Insel des Sturms / Sturm Trilogie Bd.1
Roman
Aidan Gallagher verliebt sich im Pub in seinem irischen Heimatdorf in eine unbekannte, schöne Frau: Jude. Er beginnt, ihr Geschichten von den Geheimnissen Irlands zu erzählen. Und Jude merkt bald, dass Aidan auf rätselhafte Weise ihre Seele berührt.
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Insel des Sturms / Sturm Trilogie Bd.1 “
Aidan Gallagher verliebt sich im Pub in seinem irischen Heimatdorf in eine unbekannte, schöne Frau: Jude. Er beginnt, ihr Geschichten von den Geheimnissen Irlands zu erzählen. Und Jude merkt bald, dass Aidan auf rätselhafte Weise ihre Seele berührt.
Klappentext zu „Insel des Sturms / Sturm Trilogie Bd.1 “
Im wahrsten Sinne des Wortes bezaubernd!Aidan Gallagher kehrt nach Jahren des Reisens in sein kleines irisches Heimatdorf zurück, um den Pub seines Vaters zu übernehmen. Wie magnetisch wird er von einer unbekannten, schönen Frau - Jude Murray - angezogen. Vorsichtig beginnt er, die Fremde mit Geschichten von den Geheimnissen Irlands zu umwerben. Und bald stellt Jude fest, dass dieser Mann mit den Augen eines irischen Sturms sie nicht nur fasziniert, sondern auch auf tiefe, rätselhafte Weise ihre Seele berührt ...
Lese-Probe zu „Insel des Sturms / Sturm Trilogie Bd.1 “
Insel des Sturms von Nora Roberts1
... mehr
Ganz offensichtlich, gar keine Frage, war sie übergeschnappt! Als Psychologin sollte sie es wissen.
Sämtliche Zeichen waren da, und zwar bereits seit Monaten. Die Gereiztheit, die Übellaunigkeit, der Hang zu Tagträumen und die Vergesslichkeit. Der Mangel an Motivation, an Energie, an der normalerweise für sie typischen Zielstrebigkeit.
Ihre Eltern hatten sich bereits in der ihnen eigenen milden Art, die besagen sollte, Du-kannst-es-besser-Jude, dazu geäußert. Und ihre Kollegen bedachten sie inzwischen mit verstohlenen Seitenblicken voll des stummen Mitleids oder des missbilligenden Unbehagens. Sie hatte begonnen, ihre Arbeit und ihre Studenten zu verabscheuen; bei ihren Freunden, Verwandten, Mitarbeitern und Vorgesetzten deckte sie permanent Dutzende störender Eigenschaften auf.
Allmorgendlich empfand sie die einfache Pflicht des Aufstehens und sich für den Unterricht Ankleidens als ebenso beschwerlich wie das Erklimmen eines Bergs. Und zwar eines Bergs, den sie weder aus der Ferne sehen noch mühselig erklimmen wollte.
Dazu kam dieses unbesonnene, impulsive Verhalten, das sie seit einer Weile an den Tag legte. O ja, dieses Verhalten war das Beunruhigendste von allem. Die stets ach so gelassene, nüchterne Jude Frances Murray, einer der kräftigsten Äste des Stammbaums der Chicagoer Murrays, die stets ach so vernünftige und arbeitswillige Tochter des Ärztepaares Linda und John K. Murray, schmiss plötzlich ihren Job hin.
Sie hatte weder ein Forschungssemester genommen noch um ein paar Wochen Urlaub gebeten, sondern einfach mitten im Semester ihren Posten an den Nagel gehängt.
Warum? Totaler Blackout!
Ihr Verhalten schockierte sie selbst ebenso wie den Dekan, ihre Kollegen und Eltern.
Hatte sie vor zwei Jahren, als ihre Ehe in die Brüche gegangen war, derart heftig reagiert? Nein, natürlich nicht. Sie war stoisch mit ihrer täglichen Routine fortgefahren wie zuvor - hatte ihre Vorlesungen abgehalten, ihre Studien weitergeführt, ihre Termine wahrgenommen - und das alles, ohne mit der Wimper zu zucken - selbst in den Wochen, in denen sie regelmäßig zu ihrem Anwalt geschlurft war und sorgsam die Papiere ausgefüllt hatte, die das Ende einer Beziehung besiegelten.
Nicht dass es eine besonders innige Verbindung gewesen wäre oder dass die Anwälte viel Arbeit gehabt hätten. Eine Ehe von nicht einmal acht Monaten Dauer bedeutete wenig Durcheinander, wenig Probleme. Wenig Leidenschaft.
Leidenschaft, so nahm sie an, hatte von Anfang an gefehlt. Hätte sie auch nur die geringste Leidenschaft gezeigt, hätte William sie ganz sicher nicht, beinahe noch ehe die Blumen aus ihrem Brautstrauß verwelkt waren, einer anderen Frau wegen verlassen.
Aber es war sinnlos, jetzt noch darüber nachzugrübeln, dachte sie. Hier handelte es sich um Jude Frances. Oder das hatte es jedenfalls, verbesserte sie sich. Wer sie jetzt war, wusste bestenfalls der liebe Gott.
Vielleicht stellte diese Frage einen Teil des Ganzen dar, überlegte sie. Sie hatte am Rande eines Abgrundes gestanden, hatte hinabgesehen in das weite, dunkle Meer der Gleichförmigkeit, der Monotonie, der Langeweile - das Miss Murray seit ihrer Geburt verkörperte. Heftig hatte sie mit den Armen gerudert, war von dem Abgrund zurückgestolpert - und schreiend davongerannt.
Für sie eine vollkommen untypische Reaktion.
Bereits der Gedanke an ihr verändertes Verhalten versetzte ihr derartige Stiche, dass sie sich fragte, ob sie vielleicht, um die ganze Sache abzukürzen, einfach einen Herzinfarkt bekam.
AMERIKANISCHE COLLEGEPROFESSORIN TOT IN GEMIETETEM VOLVO AUFGEFUNDEN
Es wäre ein seltsamer Nachruf. Vielleicht erschiene er ja sogar in der von ihrer Großmutter so geliebten Irish Times. Ihre Eltern wären natürlich vollkommen niedergeschmettert. Es wäre ein derart unordentlicher, öffentlicher, peinlicher Tod. Mehr als unpassend!
Natürlich waren sie auch traurig, aber vor allem verwirrt. Was, in aller Welt, hat sich das Mädchen nur dabei gedacht, einfach nach Irland abzuhauen und eine viel versprechende Karriere sowie eine herrliche Wohnung mit Seeblick aufzugeben?
Sicher kämen sie zu dem Ergebnis, das alles wäre die Folge von Omas unseligem Einfluss.
Und natürlich hätten sie mit der Vermutung Recht - so wie sie immer in allem Recht gehabt hatten, seit die Tochter infolge ihrer äußerst geschmackvollen Partnerwahl genau ein Jahr nach ihrer Hochzeit auf die Welt gekommen war.
Obgleich sie lieber nicht darüber nachdachte, war Jude sicher, dass das körperliche Zusammensein ihrer Eltern ebenso wie die genannte Partnerwahl immer äußerst geschmackvoll und präzise verlief. Genau wie die sorgsam choreografierten, traditionellen Ballettvorführungen, die sie beide so gerne besuchten.
Aber weshalb saß sie hier in einem gemieteten Volvo, dessen dämliches Lenkrad auch noch auf der falschen Seite saß, und dachte an das Liebesleben ihrer Eltern?
Jude presste ihre Finger auf die Augen, bis das Bild allmählich verschwand.
Das, sagte sie sich müde, war genau die Art von Bildern, die man sah, wenn man verrückt wurde.
Sie atmete tief ein. Sauerstoff reinigte und beruhigte das Gehirn. So, wie sie die Sache sah, hatte sie folgende Alternativen: Entweder zerrte sie ihre Koffer aus dem Auto, ging zurück in den Dubliner Flughafen, drückte die Wagenschlüssel der Mietwagenfirma-Angestellten mit dem karottenroten Haar und dem kilometerbreiten Lächen wieder in die Hand und buchte sofort den Rückflug.
Natürlich hatte sie keinen Job mehr, aber sie käme sicher eine Zeit lang mit ihren beachtlichen Ersparnissen zurecht. Auch ihr Apartment war sie los, da sie es für sechs Monate an dieses nette Pärchen vermietet hatte, aber wenn sie nach Hause zurückflöge, nähme bestimmt Oma sie erst mal bei sich auf.
Und sähe sie mit ihren wunderschönen vergissmeinnichtblauen Augen traurig an. Jude, Liebling, du wagst dich immer nur bis an den Rand deiner Wünsche. Weshalb tust du nie den letzten, endgültigen Schritt?
» Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.« Elend hob Jude die Hände vors Gesicht und wiegte sich müde hin und her. »Es war deine Idee, dass ich hierher fliegen sollte, nicht meine. Was soll ich denn während der nächsten sechs Monate im Faerie Hill Cottage, in deinem alten Häuschen auf dem Feenhügel, bitte anfangen? Ich weiß ja nicht mal, wie man dieses verdammte Auto steuert.«
Noch eine weitere Klage und sie bekäme einen Heulkrampf. Sie spürte, wie das Wasser in ihrer Kehle aufstieg und wie es in ihren Ohren rauschte; doch ehe die erste Träne Gelegenheit hatte zu kullern, ließ sie den Kopf nach hinten sinken, kniff die Augen fest zusammen und verfluchte sich für ihren Mangel an Beherrschung. Heulkrämpfe, Wutanfälle, Sarkasmus und andere Arten unerfreulichen Benehmens waren einfach verschiedene Wege, die Dinge zu dramatisieren. Auf Grund ihrer Erziehung und Ausbildung erkannte sie die Anzeichen. O nein, sie gäbe dem Aufruhr in ihrem Inneren nicht nach!
»Das ist dann wohl jetzt das nächste Stadium, Jude, du jämmerliche Närrin! Sprichst mit dir selbst und sitzt jammernd in einem Volvo herum, weil du zu unentschlossen, verdammt, zu gelähmt bist, um den Schlüssel im Zündschloss herumzudrehen und ganz einfach loszufahren.«
Vorsichtig atmete sie aus und straffte die Schulter. »Zweite Möglichkeit«, murmelte sie. »Führ zu Ende, was du nun mal begonnen hast.«
Sie startete den Motor, sandte ein leises Stoßgebet gen Himmel, dass sie auf der Fahrt niemanden - auch sich selbst nicht - umbrächte oder verletzte, und rollte dann langsam vom Parkplatz auf die Straße.
Um nicht jedes Mal zu schreien, sobald sie an einen der von den Iren so fröhlich »Rundherums« genannten Kreisverkehre gelangte, sang sie leise vor sich hin. Immer wenn ihr schwindlig wurde, sie mal wieder links mit rechts verwechselte und um ein Haar irgendwelche unschuldigen Fußgänger über den Haufen fuhr, sang sie, welches Lied ihr in ihrem Entsetzen auch momentan durch den Kopf schoss.
Auf dem Weg von Dublin bis hinunter in die Grafschaft Waterford grölte sie Filmmusik, brüllte irische Trinklieder, und jaulte - infolge eines Beinahe-Zusammenstoßes kurz hinter Carlow - derart lautstark den Refrain von »Brown Sugar«, dass Mick Jagger, hätte er es gehört, sicher vor Neid erblasst wäre.
Dann wurde der Verkehr ein wenig ruhiger. Vielleicht hatte sie mit ihrem Lärm die Götter des Straßenverkehrs ausreichend schockiert, sodass sie aufhörten, ihr andere Wagen in den Weg zu schleudern - vielleicht aber war es auch der segensreiche Einfluss der allgegenwärtigen der Heiligen Jungfrau gewidmeten Mariensäulen - jedenfalls wurde das Fahren ein wenig angenehmer und Jude fing beinahe an, die Strecke und die Umgebung zu genießen.
Woge um Woge grüner Hügel schimmerten im Sonnenlicht, das sich glühend wie das Innere einer Muschel weiter und weiter bis in die Schatten hoher Berge fortsetzte, diese hoben sich vor dem mit rauchigen Wolken behangenen, perlmuttfarbenen Himmel dunkel ab - alles eher auf ein Gemälde als in die Wirklichkeit gehörend.
Das Gemälde fand sie so schön, dass sie nach längerem Hinschauen das Gefühl bekam, sie glitte mitten hinein, verschmelze mit den Farben, den Formen, der Szene, die irgendein Meister mit Brillanz kreiert hatte.
Genau das sah sie, wenn sie es wagte, die Augen von der Straße zu erheben. Brillanz und eine überwältigende, betörende Schönheit, die einem das Herz, noch während man ihm gut zuredete, förmlich zerriss.
Grüne, unglaublich grüne Felder wurden von uralten rauen Hecken oder knorrigen, windgebeugten Bäumen unterbrochen, gefleckte Kühe oder zerzauste Schafe zupften gemächlich an den Grashalmen, Menschen auf Traktoren tuckerten gemütlich darüber hinweg. Hier und da standen kleine, weiß oder cremefarben getünchte Häuser, in deren Gärten frische Wäsche flatterte und vor deren Türen wilde, leuchtend bunte Blumen wucherten.
Dann ragten wunderbar und massiv die verfallenen Gemäuer einer alten Abtei, wenn auch nur Überreste, so doch stolz, in den blendend hellen Himmel - als warteten sie auf ihre Renaissance.
Was würdest du empfinden, wenn du dieses Feld überqueren und die glitschigen Stufen zu der alten Brustwehr erklimmen würdest, überlegte Jude. Würdest, oder besser könntest du die Jahrhunderte spüren, während derer die Füße anderer Menschen dieselben Stufen hinaufgeklettert sind? Würdest du, wie Großmutter behauptet, die Musik und die Stimmen, das Klirren alter Waffen, das Schluchzen von Frauen, das Gelächter von Kindern vernehmen, das bereits vor langer Zeit verklungen ist?
Natürlich glaubte sie nicht an solche Dinge. Aber hier, in diesem Licht, in dieser Luft, erschien es doch irgendwie möglich.
Das endlos grüne Land bot dem Betrachter einfach alles, von alter, längst vergangener Pracht bis hin zu reizvoll beständiger Schlichtheit: strohgedeckte Dächer, steinerne Kreuze, Burgen, dann wieder Dörfer mit engen, gewundenen Straßen und Schildern in gälischer Sprache.
Einmal sah sie einen alten Mann, der mit seinem Hund die Böschung entlang spazieren ging, wo das Gras bis zu den Knöcheln reichte und ein kleines Schild vor Rollsplitt warnte. Zu Judes großer Freude hatten sowohl Mann als auch Hund identische braune Hütchen auf dem Kopf. Sie behielt das Bild lange im Kopf und beneidete die beiden um ihre Freiheit und natürliche Zusammengehörigkeit.
Sicher gingen sie jeden Tag denselben Weg und kehrten dann, ob Regen oder Sonnenschein, zum Tee zurück in ein romantisches Cottage mit reetgedecktem Dach und einem sorgsam gepflegten Vorgarten. Bestimmt hatte der Hund seine eigene kleine Hütte, aber normalerweise läge er wohl zusammengerollt zu Füßen seines Herrn vor dem Kamin.
Auch sie liefe gern mit einem derart treuen Freund über diese Felder. Laufen und laufen, bis sie sich setzen wollte. Würde sitzen und sitzen, bis sie wieder aufstehen wollte. Dies war eine Vorstellung, die sie verwirrte. Zu tun, was sie wollte, wann sie es wollte, in ihrem eigenen Tempo und auf ihre eigene Weise.
Diese einfache, alltägliche Freiheit war ihr vollkommen fremd. Aber sie fürchtete auch, sie am Ende zu finden, ihr silbriges Ende mit den Fingerspitzen zu berühren und dann wieder zu verlieren.
Da sich die Straße wie ein schmales braunes Band entlang der Waterford'schen Küste Richtung Süden schlängelte, erhaschte Jude immer wieder einen Blick aufs Meer, das seine blaue Seide mit dem Horizont verwob oder in turbulentem Grün und Grau gegen einen breiten, sanft geschwungenen Sandstrand klatschte.
Die Anspannung zwischen ihren Schulterblättern nahm ein wenig ab, und ihre Hände umfassten das Lenkrad etwas lockerer. Dies war das Irland, von dem ihre Großmutter zu sprechen, dies waren die Farben, die Dramatik, der Frieden, von denen sie zu schwärmen pflegte. Und dies, so dachte Jude, genau diese Dinge hatten sie bewogen zu kommen: um zu sehen, wo ihre Familie, ehe man ihre Wurzeln ausgerissen und auf der anderen Seite des Atlantiks wieder eingepflanzt hatte, verwachsen gewesen war.
Sie war froh, dass sie nicht bereits auf dem Flughafen kehrtgemacht und einen Platz in der nächsten Maschine zurück nach Chicago gebucht hatte. Hatte sie nicht den Großteil der dreieinhalbstündigen Fahrt ohne ein einziges Missgeschick hinter sich gebracht? Abgesehen von der kleinen Panne an dem Kreisverkehr in Waterford City, wo sie dreimal rundherum gefahren war und sich schließlich um ein Haar in einen Wagen mit ebenso hilflosen Touristen gebohrt hatte.
Im Grunde war ja niemandem etwas geschehen.
Und jetzt lag das Ziel vor ihr. Die Wegweiser zum Dorf Ardmore waren der Beweis. Auf Grund der sorgfältigen Zeichnung ihrer Großmutter wusste sie, dass der Weiler Ardmore nahe bei dem Cottage lag. Dass sie dort ihre Einkäufe und mögliche andere Besorgungen erledigen konnte.
Natürlich hatte ihre Großmutter ihr außerdem eine beeindruckende Liste mit Namen von Menschen gegeben, die sie besuchen sollte - entfernte Verwandte, die sich sicher freuen würden, wenn sie kam. Doch das, so dachte Jude, hatte noch Zeit.
Wenn sie sich vorstellte, dass sie tagelang mit niemandem ein Wort wechseln musste! Dass niemand ihr irgendwelche Fragen stellen und erwarten würde, dass sie die Antworten darauf fand. Dass sie keinen Small Talk halten müsste wie mit ihren Kollegen und Studenten. Dass es keinen Zeitplan gab.
Nach einem Augenblick seliger Freude machte ihr Herz einen erschreckten Satz. Was, in Gottes Namen, sollte sie sechs Monate lang tun?
Es müssten ja keine sechs Monate sein, tröstete sie sich, als die alte Anspannung wieder zurückkehrte. Niemand konnte sie dazu zwingen. Sie würde nicht verhaftet oder vor Gericht gestellt, wenn sie bereits nach sechs Wochen, nach sechs Tagen oder gar sechs Stunden zurückkehrte.
Und als Psychologin wusste sie, dass ihr Hauptproblem bei den Erwartungen anderer lag. Einschließlich ihrer eigenen. Obgleich sie akzeptierte, dass sie eine wesentlich bessere Theoretikerin als Praktikerin war, würde sie das auf der Stelle ändern, und zwar für ihren gesamten Irlandaufenthalt.
Wieder ruhiger stellte sie das Radio an. Angesichts des Stroms gälischer Worte, der aus dem Gerät sprudelte, rollte sie mit den Augen, suchte nach einem Sender in englischer Sprache und nahm dabei versehentlich die Straße weiter Richtung Ardmore statt nach Tower Hill, wo das alte Cottage lag.
In dem Augenblick, in dem ihr der Irrtum klar wurde, öffnete der inzwischen graue Himmel seine Schleusen, als hätte eine riesengroße Hand ein Messer in die Größte der Wolken gebohrt. Regen trommelte auf das Dach und die Windschutzscheibe ihres Wagens; sie suchte nach dem Schalter für
den Scheibenwischer, fuhr vorsichtig an den Straßenrand und wartete darauf, dass der Guss ein wenig an Gewalt verlor.
Das Dorf lag am südlichen Zipfel der Grafschaft genau zwischen der Irischen See und der Bucht von Ardmore, Ardmore Bay. Sie hörte, wie der leidenschaftliche, machtvolle Sturm das Wasser gegen das Ufer branden ließ, wie der Wind an den Fenstern ihres Wagens rüttelte und bedrohlich durch einen kleinen Spalt pfiff.
Sie hatte sich vorgestellt, wie sie durch das Dorf spazierte, sich mit den malerischen Cottages, den rauchigen, sicher gut besuchten Pubs vertraut machte, über den von ihrer Großmutter geliebten Sandstrand, die schroffen Klippen, die grünen Felder schlenderte.
Doch in ihrer Vorstellung war es ein wunderbarer, sonniger Nachmittag gewesen, an dem die Dorfbewohnerinnen rosige Babys in Kinderwagen durch die Gegend schoben und die Männer augenzwinkernd ihre Mützen lüfteten, wenn sie ihnen begegnete.
An ein plötzliches gewaltiges Frühjahrsunwetter, dessen heftige Windböen die Menschen von den Straßen in die Häuser trieben, hatte sie nicht gedacht. Vielleicht lebt hier ja auch niemand, argwöhnte sie mit einem Mal. Möglicherweise kam sie um Jahrhunderte zu spät, am Ende war dies inzwischen eine Art potemkinsches Dorf.
Ein weiteres ihrer Probleme, sagte sie sich streng, war ihre Fantasie, die sie mit betrüblicher Regelmäßigkeit zur Ordnung rufen musste.
Natürlich wohnten Menschen in dem Dorf, sie waren eben vernünftig genug, vor den verdammten Wolkenbrüchen zu fliehen. Die hübschen Häuser standen nebeneinander wie Damen auf einem Ball, zu deren Füßen jemand Blumen gestreut hatte. Blumen, bemerkte sie, die momentan ziemlich niedergedrückt wurden.
...
Übersetzung: Uta Hege
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe
by Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Ganz offensichtlich, gar keine Frage, war sie übergeschnappt! Als Psychologin sollte sie es wissen.
Sämtliche Zeichen waren da, und zwar bereits seit Monaten. Die Gereiztheit, die Übellaunigkeit, der Hang zu Tagträumen und die Vergesslichkeit. Der Mangel an Motivation, an Energie, an der normalerweise für sie typischen Zielstrebigkeit.
Ihre Eltern hatten sich bereits in der ihnen eigenen milden Art, die besagen sollte, Du-kannst-es-besser-Jude, dazu geäußert. Und ihre Kollegen bedachten sie inzwischen mit verstohlenen Seitenblicken voll des stummen Mitleids oder des missbilligenden Unbehagens. Sie hatte begonnen, ihre Arbeit und ihre Studenten zu verabscheuen; bei ihren Freunden, Verwandten, Mitarbeitern und Vorgesetzten deckte sie permanent Dutzende störender Eigenschaften auf.
Allmorgendlich empfand sie die einfache Pflicht des Aufstehens und sich für den Unterricht Ankleidens als ebenso beschwerlich wie das Erklimmen eines Bergs. Und zwar eines Bergs, den sie weder aus der Ferne sehen noch mühselig erklimmen wollte.
Dazu kam dieses unbesonnene, impulsive Verhalten, das sie seit einer Weile an den Tag legte. O ja, dieses Verhalten war das Beunruhigendste von allem. Die stets ach so gelassene, nüchterne Jude Frances Murray, einer der kräftigsten Äste des Stammbaums der Chicagoer Murrays, die stets ach so vernünftige und arbeitswillige Tochter des Ärztepaares Linda und John K. Murray, schmiss plötzlich ihren Job hin.
Sie hatte weder ein Forschungssemester genommen noch um ein paar Wochen Urlaub gebeten, sondern einfach mitten im Semester ihren Posten an den Nagel gehängt.
Warum? Totaler Blackout!
Ihr Verhalten schockierte sie selbst ebenso wie den Dekan, ihre Kollegen und Eltern.
Hatte sie vor zwei Jahren, als ihre Ehe in die Brüche gegangen war, derart heftig reagiert? Nein, natürlich nicht. Sie war stoisch mit ihrer täglichen Routine fortgefahren wie zuvor - hatte ihre Vorlesungen abgehalten, ihre Studien weitergeführt, ihre Termine wahrgenommen - und das alles, ohne mit der Wimper zu zucken - selbst in den Wochen, in denen sie regelmäßig zu ihrem Anwalt geschlurft war und sorgsam die Papiere ausgefüllt hatte, die das Ende einer Beziehung besiegelten.
Nicht dass es eine besonders innige Verbindung gewesen wäre oder dass die Anwälte viel Arbeit gehabt hätten. Eine Ehe von nicht einmal acht Monaten Dauer bedeutete wenig Durcheinander, wenig Probleme. Wenig Leidenschaft.
Leidenschaft, so nahm sie an, hatte von Anfang an gefehlt. Hätte sie auch nur die geringste Leidenschaft gezeigt, hätte William sie ganz sicher nicht, beinahe noch ehe die Blumen aus ihrem Brautstrauß verwelkt waren, einer anderen Frau wegen verlassen.
Aber es war sinnlos, jetzt noch darüber nachzugrübeln, dachte sie. Hier handelte es sich um Jude Frances. Oder das hatte es jedenfalls, verbesserte sie sich. Wer sie jetzt war, wusste bestenfalls der liebe Gott.
Vielleicht stellte diese Frage einen Teil des Ganzen dar, überlegte sie. Sie hatte am Rande eines Abgrundes gestanden, hatte hinabgesehen in das weite, dunkle Meer der Gleichförmigkeit, der Monotonie, der Langeweile - das Miss Murray seit ihrer Geburt verkörperte. Heftig hatte sie mit den Armen gerudert, war von dem Abgrund zurückgestolpert - und schreiend davongerannt.
Für sie eine vollkommen untypische Reaktion.
Bereits der Gedanke an ihr verändertes Verhalten versetzte ihr derartige Stiche, dass sie sich fragte, ob sie vielleicht, um die ganze Sache abzukürzen, einfach einen Herzinfarkt bekam.
AMERIKANISCHE COLLEGEPROFESSORIN TOT IN GEMIETETEM VOLVO AUFGEFUNDEN
Es wäre ein seltsamer Nachruf. Vielleicht erschiene er ja sogar in der von ihrer Großmutter so geliebten Irish Times. Ihre Eltern wären natürlich vollkommen niedergeschmettert. Es wäre ein derart unordentlicher, öffentlicher, peinlicher Tod. Mehr als unpassend!
Natürlich waren sie auch traurig, aber vor allem verwirrt. Was, in aller Welt, hat sich das Mädchen nur dabei gedacht, einfach nach Irland abzuhauen und eine viel versprechende Karriere sowie eine herrliche Wohnung mit Seeblick aufzugeben?
Sicher kämen sie zu dem Ergebnis, das alles wäre die Folge von Omas unseligem Einfluss.
Und natürlich hätten sie mit der Vermutung Recht - so wie sie immer in allem Recht gehabt hatten, seit die Tochter infolge ihrer äußerst geschmackvollen Partnerwahl genau ein Jahr nach ihrer Hochzeit auf die Welt gekommen war.
Obgleich sie lieber nicht darüber nachdachte, war Jude sicher, dass das körperliche Zusammensein ihrer Eltern ebenso wie die genannte Partnerwahl immer äußerst geschmackvoll und präzise verlief. Genau wie die sorgsam choreografierten, traditionellen Ballettvorführungen, die sie beide so gerne besuchten.
Aber weshalb saß sie hier in einem gemieteten Volvo, dessen dämliches Lenkrad auch noch auf der falschen Seite saß, und dachte an das Liebesleben ihrer Eltern?
Jude presste ihre Finger auf die Augen, bis das Bild allmählich verschwand.
Das, sagte sie sich müde, war genau die Art von Bildern, die man sah, wenn man verrückt wurde.
Sie atmete tief ein. Sauerstoff reinigte und beruhigte das Gehirn. So, wie sie die Sache sah, hatte sie folgende Alternativen: Entweder zerrte sie ihre Koffer aus dem Auto, ging zurück in den Dubliner Flughafen, drückte die Wagenschlüssel der Mietwagenfirma-Angestellten mit dem karottenroten Haar und dem kilometerbreiten Lächen wieder in die Hand und buchte sofort den Rückflug.
Natürlich hatte sie keinen Job mehr, aber sie käme sicher eine Zeit lang mit ihren beachtlichen Ersparnissen zurecht. Auch ihr Apartment war sie los, da sie es für sechs Monate an dieses nette Pärchen vermietet hatte, aber wenn sie nach Hause zurückflöge, nähme bestimmt Oma sie erst mal bei sich auf.
Und sähe sie mit ihren wunderschönen vergissmeinnichtblauen Augen traurig an. Jude, Liebling, du wagst dich immer nur bis an den Rand deiner Wünsche. Weshalb tust du nie den letzten, endgültigen Schritt?
» Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.« Elend hob Jude die Hände vors Gesicht und wiegte sich müde hin und her. »Es war deine Idee, dass ich hierher fliegen sollte, nicht meine. Was soll ich denn während der nächsten sechs Monate im Faerie Hill Cottage, in deinem alten Häuschen auf dem Feenhügel, bitte anfangen? Ich weiß ja nicht mal, wie man dieses verdammte Auto steuert.«
Noch eine weitere Klage und sie bekäme einen Heulkrampf. Sie spürte, wie das Wasser in ihrer Kehle aufstieg und wie es in ihren Ohren rauschte; doch ehe die erste Träne Gelegenheit hatte zu kullern, ließ sie den Kopf nach hinten sinken, kniff die Augen fest zusammen und verfluchte sich für ihren Mangel an Beherrschung. Heulkrämpfe, Wutanfälle, Sarkasmus und andere Arten unerfreulichen Benehmens waren einfach verschiedene Wege, die Dinge zu dramatisieren. Auf Grund ihrer Erziehung und Ausbildung erkannte sie die Anzeichen. O nein, sie gäbe dem Aufruhr in ihrem Inneren nicht nach!
»Das ist dann wohl jetzt das nächste Stadium, Jude, du jämmerliche Närrin! Sprichst mit dir selbst und sitzt jammernd in einem Volvo herum, weil du zu unentschlossen, verdammt, zu gelähmt bist, um den Schlüssel im Zündschloss herumzudrehen und ganz einfach loszufahren.«
Vorsichtig atmete sie aus und straffte die Schulter. »Zweite Möglichkeit«, murmelte sie. »Führ zu Ende, was du nun mal begonnen hast.«
Sie startete den Motor, sandte ein leises Stoßgebet gen Himmel, dass sie auf der Fahrt niemanden - auch sich selbst nicht - umbrächte oder verletzte, und rollte dann langsam vom Parkplatz auf die Straße.
Um nicht jedes Mal zu schreien, sobald sie an einen der von den Iren so fröhlich »Rundherums« genannten Kreisverkehre gelangte, sang sie leise vor sich hin. Immer wenn ihr schwindlig wurde, sie mal wieder links mit rechts verwechselte und um ein Haar irgendwelche unschuldigen Fußgänger über den Haufen fuhr, sang sie, welches Lied ihr in ihrem Entsetzen auch momentan durch den Kopf schoss.
Auf dem Weg von Dublin bis hinunter in die Grafschaft Waterford grölte sie Filmmusik, brüllte irische Trinklieder, und jaulte - infolge eines Beinahe-Zusammenstoßes kurz hinter Carlow - derart lautstark den Refrain von »Brown Sugar«, dass Mick Jagger, hätte er es gehört, sicher vor Neid erblasst wäre.
Dann wurde der Verkehr ein wenig ruhiger. Vielleicht hatte sie mit ihrem Lärm die Götter des Straßenverkehrs ausreichend schockiert, sodass sie aufhörten, ihr andere Wagen in den Weg zu schleudern - vielleicht aber war es auch der segensreiche Einfluss der allgegenwärtigen der Heiligen Jungfrau gewidmeten Mariensäulen - jedenfalls wurde das Fahren ein wenig angenehmer und Jude fing beinahe an, die Strecke und die Umgebung zu genießen.
Woge um Woge grüner Hügel schimmerten im Sonnenlicht, das sich glühend wie das Innere einer Muschel weiter und weiter bis in die Schatten hoher Berge fortsetzte, diese hoben sich vor dem mit rauchigen Wolken behangenen, perlmuttfarbenen Himmel dunkel ab - alles eher auf ein Gemälde als in die Wirklichkeit gehörend.
Das Gemälde fand sie so schön, dass sie nach längerem Hinschauen das Gefühl bekam, sie glitte mitten hinein, verschmelze mit den Farben, den Formen, der Szene, die irgendein Meister mit Brillanz kreiert hatte.
Genau das sah sie, wenn sie es wagte, die Augen von der Straße zu erheben. Brillanz und eine überwältigende, betörende Schönheit, die einem das Herz, noch während man ihm gut zuredete, förmlich zerriss.
Grüne, unglaublich grüne Felder wurden von uralten rauen Hecken oder knorrigen, windgebeugten Bäumen unterbrochen, gefleckte Kühe oder zerzauste Schafe zupften gemächlich an den Grashalmen, Menschen auf Traktoren tuckerten gemütlich darüber hinweg. Hier und da standen kleine, weiß oder cremefarben getünchte Häuser, in deren Gärten frische Wäsche flatterte und vor deren Türen wilde, leuchtend bunte Blumen wucherten.
Dann ragten wunderbar und massiv die verfallenen Gemäuer einer alten Abtei, wenn auch nur Überreste, so doch stolz, in den blendend hellen Himmel - als warteten sie auf ihre Renaissance.
Was würdest du empfinden, wenn du dieses Feld überqueren und die glitschigen Stufen zu der alten Brustwehr erklimmen würdest, überlegte Jude. Würdest, oder besser könntest du die Jahrhunderte spüren, während derer die Füße anderer Menschen dieselben Stufen hinaufgeklettert sind? Würdest du, wie Großmutter behauptet, die Musik und die Stimmen, das Klirren alter Waffen, das Schluchzen von Frauen, das Gelächter von Kindern vernehmen, das bereits vor langer Zeit verklungen ist?
Natürlich glaubte sie nicht an solche Dinge. Aber hier, in diesem Licht, in dieser Luft, erschien es doch irgendwie möglich.
Das endlos grüne Land bot dem Betrachter einfach alles, von alter, längst vergangener Pracht bis hin zu reizvoll beständiger Schlichtheit: strohgedeckte Dächer, steinerne Kreuze, Burgen, dann wieder Dörfer mit engen, gewundenen Straßen und Schildern in gälischer Sprache.
Einmal sah sie einen alten Mann, der mit seinem Hund die Böschung entlang spazieren ging, wo das Gras bis zu den Knöcheln reichte und ein kleines Schild vor Rollsplitt warnte. Zu Judes großer Freude hatten sowohl Mann als auch Hund identische braune Hütchen auf dem Kopf. Sie behielt das Bild lange im Kopf und beneidete die beiden um ihre Freiheit und natürliche Zusammengehörigkeit.
Sicher gingen sie jeden Tag denselben Weg und kehrten dann, ob Regen oder Sonnenschein, zum Tee zurück in ein romantisches Cottage mit reetgedecktem Dach und einem sorgsam gepflegten Vorgarten. Bestimmt hatte der Hund seine eigene kleine Hütte, aber normalerweise läge er wohl zusammengerollt zu Füßen seines Herrn vor dem Kamin.
Auch sie liefe gern mit einem derart treuen Freund über diese Felder. Laufen und laufen, bis sie sich setzen wollte. Würde sitzen und sitzen, bis sie wieder aufstehen wollte. Dies war eine Vorstellung, die sie verwirrte. Zu tun, was sie wollte, wann sie es wollte, in ihrem eigenen Tempo und auf ihre eigene Weise.
Diese einfache, alltägliche Freiheit war ihr vollkommen fremd. Aber sie fürchtete auch, sie am Ende zu finden, ihr silbriges Ende mit den Fingerspitzen zu berühren und dann wieder zu verlieren.
Da sich die Straße wie ein schmales braunes Band entlang der Waterford'schen Küste Richtung Süden schlängelte, erhaschte Jude immer wieder einen Blick aufs Meer, das seine blaue Seide mit dem Horizont verwob oder in turbulentem Grün und Grau gegen einen breiten, sanft geschwungenen Sandstrand klatschte.
Die Anspannung zwischen ihren Schulterblättern nahm ein wenig ab, und ihre Hände umfassten das Lenkrad etwas lockerer. Dies war das Irland, von dem ihre Großmutter zu sprechen, dies waren die Farben, die Dramatik, der Frieden, von denen sie zu schwärmen pflegte. Und dies, so dachte Jude, genau diese Dinge hatten sie bewogen zu kommen: um zu sehen, wo ihre Familie, ehe man ihre Wurzeln ausgerissen und auf der anderen Seite des Atlantiks wieder eingepflanzt hatte, verwachsen gewesen war.
Sie war froh, dass sie nicht bereits auf dem Flughafen kehrtgemacht und einen Platz in der nächsten Maschine zurück nach Chicago gebucht hatte. Hatte sie nicht den Großteil der dreieinhalbstündigen Fahrt ohne ein einziges Missgeschick hinter sich gebracht? Abgesehen von der kleinen Panne an dem Kreisverkehr in Waterford City, wo sie dreimal rundherum gefahren war und sich schließlich um ein Haar in einen Wagen mit ebenso hilflosen Touristen gebohrt hatte.
Im Grunde war ja niemandem etwas geschehen.
Und jetzt lag das Ziel vor ihr. Die Wegweiser zum Dorf Ardmore waren der Beweis. Auf Grund der sorgfältigen Zeichnung ihrer Großmutter wusste sie, dass der Weiler Ardmore nahe bei dem Cottage lag. Dass sie dort ihre Einkäufe und mögliche andere Besorgungen erledigen konnte.
Natürlich hatte ihre Großmutter ihr außerdem eine beeindruckende Liste mit Namen von Menschen gegeben, die sie besuchen sollte - entfernte Verwandte, die sich sicher freuen würden, wenn sie kam. Doch das, so dachte Jude, hatte noch Zeit.
Wenn sie sich vorstellte, dass sie tagelang mit niemandem ein Wort wechseln musste! Dass niemand ihr irgendwelche Fragen stellen und erwarten würde, dass sie die Antworten darauf fand. Dass sie keinen Small Talk halten müsste wie mit ihren Kollegen und Studenten. Dass es keinen Zeitplan gab.
Nach einem Augenblick seliger Freude machte ihr Herz einen erschreckten Satz. Was, in Gottes Namen, sollte sie sechs Monate lang tun?
Es müssten ja keine sechs Monate sein, tröstete sie sich, als die alte Anspannung wieder zurückkehrte. Niemand konnte sie dazu zwingen. Sie würde nicht verhaftet oder vor Gericht gestellt, wenn sie bereits nach sechs Wochen, nach sechs Tagen oder gar sechs Stunden zurückkehrte.
Und als Psychologin wusste sie, dass ihr Hauptproblem bei den Erwartungen anderer lag. Einschließlich ihrer eigenen. Obgleich sie akzeptierte, dass sie eine wesentlich bessere Theoretikerin als Praktikerin war, würde sie das auf der Stelle ändern, und zwar für ihren gesamten Irlandaufenthalt.
Wieder ruhiger stellte sie das Radio an. Angesichts des Stroms gälischer Worte, der aus dem Gerät sprudelte, rollte sie mit den Augen, suchte nach einem Sender in englischer Sprache und nahm dabei versehentlich die Straße weiter Richtung Ardmore statt nach Tower Hill, wo das alte Cottage lag.
In dem Augenblick, in dem ihr der Irrtum klar wurde, öffnete der inzwischen graue Himmel seine Schleusen, als hätte eine riesengroße Hand ein Messer in die Größte der Wolken gebohrt. Regen trommelte auf das Dach und die Windschutzscheibe ihres Wagens; sie suchte nach dem Schalter für
den Scheibenwischer, fuhr vorsichtig an den Straßenrand und wartete darauf, dass der Guss ein wenig an Gewalt verlor.
Das Dorf lag am südlichen Zipfel der Grafschaft genau zwischen der Irischen See und der Bucht von Ardmore, Ardmore Bay. Sie hörte, wie der leidenschaftliche, machtvolle Sturm das Wasser gegen das Ufer branden ließ, wie der Wind an den Fenstern ihres Wagens rüttelte und bedrohlich durch einen kleinen Spalt pfiff.
Sie hatte sich vorgestellt, wie sie durch das Dorf spazierte, sich mit den malerischen Cottages, den rauchigen, sicher gut besuchten Pubs vertraut machte, über den von ihrer Großmutter geliebten Sandstrand, die schroffen Klippen, die grünen Felder schlenderte.
Doch in ihrer Vorstellung war es ein wunderbarer, sonniger Nachmittag gewesen, an dem die Dorfbewohnerinnen rosige Babys in Kinderwagen durch die Gegend schoben und die Männer augenzwinkernd ihre Mützen lüfteten, wenn sie ihnen begegnete.
An ein plötzliches gewaltiges Frühjahrsunwetter, dessen heftige Windböen die Menschen von den Straßen in die Häuser trieben, hatte sie nicht gedacht. Vielleicht lebt hier ja auch niemand, argwöhnte sie mit einem Mal. Möglicherweise kam sie um Jahrhunderte zu spät, am Ende war dies inzwischen eine Art potemkinsches Dorf.
Ein weiteres ihrer Probleme, sagte sie sich streng, war ihre Fantasie, die sie mit betrüblicher Regelmäßigkeit zur Ordnung rufen musste.
Natürlich wohnten Menschen in dem Dorf, sie waren eben vernünftig genug, vor den verdammten Wolkenbrüchen zu fliehen. Die hübschen Häuser standen nebeneinander wie Damen auf einem Ball, zu deren Füßen jemand Blumen gestreut hatte. Blumen, bemerkte sie, die momentan ziemlich niedergedrückt wurden.
...
Übersetzung: Uta Hege
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe
by Verlagsgruppe Random House GmbH, München
... weniger
Autoren-Porträt von Nora Roberts
Roberts, NoraNora Roberts wurde 1950 in Maryland geboren. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie 1981. Inzwischen zählt sie zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt: Ihre Bücher haben eine weltweite Gesamtauflage von über 500 Millionen Exemplaren. Auch in Deutschland erobern ihre Bücher und Hörbücher regelmäßig die Bestsellerlisten. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Maryland.Unter dem Namen J. D. Robb veröffentlicht Nora Roberts seit Jahren ebenso erfolgreich Kriminalromane.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nora Roberts
- 2011, 416 Seiten, Maße: 12 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Hege, Uta
- Übersetzer: Uta Hege
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 344237829X
- ISBN-13: 9783442378296
- Erscheinungsdatum: 17.10.2011
Kommentare zu "Insel des Sturms / Sturm Trilogie Bd.1"
4 von 5 Sternen
5 Sterne 3Schreiben Sie einen Kommentar zu "Insel des Sturms / Sturm Trilogie Bd.1".
Kommentar verfassen