Spiel der Wölfe / Alpha & Omega Bd.2
Roman. Deutsche Erstausgabe
Mystery der Meisterklasse
Die Existenz der Werwölfe ist in gewissen Kreisen längst kein Geheimnis mehr, und so beschließt der Marrok, der mächtigste Werwolf Amerikas, ein Gipfeltreffen aller Alpha-Werwölfe zu veranstalten, um...
Die Existenz der Werwölfe ist in gewissen Kreisen längst kein Geheimnis mehr, und so beschließt der Marrok, der mächtigste Werwolf Amerikas, ein Gipfeltreffen aller Alpha-Werwölfe zu veranstalten, um...
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Produktinformationen zu „Spiel der Wölfe / Alpha & Omega Bd.2 “
Mystery der Meisterklasse
Die Existenz der Werwölfe ist in gewissen Kreisen längst kein Geheimnis mehr, und so beschließt der Marrok, der mächtigste Werwolf Amerikas, ein Gipfeltreffen aller Alpha-Werwölfe zu veranstalten, um über die Zukunft der Rudel zu entscheiden. Als Gesandte schickt er seinen Sohn Charles und dessen Gefährtin Anna, die sich in Seattle nicht nur mit aufständischen Werwölfen konfrontiert sehen ...
Die Existenz der Werwölfe ist in gewissen Kreisen längst kein Geheimnis mehr, und so beschließt der Marrok, der mächtigste Werwolf Amerikas, ein Gipfeltreffen aller Alpha-Werwölfe zu veranstalten, um über die Zukunft der Rudel zu entscheiden. Als Gesandte schickt er seinen Sohn Charles und dessen Gefährtin Anna, die sich in Seattle nicht nur mit aufständischen Werwölfen konfrontiert sehen ...
Klappentext zu „Spiel der Wölfe / Alpha & Omega Bd.2 “
Mystery der MeisterklasseDie Existenz der Werwölfe ist in gewissen Kreisen längst kein Geheimnis mehr, und so beschließt der Marrok, der mächtigste Werwolf Amerikas, ein Gipfeltreffen aller Alpha-Werwölfe zu veranstalten, um über die Zukunft der Rudel zu entscheiden. Als Gesandte schickt er seinen Sohn Charles und dessen Gefährtin Anna, die sich in Seattle nicht nur mit aufständischen Werwölfen konfrontiert sehen ...
Lese-Probe zu „Spiel der Wölfe / Alpha & Omega Bd.2 “
Spiel der Wölfe von Patricia Briggs 1
Sie beobachtete ihn aus ihrem Versteck, wie sie es
schon zweimal zuvor getan hatte. Die ersten beiden
Male hatte er Holz gehackt, aber heute, nach den
für Mitte Dezember typischen schweren Schneefällen,
räumte er den Bürgersteig frei. Heute war der
Tag, an dem sie ihn sich schnappen würde.
Ihr Herz klopfte bis zum Hals, während sie beobachtete,
wie er mit sorgfältig kontrollierter Aggression
den Schnee schaufelte. Jede Bewegung der Schaufel
verlief exakt parallel zur vorherigen Bahn. Und in
seiner grimmigen Beherrschung sah sie seine schwelende
Wut, die ausschließlich von seinem Willen zurückgehalten
wurde - er ähnelte einer Rohrbombe.
Während sie sich auf den Boden legte und flach atmete,
damit er sie nicht entdeckte, überlegte sie, wie
sie es angehen sollte.Von hinten, dachte sie, so schnell
wie möglich, um ihm keine Zeit zum Reagieren zu
lassen. Eine schnelle Bewegung und alles wäre vorbei
- wenn sie nicht den Mut verlor, wie bei den ersten
beiden Malen.
Sie wusste instinktiv, dass es heute passieren musste,
dass sie keine vierte Gelegenheit bekommen würde.
Er war wachsam und diszipliniert - und wenn er nicht
so wütend gewesen wäre, hätten seine geschärften Sinne
sie in ihrem Versteck im Schnee unter den Tannenbäumen
am Rand des Vorgartens längst entdeckt.
... mehr
Ihr Plan ließ sie vor Anspannung zittern. Ein Überfall
von hinten. Feig und hinterhältig, aber es war der
einzige Weg, ihn zu überwältigen. Und es musste passieren,
weil es nur noch eine Frage der Zeit war, bevor
er die Kontrolle verlor, die ihn momentan so sorgfältig
den Bürgersteig schaufeln ließ, während der Wolf
in ihm wütete. Und wenn er die Kontrolle verlor,
würden Leute sterben.
Gefährlich. Er konnte so schnell sein. Wenn sie
das verbockte, könnte er sie töten. Sie musste darauf
vertrauen, dass ihre eigenen Werwolfreflexe dem gewachsen
waren. Es musste sein.
Diese Erkenntnis gab ihr Kraft. Es würde heute
passieren.
Charles hörte den SUV, sah aber nicht auf.
Er hatte sein Handy ausgeschaltet und die kühle
Stimme seines Vaters in seinem Kopf so lange ignoriert,
bis sie verschwand. Er hatte keine Nachbarn an
der schneebedeckten Bergstraße - also war der SUV
das nächste Zeichen für die Entschlossenheit seines
Vaters, ihn zur Ordnung zu rufen.
»Hey, Chief.«
Es war der neue Wolf, Robert, der wegen seiner
mangelnden Selbstdisziplin von seinem eigenen Alpha
hierher ins AspenCreekRudel
geschickt worden
war. Manchmal konnte der Marrok helfen; in anderen
Fällen konnte er nur hinterher aufwischen. Wenn Robert
keine Beherrschung lernte, wäre es wahrscheinlich
Charles' Aufgabe, ihn aus dem Weg zu räumen.
Wenn Robert nicht bald Manieren lernte, würde diese
Aufgabe Charles bei weitem nicht so viele Gewissensbisse
bereiten, wie sie eigentlich sollte.
Dass Bran ausgerechnet Robert schickte, um seine
Nachricht zu überbringen, verriet Charles genau, wie
wütend sein Dad war.
»Chief!« Der Mann machte sich nicht mal die
Mühe, aus dem Auto auszusteigen. Es gab nicht viele
Leute, denen Charles erlaubte, ihn anders zu nennen
als bei seinem richtigen Namen, und dieser Welpe gehörte
sicherlich nicht dazu.
Charles hörte auf zu schaufeln und schaute den anderen
Wolf an, um ihm zu zeigen, mit wem er sich gerade
anlegte. Das Grinsen verschwand vom Gesicht
des Mannes und er senkte sofort den Blick. Die große
Vene an seinem Hals pulsierte in plötzlicher Furcht.
Charles fühlte sich kleinlich. Und es störte ihn; er
störte sich sowohl an seiner Kleinlichkeit als auch an
der kochenden Wut, die sie auslöste. In ihm roch Bruder
Wolf Roberts Schwäche und sie gefiel ihm. Der
Stress, sich gegen den Marrok, seinen Alpha, aufzulehnen,
hatte Bruder Wolf mit dem Wunsch nach
Blut zurückgelassen. Roberts wäre genug.
»Ich ... äh.«
Charles sagte nichts. Der Narr sollte sich ruhig anstrengen.
Er senkte seine Lider und beobachtete, wie
der Mann sich noch ein wenig wand. Der Geruch
seiner Angst gefiel Bruder Wolf - und verursachte
Charles gleichzeitig leichte Übelkeit. Normalerweise
waren er und Bruder Wolf mehr im Einklang - oder
vielleicht war das eigentliche Problem, dass auch er
jemanden töten wollte.
»Der Marrok möchte Sie sehen.«
Charles wartete eine volle Minute und wusste genau,
wie lang diese Zeit dem Botenjungen seines Vaters
erscheinen würde. »Ist das alles?«
»Ja, Sir.«
Dieses ›Sir‹ war etwas völlig anderes als ›Hey
Chief‹.
»Sag ihm, dass ich komme, sobald mein Bürgersteig
geräumt ist.« Und damit machte er sich wieder
an die Arbeit.
Nach ein paar kratzenden Bewegungen seiner
Schaufel hörte er, wie der SUV auf der engen Straße
umdrehte. Das Hinterteil scherte aus, dann fanden die
Räder Griff und der Wagen fuhr zurück zum Marrok.
Zu schnell, weil Robert es so eilig hatte, wegzukommen.
Bruder Wolf war mehr als zufrieden; Charles bemühte
sich, es nicht zu sein. Charles wusste, dass er seinen
Vater nicht auch noch herausfordern sollte, indem
er sich seinen Befehlen widersetzte - besonders nicht
vor einem Wolf, der Führung brauchte, wie es bei Robert
der Fall war. Aber Charles brauchte die Zeit.
Er musste sich selbst besser unter Kontrolle ha-
ben, bevor er dem Marrok wieder gegenübertrat. Er
brauchte absolute Kontrolle, die es ihm erlauben würde,
seine Argumente logisch vorzubringen und somit
zu erklären, warum der Marrok falsch lag - statt einfach
mit ihm zu streiten, wie es bei den ersten vier
Malen passiert war, als Charles mit ihm gesprochen
hatte. Er wünschte sich, nicht zum ersten Mal, eine
gewandtere Zunge. Seinem Bruder gelang es manchmal,
die Meinung des Marrok zu ändern - ihm dagegen
nie. Dieses Mal aber wusste Charles einfach, dass
sein Vater Unrecht hatte.
Noch dazu hatte er sich jetzt in eine noch üblere
Stimmung hineingesteigert.
Er konzentrierte sich auf den Schnee, holte einmal
tief Luft - und etwas landete schwer auf seinen Schultern
und warf ihn mit dem Gesicht nach unten in den
Schnee. Scharfe Zähne und ein warmes Maul berührten
seinen Nacken und verschwanden genauso schnell
wieder wie das Gewicht, das ihn umgeworfen hatte.
Ohne sich zu bewegen, öffnete er die Augen ein wenig
und warf aus dem Augenwinkel einen Blick auf
den schwarzen Wolf mit den himmelblauen Augen,
der ihn wachsam beäugte ... mit einem Schwanz, der
vorsichtig wedelte und Pfoten, die im Schnee tanzten.
Die Krallen wurden in nervöser Aufregung ausgefahren
und wieder eingezogen wie bei einer Katze.
Und als ob ein Schalter in Bruder Wolf umgelegt
würde, verschwand plötzlich die kochende Wut, die
seit einigen Wochen in Charles' Bauch brodelte. Erleichtert
ließ er seinen Kopf wieder in den Schnee
fallen. Nur bei ihr, bei niemand anderem als ihr, kam
Bruder Wolf so vollkommen zur Ruhe. Ein paar Wochen
hatten nicht ausgereicht, dass er sich an dieses
Wunder gewöhnen konnte - und auch nicht, um ihn
in seiner Dummheit von dem Fehler abzubringen, sie
nicht um Hilfe zu bitten.
Was natürlich der Grund dafür war, dass sie diesen
Hinterhalt geplant hatte.
Wenn er wieder dazu in der Lage war, würde er ihr
erklären, wie gefährlich es war, ihn ohne Vorwarnung
anzugreifen. Obwohl Bruder Wolf anscheinend genau
gewusst hatte, wer ihn da gerade ansprang: Schließlich
hatte er zugelassen, dass sie zu Boden geworfen
wurden.
Die Kälte in seinem Gesicht fühlte sich gut an.
Das gefrorene Wasser quietschte unter ihren Pfoten
und sie gab ein besorgtes Geräusch von sich, was
für ihn der Beweis war, dass sie nicht bemerkt hatte,
dass er sie angeschaut hatte. Ihre Nase war kalt, als
sie sein Ohr berührte und er zwang sich dazu, nicht
zu reagieren. Er stellte sich tot, und da sein Gesicht
im Schnee verborgen war, konnte sie sein Lächeln
nicht sehen.
Die kalte Nase zog sich zurück, und er wartete darauf,
dass sie wieder in Reichweite kam. Seinen Körper
hielt er entspannt und bewegungslos. Sie stupste
ihn mit der Pfote an, und er ließ zu, dass sein Körper
verschoben wurde - aber als sie ihn in den Hintern
zwickte, konnte er nicht mehr anders, als mit einem
scharfen Ausruf zusammenzuzucken.
Danach war es nutzlos, sich tot zu stellen, also rollte
er sich herum und ging in die Hocke.
Sie floh schnell aus seiner Reichweite, drehte sich
dann um und sah ihn an. Er wusste, dass sie aus seiner
Miene nichts ablesen konnte. Er wusste es. Er
hatte zu viel Übung darin, sein Gesicht ausdruckslos
zu halten.
Aber sie sah etwas, das sie dazu brachte, ihre Vorderbeine
zu strecken, den Vorderkörper halb nach unten
zu senken und ihren Unterkiefer in einem wölfischen
Grinsen hängen zu lassen - eine allgemeingültige Aufforderung
zum Spielen. Er rollte sich nach vorne ab,
und sie rannte mit einem aufgeregten Jaulen davon.
Sie tobten durch den gesamten Vorgarten, wobei
sie seine sorgfältig gepflegte Einfahrt verwüsteten
und den unberührten Schnee in ein Schlachtfeld aus
Fußund
Pfotenabdrücken verwandelten. Er blieb in
menschlicher Gestalt, um die Chancen auszugleichen,
weil Bruder Wolf dreißig bis vierzig Kilo schwerer
war als sie, während er in menschlicher Gestalt fast
dasselbe wog. Sie setzte dafür weder ihre Klauen noch
ihre Zähne gegen ihn ein.
Er lachte über ihr gespielt grimmiges Knurren,
als sie ihn zu Boden warf und sich auf seinen Bauch
stürzte - lachte wieder, als sie ihre eisige Nase unter
seinen Mantel und das Hemd schob und ihn damit
schlimmer am Bauch kitzelte, als sie es mit ihren Fingern
je gekonnt hätte.
Er achtete sorgfältig darauf, sie nie niederzudrücken,
ihr nie wehzutun, nicht einmal aus Versehen.
Dass sie dies hier riskierte, war ein Vertrauensbeweis,
der ihm viel bedeutete - aber er ließ Bruder Wolf nie
vergessen, dass sie sie noch nicht gut kannte und mehr
Grund hatte als die meisten, das zu fürchten, was sie
waren: männlich und dominant und Wolf.
Er hörte das Auto kommen. Er hätte ihr Spiel unterbrechen
können, aber Bruder Wolf verspürte noch
nicht den Wunsch, einen echten Kampf aufzunehmen.
Also schnappte er sich ihren Hinterlauf und zog
daran, während er sich gleichzeitig aus der Reichweite
ihrer glänzenden Reißzähne rollte.
Und er ignorierte den schweren Geruch der Wut
seines Vaters - ein Geruch, der plötzlich verschwand.
Anna war sich der Gegenwart seines Vaters nicht
bewusst. Bran konnte das - mit dem Hintergrund
verschmelzen, als wäre er einfach nur ein Mann und
nicht der Marrok. Ihre gesamte Aufmerksamkeit war
auf Charles gerichtet - und es machte Bruder Wolf
stolz, dass in ihrer Aufmerksamkeit sogar der Marrok
erst nach ihnen kam. Charles allerdings war besorgt,
weil sie mit ihren untrainierten Wolfssinnen irgendwann
vielleicht eine Gefahr übersehen würde, die sie
umbringen konnte. Bruder Wolf war sich sicher, dass
sie sie beschützen konnten. Er schüttelte Charles'
Sorge ab und zog ihn zurück in den Spaß am Spiel.
Er hörte, wie sein Vater seufzte und anfing, sich auszuziehen,
als Anna losrannte und Charles sie um das
gesamte Haus jagte. Sie benutzte die Bäume im hinteren
Teil des Gartens als Hindernisse, um ihn abzuhängen,
wenn er zu nahe kam. Ihre vier Pfoten mit
Krallen gaben ihr mehr Bodenhaftung als seine Stiefel,
und sie konnte schneller um Bäume laufen.
Letztendlich scheuchte er sie aus den Bäumen und
sie raste wieder ums Haus, er dicht auf ihren Fersen.
Sie bog um die Ecke und erstarrte beim Anblick seines
Vaters, der in Wolfsgestalt auf sie wartete.
Charles konnte gerade noch verhindern, dass er sie
umrannte wie ein Footballspieler, aber trotzdem zog
er ihr die Füße unter dem Körper weg, als er ins Rutschen
geriet.
Noch bevor er sicherstellen konnte, dass es ihr gutging,
sprang ihn ein silbernes Geschoss an, und der
gesamte Kampf veränderte sich plötzlich. Charles
hatte überwiegend die Kontrolle über das Spiel gehabt,
als es nur er und Anna gewesen waren, aber jetzt,
mit seinem Vater, war er gezwungen, ernsthaft seine
Muskeln, seine Geschwindigkeit und sein Hirn anzustrengen,
um die beiden Wölfe, schwarz und silbern,
davon abzuhalten, ihn Schnee fressen zu lassen.
Schließlich lag er flach auf dem Rücken, mit Anna
auf seinen Beinen und den Reißzähnen seines Vaters
in vorgetäuschter Drohung an seiner Kehle.
»Okay«, sagte er und entspannte kapitulierend seine
Muskeln. »Okay. Ich gebe auf.«
Die Worte bedeuteten mehr als nur das Ende des
Spiels. Er hatte es versucht. Aber letztendlich war
das Wort des Alphas Gesetz. Was auch immer folgen
würde, würde folgen. Also ergab er sich der Dominanz
seines Vaters so leicht, als wäre er nur ein Welpe
im Rudel.
Der Marrok hob den Kopf und stieg von Charles'
Brust. Er nieste und schüttelte sich Schnee aus dem
Fell, während Charles sich aufsetzte und seine Beine
unter Anna hervorzog.
»Danke«, sagte er zu ihr und sie schenkte ihm ein
glückliches Grinsen. Er sammelte die Kleider von
der Motorhaube des Autos seines Vaters und öffnete
die Tür zum Haus. Anna sprang ins Wohnzimmer
und trottete dann nach hinten ins Schlafzimmer. Er
warf die Kleider seines Vaters ins Bad und schloss die
Tür hinter der weißen Schwanzspitze, als dieser ihnen
folgte.
Als sein Vater wieder erschien, das Gesicht gerötet
von der Anstrengung der Verwandlung, seine haselnussbraunen
Augen wieder menschlich, hatte Charles
bereits heiße Schokolade und eine Suppe vorbereitet.
Er und sein Dad sahen sich nicht besonders ähnlich.
Charles kam nach seiner Mutter, einer SalishIndianerin,
und Bran war durch und durch walisisch, mit seinem
rötlich gelben Haar und dem ausdrucksstarken
Gesicht, das gewöhnlich - wenn auch nicht im Moment
- trügerisch ausgeglichen war. Momentan wirkte
Bran trotz des Spielens nicht besonders glücklich.
Charles versuchte, nicht zu reden. Er hatte sowieso
nichts zu sagen. Sein Großvater hatte ihm oft gesagt,
dass er sich zu sehr bemühte, Bäume zu versetzen,
um die ein weiserer Mann einfach herumgehen würde.
Sein Großvater war ein Medizinmann gewesen
und hatte gern in Metaphern gesprochen. Gewöhnlich
hatte er Recht behalten.
Er reichte seinem Dad eine Tasse heiße Schokolade.
»Deine Frau hat mich gestern Abend angerufen.«
Brans Stimme war schroff.
»Ah.« Das hatte er nicht gewusst. Anna musste es
getan haben, während er draußen gewesen war und
versucht hatte, vor seinem Frust wegzulaufen.
»Sie hat mir gesagt, dass ich nicht höre, was du zu
sagen hast«, meinte sein Dad. »Daraufhin habe ich
ihr gesagt, dass ich sehr deutlich gehört habe, dass
ich ein Idiot sei, weil ich nach Seattle gehen will, um
mich mit der europäischen Delegation zu treffen - so
deutlich wie der Rest des Rudels auch.«
So bin ich. Immer taktvoll, dachte Charles und beschloss,
dass es besser war, an seinem Kakao zu nippen,
als etwas zu erwidern.
»Und ich habe ihn gefragt, ob du ihm gewöhnlich
ohne guten Grund widersprichst«, sagte Anna und
schob sich an Charles vorbei, wobei sie ihn kurz berührte.
Sie trug seinen braunen Lieblingspullover. Er
ging ihr bis zur Hälfte der Oberschenkel und begrub
ihre zierliche Figur in kakaofarbener Wolle. Bruder
Wolf mochte es, wenn sie ihre Kleidung trug.
Sie hätte aussehen sollen wie ein Flüchtling, aber
irgendwie tat sie das nicht. Die Farbe ließ ihre Haut
wie Porzellan erscheinen und brachte die zahlreichen
Farbnuancen ihres hellbraunen Haares zur Geltung.
Und sie betonte ihre Sommersprossen - die Charles
liebte. Anna hopste auf den Tresen und schnurrte
glücklich, als sie sich die Tasse Kakao schnappte, die
Charles für sie gemacht hatte.
»Und dann hat sie aufgelegt«, sagte sein Vater verstimmt.
»Mmmm«, meinte Anna. Charles war sich nicht sicher,
ob sie sich auf die heiße Schokolade oder auf seinen
Vater bezog.
»Und sie hat sich geweigert abzunehmen, als ich
zurückgerufen habe.« Sein Vater war nicht erfreut.
Du bist nicht so glücklich, dass jemand in der Gegend
ist, der dir nicht sofort gehorcht, hm, alter Herr?, dachte
Charles - genau in dem Moment, als sein Vater ihm
in die Augen sah.
Brans plötzliches Lachen zeigte Charles, dass sein
Dad nicht wirklich wütend war.
»Frustrierend«, bot Charles an.
»Er hat mich angeschrien«, erklärte Anna gleichmütig
und tippte sich an die Stirn. Der Marrok konnte
mit jedem seiner Wölfe von Geist zu Geist sprechen,
obwohl er ihre Gedanken nicht lesen konnte,
egal, wie sehr man den Eindruck hatte, als würde
er genau das tun. Er war einfach nur verdammt gut
darin, Leute zu lesen. »Ich habe ihn ignoriert, und
schließlich ist er verschwunden.«
»Es macht keinen Spaß, jemanden zu bekämpfen,
der nicht zurückkämpft«, sagte Charles.
»Ich wusste, dass er über das, was ich ihm gesagt
habe, nachdenken muss, wenn er niemanden zum
Streiten hat,« erklärte Anna selbstzufrieden. »Und
sei es auch nur, um die richtigen Worte zu finden, mit
denen er mich das nächste Mal, wenn er mit mir redet,
zermalmt.«
Sie war noch kein Vierteljahrhundert alt, sie waren
noch nicht einmal einen ganzen Monat Gefährten -
und schon begann sie damit, alles so einzurichten, wie
es ihr gefiel. Bruder Wolf war zufrieden mit der Gefährtin,
die er für sie gefunden hatte.
Charles stellte seine Tasse ab und verschränkte die
Arme vor der Brust. Er wusste, dass er angsteinflößend
wirkte, und das war auch seine Absicht. Aber als
Anna sich ein Stück von ihm zurückzog, nur ein wenig,
ließ er die Arme fallen, schob sich die Daumen
in den Hosenbund und entspannte seine Schultern.
Seine Stimme klang sanfter, als er vorgehabt hatte.
»Bran zu manipulieren geht gewöhnlich nach hinten
los«, meinte er zu ihr. »Ich empfehle, es bleibenzulassen.«
Aber sein Vater rieb sich den Mund und seufzte
laut. »Also. Warum denkst du, es wäre so eine Katastrophe,
wenn ich nach Seattle ginge?«
Charles drehte sich zu seinem Vater um, und sein
Entschluss, nicht mehr mit ihm zu streiten, weil er
sich für die Reise nach Seattle entschieden hatte, war
fast vergessen. »Die Bestie kommt, und du fragst
mich das?«
»Wer?«, fragte Anna.
»Jean Chastel, die Bestie von Gévaudan«, klärte
Charles sie auf. »Er frisst seine Beute gerne - und
seine Beute ist überwiegend menschlich.«
»Er hat damit aufgehört«, warf Bran kühl ein.
»Bitte«, blaffte Charles, »erzähl mir nichts, was du
selbst nicht glaubst - das riecht verdächtig nach einer
Lüge. Die Bestie wurde gezwungen, nicht mehr offen
zu töten, aber ein Tiger legt seine Streifen nicht
ab. Er macht es immer noch. Das weißt du genauso
gut wie ich.« Er hätte noch auf andere Dinge hinweisen
können - Jean mochte Menschenfleisch, je jünger,
desto besser. Aber Anna hatte bereits erfahren müssen,
was es bedeutete, wenn ein Wolf zum Monster
wurde. Er wollte nicht derjenige sein, der ihr sagte,
dass es auch noch schlimmere Ungeheuer gab als ihren
früheren Alpha und seine Gefährtin. Sein Vater
dagegen wusste, was Jean Chastel war.
Bran gestand ihm diesen Punkt zu. »Ja. Das ist fast
sicher. Aber ich bin kein hilfloser Mensch, er wird
mich nicht umbringen.« Er schaute Charles durch zusammengekniffene
Augen an. »Und das weißt du auch.
Also warum denkst du, dass es gefährlich sein wird?«
Er hatte Recht. Abgesehen von der Bestie hatte
Charles trotzdem ein schlechtes Gefühl bei dem Gedanken,
dass sein Vater nach Seattle fuhr. Die Bestie
war nur die offensichtlichste Gefahr.
»Ich weiß es einfach«, sagte Charles schließlich.
»Aber es ist deine Entscheidung.« Böse Vorahnungen
führten bereits jetzt dazu, dass sein Magen sich
verkrampfte.
»Du hast immer noch keinen logischen Grund genannt.«
»Nein.« Charles zwang seinen Körper dazu, die
Niederlage zu akzeptieren. Er hielt die Augen auf den
Boden gerichtet.
Sein Dad schaute aus dem kleinen Fenster auf die
winterweißen Berge. »Deine Mutter hat das auch immer
getan«, sagte er. »Sie hat eine Behauptung aufgestellt,
ohne dafür eine Begründung zu haben, und
ich sollte ihr einfach glauben.«
Anna schaute Bran mit gespannter Erwartung an.
Er lächelte sie an, dann hob er seine Tasse Richtung
Berge. »Ich habe auf die harte Tour gelernt, dass sie
meistens Recht hatte. Frustrierend ist noch nicht einmal
annähernd das richtige Wort dafür.«
»Also«, meinte er und richtete seine Aufmerksamkeit
wieder auf Charles. »Sie sind bereits auf dem
Weg, ich kann es nicht mehr absagen - und es muss
getan werden. Wenn wir den Menschen mitteilen,
dass wir unter ihnen leben, wird das die europäischen
Werwölfe ebenso sehr betreffen wie uns, wenn nicht
sogar noch mehr. Sie verdienen die Chance, angehört
zu werden und von uns zu erfahren, warum wir diesen
Weg gehen. Sie sollten es von mir hören, aber du
wärst ein akzeptabler Ersatz. Trotzdem wird es einiges
an Befremden auslösen, und damit wirst du umgehen
müssen.«
Erleichterung erfüllte Charles mit einer Plötzlichkeit,
die dafür sorgte, dass er sich kurz am Tresen abstützen
musste, weil das allumfassende Gefühl von
unabänderlichem, schrecklichem Unglück von ihm
abfiel und ihn allein zurückließ. Charles schaute zu
seiner Gefährtin.
»Mein Großvater hätte dich geliebt«, sagte er heiser.
»Er hätte dich ›Sie, die Bäume aus seinem Pfad
schafft‹ genannt.«
Titel der amerikanischen Originalausgabe
HUNTING GROUND
Deutsche Übersetzung von Vanessa Lamatsch
Deutsche Erstausgabe 10/2010
Redaktion: Stefanie Brösigke
Copyright © 2009 Hurog, Inc.
Copyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Karte: Andreas Hancock
Satz: BuchWerkstatt
GmbH, Bad Aibling
ISBN 9783641039134
www.heynemagischebestseller.de
Ihr Plan ließ sie vor Anspannung zittern. Ein Überfall
von hinten. Feig und hinterhältig, aber es war der
einzige Weg, ihn zu überwältigen. Und es musste passieren,
weil es nur noch eine Frage der Zeit war, bevor
er die Kontrolle verlor, die ihn momentan so sorgfältig
den Bürgersteig schaufeln ließ, während der Wolf
in ihm wütete. Und wenn er die Kontrolle verlor,
würden Leute sterben.
Gefährlich. Er konnte so schnell sein. Wenn sie
das verbockte, könnte er sie töten. Sie musste darauf
vertrauen, dass ihre eigenen Werwolfreflexe dem gewachsen
waren. Es musste sein.
Diese Erkenntnis gab ihr Kraft. Es würde heute
passieren.
Charles hörte den SUV, sah aber nicht auf.
Er hatte sein Handy ausgeschaltet und die kühle
Stimme seines Vaters in seinem Kopf so lange ignoriert,
bis sie verschwand. Er hatte keine Nachbarn an
der schneebedeckten Bergstraße - also war der SUV
das nächste Zeichen für die Entschlossenheit seines
Vaters, ihn zur Ordnung zu rufen.
»Hey, Chief.«
Es war der neue Wolf, Robert, der wegen seiner
mangelnden Selbstdisziplin von seinem eigenen Alpha
hierher ins AspenCreekRudel
geschickt worden
war. Manchmal konnte der Marrok helfen; in anderen
Fällen konnte er nur hinterher aufwischen. Wenn Robert
keine Beherrschung lernte, wäre es wahrscheinlich
Charles' Aufgabe, ihn aus dem Weg zu räumen.
Wenn Robert nicht bald Manieren lernte, würde diese
Aufgabe Charles bei weitem nicht so viele Gewissensbisse
bereiten, wie sie eigentlich sollte.
Dass Bran ausgerechnet Robert schickte, um seine
Nachricht zu überbringen, verriet Charles genau, wie
wütend sein Dad war.
»Chief!« Der Mann machte sich nicht mal die
Mühe, aus dem Auto auszusteigen. Es gab nicht viele
Leute, denen Charles erlaubte, ihn anders zu nennen
als bei seinem richtigen Namen, und dieser Welpe gehörte
sicherlich nicht dazu.
Charles hörte auf zu schaufeln und schaute den anderen
Wolf an, um ihm zu zeigen, mit wem er sich gerade
anlegte. Das Grinsen verschwand vom Gesicht
des Mannes und er senkte sofort den Blick. Die große
Vene an seinem Hals pulsierte in plötzlicher Furcht.
Charles fühlte sich kleinlich. Und es störte ihn; er
störte sich sowohl an seiner Kleinlichkeit als auch an
der kochenden Wut, die sie auslöste. In ihm roch Bruder
Wolf Roberts Schwäche und sie gefiel ihm. Der
Stress, sich gegen den Marrok, seinen Alpha, aufzulehnen,
hatte Bruder Wolf mit dem Wunsch nach
Blut zurückgelassen. Roberts wäre genug.
»Ich ... äh.«
Charles sagte nichts. Der Narr sollte sich ruhig anstrengen.
Er senkte seine Lider und beobachtete, wie
der Mann sich noch ein wenig wand. Der Geruch
seiner Angst gefiel Bruder Wolf - und verursachte
Charles gleichzeitig leichte Übelkeit. Normalerweise
waren er und Bruder Wolf mehr im Einklang - oder
vielleicht war das eigentliche Problem, dass auch er
jemanden töten wollte.
»Der Marrok möchte Sie sehen.«
Charles wartete eine volle Minute und wusste genau,
wie lang diese Zeit dem Botenjungen seines Vaters
erscheinen würde. »Ist das alles?«
»Ja, Sir.«
Dieses ›Sir‹ war etwas völlig anderes als ›Hey
Chief‹.
»Sag ihm, dass ich komme, sobald mein Bürgersteig
geräumt ist.« Und damit machte er sich wieder
an die Arbeit.
Nach ein paar kratzenden Bewegungen seiner
Schaufel hörte er, wie der SUV auf der engen Straße
umdrehte. Das Hinterteil scherte aus, dann fanden die
Räder Griff und der Wagen fuhr zurück zum Marrok.
Zu schnell, weil Robert es so eilig hatte, wegzukommen.
Bruder Wolf war mehr als zufrieden; Charles bemühte
sich, es nicht zu sein. Charles wusste, dass er seinen
Vater nicht auch noch herausfordern sollte, indem
er sich seinen Befehlen widersetzte - besonders nicht
vor einem Wolf, der Führung brauchte, wie es bei Robert
der Fall war. Aber Charles brauchte die Zeit.
Er musste sich selbst besser unter Kontrolle ha-
ben, bevor er dem Marrok wieder gegenübertrat. Er
brauchte absolute Kontrolle, die es ihm erlauben würde,
seine Argumente logisch vorzubringen und somit
zu erklären, warum der Marrok falsch lag - statt einfach
mit ihm zu streiten, wie es bei den ersten vier
Malen passiert war, als Charles mit ihm gesprochen
hatte. Er wünschte sich, nicht zum ersten Mal, eine
gewandtere Zunge. Seinem Bruder gelang es manchmal,
die Meinung des Marrok zu ändern - ihm dagegen
nie. Dieses Mal aber wusste Charles einfach, dass
sein Vater Unrecht hatte.
Noch dazu hatte er sich jetzt in eine noch üblere
Stimmung hineingesteigert.
Er konzentrierte sich auf den Schnee, holte einmal
tief Luft - und etwas landete schwer auf seinen Schultern
und warf ihn mit dem Gesicht nach unten in den
Schnee. Scharfe Zähne und ein warmes Maul berührten
seinen Nacken und verschwanden genauso schnell
wieder wie das Gewicht, das ihn umgeworfen hatte.
Ohne sich zu bewegen, öffnete er die Augen ein wenig
und warf aus dem Augenwinkel einen Blick auf
den schwarzen Wolf mit den himmelblauen Augen,
der ihn wachsam beäugte ... mit einem Schwanz, der
vorsichtig wedelte und Pfoten, die im Schnee tanzten.
Die Krallen wurden in nervöser Aufregung ausgefahren
und wieder eingezogen wie bei einer Katze.
Und als ob ein Schalter in Bruder Wolf umgelegt
würde, verschwand plötzlich die kochende Wut, die
seit einigen Wochen in Charles' Bauch brodelte. Erleichtert
ließ er seinen Kopf wieder in den Schnee
fallen. Nur bei ihr, bei niemand anderem als ihr, kam
Bruder Wolf so vollkommen zur Ruhe. Ein paar Wochen
hatten nicht ausgereicht, dass er sich an dieses
Wunder gewöhnen konnte - und auch nicht, um ihn
in seiner Dummheit von dem Fehler abzubringen, sie
nicht um Hilfe zu bitten.
Was natürlich der Grund dafür war, dass sie diesen
Hinterhalt geplant hatte.
Wenn er wieder dazu in der Lage war, würde er ihr
erklären, wie gefährlich es war, ihn ohne Vorwarnung
anzugreifen. Obwohl Bruder Wolf anscheinend genau
gewusst hatte, wer ihn da gerade ansprang: Schließlich
hatte er zugelassen, dass sie zu Boden geworfen
wurden.
Die Kälte in seinem Gesicht fühlte sich gut an.
Das gefrorene Wasser quietschte unter ihren Pfoten
und sie gab ein besorgtes Geräusch von sich, was
für ihn der Beweis war, dass sie nicht bemerkt hatte,
dass er sie angeschaut hatte. Ihre Nase war kalt, als
sie sein Ohr berührte und er zwang sich dazu, nicht
zu reagieren. Er stellte sich tot, und da sein Gesicht
im Schnee verborgen war, konnte sie sein Lächeln
nicht sehen.
Die kalte Nase zog sich zurück, und er wartete darauf,
dass sie wieder in Reichweite kam. Seinen Körper
hielt er entspannt und bewegungslos. Sie stupste
ihn mit der Pfote an, und er ließ zu, dass sein Körper
verschoben wurde - aber als sie ihn in den Hintern
zwickte, konnte er nicht mehr anders, als mit einem
scharfen Ausruf zusammenzuzucken.
Danach war es nutzlos, sich tot zu stellen, also rollte
er sich herum und ging in die Hocke.
Sie floh schnell aus seiner Reichweite, drehte sich
dann um und sah ihn an. Er wusste, dass sie aus seiner
Miene nichts ablesen konnte. Er wusste es. Er
hatte zu viel Übung darin, sein Gesicht ausdruckslos
zu halten.
Aber sie sah etwas, das sie dazu brachte, ihre Vorderbeine
zu strecken, den Vorderkörper halb nach unten
zu senken und ihren Unterkiefer in einem wölfischen
Grinsen hängen zu lassen - eine allgemeingültige Aufforderung
zum Spielen. Er rollte sich nach vorne ab,
und sie rannte mit einem aufgeregten Jaulen davon.
Sie tobten durch den gesamten Vorgarten, wobei
sie seine sorgfältig gepflegte Einfahrt verwüsteten
und den unberührten Schnee in ein Schlachtfeld aus
Fußund
Pfotenabdrücken verwandelten. Er blieb in
menschlicher Gestalt, um die Chancen auszugleichen,
weil Bruder Wolf dreißig bis vierzig Kilo schwerer
war als sie, während er in menschlicher Gestalt fast
dasselbe wog. Sie setzte dafür weder ihre Klauen noch
ihre Zähne gegen ihn ein.
Er lachte über ihr gespielt grimmiges Knurren,
als sie ihn zu Boden warf und sich auf seinen Bauch
stürzte - lachte wieder, als sie ihre eisige Nase unter
seinen Mantel und das Hemd schob und ihn damit
schlimmer am Bauch kitzelte, als sie es mit ihren Fingern
je gekonnt hätte.
Er achtete sorgfältig darauf, sie nie niederzudrücken,
ihr nie wehzutun, nicht einmal aus Versehen.
Dass sie dies hier riskierte, war ein Vertrauensbeweis,
der ihm viel bedeutete - aber er ließ Bruder Wolf nie
vergessen, dass sie sie noch nicht gut kannte und mehr
Grund hatte als die meisten, das zu fürchten, was sie
waren: männlich und dominant und Wolf.
Er hörte das Auto kommen. Er hätte ihr Spiel unterbrechen
können, aber Bruder Wolf verspürte noch
nicht den Wunsch, einen echten Kampf aufzunehmen.
Also schnappte er sich ihren Hinterlauf und zog
daran, während er sich gleichzeitig aus der Reichweite
ihrer glänzenden Reißzähne rollte.
Und er ignorierte den schweren Geruch der Wut
seines Vaters - ein Geruch, der plötzlich verschwand.
Anna war sich der Gegenwart seines Vaters nicht
bewusst. Bran konnte das - mit dem Hintergrund
verschmelzen, als wäre er einfach nur ein Mann und
nicht der Marrok. Ihre gesamte Aufmerksamkeit war
auf Charles gerichtet - und es machte Bruder Wolf
stolz, dass in ihrer Aufmerksamkeit sogar der Marrok
erst nach ihnen kam. Charles allerdings war besorgt,
weil sie mit ihren untrainierten Wolfssinnen irgendwann
vielleicht eine Gefahr übersehen würde, die sie
umbringen konnte. Bruder Wolf war sich sicher, dass
sie sie beschützen konnten. Er schüttelte Charles'
Sorge ab und zog ihn zurück in den Spaß am Spiel.
Er hörte, wie sein Vater seufzte und anfing, sich auszuziehen,
als Anna losrannte und Charles sie um das
gesamte Haus jagte. Sie benutzte die Bäume im hinteren
Teil des Gartens als Hindernisse, um ihn abzuhängen,
wenn er zu nahe kam. Ihre vier Pfoten mit
Krallen gaben ihr mehr Bodenhaftung als seine Stiefel,
und sie konnte schneller um Bäume laufen.
Letztendlich scheuchte er sie aus den Bäumen und
sie raste wieder ums Haus, er dicht auf ihren Fersen.
Sie bog um die Ecke und erstarrte beim Anblick seines
Vaters, der in Wolfsgestalt auf sie wartete.
Charles konnte gerade noch verhindern, dass er sie
umrannte wie ein Footballspieler, aber trotzdem zog
er ihr die Füße unter dem Körper weg, als er ins Rutschen
geriet.
Noch bevor er sicherstellen konnte, dass es ihr gutging,
sprang ihn ein silbernes Geschoss an, und der
gesamte Kampf veränderte sich plötzlich. Charles
hatte überwiegend die Kontrolle über das Spiel gehabt,
als es nur er und Anna gewesen waren, aber jetzt,
mit seinem Vater, war er gezwungen, ernsthaft seine
Muskeln, seine Geschwindigkeit und sein Hirn anzustrengen,
um die beiden Wölfe, schwarz und silbern,
davon abzuhalten, ihn Schnee fressen zu lassen.
Schließlich lag er flach auf dem Rücken, mit Anna
auf seinen Beinen und den Reißzähnen seines Vaters
in vorgetäuschter Drohung an seiner Kehle.
»Okay«, sagte er und entspannte kapitulierend seine
Muskeln. »Okay. Ich gebe auf.«
Die Worte bedeuteten mehr als nur das Ende des
Spiels. Er hatte es versucht. Aber letztendlich war
das Wort des Alphas Gesetz. Was auch immer folgen
würde, würde folgen. Also ergab er sich der Dominanz
seines Vaters so leicht, als wäre er nur ein Welpe
im Rudel.
Der Marrok hob den Kopf und stieg von Charles'
Brust. Er nieste und schüttelte sich Schnee aus dem
Fell, während Charles sich aufsetzte und seine Beine
unter Anna hervorzog.
»Danke«, sagte er zu ihr und sie schenkte ihm ein
glückliches Grinsen. Er sammelte die Kleider von
der Motorhaube des Autos seines Vaters und öffnete
die Tür zum Haus. Anna sprang ins Wohnzimmer
und trottete dann nach hinten ins Schlafzimmer. Er
warf die Kleider seines Vaters ins Bad und schloss die
Tür hinter der weißen Schwanzspitze, als dieser ihnen
folgte.
Als sein Vater wieder erschien, das Gesicht gerötet
von der Anstrengung der Verwandlung, seine haselnussbraunen
Augen wieder menschlich, hatte Charles
bereits heiße Schokolade und eine Suppe vorbereitet.
Er und sein Dad sahen sich nicht besonders ähnlich.
Charles kam nach seiner Mutter, einer SalishIndianerin,
und Bran war durch und durch walisisch, mit seinem
rötlich gelben Haar und dem ausdrucksstarken
Gesicht, das gewöhnlich - wenn auch nicht im Moment
- trügerisch ausgeglichen war. Momentan wirkte
Bran trotz des Spielens nicht besonders glücklich.
Charles versuchte, nicht zu reden. Er hatte sowieso
nichts zu sagen. Sein Großvater hatte ihm oft gesagt,
dass er sich zu sehr bemühte, Bäume zu versetzen,
um die ein weiserer Mann einfach herumgehen würde.
Sein Großvater war ein Medizinmann gewesen
und hatte gern in Metaphern gesprochen. Gewöhnlich
hatte er Recht behalten.
Er reichte seinem Dad eine Tasse heiße Schokolade.
»Deine Frau hat mich gestern Abend angerufen.«
Brans Stimme war schroff.
»Ah.« Das hatte er nicht gewusst. Anna musste es
getan haben, während er draußen gewesen war und
versucht hatte, vor seinem Frust wegzulaufen.
»Sie hat mir gesagt, dass ich nicht höre, was du zu
sagen hast«, meinte sein Dad. »Daraufhin habe ich
ihr gesagt, dass ich sehr deutlich gehört habe, dass
ich ein Idiot sei, weil ich nach Seattle gehen will, um
mich mit der europäischen Delegation zu treffen - so
deutlich wie der Rest des Rudels auch.«
So bin ich. Immer taktvoll, dachte Charles und beschloss,
dass es besser war, an seinem Kakao zu nippen,
als etwas zu erwidern.
»Und ich habe ihn gefragt, ob du ihm gewöhnlich
ohne guten Grund widersprichst«, sagte Anna und
schob sich an Charles vorbei, wobei sie ihn kurz berührte.
Sie trug seinen braunen Lieblingspullover. Er
ging ihr bis zur Hälfte der Oberschenkel und begrub
ihre zierliche Figur in kakaofarbener Wolle. Bruder
Wolf mochte es, wenn sie ihre Kleidung trug.
Sie hätte aussehen sollen wie ein Flüchtling, aber
irgendwie tat sie das nicht. Die Farbe ließ ihre Haut
wie Porzellan erscheinen und brachte die zahlreichen
Farbnuancen ihres hellbraunen Haares zur Geltung.
Und sie betonte ihre Sommersprossen - die Charles
liebte. Anna hopste auf den Tresen und schnurrte
glücklich, als sie sich die Tasse Kakao schnappte, die
Charles für sie gemacht hatte.
»Und dann hat sie aufgelegt«, sagte sein Vater verstimmt.
»Mmmm«, meinte Anna. Charles war sich nicht sicher,
ob sie sich auf die heiße Schokolade oder auf seinen
Vater bezog.
»Und sie hat sich geweigert abzunehmen, als ich
zurückgerufen habe.« Sein Vater war nicht erfreut.
Du bist nicht so glücklich, dass jemand in der Gegend
ist, der dir nicht sofort gehorcht, hm, alter Herr?, dachte
Charles - genau in dem Moment, als sein Vater ihm
in die Augen sah.
Brans plötzliches Lachen zeigte Charles, dass sein
Dad nicht wirklich wütend war.
»Frustrierend«, bot Charles an.
»Er hat mich angeschrien«, erklärte Anna gleichmütig
und tippte sich an die Stirn. Der Marrok konnte
mit jedem seiner Wölfe von Geist zu Geist sprechen,
obwohl er ihre Gedanken nicht lesen konnte,
egal, wie sehr man den Eindruck hatte, als würde
er genau das tun. Er war einfach nur verdammt gut
darin, Leute zu lesen. »Ich habe ihn ignoriert, und
schließlich ist er verschwunden.«
»Es macht keinen Spaß, jemanden zu bekämpfen,
der nicht zurückkämpft«, sagte Charles.
»Ich wusste, dass er über das, was ich ihm gesagt
habe, nachdenken muss, wenn er niemanden zum
Streiten hat,« erklärte Anna selbstzufrieden. »Und
sei es auch nur, um die richtigen Worte zu finden, mit
denen er mich das nächste Mal, wenn er mit mir redet,
zermalmt.«
Sie war noch kein Vierteljahrhundert alt, sie waren
noch nicht einmal einen ganzen Monat Gefährten -
und schon begann sie damit, alles so einzurichten, wie
es ihr gefiel. Bruder Wolf war zufrieden mit der Gefährtin,
die er für sie gefunden hatte.
Charles stellte seine Tasse ab und verschränkte die
Arme vor der Brust. Er wusste, dass er angsteinflößend
wirkte, und das war auch seine Absicht. Aber als
Anna sich ein Stück von ihm zurückzog, nur ein wenig,
ließ er die Arme fallen, schob sich die Daumen
in den Hosenbund und entspannte seine Schultern.
Seine Stimme klang sanfter, als er vorgehabt hatte.
»Bran zu manipulieren geht gewöhnlich nach hinten
los«, meinte er zu ihr. »Ich empfehle, es bleibenzulassen.«
Aber sein Vater rieb sich den Mund und seufzte
laut. »Also. Warum denkst du, es wäre so eine Katastrophe,
wenn ich nach Seattle ginge?«
Charles drehte sich zu seinem Vater um, und sein
Entschluss, nicht mehr mit ihm zu streiten, weil er
sich für die Reise nach Seattle entschieden hatte, war
fast vergessen. »Die Bestie kommt, und du fragst
mich das?«
»Wer?«, fragte Anna.
»Jean Chastel, die Bestie von Gévaudan«, klärte
Charles sie auf. »Er frisst seine Beute gerne - und
seine Beute ist überwiegend menschlich.«
»Er hat damit aufgehört«, warf Bran kühl ein.
»Bitte«, blaffte Charles, »erzähl mir nichts, was du
selbst nicht glaubst - das riecht verdächtig nach einer
Lüge. Die Bestie wurde gezwungen, nicht mehr offen
zu töten, aber ein Tiger legt seine Streifen nicht
ab. Er macht es immer noch. Das weißt du genauso
gut wie ich.« Er hätte noch auf andere Dinge hinweisen
können - Jean mochte Menschenfleisch, je jünger,
desto besser. Aber Anna hatte bereits erfahren müssen,
was es bedeutete, wenn ein Wolf zum Monster
wurde. Er wollte nicht derjenige sein, der ihr sagte,
dass es auch noch schlimmere Ungeheuer gab als ihren
früheren Alpha und seine Gefährtin. Sein Vater
dagegen wusste, was Jean Chastel war.
Bran gestand ihm diesen Punkt zu. »Ja. Das ist fast
sicher. Aber ich bin kein hilfloser Mensch, er wird
mich nicht umbringen.« Er schaute Charles durch zusammengekniffene
Augen an. »Und das weißt du auch.
Also warum denkst du, dass es gefährlich sein wird?«
Er hatte Recht. Abgesehen von der Bestie hatte
Charles trotzdem ein schlechtes Gefühl bei dem Gedanken,
dass sein Vater nach Seattle fuhr. Die Bestie
war nur die offensichtlichste Gefahr.
»Ich weiß es einfach«, sagte Charles schließlich.
»Aber es ist deine Entscheidung.« Böse Vorahnungen
führten bereits jetzt dazu, dass sein Magen sich
verkrampfte.
»Du hast immer noch keinen logischen Grund genannt.«
»Nein.« Charles zwang seinen Körper dazu, die
Niederlage zu akzeptieren. Er hielt die Augen auf den
Boden gerichtet.
Sein Dad schaute aus dem kleinen Fenster auf die
winterweißen Berge. »Deine Mutter hat das auch immer
getan«, sagte er. »Sie hat eine Behauptung aufgestellt,
ohne dafür eine Begründung zu haben, und
ich sollte ihr einfach glauben.«
Anna schaute Bran mit gespannter Erwartung an.
Er lächelte sie an, dann hob er seine Tasse Richtung
Berge. »Ich habe auf die harte Tour gelernt, dass sie
meistens Recht hatte. Frustrierend ist noch nicht einmal
annähernd das richtige Wort dafür.«
»Also«, meinte er und richtete seine Aufmerksamkeit
wieder auf Charles. »Sie sind bereits auf dem
Weg, ich kann es nicht mehr absagen - und es muss
getan werden. Wenn wir den Menschen mitteilen,
dass wir unter ihnen leben, wird das die europäischen
Werwölfe ebenso sehr betreffen wie uns, wenn nicht
sogar noch mehr. Sie verdienen die Chance, angehört
zu werden und von uns zu erfahren, warum wir diesen
Weg gehen. Sie sollten es von mir hören, aber du
wärst ein akzeptabler Ersatz. Trotzdem wird es einiges
an Befremden auslösen, und damit wirst du umgehen
müssen.«
Erleichterung erfüllte Charles mit einer Plötzlichkeit,
die dafür sorgte, dass er sich kurz am Tresen abstützen
musste, weil das allumfassende Gefühl von
unabänderlichem, schrecklichem Unglück von ihm
abfiel und ihn allein zurückließ. Charles schaute zu
seiner Gefährtin.
»Mein Großvater hätte dich geliebt«, sagte er heiser.
»Er hätte dich ›Sie, die Bäume aus seinem Pfad
schafft‹ genannt.«
Titel der amerikanischen Originalausgabe
HUNTING GROUND
Deutsche Übersetzung von Vanessa Lamatsch
Deutsche Erstausgabe 10/2010
Redaktion: Stefanie Brösigke
Copyright © 2009 Hurog, Inc.
Copyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Karte: Andreas Hancock
Satz: BuchWerkstatt
GmbH, Bad Aibling
ISBN 9783641039134
www.heynemagischebestseller.de
... weniger
Autoren-Porträt von Patricia Briggs
Patricia Briggs, Jahrgang 1965, wuchs in Montana auf und interessiert sich seit ihrer Kindheit für Fantastisches. So studierte sie neben Geschichte auch Deutsch, denn ihre große Liebe gilt Burgen und Märchen. Mit ihrer Mystery-Saga um die Gestaltwandlerin Mercy Thompson stürmt sie regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten. Nach mehreren Umzügen lebt die Autorin heute in Washington State.
Bibliographische Angaben
- Autor: Patricia Briggs
- 2010, Deutsche Erstausgabe, 415 Seiten, Maße: 12 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Vanessa Lamatsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453526791
- ISBN-13: 9783453526792
- Erscheinungsdatum: 09.09.2010
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