Stimmen der Erinnerung
Als Harry in den Zweiten Weltkrieg ziehen muss, bleibt seine Frau Julie in London zurück. Bei einem Bombenangriff der deutschen Luftwaffe auf die Stadt verliert sie ihr Gedächtnis. Wird sie ihren Harry je wiedersehen?
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Produktinformationen zu „Stimmen der Erinnerung “
Als Harry in den Zweiten Weltkrieg ziehen muss, bleibt seine Frau Julie in London zurück. Bei einem Bombenangriff der deutschen Luftwaffe auf die Stadt verliert sie ihr Gedächtnis. Wird sie ihren Harry je wiedersehen?
Lese-Probe zu „Stimmen der Erinnerung “
Stimmen der Erinnerung von Mary Nichols Vorspiel
Sommer 1926
Wo ist das verflixte Mädchen? Julie Monday, kommst du sofort her, sonst fahren wir ohne dich.«
Das war das Letzte, was Julie wollte: zurückgelassen werden. Ausflüge unternahmen sie im Waisenheim höchst selten einmal, und dieser Ausflug versprach der schönste überhaupt zu werden: Sie sollten für den ganzen Tag ans Meer fahren, und das Wetter war herrlich. In Übertretung sämtlicher Regeln rannte sie die Treppe hinunter und lief im Heistergalopp den Korridor entlang zu ihren aufgeregten Kameradinnen. Die hatten sich in Reih und Glied aufgestellt und waren bereit, die Flotte offener Kraftomnibusse zu besteigen, die sie nach Southend bringen sollten. Jungen und Mädchen natürlich getrennt. Und in jedem Bus saß eine Aufsichtsperson.
»Entschuldigung, Miss Paterson.«
Grace Paterson war spindeldürr, hielt den Rücken stocksteif gerade, kämmte sich das graue Haar straff aus dem Gesicht und blickte streng drein. Aber die Kinder wussten, dass sie innerlich butterweich war. Sie liebten sie, so weit der Begriff »Liebe« ihnen überhaupt etwas bedeutete. Wenige von ihnen hatten außerhalb des Waisenheims Liebe erfahren oder konnten sich vorstellen, was eine Familie war. Obwohl sich die Verwaltung, die Erzieher und die Hausangestellten alle Mühe gaben, wie man der Gerechtigkeit halber hinzufügen musste. Alle Kinder wussten, dass sie nur dank der Mildtätigkeit anderer überlebten. Schließlich wurde es ihnen tagtäglich eingebläut, ebenso wie der Umstand, dass sie entsprechend dankbar zu sein hatten.
... mehr
Mit ihren acht Jahren war sich Julie dieser Tatsache wohl bewusst, doch das konnte ihrem überschäumenden Temperament nichts anhaben. Wie ein Kind, das seit seiner Geburt in dieser Institution lebte, ein derart unabhängiges, vorlautes Wesen haben konnte, war Miss Paterson ein Rätsel, ebenso wie den anderen Erziehern. Über Julies Aufnahme im Heim gab es detaillierte Aufzeichnungen. Ein Küchenmädchen, das eines Morgens im Juli 1918 früh um sechs zur Arbeit kam, hatte das Neugeborene auf der Treppe entdeckt. Es war in eine dünne Decke gewickelt und stark untergewichtig. Laut dem Arzt, der es untersuchte, war es ungefähr eine Woche alt. An die Decke war ein Zettel geheftet, auf dem stand: »Mann in Frankreich gefallen. Bin am Ende.« Am folgenden Abend hatte man eine Frau, die vor Kurzem ein Kind zur Welt gebracht haben musste, aus der Themse gefischt. Man ging davon aus, dass es sich dabei um Julies Mutter handelte, obwohl es keinen Beweis dafür gab.
Und so war Julie eines von Hunderten Waisenkindern geworden, die zum Großteil unehelich in die Welt gesetzt worden waren und jetzt im Heim lebten. Es herrschte strenge Disziplin, Strafen fielen harsch aus, aber die Kinder bekamen anständige Kleidung, genug zu essen und eine grundlegende Bildung. Außer in Rechnen, Schreiben, Lesen und Religion erhielten sie auch etwas Unterricht in Geschichte und Erdkunde.
Wenn sie älter wurden, erlernten die Jungen ein Handwerk, während die Mädchen zu Hauspersonal ausgebildet wurden. Sobald die Heimkinder ein Alter erreichten, in dem sie verstanden, was von ihnen erwartet wurde, übertrug man ihnen bestimmte Pflichten: Sie mussten ihr Bett selbst machen, Staub wischen, die Böden fegen und polieren, in der Wäscherei und der Küche mithelfen. Die Größeren kümmerten sich um die Kleineren, und so wurden sie schon in jungen Jahren selbstständig. Gleichzeitig erfuhren sie nichts von den Dingen, die jedes gleichaltrige Kind aus einem Elends viertel wusste: Wie Kinder gemacht werden, und wie man sich durchs Leben schlägt.
Ständig musste Julie im Klassenzimmer in der Ecke stehen oder wurde wegen der einen oder anderen Missetat zum Direktor geschickt, wo sie entweder mit dem Rohrstock geschlagen oder für ein paar Stunden in den Schrank gesperrt wurde. Auch wenn die Schläge wehtaten, waren sie ihr lieber. Die Dunkelheit und Stille im Schrank machten ihr panische Angst - sie wollte alles tun, um nicht dort eingeschlossen zu werden, aber irgendwie gelang es ihr nicht.
Doch seitdem zwei Wochen zuvor dieser Ausflug angekündigt worden war, war sie von vorbildlicher Folgsamkeit gewesen, fest entschlossen, alles zu unterlassen, was ihr Mitkommen gefährden könnte. Und dann hatte sie in letzter Minute alles aufs Spiel gesetzt und war zu ihrer Freundin Elsie geschlüpft, die auf der Krankenstation lag und nicht mitkommen konnte. »Wenn wir wieder da sind, erzähle ich dir alles haargenau«, hatte sie versprochen.
Miss Paterson stieg mit ihr in den letzten Bus, wo sich die Mädchen zu dritt auf die Zweierbänke drängten, setzte sich auf ihren reservierten Platz, und der Omnibus fuhr durchs Tor hinaus auf die Straße. Es ging wirklich los, sie waren auf dem Weg zum Meer. Einige fielen über die kleinen Sandwich- Pakete her, die sie zum Essen mitbekommen hatten, andere übergaben sich in die braunen Papiertüten, die praktischerweise bereitlagen. Julie schaute zum Fenster hinaus auf die belebten Straßen. Da waren Frauen, die mit Einkaufskörben am Arm den Bürgersteig entlanghasteten, seilhüpfende Kinder, ein Hund, der an einen Laternenpfosten gebunden war, ein Herr, der aus einer Droschke stieg. Eine schwarze Katze, die sich auf einem Fenstersims sonnte, deutete Julie als gutes Zeichen. Nach einer Weile ließen sie die Stadt hinter sich und kamen aufs offene Land hinaus. Bäume, Felder, Höfe, Dörfer, Kühe, Schweine und Pferde zogen an ihren staunenden Augen vorbei. Dann kamen sie wieder in eine Stadt, und da war das Meer. Die Businsassen brachen in begeisterten Jubel aus, und schon kam ihr Bus hinter der restlichen Flotte zum Stehen.
Julie hatte das Meer noch nie gesehen. An manchen Stellen war es grau, dann wieder grünblau. Es schien unermesslich groß und erstreckte sich in die Ferne, bis es auf den Himmel traf. Am Horizont fuhr ein Schiff, aus seinen zwei Schornsteinen quollen Rauchschwaden. Es sah aus, als würde es sich nicht vom Fleck bewegen, aber Julie vermutete, dass es irgendwohin unterwegs war. Erst als sie mit allen anderen aus dem Bus kletterte und die Straße entlang geführt wurde, sah sie den Strand: goldener Sand und Hunderte von Menschen, die sich amüsierten. Da gab es Esel, die mit Kindern auf dem Rücken auf und ab trotteten, Buden, an denen Eis verkauft wurde, und Wasserlachen, in denen ganz kleine Kinder paddelten. Größere Kinder spielten Kricket oder warfen einfach einen Ball von einer Hand in die andere. Erwachsene und Kinder spazierten an der Gezeitenlinie entlang, lachten, wenn das Wasser heranwogte, ihre Füße überspülte und dann wieder zurückwich. Weiter draußen trieben Köpfe zwischen den Wellen.
Julie stand mit aufgerissenem Mund da, während die anderen aufgeregt darüber debattierten, was sie als Nächstes tun sollten. Die Älteren wollten auf die Pier gehen. Sie hofften, dort die Drei-Penny-Münze, die jeder von ihnen für den Ausflug bekommen hatte, in einzelne Pennies umtauschen zu können, um sie dann in den Automaten zu vermehren. Miss Paterson erhob Einspruch, das führe schnurstracks in die Spielsucht, das könne sie nicht genehmigen, was große Enttäuschung hervorrief. Andere wollten eine Eistüte und liefen davon, um eine von dem Mann zu kaufen, der wartend neben einem Dreirad mit einem großen, am Lenker montierten Kasten stand. Auf den hatte er in Schnörkelschrift geschrieben: »Einfach anhalten und eins kaufen!« In der Nähe umlagerten Kinder aller Altersstufen einen hohen, schmalen zeltartigen Aufbau und folgten hingerissen dem Puppentheater. »Das ist ein Kasperltheater«, sagte Johnny Easter. Er war erst vor Kurzem ins Waisenheim gekommen und kannte sich mit derlei Dingen aus. Julies Gruppe ließ sich auf dem Sand nieder und sah den Possenreißern zu.
Aber Julie wurde es bald langweilig, außerdem lockte das Meer. Allein spazierte sie davon, bis direkt zur Wasserlinie. Als Erstes nahm sie ihre gestärkte weiße Haube vom Kopf und stopfte sie in die Rocktasche, dann setzte sie sich und zog die schwarzen Knöpfstiefel und die Strümpfe aus. Die trug sie in der Hand, während sie zaghaft ins Wasser trat und spürte, wie sich der nasse Sand zwischen ihren Zehen durchpresste. Es kitzelte derart, dass sie lauthals lachen musste. Eine ungewöhnlich große Welle rollte heran, und sie musste rückwärts- laufen, damit ihr Kleid nicht nass wurde. Andere Mädchen hatten den Rock in ihren Schlüpfer gesteckt, und das tat Julie jetzt auch mit ihrer braunen Baumwolluniform. Zuerst hatte das kalte Wasser sie erschreckt, aber dann gewöhnte sie sich daran und begann, die Gezeitenlinie entlang zu waten. Es machte ihr so viel Spaß, immer wieder den größeren Wellen auszuweichen, dass sie gar nicht bemerkte, wie sie den bevölkerten Teil des Strands hinter sich ließ und schließlich fast allein war. Allein bis auf einen Jungen, der tropfend wie Neptun aus dem Meer auftauchte, nur dass Neptun, dachte Julie, nie ein blau-weiß gestreiftes Badekostüm tragen würde, das eng am Körper anlag.
»Hallo«, sagte er.
»Hallo«, erwiderte sie.
»Hast du dich verlaufen?«
»Nein, ich gehe bloß spazieren.«
»Wohin?« Er hatte dunkelbraunes, rötliches Haar und weiche, bernsteinfarbene Augen. Sie vermutete, dass er ungefähr so alt war wie Johnny Easter, also zwölf, und obwohl er alles andere als dick war, hatte er doch mehr Fleisch auf den Knochen als Johnny.
»Nirgendwohin. Ich hatte einfach Lust zu laufen. Das Meer ist wunderbar, oder?«
»Famos.« Er ging ein Stück den Strand hinauf zu der Stelle, wo ein Handtuch und ein kleiner Berg Kleider auf dem Sand lagen. Dort setzte er sich hin und rubbelte sich die Haare trocken, die sich sofort zu locken begannen. Julie stellte sich zu ihm.
»Was liegt da drüben?« Sie deutete mit dem Kopf über das Wasser.
»Belgien und Holland, würde ich denken.« Er rieb sich heftig den Körper trocken.
»Ach.«
»Hast du kein Handtuch für deine Füße?«
»Nein.«
»Wenn du magst, kannst du meins borgen.«
»Danke, das ist sehr freundlich.« Sie setzte sich neben ihn und nahm das Handtuch, das er ihr reichte.
»Wie heißt du?«
»Julie Monday.«
Er lachte. »Monday - du meinst wie Montag, der Wochentag? «
»Ja.«
»Ein komischer Name.«
»Den habe ich deswegen, weil ich an einem Montag im Juli ins Heim gekommen bin. Deshalb heiße ich Julie Monday.«
»Welches Heim?«
»Das Coram-Waisenhaus.«
»Nie gehört. Wo ist denn das?«
»In Bloomsbury, aber wir sollen bald aufs Land ziehen.«
»Findest du das gut?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Aber es wird immer noch ein Waisenheim sein.«
»Bist du Waise?«
»Ich glaube schon.«
»Du glaubst es nur? Das heißt, du bist dir nicht sicher?«
»Ich bin als Säugling auf der Türschwelle ausgesetzt worden. Sie haben mir gesagt, dass mein Vater im Krieg gefallen und meine Mutter in den Fluss gesprungen und ertrunken ist.«
Diese Auskunft war ihr sehr nüchtern erteilt worden, als sie eines Tages dreist gefragt hatte, weshalb sie keine Mutter und keinen Vater habe. Sie hatte die Antwort stoisch aufgenommen. Keines der anderen Kinder hatte Eltern, oder wenn doch, dann hatten sie keinen Kontakt zu ihnen.
»Und wie alt bist du?«
»Acht.«
»Meine Schwester ist auch acht, aber sie ist größer als du.«
»Wie heißt du?«
»Harold Walker, aber die meisten Leute nennen mich Harry.«
»Lebst du hier am Meer?«
»Nein, wir sind nur für eine Woche da, wir wohnen in einer Pension. Sonst leben wir in Islington.«
»Wer ist ›wir‹?«
»Ich, meine Eltern, mein Bruder Roland, der ist zehn, und meine kleine Schwester Mildred.«
»Es muss schön sein, eine Mutter und einen Vater zu haben«, sagte sie etwas sehnsüchtig.
»Wahrscheinlich schon. Das habe ich mir noch nie überlegt. «
»Und einen Bruder und eine Schwester.«
Er lachte. »Manchmal schon, aber manchmal sind sie eine richtige Plage, vor allem Millie. Deswegen komme ich gern allein zum Schwimmen hierher.« Er überlegte kurz. »Und du? Wie bist du hergekommen?«
»Wir sind mit unseren Lehrern in ganz vielen Omnibussen hergekommen. Für die hat Sir Bertram Chalfont bezahlt. Und wir haben drei Pennies zum Ausgeben gekriegt.«
»Sir Bertram«, wiederholte er. »Den kenne ich. Mein Vater ist Produktionsleiter in seiner Fabrik in Southwark.«
»Ich habe ihn einmal gesehen. Da ist er gekommen, um uns zu begutachten. Er hat einen buschigen roten Schnauzer und graue Haare. Und er hat ständig gelächelt.«
»Genau.« Beim Sprechen zog der Junge ein Hemd und eine Hose über sein Badekostüm.
»Ich sollte vielleicht besser zurückgehen«, sagte Julie, erhob sich, zog den Rock aus ihrem Schlüpfer und schüttelte ihn aus. Er war arg zerknittert und trotz ihrer Vorsicht an manchen Stellen nass geworden.
Er griff nach seinen Schuhen und Socken. »Ich begleite dich.«
Gemächlich gingen sie oberhalb der Wasserlinie entlang. Irgendwann blieb er stehen, hob einen runden, flachen Stein auf und ließ ihn mehrmals übers Wasser hüpfen, ehe er versank.
»Das ist klasse«, sagte sie. »Wie machst du das?«
»Das kann man lernen.« Er suchte nach einem weiteren flachen Stein, den er ihr gab. »Hier, versuch's mal. Du musst ihn flach werfen.«
Es misslang ihr gründlich, der Stein klatschte schwer in die Wellen. Harry führte es ihr noch einmal vor, und wieder versuchte sie, es ihm nachzumachen, aber mit demselben Ergebnis. Immer wieder Steine werfend, näherten sie sich langsam dem Ort. Julie ging ganz in ihrem Glück auf und merkte gar nicht, dass sich der Strand zusehends leerte, bis sie zu der Stelle gelangte, wo einige Stunden zuvor das Kasperltheater gestanden hatte. Das Zelt war fort, ebenso wie ihre Kameradinnen.
»Wo sind sie denn alle?«, fragte sie und sah sich bekümmert um.
»Wahrscheinlich sind sie Tee trinken gegangen.«
»Von Tee hat aber niemand etwas gesagt.« Julie zerrte sich die Haube über den Kopf, zog sich hastig Strümpfe und Stiefel an, obwohl ihre Füße voller Sand waren, und lief hin und her auf der Suche nach einem bekannten Gesicht. Sie wurde immer panischer. Harry folgte ihr und packte sie dann sanft am Arm.
»Mach dich nicht verrückt. Überleg ganz ruhig. Haben sie euch nicht gesagt, wo ihr euch treffen sollt, wenn ihr getrennt werdet?«
»Nein, wir sollten alle zusammenbleiben. Sie sind schon ohne mich nach Hause gefahren. Ach, was soll ich bloß tun?« Trotz ihrer großen Angst war sie fest entschlossen, nicht vor Harry zu weinen. Weinen war bei ihren Lehrern verpönt, die sagten, es sei ein Zeichen von Schwäche und bewirke gar nichts. »Ich kann doch nicht den ganzen Weg zu Fuß laufen.«
»Sei nicht dumm, natürlich nicht. Weißt du noch, wo die Busse geparkt haben?«
»Irgendwo da oben.« Sie deutete zur Promenade. »Sie standen in einer langen Reihe hintereinander.«
»Soweit ich weiß, dürfen sie aber nicht den ganzen Tag dort stehen bleiben. Ich habe Busse auf einer Wiese am Stadtrand parken sehen. Da werden sie sein. Komm.« Er nahm sie an der Hand, und gehorsam folgte sie ihm.
Er hatte recht. Auf der Wiese standen lauter Omnibusse, manche wurden von Pferden gezogen, andere waren Kraftomnibusse, und in einigen saßen lärmende Kinderscharen. Harry ging mit Julie von Bus zu Bus, bis sie Miss Paterson entdeckte, die neben einem der Fahrzeuge stand und sich besorgt und gleichzeitig verärgert umschaute. Sobald sie Julie sah, wich ihre Sorge vollends dem Ärger. »Wo bist du gewesen, Julie Monday?«, herrschte sie sie an, packte sie an der Schulter und schob sie zum Bus. »Ich wollte dich gerade bei der Polizei als vermisst melden, das hätte richtig Scherereien gemacht. Setz dich auf deinen Platz, damit wir endlich fahren können.«
Halb im Bus stehend, drehte Julie sich noch einmal zu Harry um.
»Auf Wiedersehen«, rief sie. »Danke.«
Zum Gruß hob er die Hand und wandte sich zum Gehen. Julie fand einen Sitzplatz direkt neben Miss Paterson, dann holperte der Bus auch schon über die bucklige Wiese, und sie waren auf dem Rückweg, fuhren zurück in die Stadt und zum Alltag im Waisenheim. Und was Julie anging, zurück zu ihrer Bestrafung.
»Wer war der Junge?«, fragte Miss Paterson barsch.
»Er sagte, dass er Harry heißt. Den anderen Namen habe ich vergessen.«
»Wo hast du ihn getroffen? Und wie?«
»Unten am Strand. Er war schwimmen. Ich konnte Sie nicht finden, und er hat mir geholfen.«
»Du dummes Gör. Weißt du denn nicht, dass man nicht mit fremden Jungen spricht?«
»Warum denn nicht?«
»Alles Mögliche hätte passieren können. Du kennst ihn nicht. Er hätte gemeine, verderbte Absichten ...«
»Was heißt das?«
»Das ist jemand, der nichts von Anstand und Manieren weiß, ein böser Mensch.«
»Er ist nicht böse. Er war sehr nett zu mir und hat mir geholfen, als ich nicht mehr zurückfand. Er hat mir sogar sein Handtuch geliehen, damit ich mir die Füße abtrocknen kann.«
»Gütiger Gott! Was hast du denn alles angestellt?«
»Nichts, Miss Paterson. Ich bin im Wasser gewatet, da sind meine Füße nass geworden, und dann hatte ich Sand zwischen den Zehen.«
»Willst du mir damit sagen, dass du deine Strümpfe ausgezogen hast?«
»Ich wollte die Füße ins Wasser stecken, da konnte ich doch nicht die Strümpfe anbehalten, oder?«
»Jetzt werde nicht auch noch frech, du aufsässiges Ding. Ich habe euch ausdrücklich verboten, euch von den anderen zu trennen. Weißt du immer noch nicht, was Gehorsam ist? Dafür werden wir dich bestrafen müssen. Wie schade, es hätte ein schöner Tag sein können.«
»Es war ein schöner Tag«, sagte Julie. Ihr war bewusst, dass alle anderen Kinder im Omnibus sie aus großen Augen ansahen, verwundert ob ihrer Dreistigkeit. »Ich habe einen neuen Freund gefunden.«
»Mach dich nicht lächerlich. Du wirst den Jungen nie wiedersehen, und das wird auch gut sein.«
»Ich weiß«, sagte Julie resignierend.
»Ich werde dein schockierendes Betragen Mr Carruthers melden müssen.«
»Ach, Miss Paterson, bitte nicht, er sperrt mich wieder in den Schrank.«
»Das hättest du dir vorher überlegen müssen. Und jetzt sei still. Für heute habe ich genug von dir gehört.«
Julie verstummte, aber nicht aus Scham oder Reue. Es war ein Schweigen, in dem sie sich glücklichen Erinnerungen hingab. Die konnte ihr keiner mehr nehmen.
»Heute habe ich am Strand ein Mädchen getroffen«, erzählte Harry, nachdem die Bedienung für die ganze Familie gefülltes Brathähnchen sowie mehrere Schüsseln mit Gemüse aufgetragen hatte und gegangen war.
»Meinst du nicht, dass du ein bisschen zu jung bist, um mit Mädchen anzubändeln, mein Junge?«, fragte sein Vater lächelnd und zog eine Augenbraue hoch.
»Sie hatte sich verlaufen.«
»Ach, du meinst ein kleines Mädchen«, sagte er erleichtert. »Und was hast du gemacht?«
»Ich habe ihr geholfen, ihre Gruppe wiederzufinden. Sie ist mit dem Omnibus aus dem Coram-Waisenhaus hergekommen. Ich dachte, Hospitäler gäbe es nur für Kranke.«
»Das stimmt auch, aber früher hatte das Wort eine umfassendere Bedeutung. Dieses Waisenheim hat eine sehr lange Geschichte.«
»Sie hat gesagt, sie wäre als Kind dort auf der Türschwelle ausgesetzt worden. Sie haben ihr erzählt, dass ihr Vater im Krieg gefallen ist und ihre Mutter sich im Fluss ertränkt hat. Das Heim hat ihr den Namen Julie Monday gegeben, weil sie an einem Montag im Juli zu ihnen gekommen ist.«
»Das arme Kind«, sagte Harrys Mutter. »Wie schrecklich.«
»Sie hat aber überhaupt nicht unglücklich gewirkt.«
»Nein, ich glaube, die Kinder werden in dem Heim gut versorgt, und sie hat ja nie ein anderes Leben kennengelernt, nicht wahr?« Sein Vater schaute tadelnd zu Roly und Millie, die sich mit offenem Mund neugierige Blicke zuwarfen.
»Nein, wahrscheinlich nicht. Das Komische ist, sie sagte, Sir Bertram habe den Ausflug bezahlt.«
»Das wundert mich nicht. Sir Bertram ist ein guter Mensch. Ich glaube, er ist vor Kurzem in den Vorstand des Heims berufen worden. Es ist eine schwere Zeit für die Einrichtung. Das Gebäude, in dem sie bislang waren, ist verkauft worden, und sie suchen nach einem neuen Haus.«
»Ja, sie sagte, dass sie bald aufs Land ziehen.«
»Du hast dich ja ziemlich lange mit ihr unterhalten«, meinte seine Mutter. »Erstaunlich, dass so ein kleines Mädchen so viel redet.«
»So klein war sie auch nicht. Sie sagte, sie wäre acht. Sie war ein ganzes Stück den Strand langgegangen und hat nicht mehr zurückgefunden.« Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, klang aber besser, als wenn er zugab, dass er sie von sich aus begleitet hatte. Und schließlich hatte er ihr wirklich geholfen, den richtigen Omnibus zu finden.
»Deine gute Tat für heute, wie?«, fragte sein Vater.
Grinsend machte Harry sich über sein Brathähnchen her. Nach dem Schwimmen hatte er immer richtig Hunger, und die Wirtin ihrer Pension war wirklich eine ausgezeichnete Köchin. Er fragte sich, was Julie wohl zum Abendessen bekam, und ob sie bestraft worden war. Die Lehrerin, oder was immer sie war, hatte sie ziemlich grob angefasst, als sie sie in den Bus zerrte. Sie war ein lebhaftes Mädchen, sehr wissbegierig, und hatte überhaupt nichts Jämmerliches an sich. Er war überzeugt, dass sie ihren Weg machen würde.
1
Sommer 1936
Weshalb ausgerechnet sie als Dienstmädchen zu Sir Bertram in sein prachtvolles Wohnhaus in Maida Vale kam, war Julie ein Rätsel. Doch als sie vierzehn wurde, befand das Waisen- heim, dass ihre Ausbildung beendet sei, und sie musste eine Stelle als Stubenmädchen antreten. Dafür erhielt sie Kost und Logis, ihre Uniform sowie einen Lohn in Höhe von vierundzwanzig Pfund im Jahr, der ihr monatlich ausbezahlt wurde. Ihre Aufgabe bestand darin, die Betten zu machen, die Nachttöpfe zu leeren und auszuspülen, das Badezimmer zu putzen, die Schlafzimmer und den oberen Treppenflur zu fegen und dort Staub zu wischen, die Läufer auszuschütteln und im Winter die Feuerstelle im Boudoir Ihrer Ladyschaft sauber zu machen und nachzuschüren. Dafür musste sie aus dem Keller eine große Trage Kohle holen, die sie tagsüber nachzufüllen hatte. Zwar gab es Kamine in jedem Schlafzimmer, doch Feuer brannte dort nur, wenn jemand krank war. Sobald Julie all diese Arbeiten erledigt hatte, sollte sie mit der Wäsche helfen.
Sie hatte lange gebraucht, um sich in ihr neues Leben einzufinden. Nicht, dass die Arbeit zu anstrengend gewesen wäre, darauf hatte man sie lange genug vorbereitet. Doch ihr fehlten die geordneten Abläufe des Heims und ihre Freundinnen. Nachdem sie ihr Leben lang in einem überfüllten Schlafsaal geschlafen hatte, verbrachte sie die Nächte nun ganz allein in einer winzigen Dachkammer. Dort gab es, nachdem das Licht gelöscht war, keine gewisperten Geheimnisse, niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte, niemanden zum Spielen. Die anderen Bediensteten - die Köchin, das Küchenmädchen und das Zimmermädchen - behandelten sie aufgrund ihrer Herkunft von oben herab. Waisenkinder aus dem Coram, so hieß es, waren praktisch immer unehelich.
Zwei Jahre arbeitete sie schon bei Sir Bertram, als das Kindermädchen wegging und Julie auf ihre Stelle befördert wurde. Damit war sie für die Räume des vierjährigen Bernard und der neugeborenen Emily verantwortlich, den Kindern aus Sir Bertrams zweiter Ehe. Er hatte bereits zwei erwachsene Söhne von seiner ersten Frau, die einige Jahre zuvor gestorben war. Die Kinder hatten eine Kinderfrau, Miss Thomas, die dem Kindermädchen in der Hierarchie weit überlegen war, wie Julie sehr bald feststellte. Aufgabe der Kinderfrau war es, sich um die Kinder zu kümmern. Julie war dafür zuständig, in ihren Zimmern aufzuräumen und zu putzen, nach den Mahlzeiten abzuspülen und die Wäsche zu machen.
Mit eben dieser Wäsche war sie eines Freitags im Sommer 1936 beschäftigt. Es war ein sonniger Tag, ein kräftiger Wind wehte. Sie hatte die Wäsche gewaschen, durch die Wringmaschine gedreht und nach draußen gebracht, um sie am hintersten Ende des Gartens und außer Sichtweite des Hauses aufzuhängen. Sie kämpfte gerade mit einem Laken gegen den Wind, als es ihr aus der Hand genommen und über die Leine geworfen wurde. Sie drehte sich um und sah in Ted Austens grinsendes Gesicht. Ted war der Familienchauffeur und tat immer wichtig, weil er ein Automobil fahren durfte und im Dienst Kniehosen und Schirmmütze trug. Julie konnte ihn nicht leiden. Er hielt sich für den Traum aller Frauen und versuchte Julie bei jeder Gelegenheit anzufassen. Sie wollte ihn ignorieren, aber er packte sie um die Taille und drehte sie so, dass sie hinter das Laken zu stehen kam, legte die Arme um sie und begann, sie zu küssen.
»Hör auf, Ted«, sagte sie und wehrte sich nach Kräften.
»Ich soll aufhören? Das ist doch nicht dein Ernst. Seit Wochen wirfst du mir schmachtende Blicke zu, wann immer du mich siehst. Glaub nicht, dass mir das nicht aufgefallen wäre.«
»Das stimmt nicht.« Sie wusste zwar nicht genau, was »schmachtend« bedeutete, aber sie konnte es sich denken. »Warum in aller Welt sollte ich?«
»Weil du gegen ein bisschen Knutschen nichts einzuwenden hättest. Da du ganz passabel aussiehst, bin ich dir doch gern zu Diensten. So, schau.« Er drückte den Mund auf ihren und fummelte gleichzeitig nach ihrem Rocksaum. Sie tat ihr Bestes, ihn abzuwehren. Sie konnte ihn zwar dazu bringen, den Kopf zu heben, aber dafür packte er sie nur noch fester, und er war weit stärker als sie. Als sie seine warme Hand auf dem Oberschenkel über ihrem Strumpf spürte, schrie sie so laut, dass er ihren Rock losließ und ihr die Hand auf den Mund schlug. »Wirst du wohl aufhören! Du willst doch nicht, dass das ganze Haus angelaufen kommt.« Genau das war zwar ihre Absicht gewesen, aber wie wenig ihr das nützen würde, wurde ihr klar, als er hinzufügte: »Sie würden dir sowieso nicht glauben, nicht, wenn ich ihnen sage, dass du mit mir geschäkert hast. Du kommst aus dem Waisen- heim, und das heißt, dass du für alles ...«
Unvermittelt wurde er von ihr weggezogen. Sie war aus seinem Griff befreit und sah, wie er einen Fremden abzuwehren versuchte, der offenbar von der kleinen Straße hinter dem Haus durch die rückwärtige Pforte in den Garten gekommen war. Vor ihren entsetzten Augen versetzte der Fremde Ted einen Hieb, sodass er zu Boden sackte, Blut strömte ihm aus der Nase.
»Das wird dir noch leidtun, Julie Monday«, murrte er und rappelte sich auf. »Niemand legt es sich mit mir an, ohne dafür zu büßen, und ich meine wirklich niemand. Das wirst du teuer bezahlen, wart's nur ab.« Er drückte sich ein Taschentuch auf die Nase, verschwand durch die Pforte und ging zu der Garage, die in dem Sträßchen stand.
Der Fremde drehte sich zu ihr. »Julie Monday«, sagte er lachend. »Das sind ja wirklich Sie.«
Verwundert sah sie ihn an. »Ja, aber ...«
»Sie erinnern sich nicht an mich, stimmt's? Ich bin Harry Walker. Wir haben uns einmal am Meer getroffen. Guter Gott, wie viele Jahre ist das schon her? Zehn mindestens.«
»Harry!« Sie schaute zu dem jungen Mann hoch, der sie unverwandt ansah. Er war groß, kräftig gebaut und gut gekleidet. Sein kastanienbraunes Haar sah leicht zerzaust aus, und seine Krawatte saß etwas schief. Als sie näher hinsah, erkannte sie die bernsteinfarbenen Augen und das fröhliche Lächeln. Vor Freude strahlte sie ihn an. »Ich hätte nie gedacht, dass ich Sie noch einmal wiedersehen würde.«
»Ich auch nicht. Wie ist es Ihnen ergangen? Arbeiten Sie hier?«
»Ja, als Kindermädchen. Das Haus gehört Sir Bertram Chalfont.«
»Ich weiß. Gefällt es Ihnen?«
»Es ist ganz in Ordnung. Und was machen Sie?«
»Ich arbeite mit meinem Vater in Chalfonts Fabrik und besuche die Abendschule, um Ingenieur zu werden.«
»Was verschlägt Sie in diese Gegend?«
»Ich war auf dem Heimweg von einem Fußballspiel und habe Sie um Hilfe rufen hören. Zum Glück. Ist alles in Ordnung? «
»Ja, jetzt schon.«
»Werden Sie der Herrschaft davon erzählen?«
»Das wäre sinnlos. Sie würden mir nicht glauben, vor allem Lady Chalfont nicht. Ted Austen gehört zu ihren Lieblingen, weil er vor ihr katzbuckelt. Zu Sir Bertram zu gehen, traue ich mich nicht. Ich muss einfach versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen.«
»Ja, tun Sie das. Solche Burschen sind gefährlich.«
Sie hatte keine Lust, über Ted Austen zu reden. »Ich kann nicht fassen, dass es wirklich Sie sind.«
»Mir geht es genauso.« Er schaute sie an. Das ungelenke Mädchen mit den allzu langen Armen und Beinen war zu einer anziehenden jungen Frau mit einer wunderbaren Figur geworden. Zweifellos dank der besseren Ernährung, die sie bei Sir Bertram bekam. Ihr dünnes blondes Haar war fester und länger geworden und halb unter einer weißen Haube verborgen, ganz ähnlich derjenigen, die sie als Achtjährige getragen hatte. Er wollte mehr von ihr erfahren. Wie war es ihr seit der letzten Begegnung ergangen? Wie kam es, dass sie bei Sir Bertram arbeitete? »Was meinen Sie, sollen wir uns nicht treffen? Ich würde gern hören, was Sie in der Zwischenzeit alles gemacht haben, was in Ihrem Leben passiert ist. Haben Sie manchmal einen Tag frei?«
»Ja, einen Tag die Woche.«
»Was machen Sie dann?«
»Wenn es schön ist, gehe ich meistens spazieren, manchmal im Regent's Park, manchmal im Hyde Park.«
»Und wenn es regnet?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Wenn es ein Sonntag ist, bleibe ich in meinem Zimmer oder gehe ins Café. Wenn es ein Wochentag ist, gehe ich in die Bücherei oder besuche ein Museum, meist das Victoria and Albert. Manchmal, wenn ich ein paar Pennies übrig habe, gehe ich zu einer Matinee im Lichtspielhaus - irgendetwas, wo ich nicht im Freien bin.«
»Unter der Woche kann ich Sie nicht treffen, aber vielleicht an einem Wochenende? Das heißt, wenn Sie möchten.«
»Oh ja, das würde mir gut gefallen. Diesen Sonntag habe ich frei.«
»Gut. Dann treffen wir uns um zwei Uhr am Speakers' Corner im Hyde Park.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und richtete sich die Krawatte. »Wenn Sie sicher sind, dass alles in Ordnung ist, dann gehe ich jetzt. Wir sehen uns am Sonntag.«
Sobald er fort war, kam sie sich wieder schutzlos vor. Sie beeilte sich, die restliche Wäsche aufzuhängen. Dabei schaute sie sich ständig um für den Fall, dass Ted wieder auftauchte. Sobald sie sich wieder in der Sicherheit der Kinderzimmer befand, ließ sie sich auf ein Bett fallen. Miss Thomas ging gerade mit ihren Schützlingen im Park spazieren. Sie konnte sich einen Moment ausruhen, obwohl ein Berg Bügelwäsche auf sie wartete. Im Gegensatz zum Waisenheim, wo die Plätteisen auf dem Ofen erhitzt worden waren, gab es bei Sir Bertram ein feudales elektrisches Bügeleisen.
Ted Austens Zudringlichkeit hatte sie erschüttert, außerdem machte sie sich Sorgen wegen seiner Drohung. Sie fragte sich, was er ihr wohl antun könnte, aber dann gab sie sich lieber Tagträumen über Harry Walker hin. Er war ein erwachsener Mann, gut aussehend obendrein. Doch sie ahnte, dass er hinter der Fassade noch derselbe Junge war, der sich vor all den Jahren ihrer angenommen hatte. Dass er sich an sie erinnerte! Aber das hing natürlich mit dem Namen zusammen, den vergaß niemand.
Sie hoffte, dass es am Sonntag schön sein würde. Sie freute sich schon, ihn zu sehen und mit ihm reden. Aber sie würde niemandem davon erzählen, denn so etwas war sicher verboten. Sie erinnerte sich an eine Moralpredigt, die Lady Chalfont ihr gleich nach ihrer Ankunft im Haus gehalten hatte, etwas in der Art, sie dürfe keinen Galan haben. Sie hatte nicht gewusst, was ein Galan ist, sich aber nicht getraut nachzufragen. In der Zwischenzeit hatte sie allerdings herausgefunden, dass ihre Vorgängerin wegen eines Galans entlassen worden war. Das heißt, sie hatte einen Verehrer gehabt, mit dem sie an ihrem freien Tag ausgegangen war, und der hatte ihr ein Kind gemacht. Harry war kein Verehrer, sondern lediglich ein Bekannter. Aber sie traf sich an ihrem freien Tag mit ihm, also musste die Sache geheim bleiben. Innerlich strahlte sie vor Glück und ging ihrer Arbeit mit neuem Schwung nach.
Julies Gebete um schönes Wetter wurden erhört. Angetan mit dem einzigen Kleidungsstück, das keine Uniform war,
einem wadenlangen Kleid aus blauer Baumwolle mit weißen Streublumen, machte sie sich auf den Weg zum Hyde Park. Dazu trug sie eine wollene Strickjacke und einen winzigen Filzhut, der schräg auf dem Kopf saß und mit einer Hutnadel festgesteckt worden war. An einem Sonntagnachmittag war er voller Menschen, die dort spazieren gingen, Ball spielten, im Serpentine-See schwammen, die Rotten Row auf und ab ritten und den Rednern zuhörten, die auf ihren Seifenkisten standen und sich bei ihrem leidenschaftlichen Vortrag über ihr jeweiliges Steckenpferd an Lautstärke zu übertrumpfen versuchten. Julie bemerkte sie kaum. Sie eilte zu ihrem Rendezvous und suchte mit den Augen nach dem jungen Mann, den sie als ihren Retter betrachtete. Und da stand er in einem braunen Anzug und mit einer Melone, die er zog, als sie näher kam. Darüber musste sie lachen, eine solche Höflichkeit war sie nicht gewohnt. »Sie sind ja gekommen«, sagte er.
»Warum sollte ich nicht?«
»Sie hätten denken können, dass ich so schlecht bin wie der Kerl, der Sie angefallen hat.«
»Ich weiß doch, dass Sie das nicht sind. Er ist ein widerwärtiger Bursche, und Sie sind ... Sie sind nett.«
Harry lachte laut. So kess diese junge Dame auch war, war ihr jede Koketterie doch fremd - diese Kunst, etwas zu sagen und etwas anderes zu meinen, sich zu zieren. Er musste aufpassen, ihren naiven Glauben nicht zu zerstören. »Ach ja, ich bin nett? Woher wissen Sie das?«
»Das weiß ich eben. Sie sind doch Harry.« Als würde das seine Frage beantworten.
»Worauf hätten Sie denn Lust?«
»Auf alles. Gehen wir doch spazieren und unterhalten uns dabei. Ich möchte alles von Ihrem Leben erfahren. Leben Sie noch mit Ihrem Bruder und Ihrer Schwester bei Ihren Eltern?«
Nebeneinander gingen sie her, in welche Richtung, schien beiden gleichgültig zu sein. »Sie erinnern sich daran?«
»Ja, ich erinnere mich an alles, was Sie gesagt haben. Wissen Sie, das war ein famoser Tag, an dem wir uns getroffen haben. Ich habe ihn nie vergessen.«
»Ich auch nicht. Sind Sie nach dem Heimkommen bestraft worden?«
»Ich wurde einen ganzen Tag lang in den Schrank gesperrt. Es war dunkel, überall waren Spinnen, und ich konnte die Mäuse hinter der Scheuerleiste hören. Ich habe mich gefürchtet, aber ich habe mir immer wieder gesagt, dass es nichts ausmacht, weil sie mir den Tag ja nicht mehr nehmen können, oder? Nicht, nachdem ich ihn gehabt hatte.«
»Nein.« Sie war eine merkwürdige Mischung von Naivität und Weisheit, halb Frau, halb Kind. Das gefiel ihm. »Wurden Sie oft in den Schrank gesperrt?«
»Nicht oft, nur für ganz schlimme Sachen.«
»Was war denn so schlimm daran, im Meer zu waten?«
»Es war nicht das Waten, sondern dass ich mit Ihnen gesprochen habe und Sie meine bloßen Beine gesehen haben.«
Er lachte. »Wussten die Lehrer auch, dass Sie Ihren Rock in Ihren Schlüpfer gesteckt haben?«
»Gott sei Dank nicht, aber es ist nicht freundlich von Ihnen, mich daran zu erinnern. Damals wusste ich noch nicht, was sich gehört.«
»Aber jetzt schon?«
»Oh ja. Mich mit Anstand zu benehmen ist mir eingebläut worden.« Sie lachte. »Ich glaube, im Augenblick benehme ich mich auch nicht mit Anstand.«
»Wen stört's?«
Julie auf jeden Fall nicht. Sie hakte sich bei ihm ein und fragte ihn aus. So erfuhr sie, dass er mit Hilfe eines Stipendiums das Gymnasium besucht hatte und an einer Hochschule hätte studieren können. Er hatte dann aber beschlossen, lieber einen praktischen Beruf zu ergreifen und nebenbei die Abendschule zu besuchen. Deswegen hatte er eine Stelle bei den Chalfont Engineering Works angenommen. »Wir stellen Rundfunkgeräte her«, sagte er. »Wenn ich meinen Abschluss
gemacht habe, werde ich befördert.«
»Dann werden Sie ein wichtiger Mann sein.«
»Wie nett, dass Sie das sagen.«
Beim Gehen unterhielten sie sich weiter. Julie erfuhr, dass sein Bruder Roland an der Cambridge University studierte und das Fliegen lernte, was er für den Fall eines Kriegs als sehr nützlich erachtete. In Spanien gab es Bürgerkrieg, und Roland sei wie viele andere der Meinung, dass der Krieg auf ganz Europa übergreifen würde, wo doch Herr Hitler seine strammen Reden hielt und dem deutschen Volk die ganze Welt versprach. Millie ging mit einem jungen Mann aus, den sie auf einem Ball kennengelernt hatte, und würde zweifellos bald ihre Verlobung bekanntgeben. Seine Mutter sei deswegen recht aufgeregt.
Julie ihrerseits erzählte Geschichten aus ihrem Leben im Coram, das bald, nachdem sie und Harry sich begegnet waren, in ein Kloster in Surrey umgezogen war. »Im letzten Jahr sind wir in ein neues Gebäude in Berkhamsted gezogen«, sagte sie. »Früher habe ich mich manchmal mit den anderen Mädchen getroffen, aber mittlerweile habe ich keinen Kontakt mehr zu ihnen.«
»Sind Sie schon lange bei Sir Bertram?«
»Seit vier Jahren, seitdem ich das Waisenheim verlassen habe.«
»Gefällt es Ihnen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist in Ordnung. Aber was ich tue, wenn die Kinder kein Mädchen mehr brauchen, weiß ich nicht. Bernard wird auf ein Internat kommen, und Emily soll zu Hause unterrichtet werden, das haben sie mir zumindest gesagt. Sie wird eine Gouvernante bekommen.«
»Es sollte Ihnen nicht schwerfallen, eine andere Stelle zu finden. Sir Bertram wird Ihnen bestimmt ein gutes Zeugnis ausstellen.«
»Wenn ich mir nichts zuschulden kommen lasse.«
Mit Harry zu reden, fiel ihr leicht. Er hörte aufmerksam zu und unterbrach sie bisweilen mit einer Frage oder einer Bemerkung.
Der Nachmittag verging wie im Flug. Er brachte sie nach Hause, aber am Ende der Straße bat sie ihn, sie nicht weiter zu begleiten. »Das letzte Stück gehe ich besser allein. Es darf mich niemand mit Ihnen sehen.«
»Warum nicht? Dürfen Sie an Ihrem freien Tag nicht tun, wozu Sie Lust haben?«
»Ich darf keinen Galan haben.«
Er lachte. »Ich bin doch nicht galant, ich bin ganz ehrlich zu Ihnen.«
»Ja, aber das Kindermädchen vor mir wurde deswegen entlassen. Er hat sie in andere Umstände gebracht.«
»Das würde ich nie tun, Julie, das verspreche ich Ihnen.«
»Das weiß ich, aber das würden die anderen nicht verstehen. «
Sie verabredeten sich für den kommenden Sonntag. Während Julie ihre allabendlichen Aufgaben erledigte, fragte sie sich, ob Harry wohl als Galan gelten würde. Sie musste vorsichtig sein.
Und sie war vorsichtig. Jede Woche trafen sie und Harry sich, den ganzen Sommer hindurch bis in den Winter hinein. Dann trug sie einen braunen Mantel aus Tweed, den sie am Markt bei einem Händler für Kleidung zweiter Hand erstanden hatte. Sie gingen im Hyde Park spazieren oder besuchten den Zoo im Regent's Park. Manchmal suchten sie in einem Museum oder einer Galerie Zuflucht vor den Elementen, was Julies Bildung erweiterte. Das traf auch auf die Ankunft der Jarrow-Demonstranten zu, die an einem nassen Oktobersonntag in London eintrafen. Im Jahr zuvor war in Nordengland die Jarrow-Schiffswerft geschlossen worden, Tausende von Männern waren arbeitslos geworden, ihre Familien litten große Not. Sie hatten rund vierhundertfünfzig Kilometer zu Fuß zurückgelegt, zur Begleitung vieler Mundharmonikas Lieder gesungen und unterwegs bei ihnen wohlgesinnten Menschen übernachtet. Was die Bevölkerung begeisterte, war die schiere Leistung der hungrigen, schlecht gekleideten Männer, nicht die Sache, deretwegen sie den Marsch unternommen hatten. Doch sie erreichten kaum etwas. Durch sie wurde Julie aber bewusst, dass sie von Glück reden konnte, eine Arbeit zu haben, so schlecht sie auch bezahlt sein mochte, und ein warmes Dach über dem Kopf.
Einmal trieb der Regen sie in die Westminster Abbey, wo Julie länger am Grab des unbekannten Soldaten stehen blieb. »Das könnte mein Vater gewesen sein«, sagte sie nachdenklich. »Ich glaube, das stelle ich mir so vor.«
Lächelnd drückte er ihren Arm. »Warum nicht?«
Sie sprachen über den Tod König Georgs im vergangenen Januar und über seinen Nachfolger, Eduard viii., und fragten sich, welche Art König er wohl werden würde. Wie sich herausstellte, blieb er nicht lange König. Im Dezember dankte er ab, um die zweifach geschiedene Wallis Simpson zu heiraten. Sie war für den Großteil der britischen Bevölkerung nicht akzeptabel, ganz zu schweigen von der Geistlichkeit. Eduard wurde Herzog von Windsor, und im Sommer 1937 wurde sein Bruder zu König Georg vi. gekrönt. Harry und Julie standen mit allen anderen am Straßenrand, um das Königspaar in der großen goldenen Staatskutsche vorbeifahren zu sehen, gefolgt von einer weiteren Kutsche mit den kleinen Prinzessinnen und einer ganzen Prozession von Wagen, in denen die diversen Würdenträger saßen. Alle, die die Straßen säumten, winkten begeistert mit ihren Fähnchen.
Gelegentlich bekam Julie auch einen Abend frei, und dann gingen sie ins Kino und lachten über Charlie Chaplin oder die Keystone Cops und sahen Wochenschauen von den Ereignissen in Europa. Der spanische Bürgerkrieg tobte noch immer, Hitler hatte seine Muskeln spielen lassen und die entmilitarisierte Zone im Rheinland besetzt, ohne dass jemand ihn daran gehindert hätte. Mussolini wurde zu einer Macht, mit der in Italien zu rechnen war. Das alles erfüllte die Politiker mit großer Besorgnis, doch Dinge, die in so weiter Ferne passierten, spielten für Julie keine Rolle. Harry wollte ihr Glück nicht trüben und ihr von seinen Befürchtungen erzählen.
Für Julie bekam das Leben ganz neue Dimensionen, ihr Horizont erweiterte sich. Sie fühlte sich lebendig und hatte nicht mehr das Gefühl, am Rand zu stehen, sondern Teil von allem zu sein - vor allem, wenn sie mit Harry zusammen war, den sie vergötterte. Sie wollte nicht, dass ihr Glück je ein Ende fand. Er wollte es auch nicht. Und doch fand es ein Ende, woran allein Ted Austen Schuld hatte.
Julie hatte nach Kräften versucht, ihm aus dem Weg zu gehen, aber manchmal stießen sie in der Küche oder im Garten aufeinander. Dann warf er ihr einen bösen Blick zu und sagte, er habe die Prügel nicht vergessen, die er ihretwegen bezogen habe, und die müssten gerächt werden. Es würde ihr noch leidtun. »Nicht so leid wie dir, wenn du mich noch einmal anrührst«, gab sie einmal zurück.
»Ach, und wer soll mich daran hindern?«
»Derselbe, der dich schon einmal daran gehindert hat.« Noch während sie das sagte, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Zur Antwort grinste er nur hämisch.
Als sie am folgenden Sonntag von ihrem Treffen mit Harry zurückkam, wurde sie in Lady Chalfonts Salon gerufen. Etwas beklommen betrat sie den Raum. Sie wusste nicht, was sie erwarten sollte.
»Meines Wissens hast du dich an deinem freien Nachmittag mit einem jungen Mann getroffen«, sagte Ihre Ladyschaft. »Du weißt, dass es den Bediensteten ausdrücklich verboten ist, einen Galan zu haben, insbesondere Bedienstete wie du, deren Herkunft zweifelhaft ist. Ich hatte immer meine Bedenken, dich bei uns arbeiten zu lassen, aber Sir Bertram sagte, wir sollten einer Insassin des Waisenheims die Möglichkeit geben, ihr Glück zu machen. Jetzt sieht man, was dabei herauskommt.«
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Mit ihren acht Jahren war sich Julie dieser Tatsache wohl bewusst, doch das konnte ihrem überschäumenden Temperament nichts anhaben. Wie ein Kind, das seit seiner Geburt in dieser Institution lebte, ein derart unabhängiges, vorlautes Wesen haben konnte, war Miss Paterson ein Rätsel, ebenso wie den anderen Erziehern. Über Julies Aufnahme im Heim gab es detaillierte Aufzeichnungen. Ein Küchenmädchen, das eines Morgens im Juli 1918 früh um sechs zur Arbeit kam, hatte das Neugeborene auf der Treppe entdeckt. Es war in eine dünne Decke gewickelt und stark untergewichtig. Laut dem Arzt, der es untersuchte, war es ungefähr eine Woche alt. An die Decke war ein Zettel geheftet, auf dem stand: »Mann in Frankreich gefallen. Bin am Ende.« Am folgenden Abend hatte man eine Frau, die vor Kurzem ein Kind zur Welt gebracht haben musste, aus der Themse gefischt. Man ging davon aus, dass es sich dabei um Julies Mutter handelte, obwohl es keinen Beweis dafür gab.
Und so war Julie eines von Hunderten Waisenkindern geworden, die zum Großteil unehelich in die Welt gesetzt worden waren und jetzt im Heim lebten. Es herrschte strenge Disziplin, Strafen fielen harsch aus, aber die Kinder bekamen anständige Kleidung, genug zu essen und eine grundlegende Bildung. Außer in Rechnen, Schreiben, Lesen und Religion erhielten sie auch etwas Unterricht in Geschichte und Erdkunde.
Wenn sie älter wurden, erlernten die Jungen ein Handwerk, während die Mädchen zu Hauspersonal ausgebildet wurden. Sobald die Heimkinder ein Alter erreichten, in dem sie verstanden, was von ihnen erwartet wurde, übertrug man ihnen bestimmte Pflichten: Sie mussten ihr Bett selbst machen, Staub wischen, die Böden fegen und polieren, in der Wäscherei und der Küche mithelfen. Die Größeren kümmerten sich um die Kleineren, und so wurden sie schon in jungen Jahren selbstständig. Gleichzeitig erfuhren sie nichts von den Dingen, die jedes gleichaltrige Kind aus einem Elends viertel wusste: Wie Kinder gemacht werden, und wie man sich durchs Leben schlägt.
Ständig musste Julie im Klassenzimmer in der Ecke stehen oder wurde wegen der einen oder anderen Missetat zum Direktor geschickt, wo sie entweder mit dem Rohrstock geschlagen oder für ein paar Stunden in den Schrank gesperrt wurde. Auch wenn die Schläge wehtaten, waren sie ihr lieber. Die Dunkelheit und Stille im Schrank machten ihr panische Angst - sie wollte alles tun, um nicht dort eingeschlossen zu werden, aber irgendwie gelang es ihr nicht.
Doch seitdem zwei Wochen zuvor dieser Ausflug angekündigt worden war, war sie von vorbildlicher Folgsamkeit gewesen, fest entschlossen, alles zu unterlassen, was ihr Mitkommen gefährden könnte. Und dann hatte sie in letzter Minute alles aufs Spiel gesetzt und war zu ihrer Freundin Elsie geschlüpft, die auf der Krankenstation lag und nicht mitkommen konnte. »Wenn wir wieder da sind, erzähle ich dir alles haargenau«, hatte sie versprochen.
Miss Paterson stieg mit ihr in den letzten Bus, wo sich die Mädchen zu dritt auf die Zweierbänke drängten, setzte sich auf ihren reservierten Platz, und der Omnibus fuhr durchs Tor hinaus auf die Straße. Es ging wirklich los, sie waren auf dem Weg zum Meer. Einige fielen über die kleinen Sandwich- Pakete her, die sie zum Essen mitbekommen hatten, andere übergaben sich in die braunen Papiertüten, die praktischerweise bereitlagen. Julie schaute zum Fenster hinaus auf die belebten Straßen. Da waren Frauen, die mit Einkaufskörben am Arm den Bürgersteig entlanghasteten, seilhüpfende Kinder, ein Hund, der an einen Laternenpfosten gebunden war, ein Herr, der aus einer Droschke stieg. Eine schwarze Katze, die sich auf einem Fenstersims sonnte, deutete Julie als gutes Zeichen. Nach einer Weile ließen sie die Stadt hinter sich und kamen aufs offene Land hinaus. Bäume, Felder, Höfe, Dörfer, Kühe, Schweine und Pferde zogen an ihren staunenden Augen vorbei. Dann kamen sie wieder in eine Stadt, und da war das Meer. Die Businsassen brachen in begeisterten Jubel aus, und schon kam ihr Bus hinter der restlichen Flotte zum Stehen.
Julie hatte das Meer noch nie gesehen. An manchen Stellen war es grau, dann wieder grünblau. Es schien unermesslich groß und erstreckte sich in die Ferne, bis es auf den Himmel traf. Am Horizont fuhr ein Schiff, aus seinen zwei Schornsteinen quollen Rauchschwaden. Es sah aus, als würde es sich nicht vom Fleck bewegen, aber Julie vermutete, dass es irgendwohin unterwegs war. Erst als sie mit allen anderen aus dem Bus kletterte und die Straße entlang geführt wurde, sah sie den Strand: goldener Sand und Hunderte von Menschen, die sich amüsierten. Da gab es Esel, die mit Kindern auf dem Rücken auf und ab trotteten, Buden, an denen Eis verkauft wurde, und Wasserlachen, in denen ganz kleine Kinder paddelten. Größere Kinder spielten Kricket oder warfen einfach einen Ball von einer Hand in die andere. Erwachsene und Kinder spazierten an der Gezeitenlinie entlang, lachten, wenn das Wasser heranwogte, ihre Füße überspülte und dann wieder zurückwich. Weiter draußen trieben Köpfe zwischen den Wellen.
Julie stand mit aufgerissenem Mund da, während die anderen aufgeregt darüber debattierten, was sie als Nächstes tun sollten. Die Älteren wollten auf die Pier gehen. Sie hofften, dort die Drei-Penny-Münze, die jeder von ihnen für den Ausflug bekommen hatte, in einzelne Pennies umtauschen zu können, um sie dann in den Automaten zu vermehren. Miss Paterson erhob Einspruch, das führe schnurstracks in die Spielsucht, das könne sie nicht genehmigen, was große Enttäuschung hervorrief. Andere wollten eine Eistüte und liefen davon, um eine von dem Mann zu kaufen, der wartend neben einem Dreirad mit einem großen, am Lenker montierten Kasten stand. Auf den hatte er in Schnörkelschrift geschrieben: »Einfach anhalten und eins kaufen!« In der Nähe umlagerten Kinder aller Altersstufen einen hohen, schmalen zeltartigen Aufbau und folgten hingerissen dem Puppentheater. »Das ist ein Kasperltheater«, sagte Johnny Easter. Er war erst vor Kurzem ins Waisenheim gekommen und kannte sich mit derlei Dingen aus. Julies Gruppe ließ sich auf dem Sand nieder und sah den Possenreißern zu.
Aber Julie wurde es bald langweilig, außerdem lockte das Meer. Allein spazierte sie davon, bis direkt zur Wasserlinie. Als Erstes nahm sie ihre gestärkte weiße Haube vom Kopf und stopfte sie in die Rocktasche, dann setzte sie sich und zog die schwarzen Knöpfstiefel und die Strümpfe aus. Die trug sie in der Hand, während sie zaghaft ins Wasser trat und spürte, wie sich der nasse Sand zwischen ihren Zehen durchpresste. Es kitzelte derart, dass sie lauthals lachen musste. Eine ungewöhnlich große Welle rollte heran, und sie musste rückwärts- laufen, damit ihr Kleid nicht nass wurde. Andere Mädchen hatten den Rock in ihren Schlüpfer gesteckt, und das tat Julie jetzt auch mit ihrer braunen Baumwolluniform. Zuerst hatte das kalte Wasser sie erschreckt, aber dann gewöhnte sie sich daran und begann, die Gezeitenlinie entlang zu waten. Es machte ihr so viel Spaß, immer wieder den größeren Wellen auszuweichen, dass sie gar nicht bemerkte, wie sie den bevölkerten Teil des Strands hinter sich ließ und schließlich fast allein war. Allein bis auf einen Jungen, der tropfend wie Neptun aus dem Meer auftauchte, nur dass Neptun, dachte Julie, nie ein blau-weiß gestreiftes Badekostüm tragen würde, das eng am Körper anlag.
»Hallo«, sagte er.
»Hallo«, erwiderte sie.
»Hast du dich verlaufen?«
»Nein, ich gehe bloß spazieren.«
»Wohin?« Er hatte dunkelbraunes, rötliches Haar und weiche, bernsteinfarbene Augen. Sie vermutete, dass er ungefähr so alt war wie Johnny Easter, also zwölf, und obwohl er alles andere als dick war, hatte er doch mehr Fleisch auf den Knochen als Johnny.
»Nirgendwohin. Ich hatte einfach Lust zu laufen. Das Meer ist wunderbar, oder?«
»Famos.« Er ging ein Stück den Strand hinauf zu der Stelle, wo ein Handtuch und ein kleiner Berg Kleider auf dem Sand lagen. Dort setzte er sich hin und rubbelte sich die Haare trocken, die sich sofort zu locken begannen. Julie stellte sich zu ihm.
»Was liegt da drüben?« Sie deutete mit dem Kopf über das Wasser.
»Belgien und Holland, würde ich denken.« Er rieb sich heftig den Körper trocken.
»Ach.«
»Hast du kein Handtuch für deine Füße?«
»Nein.«
»Wenn du magst, kannst du meins borgen.«
»Danke, das ist sehr freundlich.« Sie setzte sich neben ihn und nahm das Handtuch, das er ihr reichte.
»Wie heißt du?«
»Julie Monday.«
Er lachte. »Monday - du meinst wie Montag, der Wochentag? «
»Ja.«
»Ein komischer Name.«
»Den habe ich deswegen, weil ich an einem Montag im Juli ins Heim gekommen bin. Deshalb heiße ich Julie Monday.«
»Welches Heim?«
»Das Coram-Waisenhaus.«
»Nie gehört. Wo ist denn das?«
»In Bloomsbury, aber wir sollen bald aufs Land ziehen.«
»Findest du das gut?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Aber es wird immer noch ein Waisenheim sein.«
»Bist du Waise?«
»Ich glaube schon.«
»Du glaubst es nur? Das heißt, du bist dir nicht sicher?«
»Ich bin als Säugling auf der Türschwelle ausgesetzt worden. Sie haben mir gesagt, dass mein Vater im Krieg gefallen und meine Mutter in den Fluss gesprungen und ertrunken ist.«
Diese Auskunft war ihr sehr nüchtern erteilt worden, als sie eines Tages dreist gefragt hatte, weshalb sie keine Mutter und keinen Vater habe. Sie hatte die Antwort stoisch aufgenommen. Keines der anderen Kinder hatte Eltern, oder wenn doch, dann hatten sie keinen Kontakt zu ihnen.
»Und wie alt bist du?«
»Acht.«
»Meine Schwester ist auch acht, aber sie ist größer als du.«
»Wie heißt du?«
»Harold Walker, aber die meisten Leute nennen mich Harry.«
»Lebst du hier am Meer?«
»Nein, wir sind nur für eine Woche da, wir wohnen in einer Pension. Sonst leben wir in Islington.«
»Wer ist ›wir‹?«
»Ich, meine Eltern, mein Bruder Roland, der ist zehn, und meine kleine Schwester Mildred.«
»Es muss schön sein, eine Mutter und einen Vater zu haben«, sagte sie etwas sehnsüchtig.
»Wahrscheinlich schon. Das habe ich mir noch nie überlegt. «
»Und einen Bruder und eine Schwester.«
Er lachte. »Manchmal schon, aber manchmal sind sie eine richtige Plage, vor allem Millie. Deswegen komme ich gern allein zum Schwimmen hierher.« Er überlegte kurz. »Und du? Wie bist du hergekommen?«
»Wir sind mit unseren Lehrern in ganz vielen Omnibussen hergekommen. Für die hat Sir Bertram Chalfont bezahlt. Und wir haben drei Pennies zum Ausgeben gekriegt.«
»Sir Bertram«, wiederholte er. »Den kenne ich. Mein Vater ist Produktionsleiter in seiner Fabrik in Southwark.«
»Ich habe ihn einmal gesehen. Da ist er gekommen, um uns zu begutachten. Er hat einen buschigen roten Schnauzer und graue Haare. Und er hat ständig gelächelt.«
»Genau.« Beim Sprechen zog der Junge ein Hemd und eine Hose über sein Badekostüm.
»Ich sollte vielleicht besser zurückgehen«, sagte Julie, erhob sich, zog den Rock aus ihrem Schlüpfer und schüttelte ihn aus. Er war arg zerknittert und trotz ihrer Vorsicht an manchen Stellen nass geworden.
Er griff nach seinen Schuhen und Socken. »Ich begleite dich.«
Gemächlich gingen sie oberhalb der Wasserlinie entlang. Irgendwann blieb er stehen, hob einen runden, flachen Stein auf und ließ ihn mehrmals übers Wasser hüpfen, ehe er versank.
»Das ist klasse«, sagte sie. »Wie machst du das?«
»Das kann man lernen.« Er suchte nach einem weiteren flachen Stein, den er ihr gab. »Hier, versuch's mal. Du musst ihn flach werfen.«
Es misslang ihr gründlich, der Stein klatschte schwer in die Wellen. Harry führte es ihr noch einmal vor, und wieder versuchte sie, es ihm nachzumachen, aber mit demselben Ergebnis. Immer wieder Steine werfend, näherten sie sich langsam dem Ort. Julie ging ganz in ihrem Glück auf und merkte gar nicht, dass sich der Strand zusehends leerte, bis sie zu der Stelle gelangte, wo einige Stunden zuvor das Kasperltheater gestanden hatte. Das Zelt war fort, ebenso wie ihre Kameradinnen.
»Wo sind sie denn alle?«, fragte sie und sah sich bekümmert um.
»Wahrscheinlich sind sie Tee trinken gegangen.«
»Von Tee hat aber niemand etwas gesagt.« Julie zerrte sich die Haube über den Kopf, zog sich hastig Strümpfe und Stiefel an, obwohl ihre Füße voller Sand waren, und lief hin und her auf der Suche nach einem bekannten Gesicht. Sie wurde immer panischer. Harry folgte ihr und packte sie dann sanft am Arm.
»Mach dich nicht verrückt. Überleg ganz ruhig. Haben sie euch nicht gesagt, wo ihr euch treffen sollt, wenn ihr getrennt werdet?«
»Nein, wir sollten alle zusammenbleiben. Sie sind schon ohne mich nach Hause gefahren. Ach, was soll ich bloß tun?« Trotz ihrer großen Angst war sie fest entschlossen, nicht vor Harry zu weinen. Weinen war bei ihren Lehrern verpönt, die sagten, es sei ein Zeichen von Schwäche und bewirke gar nichts. »Ich kann doch nicht den ganzen Weg zu Fuß laufen.«
»Sei nicht dumm, natürlich nicht. Weißt du noch, wo die Busse geparkt haben?«
»Irgendwo da oben.« Sie deutete zur Promenade. »Sie standen in einer langen Reihe hintereinander.«
»Soweit ich weiß, dürfen sie aber nicht den ganzen Tag dort stehen bleiben. Ich habe Busse auf einer Wiese am Stadtrand parken sehen. Da werden sie sein. Komm.« Er nahm sie an der Hand, und gehorsam folgte sie ihm.
Er hatte recht. Auf der Wiese standen lauter Omnibusse, manche wurden von Pferden gezogen, andere waren Kraftomnibusse, und in einigen saßen lärmende Kinderscharen. Harry ging mit Julie von Bus zu Bus, bis sie Miss Paterson entdeckte, die neben einem der Fahrzeuge stand und sich besorgt und gleichzeitig verärgert umschaute. Sobald sie Julie sah, wich ihre Sorge vollends dem Ärger. »Wo bist du gewesen, Julie Monday?«, herrschte sie sie an, packte sie an der Schulter und schob sie zum Bus. »Ich wollte dich gerade bei der Polizei als vermisst melden, das hätte richtig Scherereien gemacht. Setz dich auf deinen Platz, damit wir endlich fahren können.«
Halb im Bus stehend, drehte Julie sich noch einmal zu Harry um.
»Auf Wiedersehen«, rief sie. »Danke.«
Zum Gruß hob er die Hand und wandte sich zum Gehen. Julie fand einen Sitzplatz direkt neben Miss Paterson, dann holperte der Bus auch schon über die bucklige Wiese, und sie waren auf dem Rückweg, fuhren zurück in die Stadt und zum Alltag im Waisenheim. Und was Julie anging, zurück zu ihrer Bestrafung.
»Wer war der Junge?«, fragte Miss Paterson barsch.
»Er sagte, dass er Harry heißt. Den anderen Namen habe ich vergessen.«
»Wo hast du ihn getroffen? Und wie?«
»Unten am Strand. Er war schwimmen. Ich konnte Sie nicht finden, und er hat mir geholfen.«
»Du dummes Gör. Weißt du denn nicht, dass man nicht mit fremden Jungen spricht?«
»Warum denn nicht?«
»Alles Mögliche hätte passieren können. Du kennst ihn nicht. Er hätte gemeine, verderbte Absichten ...«
»Was heißt das?«
»Das ist jemand, der nichts von Anstand und Manieren weiß, ein böser Mensch.«
»Er ist nicht böse. Er war sehr nett zu mir und hat mir geholfen, als ich nicht mehr zurückfand. Er hat mir sogar sein Handtuch geliehen, damit ich mir die Füße abtrocknen kann.«
»Gütiger Gott! Was hast du denn alles angestellt?«
»Nichts, Miss Paterson. Ich bin im Wasser gewatet, da sind meine Füße nass geworden, und dann hatte ich Sand zwischen den Zehen.«
»Willst du mir damit sagen, dass du deine Strümpfe ausgezogen hast?«
»Ich wollte die Füße ins Wasser stecken, da konnte ich doch nicht die Strümpfe anbehalten, oder?«
»Jetzt werde nicht auch noch frech, du aufsässiges Ding. Ich habe euch ausdrücklich verboten, euch von den anderen zu trennen. Weißt du immer noch nicht, was Gehorsam ist? Dafür werden wir dich bestrafen müssen. Wie schade, es hätte ein schöner Tag sein können.«
»Es war ein schöner Tag«, sagte Julie. Ihr war bewusst, dass alle anderen Kinder im Omnibus sie aus großen Augen ansahen, verwundert ob ihrer Dreistigkeit. »Ich habe einen neuen Freund gefunden.«
»Mach dich nicht lächerlich. Du wirst den Jungen nie wiedersehen, und das wird auch gut sein.«
»Ich weiß«, sagte Julie resignierend.
»Ich werde dein schockierendes Betragen Mr Carruthers melden müssen.«
»Ach, Miss Paterson, bitte nicht, er sperrt mich wieder in den Schrank.«
»Das hättest du dir vorher überlegen müssen. Und jetzt sei still. Für heute habe ich genug von dir gehört.«
Julie verstummte, aber nicht aus Scham oder Reue. Es war ein Schweigen, in dem sie sich glücklichen Erinnerungen hingab. Die konnte ihr keiner mehr nehmen.
»Heute habe ich am Strand ein Mädchen getroffen«, erzählte Harry, nachdem die Bedienung für die ganze Familie gefülltes Brathähnchen sowie mehrere Schüsseln mit Gemüse aufgetragen hatte und gegangen war.
»Meinst du nicht, dass du ein bisschen zu jung bist, um mit Mädchen anzubändeln, mein Junge?«, fragte sein Vater lächelnd und zog eine Augenbraue hoch.
»Sie hatte sich verlaufen.«
»Ach, du meinst ein kleines Mädchen«, sagte er erleichtert. »Und was hast du gemacht?«
»Ich habe ihr geholfen, ihre Gruppe wiederzufinden. Sie ist mit dem Omnibus aus dem Coram-Waisenhaus hergekommen. Ich dachte, Hospitäler gäbe es nur für Kranke.«
»Das stimmt auch, aber früher hatte das Wort eine umfassendere Bedeutung. Dieses Waisenheim hat eine sehr lange Geschichte.«
»Sie hat gesagt, sie wäre als Kind dort auf der Türschwelle ausgesetzt worden. Sie haben ihr erzählt, dass ihr Vater im Krieg gefallen ist und ihre Mutter sich im Fluss ertränkt hat. Das Heim hat ihr den Namen Julie Monday gegeben, weil sie an einem Montag im Juli zu ihnen gekommen ist.«
»Das arme Kind«, sagte Harrys Mutter. »Wie schrecklich.«
»Sie hat aber überhaupt nicht unglücklich gewirkt.«
»Nein, ich glaube, die Kinder werden in dem Heim gut versorgt, und sie hat ja nie ein anderes Leben kennengelernt, nicht wahr?« Sein Vater schaute tadelnd zu Roly und Millie, die sich mit offenem Mund neugierige Blicke zuwarfen.
»Nein, wahrscheinlich nicht. Das Komische ist, sie sagte, Sir Bertram habe den Ausflug bezahlt.«
»Das wundert mich nicht. Sir Bertram ist ein guter Mensch. Ich glaube, er ist vor Kurzem in den Vorstand des Heims berufen worden. Es ist eine schwere Zeit für die Einrichtung. Das Gebäude, in dem sie bislang waren, ist verkauft worden, und sie suchen nach einem neuen Haus.«
»Ja, sie sagte, dass sie bald aufs Land ziehen.«
»Du hast dich ja ziemlich lange mit ihr unterhalten«, meinte seine Mutter. »Erstaunlich, dass so ein kleines Mädchen so viel redet.«
»So klein war sie auch nicht. Sie sagte, sie wäre acht. Sie war ein ganzes Stück den Strand langgegangen und hat nicht mehr zurückgefunden.« Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, klang aber besser, als wenn er zugab, dass er sie von sich aus begleitet hatte. Und schließlich hatte er ihr wirklich geholfen, den richtigen Omnibus zu finden.
»Deine gute Tat für heute, wie?«, fragte sein Vater.
Grinsend machte Harry sich über sein Brathähnchen her. Nach dem Schwimmen hatte er immer richtig Hunger, und die Wirtin ihrer Pension war wirklich eine ausgezeichnete Köchin. Er fragte sich, was Julie wohl zum Abendessen bekam, und ob sie bestraft worden war. Die Lehrerin, oder was immer sie war, hatte sie ziemlich grob angefasst, als sie sie in den Bus zerrte. Sie war ein lebhaftes Mädchen, sehr wissbegierig, und hatte überhaupt nichts Jämmerliches an sich. Er war überzeugt, dass sie ihren Weg machen würde.
1
Sommer 1936
Weshalb ausgerechnet sie als Dienstmädchen zu Sir Bertram in sein prachtvolles Wohnhaus in Maida Vale kam, war Julie ein Rätsel. Doch als sie vierzehn wurde, befand das Waisen- heim, dass ihre Ausbildung beendet sei, und sie musste eine Stelle als Stubenmädchen antreten. Dafür erhielt sie Kost und Logis, ihre Uniform sowie einen Lohn in Höhe von vierundzwanzig Pfund im Jahr, der ihr monatlich ausbezahlt wurde. Ihre Aufgabe bestand darin, die Betten zu machen, die Nachttöpfe zu leeren und auszuspülen, das Badezimmer zu putzen, die Schlafzimmer und den oberen Treppenflur zu fegen und dort Staub zu wischen, die Läufer auszuschütteln und im Winter die Feuerstelle im Boudoir Ihrer Ladyschaft sauber zu machen und nachzuschüren. Dafür musste sie aus dem Keller eine große Trage Kohle holen, die sie tagsüber nachzufüllen hatte. Zwar gab es Kamine in jedem Schlafzimmer, doch Feuer brannte dort nur, wenn jemand krank war. Sobald Julie all diese Arbeiten erledigt hatte, sollte sie mit der Wäsche helfen.
Sie hatte lange gebraucht, um sich in ihr neues Leben einzufinden. Nicht, dass die Arbeit zu anstrengend gewesen wäre, darauf hatte man sie lange genug vorbereitet. Doch ihr fehlten die geordneten Abläufe des Heims und ihre Freundinnen. Nachdem sie ihr Leben lang in einem überfüllten Schlafsaal geschlafen hatte, verbrachte sie die Nächte nun ganz allein in einer winzigen Dachkammer. Dort gab es, nachdem das Licht gelöscht war, keine gewisperten Geheimnisse, niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte, niemanden zum Spielen. Die anderen Bediensteten - die Köchin, das Küchenmädchen und das Zimmermädchen - behandelten sie aufgrund ihrer Herkunft von oben herab. Waisenkinder aus dem Coram, so hieß es, waren praktisch immer unehelich.
Zwei Jahre arbeitete sie schon bei Sir Bertram, als das Kindermädchen wegging und Julie auf ihre Stelle befördert wurde. Damit war sie für die Räume des vierjährigen Bernard und der neugeborenen Emily verantwortlich, den Kindern aus Sir Bertrams zweiter Ehe. Er hatte bereits zwei erwachsene Söhne von seiner ersten Frau, die einige Jahre zuvor gestorben war. Die Kinder hatten eine Kinderfrau, Miss Thomas, die dem Kindermädchen in der Hierarchie weit überlegen war, wie Julie sehr bald feststellte. Aufgabe der Kinderfrau war es, sich um die Kinder zu kümmern. Julie war dafür zuständig, in ihren Zimmern aufzuräumen und zu putzen, nach den Mahlzeiten abzuspülen und die Wäsche zu machen.
Mit eben dieser Wäsche war sie eines Freitags im Sommer 1936 beschäftigt. Es war ein sonniger Tag, ein kräftiger Wind wehte. Sie hatte die Wäsche gewaschen, durch die Wringmaschine gedreht und nach draußen gebracht, um sie am hintersten Ende des Gartens und außer Sichtweite des Hauses aufzuhängen. Sie kämpfte gerade mit einem Laken gegen den Wind, als es ihr aus der Hand genommen und über die Leine geworfen wurde. Sie drehte sich um und sah in Ted Austens grinsendes Gesicht. Ted war der Familienchauffeur und tat immer wichtig, weil er ein Automobil fahren durfte und im Dienst Kniehosen und Schirmmütze trug. Julie konnte ihn nicht leiden. Er hielt sich für den Traum aller Frauen und versuchte Julie bei jeder Gelegenheit anzufassen. Sie wollte ihn ignorieren, aber er packte sie um die Taille und drehte sie so, dass sie hinter das Laken zu stehen kam, legte die Arme um sie und begann, sie zu küssen.
»Hör auf, Ted«, sagte sie und wehrte sich nach Kräften.
»Ich soll aufhören? Das ist doch nicht dein Ernst. Seit Wochen wirfst du mir schmachtende Blicke zu, wann immer du mich siehst. Glaub nicht, dass mir das nicht aufgefallen wäre.«
»Das stimmt nicht.« Sie wusste zwar nicht genau, was »schmachtend« bedeutete, aber sie konnte es sich denken. »Warum in aller Welt sollte ich?«
»Weil du gegen ein bisschen Knutschen nichts einzuwenden hättest. Da du ganz passabel aussiehst, bin ich dir doch gern zu Diensten. So, schau.« Er drückte den Mund auf ihren und fummelte gleichzeitig nach ihrem Rocksaum. Sie tat ihr Bestes, ihn abzuwehren. Sie konnte ihn zwar dazu bringen, den Kopf zu heben, aber dafür packte er sie nur noch fester, und er war weit stärker als sie. Als sie seine warme Hand auf dem Oberschenkel über ihrem Strumpf spürte, schrie sie so laut, dass er ihren Rock losließ und ihr die Hand auf den Mund schlug. »Wirst du wohl aufhören! Du willst doch nicht, dass das ganze Haus angelaufen kommt.« Genau das war zwar ihre Absicht gewesen, aber wie wenig ihr das nützen würde, wurde ihr klar, als er hinzufügte: »Sie würden dir sowieso nicht glauben, nicht, wenn ich ihnen sage, dass du mit mir geschäkert hast. Du kommst aus dem Waisen- heim, und das heißt, dass du für alles ...«
Unvermittelt wurde er von ihr weggezogen. Sie war aus seinem Griff befreit und sah, wie er einen Fremden abzuwehren versuchte, der offenbar von der kleinen Straße hinter dem Haus durch die rückwärtige Pforte in den Garten gekommen war. Vor ihren entsetzten Augen versetzte der Fremde Ted einen Hieb, sodass er zu Boden sackte, Blut strömte ihm aus der Nase.
»Das wird dir noch leidtun, Julie Monday«, murrte er und rappelte sich auf. »Niemand legt es sich mit mir an, ohne dafür zu büßen, und ich meine wirklich niemand. Das wirst du teuer bezahlen, wart's nur ab.« Er drückte sich ein Taschentuch auf die Nase, verschwand durch die Pforte und ging zu der Garage, die in dem Sträßchen stand.
Der Fremde drehte sich zu ihr. »Julie Monday«, sagte er lachend. »Das sind ja wirklich Sie.«
Verwundert sah sie ihn an. »Ja, aber ...«
»Sie erinnern sich nicht an mich, stimmt's? Ich bin Harry Walker. Wir haben uns einmal am Meer getroffen. Guter Gott, wie viele Jahre ist das schon her? Zehn mindestens.«
»Harry!« Sie schaute zu dem jungen Mann hoch, der sie unverwandt ansah. Er war groß, kräftig gebaut und gut gekleidet. Sein kastanienbraunes Haar sah leicht zerzaust aus, und seine Krawatte saß etwas schief. Als sie näher hinsah, erkannte sie die bernsteinfarbenen Augen und das fröhliche Lächeln. Vor Freude strahlte sie ihn an. »Ich hätte nie gedacht, dass ich Sie noch einmal wiedersehen würde.«
»Ich auch nicht. Wie ist es Ihnen ergangen? Arbeiten Sie hier?«
»Ja, als Kindermädchen. Das Haus gehört Sir Bertram Chalfont.«
»Ich weiß. Gefällt es Ihnen?«
»Es ist ganz in Ordnung. Und was machen Sie?«
»Ich arbeite mit meinem Vater in Chalfonts Fabrik und besuche die Abendschule, um Ingenieur zu werden.«
»Was verschlägt Sie in diese Gegend?«
»Ich war auf dem Heimweg von einem Fußballspiel und habe Sie um Hilfe rufen hören. Zum Glück. Ist alles in Ordnung? «
»Ja, jetzt schon.«
»Werden Sie der Herrschaft davon erzählen?«
»Das wäre sinnlos. Sie würden mir nicht glauben, vor allem Lady Chalfont nicht. Ted Austen gehört zu ihren Lieblingen, weil er vor ihr katzbuckelt. Zu Sir Bertram zu gehen, traue ich mich nicht. Ich muss einfach versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen.«
»Ja, tun Sie das. Solche Burschen sind gefährlich.«
Sie hatte keine Lust, über Ted Austen zu reden. »Ich kann nicht fassen, dass es wirklich Sie sind.«
»Mir geht es genauso.« Er schaute sie an. Das ungelenke Mädchen mit den allzu langen Armen und Beinen war zu einer anziehenden jungen Frau mit einer wunderbaren Figur geworden. Zweifellos dank der besseren Ernährung, die sie bei Sir Bertram bekam. Ihr dünnes blondes Haar war fester und länger geworden und halb unter einer weißen Haube verborgen, ganz ähnlich derjenigen, die sie als Achtjährige getragen hatte. Er wollte mehr von ihr erfahren. Wie war es ihr seit der letzten Begegnung ergangen? Wie kam es, dass sie bei Sir Bertram arbeitete? »Was meinen Sie, sollen wir uns nicht treffen? Ich würde gern hören, was Sie in der Zwischenzeit alles gemacht haben, was in Ihrem Leben passiert ist. Haben Sie manchmal einen Tag frei?«
»Ja, einen Tag die Woche.«
»Was machen Sie dann?«
»Wenn es schön ist, gehe ich meistens spazieren, manchmal im Regent's Park, manchmal im Hyde Park.«
»Und wenn es regnet?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Wenn es ein Sonntag ist, bleibe ich in meinem Zimmer oder gehe ins Café. Wenn es ein Wochentag ist, gehe ich in die Bücherei oder besuche ein Museum, meist das Victoria and Albert. Manchmal, wenn ich ein paar Pennies übrig habe, gehe ich zu einer Matinee im Lichtspielhaus - irgendetwas, wo ich nicht im Freien bin.«
»Unter der Woche kann ich Sie nicht treffen, aber vielleicht an einem Wochenende? Das heißt, wenn Sie möchten.«
»Oh ja, das würde mir gut gefallen. Diesen Sonntag habe ich frei.«
»Gut. Dann treffen wir uns um zwei Uhr am Speakers' Corner im Hyde Park.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und richtete sich die Krawatte. »Wenn Sie sicher sind, dass alles in Ordnung ist, dann gehe ich jetzt. Wir sehen uns am Sonntag.«
Sobald er fort war, kam sie sich wieder schutzlos vor. Sie beeilte sich, die restliche Wäsche aufzuhängen. Dabei schaute sie sich ständig um für den Fall, dass Ted wieder auftauchte. Sobald sie sich wieder in der Sicherheit der Kinderzimmer befand, ließ sie sich auf ein Bett fallen. Miss Thomas ging gerade mit ihren Schützlingen im Park spazieren. Sie konnte sich einen Moment ausruhen, obwohl ein Berg Bügelwäsche auf sie wartete. Im Gegensatz zum Waisenheim, wo die Plätteisen auf dem Ofen erhitzt worden waren, gab es bei Sir Bertram ein feudales elektrisches Bügeleisen.
Ted Austens Zudringlichkeit hatte sie erschüttert, außerdem machte sie sich Sorgen wegen seiner Drohung. Sie fragte sich, was er ihr wohl antun könnte, aber dann gab sie sich lieber Tagträumen über Harry Walker hin. Er war ein erwachsener Mann, gut aussehend obendrein. Doch sie ahnte, dass er hinter der Fassade noch derselbe Junge war, der sich vor all den Jahren ihrer angenommen hatte. Dass er sich an sie erinnerte! Aber das hing natürlich mit dem Namen zusammen, den vergaß niemand.
Sie hoffte, dass es am Sonntag schön sein würde. Sie freute sich schon, ihn zu sehen und mit ihm reden. Aber sie würde niemandem davon erzählen, denn so etwas war sicher verboten. Sie erinnerte sich an eine Moralpredigt, die Lady Chalfont ihr gleich nach ihrer Ankunft im Haus gehalten hatte, etwas in der Art, sie dürfe keinen Galan haben. Sie hatte nicht gewusst, was ein Galan ist, sich aber nicht getraut nachzufragen. In der Zwischenzeit hatte sie allerdings herausgefunden, dass ihre Vorgängerin wegen eines Galans entlassen worden war. Das heißt, sie hatte einen Verehrer gehabt, mit dem sie an ihrem freien Tag ausgegangen war, und der hatte ihr ein Kind gemacht. Harry war kein Verehrer, sondern lediglich ein Bekannter. Aber sie traf sich an ihrem freien Tag mit ihm, also musste die Sache geheim bleiben. Innerlich strahlte sie vor Glück und ging ihrer Arbeit mit neuem Schwung nach.
Julies Gebete um schönes Wetter wurden erhört. Angetan mit dem einzigen Kleidungsstück, das keine Uniform war,
einem wadenlangen Kleid aus blauer Baumwolle mit weißen Streublumen, machte sie sich auf den Weg zum Hyde Park. Dazu trug sie eine wollene Strickjacke und einen winzigen Filzhut, der schräg auf dem Kopf saß und mit einer Hutnadel festgesteckt worden war. An einem Sonntagnachmittag war er voller Menschen, die dort spazieren gingen, Ball spielten, im Serpentine-See schwammen, die Rotten Row auf und ab ritten und den Rednern zuhörten, die auf ihren Seifenkisten standen und sich bei ihrem leidenschaftlichen Vortrag über ihr jeweiliges Steckenpferd an Lautstärke zu übertrumpfen versuchten. Julie bemerkte sie kaum. Sie eilte zu ihrem Rendezvous und suchte mit den Augen nach dem jungen Mann, den sie als ihren Retter betrachtete. Und da stand er in einem braunen Anzug und mit einer Melone, die er zog, als sie näher kam. Darüber musste sie lachen, eine solche Höflichkeit war sie nicht gewohnt. »Sie sind ja gekommen«, sagte er.
»Warum sollte ich nicht?«
»Sie hätten denken können, dass ich so schlecht bin wie der Kerl, der Sie angefallen hat.«
»Ich weiß doch, dass Sie das nicht sind. Er ist ein widerwärtiger Bursche, und Sie sind ... Sie sind nett.«
Harry lachte laut. So kess diese junge Dame auch war, war ihr jede Koketterie doch fremd - diese Kunst, etwas zu sagen und etwas anderes zu meinen, sich zu zieren. Er musste aufpassen, ihren naiven Glauben nicht zu zerstören. »Ach ja, ich bin nett? Woher wissen Sie das?«
»Das weiß ich eben. Sie sind doch Harry.« Als würde das seine Frage beantworten.
»Worauf hätten Sie denn Lust?«
»Auf alles. Gehen wir doch spazieren und unterhalten uns dabei. Ich möchte alles von Ihrem Leben erfahren. Leben Sie noch mit Ihrem Bruder und Ihrer Schwester bei Ihren Eltern?«
Nebeneinander gingen sie her, in welche Richtung, schien beiden gleichgültig zu sein. »Sie erinnern sich daran?«
»Ja, ich erinnere mich an alles, was Sie gesagt haben. Wissen Sie, das war ein famoser Tag, an dem wir uns getroffen haben. Ich habe ihn nie vergessen.«
»Ich auch nicht. Sind Sie nach dem Heimkommen bestraft worden?«
»Ich wurde einen ganzen Tag lang in den Schrank gesperrt. Es war dunkel, überall waren Spinnen, und ich konnte die Mäuse hinter der Scheuerleiste hören. Ich habe mich gefürchtet, aber ich habe mir immer wieder gesagt, dass es nichts ausmacht, weil sie mir den Tag ja nicht mehr nehmen können, oder? Nicht, nachdem ich ihn gehabt hatte.«
»Nein.« Sie war eine merkwürdige Mischung von Naivität und Weisheit, halb Frau, halb Kind. Das gefiel ihm. »Wurden Sie oft in den Schrank gesperrt?«
»Nicht oft, nur für ganz schlimme Sachen.«
»Was war denn so schlimm daran, im Meer zu waten?«
»Es war nicht das Waten, sondern dass ich mit Ihnen gesprochen habe und Sie meine bloßen Beine gesehen haben.«
Er lachte. »Wussten die Lehrer auch, dass Sie Ihren Rock in Ihren Schlüpfer gesteckt haben?«
»Gott sei Dank nicht, aber es ist nicht freundlich von Ihnen, mich daran zu erinnern. Damals wusste ich noch nicht, was sich gehört.«
»Aber jetzt schon?«
»Oh ja. Mich mit Anstand zu benehmen ist mir eingebläut worden.« Sie lachte. »Ich glaube, im Augenblick benehme ich mich auch nicht mit Anstand.«
»Wen stört's?«
Julie auf jeden Fall nicht. Sie hakte sich bei ihm ein und fragte ihn aus. So erfuhr sie, dass er mit Hilfe eines Stipendiums das Gymnasium besucht hatte und an einer Hochschule hätte studieren können. Er hatte dann aber beschlossen, lieber einen praktischen Beruf zu ergreifen und nebenbei die Abendschule zu besuchen. Deswegen hatte er eine Stelle bei den Chalfont Engineering Works angenommen. »Wir stellen Rundfunkgeräte her«, sagte er. »Wenn ich meinen Abschluss
gemacht habe, werde ich befördert.«
»Dann werden Sie ein wichtiger Mann sein.«
»Wie nett, dass Sie das sagen.«
Beim Gehen unterhielten sie sich weiter. Julie erfuhr, dass sein Bruder Roland an der Cambridge University studierte und das Fliegen lernte, was er für den Fall eines Kriegs als sehr nützlich erachtete. In Spanien gab es Bürgerkrieg, und Roland sei wie viele andere der Meinung, dass der Krieg auf ganz Europa übergreifen würde, wo doch Herr Hitler seine strammen Reden hielt und dem deutschen Volk die ganze Welt versprach. Millie ging mit einem jungen Mann aus, den sie auf einem Ball kennengelernt hatte, und würde zweifellos bald ihre Verlobung bekanntgeben. Seine Mutter sei deswegen recht aufgeregt.
Julie ihrerseits erzählte Geschichten aus ihrem Leben im Coram, das bald, nachdem sie und Harry sich begegnet waren, in ein Kloster in Surrey umgezogen war. »Im letzten Jahr sind wir in ein neues Gebäude in Berkhamsted gezogen«, sagte sie. »Früher habe ich mich manchmal mit den anderen Mädchen getroffen, aber mittlerweile habe ich keinen Kontakt mehr zu ihnen.«
»Sind Sie schon lange bei Sir Bertram?«
»Seit vier Jahren, seitdem ich das Waisenheim verlassen habe.«
»Gefällt es Ihnen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist in Ordnung. Aber was ich tue, wenn die Kinder kein Mädchen mehr brauchen, weiß ich nicht. Bernard wird auf ein Internat kommen, und Emily soll zu Hause unterrichtet werden, das haben sie mir zumindest gesagt. Sie wird eine Gouvernante bekommen.«
»Es sollte Ihnen nicht schwerfallen, eine andere Stelle zu finden. Sir Bertram wird Ihnen bestimmt ein gutes Zeugnis ausstellen.«
»Wenn ich mir nichts zuschulden kommen lasse.«
Mit Harry zu reden, fiel ihr leicht. Er hörte aufmerksam zu und unterbrach sie bisweilen mit einer Frage oder einer Bemerkung.
Der Nachmittag verging wie im Flug. Er brachte sie nach Hause, aber am Ende der Straße bat sie ihn, sie nicht weiter zu begleiten. »Das letzte Stück gehe ich besser allein. Es darf mich niemand mit Ihnen sehen.«
»Warum nicht? Dürfen Sie an Ihrem freien Tag nicht tun, wozu Sie Lust haben?«
»Ich darf keinen Galan haben.«
Er lachte. »Ich bin doch nicht galant, ich bin ganz ehrlich zu Ihnen.«
»Ja, aber das Kindermädchen vor mir wurde deswegen entlassen. Er hat sie in andere Umstände gebracht.«
»Das würde ich nie tun, Julie, das verspreche ich Ihnen.«
»Das weiß ich, aber das würden die anderen nicht verstehen. «
Sie verabredeten sich für den kommenden Sonntag. Während Julie ihre allabendlichen Aufgaben erledigte, fragte sie sich, ob Harry wohl als Galan gelten würde. Sie musste vorsichtig sein.
Und sie war vorsichtig. Jede Woche trafen sie und Harry sich, den ganzen Sommer hindurch bis in den Winter hinein. Dann trug sie einen braunen Mantel aus Tweed, den sie am Markt bei einem Händler für Kleidung zweiter Hand erstanden hatte. Sie gingen im Hyde Park spazieren oder besuchten den Zoo im Regent's Park. Manchmal suchten sie in einem Museum oder einer Galerie Zuflucht vor den Elementen, was Julies Bildung erweiterte. Das traf auch auf die Ankunft der Jarrow-Demonstranten zu, die an einem nassen Oktobersonntag in London eintrafen. Im Jahr zuvor war in Nordengland die Jarrow-Schiffswerft geschlossen worden, Tausende von Männern waren arbeitslos geworden, ihre Familien litten große Not. Sie hatten rund vierhundertfünfzig Kilometer zu Fuß zurückgelegt, zur Begleitung vieler Mundharmonikas Lieder gesungen und unterwegs bei ihnen wohlgesinnten Menschen übernachtet. Was die Bevölkerung begeisterte, war die schiere Leistung der hungrigen, schlecht gekleideten Männer, nicht die Sache, deretwegen sie den Marsch unternommen hatten. Doch sie erreichten kaum etwas. Durch sie wurde Julie aber bewusst, dass sie von Glück reden konnte, eine Arbeit zu haben, so schlecht sie auch bezahlt sein mochte, und ein warmes Dach über dem Kopf.
Einmal trieb der Regen sie in die Westminster Abbey, wo Julie länger am Grab des unbekannten Soldaten stehen blieb. »Das könnte mein Vater gewesen sein«, sagte sie nachdenklich. »Ich glaube, das stelle ich mir so vor.«
Lächelnd drückte er ihren Arm. »Warum nicht?«
Sie sprachen über den Tod König Georgs im vergangenen Januar und über seinen Nachfolger, Eduard viii., und fragten sich, welche Art König er wohl werden würde. Wie sich herausstellte, blieb er nicht lange König. Im Dezember dankte er ab, um die zweifach geschiedene Wallis Simpson zu heiraten. Sie war für den Großteil der britischen Bevölkerung nicht akzeptabel, ganz zu schweigen von der Geistlichkeit. Eduard wurde Herzog von Windsor, und im Sommer 1937 wurde sein Bruder zu König Georg vi. gekrönt. Harry und Julie standen mit allen anderen am Straßenrand, um das Königspaar in der großen goldenen Staatskutsche vorbeifahren zu sehen, gefolgt von einer weiteren Kutsche mit den kleinen Prinzessinnen und einer ganzen Prozession von Wagen, in denen die diversen Würdenträger saßen. Alle, die die Straßen säumten, winkten begeistert mit ihren Fähnchen.
Gelegentlich bekam Julie auch einen Abend frei, und dann gingen sie ins Kino und lachten über Charlie Chaplin oder die Keystone Cops und sahen Wochenschauen von den Ereignissen in Europa. Der spanische Bürgerkrieg tobte noch immer, Hitler hatte seine Muskeln spielen lassen und die entmilitarisierte Zone im Rheinland besetzt, ohne dass jemand ihn daran gehindert hätte. Mussolini wurde zu einer Macht, mit der in Italien zu rechnen war. Das alles erfüllte die Politiker mit großer Besorgnis, doch Dinge, die in so weiter Ferne passierten, spielten für Julie keine Rolle. Harry wollte ihr Glück nicht trüben und ihr von seinen Befürchtungen erzählen.
Für Julie bekam das Leben ganz neue Dimensionen, ihr Horizont erweiterte sich. Sie fühlte sich lebendig und hatte nicht mehr das Gefühl, am Rand zu stehen, sondern Teil von allem zu sein - vor allem, wenn sie mit Harry zusammen war, den sie vergötterte. Sie wollte nicht, dass ihr Glück je ein Ende fand. Er wollte es auch nicht. Und doch fand es ein Ende, woran allein Ted Austen Schuld hatte.
Julie hatte nach Kräften versucht, ihm aus dem Weg zu gehen, aber manchmal stießen sie in der Küche oder im Garten aufeinander. Dann warf er ihr einen bösen Blick zu und sagte, er habe die Prügel nicht vergessen, die er ihretwegen bezogen habe, und die müssten gerächt werden. Es würde ihr noch leidtun. »Nicht so leid wie dir, wenn du mich noch einmal anrührst«, gab sie einmal zurück.
»Ach, und wer soll mich daran hindern?«
»Derselbe, der dich schon einmal daran gehindert hat.« Noch während sie das sagte, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Zur Antwort grinste er nur hämisch.
Als sie am folgenden Sonntag von ihrem Treffen mit Harry zurückkam, wurde sie in Lady Chalfonts Salon gerufen. Etwas beklommen betrat sie den Raum. Sie wusste nicht, was sie erwarten sollte.
»Meines Wissens hast du dich an deinem freien Nachmittag mit einem jungen Mann getroffen«, sagte Ihre Ladyschaft. »Du weißt, dass es den Bediensteten ausdrücklich verboten ist, einen Galan zu haben, insbesondere Bedienstete wie du, deren Herkunft zweifelhaft ist. Ich hatte immer meine Bedenken, dich bei uns arbeiten zu lassen, aber Sir Bertram sagte, wir sollten einer Insassin des Waisenheims die Möglichkeit geben, ihr Glück zu machen. Jetzt sieht man, was dabei herauskommt.«
© 2014 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Mary Nichols
Mary Nichols wurde in Singapur geboren, lebt aber seit ihrem dritten Lebensjahr in England. Sie ist verheiratet, hat drei Kinder und vier erwachsene Enkel. Mary Nichols schreibt seit 28 Jahren historische Romane und Familiensagas. Von ihren bisher 36 Romanen landeten viele auf den Bestsellerlisten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mary Nichols
- 2013, 1, 368 Seiten, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 386365773X
- ISBN-13: 9783863657734
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