauffiel. Die Dielenbretter mussten früher einmal auf Hochglanz gebohnert gewesen sein, doch nun waren sie abgenutzt und uneben und knarrten, selbst wenn man auf Zehenspitzen ging. Dicht an den Wänden konnte man noch erkennen, wie sie einmal ausgesehen hatten, denn dort gab es noch eine Art gebohnerten Rand. Auf dem Kaminsims aus dunklem Holz standen zwei Kerzenleuchter. Es waren keine Kerzen darin. Und darüber war ein schwarzes Tuch über einen Gegenstand drapiert, von dem man nur den Messingrahmen sah.
»Was ist auf dem Bild?«, fragte Sarah, die inzwischen wieder unsicher war.
»Auf welchem Bild?«, fragte Lila verwirrt. »Da, über dem Kamin.«
»Das ist kein Bild, das ist ein schwarzes Tuch«, sagte Lila, als wäre Sarah nicht ganz bei Trost. »Und was ist unter dem Tuch?«
Lila packte Sarahs Hand und zog sie weiter. »Ein Spiegel. Grellie mag keine Spiegel. Komm, ich zeige dir das Haus. Hier können wir jede Menge Abenteuer erleben.«
Lila führte Sarah voller Aufregung herum, riss überall Türen auf und verkündete jedes Mal, welchen Sinn und Zweck das betreffende Zimmer hatte und welche Abenteuer es versprach, und wenn sie die Tür dann rasch wieder geschlossen hatte, eilte sie mit Sarah im Schlepptau weiter zur nächsten.
Das Haus war tatsächlich so prachtvoll, wie Lila versprochen hatte, denn es gab hohe Decken, Fenster, die bis zum Boden reichten, allerhand Nippes und allerhand Verstecke. Und es gab viele dunkle Ecken, was Lila nicht zu bemerken schien. Für sie war das Haus voller Farben, voller Vergnügen, Geheimnisse und Erinnerungen. Doch wo Lila Licht sah, sah Sarah Schatten, und wo Lila Wärme spürte, fröstelte sie. In jedem Zimmer, das Sarah sah, war es kälter als in dem zuvor. Und in jedem Zimmer waren ganze Wände oder Teile davon mit schwarzen Tüchern verdeckt. Sie hingen an den Wänden und grinsten ihr entgegen wie der Sensenmann.
Sie stürmten an einer Tür vorbei, die Lila ausnahmsweise nicht aufriss.
»Was ist da drin?«, fragte Sarah.
Lila blieb stehen. »Oh.« Sie beugte sich über das Treppengeländer und blickte nach unten, um zu sehen, ob Grellie in der Nähe war. Doch sie konnten in der Küche Teller klappern hören. »Da darf ich nicht rein, aber ich zeige es dir trotzdem.«
»Nein, schon gut. Ich will gar nicht rein, wenn du das nicht darfst.«
»Ich zeige es dir.« Lila lächelte. »Ist nichts Besonderes. Nur ein Zimmer, das nicht benutzt wird.«
»Warum darfst du dann nicht rein?«
Lila zuckte mit den Schultern. »Ich habe nie gefragt, aber ich war schon hundertmal drin.«
Lila reckte sich, nahm den Schlüssel vom Türrahmen, wo er versteckt war, schob ihn ins Schlüsselloch und drehte ihn. Sarahs Herz raste, und sie sah sich um, weil sie erwartete, dass Grellie jeden Moment neben ihnen stehen würde, obwohl sie unten zu hören war.
»Nein, Lila, nicht. Ich will keinen Ärger haben.«
»Wir kriegen keinen Ärger«, flüsterte Lila.
Als Lila die schwere Tür öffnete, rechnete Sarah damit, dass etwas sie anspringen würde, doch nichts geschah. Gar nichts. Das Zimmer sah langweilig aus. Ein Doppelbett, in gebrochenem Weiß bezogen, zwei Nachtschränkchen, ein Kamin. Doch beherrscht wurde das Zimmer von einem hohen, frei stehenden Spiegel, der von oben bis unten schwarz verhängt war.
Sarah schluckte. Der Spiegel war nicht das größte Stück im Zimmer, aber so eindrucksvoll, dass es nur aus ihm zu bestehen schien.
»Gehen wir rein«, flüsterte Lila.
»Nein.« Sarah zog sie zurück. Sie versuchte, das Entsetzen in ihrer Stimme zu verbergen, und setzte ein schiefes Lächeln auf. »Ich möchte jetzt diese leckeren Törtchen sehen, von denen du erzählt hast.«
Lila strahlte, als hätte sie die Törtchen ganz vergessen. Sie schloss die Tür ab, und als beide nach unten stürmten, meinten sie, durch Dutzende Zimmer zu laufen, bis sie endlich im Wintergarten angekommen waren. Stolz zeigte Lila ihr die Leckereien. Sie hatte nicht übertrieben. Der Tisch bog sich unter Törtchen, Keksen, Scones und Kuchen, und nach den Töpfen und Pfannen zu urteilen, die sich in der Spüle türmten, war alles selbstgemacht. Obst quoll aus mehreren Schalen auf den Tisch, und in den kleinen Gefäßen, die überall auf dem Tisch verteilt waren, breiteten sich träge Sahnekleckse aus. Krüge mit Saft und Limonade, ohne Zweifel ebenfalls hausgemacht.
Doch um diesen schönen Anblick herum versuchte der Garten, ins Haus zu dringen, er streckte seine Äste wie Arme aus und seine Zweige wie Klauen, die an der Scheibe kratzten, wie Zombies in einem schlechten Spätfilm. Die Blumen mit den schönen, bunten Gesichtern sahen gespenstisch aus, geradezu böse, wie sie von draußen die Leckereien anstarrten, Sarah anstarrten, sie alle anstarrten, wie sie alles beobachteten und darauf warteten, dass etwas geschah. Sarah begriff nicht, wie und wo Ellie gejätet haben mochte. Sie konnte sich nicht erklären, wie sie auch nur einen Schritt aus dem Haus getreten war.
»Na? Was sagst du?«, fragte Lila.
Ellie stand neben dem Tisch und hielt ihren Stock in der Hand, dessen Spitze sich in einen Riss in den Terrakottafliesen bohrte.
In diesem Raum klang Sarahs Stimme noch kleiner, als sie schließlich sagte: »Ich möchte jetzt nach Hause.«
»Was?«, fragte Lila erschrocken. »Warum?«
Sarah ging nicht auf Lila ein und sah Ellie an. »Ich möchte jetzt bitte nach Hause«, wiederholte sie höflich.
»Ich rufe deine Mutter an«, sagte Ellie gelassen, als hätte sie nichts anderes erwartet.
»Warum denn?« Lila blickte zwischen Ellie und Sarah hin und her, als gäbe es etwas, das die beiden wussten und sie nicht. »Bist du krank? Magst du keine Törtchen? Du musst keine essen.«
»Komm, Lila«, sagte Ellie sanft. »Bedränge Sarah nicht so. Du möchtest sicher am Tor auf deine Mutter warten?«
Am Tor. Das immer noch ein Stückchen offen stand. Sarah konnte es gar nicht erwarten, endlich hindurchzugehen.
Sarah nickte, doch dann erinnerte sie sich an ihre Manieren. »Ja, gern.«
Wenig später saßen Lila und Sarah nebeneinander auf der Mauer, baumelten mit den Beinen und ließen die Hacken gegen die bröckelnden Ziegel prallen. Keine sagte ein Wort, bis endlich das Auto von Sarahs Mutter zu sehen war.
»Danke für die Einladung«, sagte Sarah höflich. Sie war erleichtert.
»Es hat dir keinen Spaß gemacht. Du warst nur ganz kurz da. Ich konnte dir nicht mal mein Versteck hinten im Garten zeigen.«
Sarah schauderte. Sie sprang von der Mauer, als das Auto vor ihnen hielt, und umarmte Lila liebevoll.
»Sehen wir uns im Sommer mal?«, fragte Lila. Sarah nickte.
Doch sie würden sich nicht sehen.
Sarah winkte ihrer Freundin vom Beifahrersitz
aus zu und gab acht, nicht zum Haus zurückzubli-
cken. So etwas brachte Unglück, das wusste sie.
»Was war denn, Schätzchen, habt ihr euch gestritten?«, fragte ihre Mutter.
Sarah schüttelte den Kopf.
»Ist dir nicht gut?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
Die Mutter fühlte ihr die Stirn. »Heiß bist du nicht.«
»Nein.«
»Ist etwas passiert?« Ihre Mutter fragte nun eindringlicher, und Sarah wusste, dass sie es ihr erklären musste, sonst würde es ewig so weitergehen. Sie würde sogar ihren Vater in ihr Zimmer schicken, wenn er von der Arbeit kam, damit er sie ausfragte, auf diese verdrehte, indirekte Weise, die sie immer so durchschaubar fand, auch wenn die Eltern dachten, dass Sarah nicht wusste, was sie im Schilde führten.
Also sagte sie es.
»Da waren alle Spiegel mit schwarzen Tüchern verhängt. Jeder einzelne Spiegel in jedem einzelnen Zimmer. Überall schwarze Tücher.«
Die Mutter schwieg. Überlegte.
»Wurde denn gerade renoviert?«
Sarah schüttelte den Kopf. »Lila hat gesagt, ihre Großmutter mag keine Spiegel.«
Ihre Mutter schwieg, doch dann tat sie munter und sagte: »Tja, da haben wir's, die Großmutter mag eben keine Spiegel. Jeder hat seine Vorlieben, Sarah, das wirst du im Lauf des Lebens lernen. Es leuchtet einem nicht immer ein, aber so ist es nun mal.«
»Warum mag sie die denn nicht?«
»Vielleicht sieht sie sich selbst nicht gern,
Schätzchen. Manche Leute sind eben so.« »Mama, daran kann es aber nicht liegen.« »Warum nicht?«
»Weil die Großmutter blind ist.« Sarah dämpfte ihre Stimme und flüsterte, obwohl das Haus schon weit hinter ihnen lag. »Sie hat gar keine Augen.«
Lila wusste nicht, warum ihre Grellie keine Spiegel mochte. Sie wuchs einfach mit dem Wissen auf, dass es so war, genau wie sie wusste, dass ihr Vater keinen Zucker im Tee haben wollte und dass ihre Mutter es nicht ertrug, im Kino oder im Theater mitten in einer Reihe zu sitzen. Sie wusste nicht, warum ihr Vater süßen Tee nicht mochte und warum ihre Mutter an einer leichten Klaustrophobie litt, sie wusste nur, dass es so war, und das genügte ihr.
Grellie sagte immer nur: »Es war der Preis der Freiheit.« Niemand hatte das verstanden, und das Rätsel war damit nicht gelöst. Also wusste Lila nicht, warum es so war, doch sie dachte sich auch nichts dabei. Dann waren die Spiegel eben schwarz verhängt, und es war in den Zimmern dunkler als bei den meisten anderen Leuten. Es störte sie nicht, dass sie nicht wusste, warum ihr Vater keinen Zucker in den Tee nahm und warum ihre Mutter jedes Mal glaubte, dass die Wände näher rückten, wenn sie in der Mitte einer Reihe saß. Auch wenn Sarah das Haus überstürzt verlassen hatte und Lila anschließend in der Schule immer wieder Gerüchte über ihre komische blinde Großmutter hörte, die sich vor Spiegeln fürchtete und allein in einem Haus auf den Klippen wohnte - sie konnte damit leben, nichts darüber zu wissen und sich nicht darum zu kümmern.
Und doch.
Sie hätte fragen sollen.
...
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
... weniger
Autoren-Porträt von Cecelia Ahern
Cecelia Ahern erzählt Geschichten, die unvergleichlich inspirieren und berühren. Sie ist eine der erfolgreichsten Autorinnen der Welt und vielseitig wie wenige andere, schreibt zeitgenössische Romane, Novellen, Storys, Jugendbücher, TV-Konzepte und Theaterstücke. Für ihre Werke wurde sie vielfach ausgezeichnet. Ihre Romane wurden fürs Kino oder fürs Fernsehen verfilmt, zum Beispiel »P.S. Ich liebe Dich« mit Hilary Swank und »Für immer vielleicht« mit Lily Collins. Cecelia Ahern ist Jahrgang 1981, hat Journalistik und Medienkommunikation studiert und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern im Norden von Dublin. Strüh, ChristineChristine Strüh, geboren 1954, lebt in Berlin. Sie ist Übersetzerin von Gillian Flynn, Cecelia Ahern, Judy Blume, Pete Hamill, Laini Taylor und anderen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Cecelia Ahern
- 2012, 5. Aufl., 128 Seiten, Maße: 13,2 x 19,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Christine Strüh, Barbara Christ
- Verlag: FISCHER Krüger
- ISBN-10: 3810501492
- ISBN-13: 9783810501493
- Erscheinungsdatum: 07.03.2012
Rezension zu „Solange du mich siehst, zwei Erzählungen “
"Voller Magie und Charme." Glamour
"Außergewöhnlich und berührend." Daily Express
Kommentare zu "Solange du mich siehst, zwei Erzählungen"
3.5 von 5 Sternen
5 Sterne 6Schreiben Sie einen Kommentar zu "Solange du mich siehst, zwei Erzählungen".
Kommentar verfassen