Süßer Tod
Thriller
Böses Erwachen für Journalistin Britt Shelley: Sie liegt im Bett neben dem Cop Jay Burgess - und der ist tot. Wie ist sie da nur hineingeraten? Mit Ex-Feuerwehrmann Raley, der noch eine Rechnung mit dem Toten offen hatte, sucht sie verzweifelt nach der Wahrheit.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Süßer Tod “
Böses Erwachen für Journalistin Britt Shelley: Sie liegt im Bett neben dem Cop Jay Burgess - und der ist tot. Wie ist sie da nur hineingeraten? Mit Ex-Feuerwehrmann Raley, der noch eine Rechnung mit dem Toten offen hatte, sucht sie verzweifelt nach der Wahrheit.
Klappentext zu „Süßer Tod “
Wenn aus tiefer Abneigung ein Feuer der Leidenschaft erwacht ...Britt Shelley wird aus der unbeschwerten Leichtigkeit ihres Seins gerissen und des Mordes an ihrem Ex-Liebhaber verdächtigt. Schnell ins Visier der Polizei geraten, sieht sich Britt mit jedoch noch gefährlicheren Gegnern konfrontiert. Allen voran der Ex-Feuerwehrmann Raley Gannon. Er war es, der bei dem Feuer damals Verdächtiges fand - und dann alles verlor. Seitdem sinnt er auf Rache und kidnappt Britt, um sie zu verhören. Doch sie werden gemeinsam zum Ziel von sehr mächtigen Feinden ...
Wenn perfekte Harmonie mit einem Schlag vernichtet oder ein Leben durch genüsslich langsame Rache Schritt um Schritt zerstört wird, dann stecken Sie mittendrin in einem spannenden Thriller von Sandra Brown!
"Niemand schreibt so fesselnd, wie Sandra Brown!" (Publishers Weekly)
Lese-Probe zu „Süßer Tod “
Süßer Tod von Sandra BrownProlog
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Gott sei Dank schlief er noch tief und fest. Aufzuwachen und zu entdecken, dass sie mit Jay Burgess im Bett lag, war schon peinlich genug, da wollte sie ihm nicht auch noch ins Gesicht sehen müssen. Wenigstens nicht, bevor sie Zeit gehabt hatte, sich zu sammeln.
Zentimeter um Zentimeter schob sie sich an die Bettkante und schlüpfte unter der Decke hervor, um ihn nicht aufzuwecken. Am Matratzenrand setzte sie sich auf und schielte über ihre Schulter. Aus dem Lüftungsschlitz über dem Bett blies ein kalter Luftzug, unter dem sich die Härchen an ihren Armen aufstellten. Obwohl Jay nackt und nur bis zur Taille zugedeckt war, hatte ihn die Eiseskälte nicht geweckt. Ganz behutsam verlagerte sie ihr Gewicht vom Bett auf ihre Füße und stand auf.
Der Raum kippte zur Seite weg. Um nicht ihrerseits umzukippen, streckte sie instinktiv die Arme aus. Ihre Hand traf mit einem Klatschen auf der Wand auf, das wie ein Schellenschlag durch das stille Haus hallte. Ohne sich noch groß darum zu kümmern, ob sie Jay aufweckte, sondern nur noch fassungslos, wie viel sie gestern Abend getrunken hatte, atmete sie an die Wand gelehnt durch und fixierte einen festen Punkt, bis sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
Wie durch ein Wunder hatte sie Jay mit ihrer Tollpatschigkeit nicht aufgeweckt. Sie erspähte ihren Slip, schlich zum Fußende des Bettes, holte ihn und arbeitete sich dann auf Zehenspitzen durch den Raum, um ihre übrigen Sachen einzusammeln, die sie züchtig an ihre Brust presste, auch wenn das unter den gegebenen Umständen eher lächerlich war.
Der Bußgang. Der Begriff aus dem College passte. Er bezeichnete Studentinnen, die sich nach einer Nacht mit einem Mitstudenten aus dessen Zimmer stahlen. Sie war längst übers Collegealter
hinaus und außerdem Single, genau wie Jay, weshalb beide nach Belieben miteinander schlafen konnten, wenn sie sich dazu entschlossen.
Wenn sie sich dazu entschlossen.
Der Nebensatz peitschte ihr ins Genick wie ein straff gezogenes Gummiband.
Plötzlich wich das Entsetzen darüber, in Jays Bett aufgewacht zu sein, der erschreckenden Erkenntnis, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie dort hineingeraten war. Sie glaubte nicht, dass sie irgendwann den bewussten Entschluss gefasst hatte, mit ihm zu schlafen. Sie konnte sich nicht erinnern, Pro und Kontra abgewogen zu haben und zu der Überzeugung gelangt zu sein, dass das Pro überwog. Sie konnte sich auch nicht erinnern, so lange umworben worden zu sein, bis die Vernunft von schierer Lust erdrückt worden war. Sie konnte sich nicht einmal erinnern, im Geist mit den Achseln gezuckt und gedacht zu haben: Was soll's? Wir sind erwachsen.
Sie konnte sich an überhaupt nichts erinnern.
Sie drehte eine langsame Pirouette und nahm dabei den Schnitt und die Einrichtung des Zimmers in sich auf. Es war ein angenehmer Raum, geschmackvoll möbliert und auf einen allein lebenden Mann zugeschnitten. Aber nichts hier drin kam ihr bekannt vor. Gar nichts. Es war, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen.
Offenbar waren sie tatsächlich in Jays Wohnung; hier und da standen Bilder von ihm, größtenteils Ferienschnappschüsse mit verschiedenen Freunden beiderlei Geschlechts. Sie war ganz sicher noch nie in diesem Raum oder in diesem Haus gewesen. Sie hätte nicht einmal die Adresse gewusst, obwohl sie eine vage Erinnerung daran hatte, dass sie zu Fuß hierher gegangen war - aber von wo aus?
Genau, aus dem Wheelhouse. Dort hatte sie sich mit Jay auf einen Drink getroffen. Er hatte schon einiges intus gehabt, als sie angekommen war, aber das war nicht ungewöhnlich. Jay trank gern und vertrug erstaunlich viel Alkohol. Sie hatte ein Glas Weißwein bestellt. Anschließend hatten sie geplaudert und sich gegenseitig erzählt, was es Neues gab.
Dann hatte er gesagt... Als ihr wieder einfiel, was er ihr erzählt hatte, überlief sie eine Gänsehaut, die nichts mit der Kälte im Zimmer zu tun hatte. Die Hand auf den Mund gepresst, um ein leises Aufstöhnen zu unterdrücken, drehte sie sich zum Bett um. Sie hauchte ein bekümmertes »O Jay« und wiederholte damit die Worte, die sie ausgestoßen hatte, als er ihr gestern Abend die grauenvolle Neuigkeit eröffnet hatte.
Können wir zu mir gehen und dort weiterreden?, hatte er gefragt. Ich bin inzwischen umgezogen. Eine alte Tante ist gestorben und hat mir ihre weltlichen Güter hinterlassen. Einen Haufen Porzellan, Kristall, antike Möbel, lauter alten Krempel. Ich habe alles zu einem Antiquitätenhändler geschleppt und mir von dem Erlös ein Haus in der Stadt gekauft. Gleich hier in der Nähe.
Er plauderte fröhlich weiter, so als hätten sie nur über die nahende Hurrikan-Saison gesprochen, dabei hatte seine Nachricht wie eine Bombe eingeschlagen. Grauenvoll. Nicht zu glauben. Es hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. War ihr Mitgefühl schließlich in ein anderes Gefühl umgeschlagen? Erklärte das die Liebesnacht?
Mein Gott, warum konnte sie sich nicht erinnern?
Auf der Suche nach Antworten und nach ihren restlichen Kleidern schlich sie weiter ins Wohnzimmer. Ihr Kleid und ihre Strickjacke lagen zusammengeknüllt auf einem Sessel, ihre Sandalen standen auf dem Boden. Auf dem Tisch vor dem Sofa sah sie eine offene Flasche Scotch und zwei Gläser. In der Flasche war nur noch ein Fingerbreit Flüssigkeit. Die Sofakissen waren eingedellt und verrutscht, so als hätte sich jemand darauf herumgewälzt.
Offenbar sie und Jay.
Im nächsten Moment lief sie ins Schlafzimmer zurück und weiter in das dahinter liegende Bad. Sie drückte lautlos die Tür zu, aber diese Vorsichtsmaßnahme war angesichts der Tatsache, dass sie schon Sekunden später würgend über der Toilette hing, überflüssig. Ihr Magen wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt und stieß scheinbar literweise Scotch aus. Sie war noch nie eine große Scotch-Trinkerin gewesen, aber jetzt würde sie nie wieder einen Tropfen von diesem Gift anrühren, so viel stand fest.
In dem Spiegelschrank über dem Waschbecken stöberte sie etwas Zahnpasta auf, drückte sie auf ihren Zeigefinger und versuchte, den Schmutzfilm und den schlechten Geschmack von den Zähnen zu massieren. Danach fühlte sie sich zwar besser, aber immer noch so schmutzig, dass sie unbedingt duschen wollte. Wenn sie sauber war, würde sie Jay selbstbewusster gegenübertreten können, und die Exzesse der letzten Nacht wären ihr nicht mehr ganz so peinlich.
Die Duschkabine war bis unter die Decke gefliest und mit einer fest montierten Regendusche ausgestattet. Direkt unter dem Pseudoregen stehend, seifte und spülte sie sich mehrmals ab. Besonders sorgsam und gründlich wusch sie den Bereich zwischen ihren Beinen. Sie shampoonierte sich auch die Haare.
Nachdem sie fertig geduscht hatte, verlor sie keine unnötige Zeit. Bestimmt hatte ihn der Lärm, den sie veranstaltet hatte, inzwischen aufgeweckt. Sie zog sich wieder an, glättete ihr Haar mit seiner Bürste, holte tief Luft, um ihren ganzen Mut zusammenzunehmen, und riss die Badezimmertür auf. Jay schlief immer noch. Wie war das möglich? Er war ein trainierter Trinker, offenbar hatte die vergangene Nacht sogar ihm zugesetzt. Wie viel Scotch war in der Flasche gewesen, als sie zu trinken angefangen hatten? Hatten sie tatsächlich zu zweit einen knappen Liter geleert?
Allem Anschein nach. Warum konnte sie sich sonst nicht erinnern, wie sie sich ausgezogen hatte und mit Jay Burgess ins Bett gehüpft war? Sie hatten vor Jahren eine kurze Affäre gehabt, die aber schnell erkaltete und geendet hatte, bevor sie sich zu einer echten Beziehung auswachsen konnte. Beide waren mit ungebrochenem Herzen daraus hervorgegangen. Es hatte keine Szene gegeben, keiner hatte offiziell Schluss gemacht. Sie hatten einfach aufgehört, miteinander auszugehen, und waren dennoch Freunde geblieben.
Nichtsdestotrotz hatte Jay, der charmante und unverbesserliche Jay, jedes Mal versucht, sie ins Bett zu locken, wenn sich ihre Wege gekreuzt hatten. »Man kann auch nur befreundet sein und trotzdem hin und wieder miteinander in die Kiste gehen«, hatte er ihr mit seinem verführerischsten Lächeln versichert.
Sie sah das anders, und genau das hatte sie ihm immer erklärt, wenn er sie überreden wollte, um der alten Zeiten willen bei ihm zu übernachten.
Gestern Nacht hatte sie sich offensichtlich breitschlagen lassen.
Sie hätte erwartet, dass er in aller Frühe aus dem Bett springen würde, um mit seiner Eroberung zu prahlen, oder dass er sie mit einem Kuss wecken und sie ironisch zu einem Frühstück im Bett einladen würde. Sie konnte ihn fast auftrumpfen hören: »Wenn du schon hier bist, kannst du die Burgess-Behandlung auch bis zum Schluss genießen.«
Warum war er eigentlich nicht zu ihr unter die Dusche gehüpft? Das wäre typisch Jay. Eigentlich hätte er sich zu ihr stellen und erklären müssen: Du hast eine Stelle auf deinem Rücken vergessen. Huch, und da vorne auch. Aber nicht einmal die Dusche hatte ihn geweckt. Genauso wenig wie das mehrmalige Spülen der Toilette.
Wie konnte er all das verschlafen? Er hatte sich nicht einmal...
Bewegt.
Ihr Magen hob sich wie auf einer Flutwelle. Ätzender Schleim schoss ihr in die Kehle, und sie hatte Angst, sich gleich wieder zu übergeben. Sie schluckte schwer. »Jay?«, fragte sie zaghaft.
Dann lauter: »Jay?«
Nichts. Kein Seufzen und kein Schniefen. Nicht die leiseste Bewegung.
Wie angewurzelt stand sie da und spürte ihr Herz klopfen.
Dann setzte sie sich widerstrebend in Bewegung, trat ans Bett, legte die ausgestreckte Hand an seine Schulter und rüttelte sie mit aller Kraft. »Jay!«
1
Unter dem quietschenden Protest der Scharniere zog Raley die verrostete Fliegentür auf. »Hey! Bist du da?«
»Bin ich doch immer!«
Ein ausgeblichener roter Lacksplitter löste sich, als der Holzrahmen hinter Raley zuschlug und er in die winzige Hütte trat. Es roch nach gebratenem Schweinefleisch und nach der mäuselöchrigen
Armeedecke auf der Pritsche in der Ecke.
Seine Augen brauchten ein paar Sekunden, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt und den Alten entdeckt hatten. Er saß an seinem dreibeinigen Tisch, über seine Kaffeetasse gekrümmt wie ein bissiger Hund, der einen mühsam erkämpften Knochen bewacht, und starrte auf den verschneiten Bildschirm eines Schwarz-Weiß-Fernsehers. Geisterhafte Schemen zogen über das Bild. Aus dem Lautsprecher kam nur statisches Rauschen.
»Guten Morgen.«
Der Alte schnaubte einen Willkommensgruß durch die buschigen Nasenhaare. »Nimm dir ein'.« Er nickte zu der Emailkanne auf dem Herd hin. »Aber besser ohne Sahne. Die hat über Nacht einen Stich gekriegt.«
Raley stieg über die drei reglos am Boden liegenden Jagdhunde hinweg und trat an den Kühlschrank, der eingeklemmt zwischen einer zur Speisekammer zweckentfremdeten antiquierten Kuchenvitrine und einem Werktisch stand, der keinerlei Zweck erfüllte, außer Staub anzusammeln und den verfügbaren Platz in der übervollen Hütte zu verstellen.
Der Griff am Kühlschrank war abgerissen, wahrscheinlich schon vor Jahrzehnten, aber wenn man die Finger an der richtigen Stelle in die weiche Gummidichtung bohrte, konnte man die Tür aufbekommen.
»Ich habe dir Fisch mitgebracht.« Raley legte den in Zeitungspapier eingewickelten Katzenwels auf ein rostiges Kühlschrankgitter und schloss hastig die Tür vor dem Duftgemisch aus saurer Sahne und allgemeiner Verwesung.
»Hab zu danken.«
»Gern geschehen.« Der Kaffee war wahrscheinlich mehrmals aufgekocht worden und hatte mittlerweile die Konsistenz von frischem Asphalt angenommen. Ohne Sahne zur Verdünnung verzichtete Raley dankend.
Er warf einen Blick auf den stummen Fernseher.
»Du musst deine Hasenohren neu ausrichten.« Dabei streckte er eine Hand nach der schleifenförmigen Zimmerantenne aus.
»Das sind nicht die Hasenohren. Ich hab den Ton abgestellt.«
»Wieso das?«
Der alte Mann reagierte mit einem rituellen Schnauben, das heißen sollte, dass er sich nicht zu einer Antwort herablassen würde. Der selbst ernannte Eremit hauste seit »dem Krieg« im frei gewählten Exil, wobei er sich nie genauer darüber ausgelassen hatte, welchen Krieg er meinte. Er wollte so wenig wie möglich mit anderen Homo sapiens zu tun haben.
Kurz nachdem Raley in seine Nachbarschaft gezogen war, hatten sich ihre Wege im Wald gekreuzt. Raley hatte gerade in die Knopfaugen einer toten Beutelratte gestarrt, als der alte Mann durchs Unterholz gekracht kam und ihn angegeifert hatte:
»Denk nicht mal dran!«
»Woran?«
»Mir mein Opossum wegzunehmen.«
Den grauenvoll stinkenden, aufgedunsenen und mit Fliegen übersäten Kadaver mit dem rosa Schwanz anzurühren war so ziemlich das Letzte, was Raley in den Sinn gekommen wäre. Er hob kapitulierend die Hände und trat beiseite, damit der barfüßige alte Mann im fleckigen Overall seine Beute aus dem Metallkiefer der kleinen Falle lösen konnte.
»So wie du hier rumtrampelst, hätt's mich nicht gewundert, wenn du in meiner Falle gelandet wärst und nicht das Opossum«, grummelte er.
Raley war davon ausgegangen, dass um die Hütte, die er kürzlich erworben hatte, meilenweit niemand lebte. Er brauchte keinen Nachbarn, schon gar keinen, der über sein Kommen und Gehen Buch führte.
Als der alte Mann aufstand, protestierten seine Knie mit so lautem Knacken und Knirschen, dass er unter Schmerzen das Gesicht verzog und einen Schwall von Flüchen ausstieß. Den baumelnden Kadaver in der Hand haltend, taxierte der Alte Raley von der Baseballkappe und dem bärtigen Gesicht abwärts bis zu den Wanderschuhen. Nach abgeschlossener Inspektion spuckte er einen Strahl Tabaksaft in den Dreck, um seine Meinung über diesen Anblick kundzutun. »Is' schließlich nicht verboten, im Wald rumzulaufen«, sagte er. »Aber lass bloß die Finger von meinen Fallen.«
»Es würde die Sache vereinfachen, wenn ich wüsste, wo sie stehen.«
Die Lippen des Alten verzogen sich zu einem breiten Grinsen, bei dem er tabakfleckige Stummel entblößte, wo früher einmal Zähne gewesen sein mussten. »Kann ich mir vorstellen.« Immer noch keckernd wandte er sich ab. »Die findest du schon, da wette ich drauf.« Noch lange nachdem er im dichten Unterholz verschwunden war, hörte Raley sein meckerndes Lachen.
Während der folgenden Monate waren sie sich immer wieder zufällig im Wald begegnet. Zumindest waren es für Raley zufällige Begegnungen gewesen. Er nahm an, dass sich der Alte nur zeigte, wenn ihm danach war, und unsichtbar blieb, wenn er keine Lust hatte, seinem neuen Nachbarn einen Gruß zuzugrunzen.
An einem heißen Nachmittag trafen sie in der Tür des Lebensmittelladens im nächsten Ort aufeinander. Raley wollte gerade hinein, der alte Mann heraus. Sie nickten einander zu. Als Raley später mit mehreren Einkaufstüten wieder nach draußen kam, sah er den Alten in einem Korbsessel auf der schattigen Veranda vor dem Laden sitzen und sich mit dem Hut Luft zufächeln. Aus einem Impuls heraus zerrte Raley eine gekühlte Bierdose aus dem Sixpack und warf sie dem Alten zu, der sie in einem exzellenten Reflex mit einer Hand auffing.
Raley lud die Einkäufe auf der Ladefläche des Pick-ups ab und kletterte hinter das Steuer. Der Alte beobachtete mit sichtlichem Misstrauen, wie er den Rückwärtsgang einlegte und aus der Parklücke setzte, aber Raley war aufgefallen, dass er die Dose geöffnet hatte.
Am nächsten Morgen klopfte jemand an Raleys Hütte. Nachdem er noch nie Besuch bekommen hatte, näherte er sich argwöhnisch der Tür. Vor ihm stand der Alte, in der Hand hielt er eine gesprungene Keramikschüssel mit einem Berg von rohem Fleisch unbekannter Herkunft. Es sah aus wie Aas, das sogar das Jagdhundetrio verschmäht hatte.
»Für das Bier. Ich mag keine Schulden bei niemand haben.«
Raley nahm die Schüssel entgegen, die ihm an die Brust gedrückt wurde. »Danke.« Sein Besucher machte kehrt und stapfte die Stufen hinab. Raley rief ihm nach: »Wie heißen Sie eigentlich?«
»Wer will das wissen?«
»Raley Gannon.«
Übersetzung: Christoph Göhler
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Blanvalet Verlag
Gott sei Dank schlief er noch tief und fest. Aufzuwachen und zu entdecken, dass sie mit Jay Burgess im Bett lag, war schon peinlich genug, da wollte sie ihm nicht auch noch ins Gesicht sehen müssen. Wenigstens nicht, bevor sie Zeit gehabt hatte, sich zu sammeln.
Zentimeter um Zentimeter schob sie sich an die Bettkante und schlüpfte unter der Decke hervor, um ihn nicht aufzuwecken. Am Matratzenrand setzte sie sich auf und schielte über ihre Schulter. Aus dem Lüftungsschlitz über dem Bett blies ein kalter Luftzug, unter dem sich die Härchen an ihren Armen aufstellten. Obwohl Jay nackt und nur bis zur Taille zugedeckt war, hatte ihn die Eiseskälte nicht geweckt. Ganz behutsam verlagerte sie ihr Gewicht vom Bett auf ihre Füße und stand auf.
Der Raum kippte zur Seite weg. Um nicht ihrerseits umzukippen, streckte sie instinktiv die Arme aus. Ihre Hand traf mit einem Klatschen auf der Wand auf, das wie ein Schellenschlag durch das stille Haus hallte. Ohne sich noch groß darum zu kümmern, ob sie Jay aufweckte, sondern nur noch fassungslos, wie viel sie gestern Abend getrunken hatte, atmete sie an die Wand gelehnt durch und fixierte einen festen Punkt, bis sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
Wie durch ein Wunder hatte sie Jay mit ihrer Tollpatschigkeit nicht aufgeweckt. Sie erspähte ihren Slip, schlich zum Fußende des Bettes, holte ihn und arbeitete sich dann auf Zehenspitzen durch den Raum, um ihre übrigen Sachen einzusammeln, die sie züchtig an ihre Brust presste, auch wenn das unter den gegebenen Umständen eher lächerlich war.
Der Bußgang. Der Begriff aus dem College passte. Er bezeichnete Studentinnen, die sich nach einer Nacht mit einem Mitstudenten aus dessen Zimmer stahlen. Sie war längst übers Collegealter
hinaus und außerdem Single, genau wie Jay, weshalb beide nach Belieben miteinander schlafen konnten, wenn sie sich dazu entschlossen.
Wenn sie sich dazu entschlossen.
Der Nebensatz peitschte ihr ins Genick wie ein straff gezogenes Gummiband.
Plötzlich wich das Entsetzen darüber, in Jays Bett aufgewacht zu sein, der erschreckenden Erkenntnis, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie dort hineingeraten war. Sie glaubte nicht, dass sie irgendwann den bewussten Entschluss gefasst hatte, mit ihm zu schlafen. Sie konnte sich nicht erinnern, Pro und Kontra abgewogen zu haben und zu der Überzeugung gelangt zu sein, dass das Pro überwog. Sie konnte sich auch nicht erinnern, so lange umworben worden zu sein, bis die Vernunft von schierer Lust erdrückt worden war. Sie konnte sich nicht einmal erinnern, im Geist mit den Achseln gezuckt und gedacht zu haben: Was soll's? Wir sind erwachsen.
Sie konnte sich an überhaupt nichts erinnern.
Sie drehte eine langsame Pirouette und nahm dabei den Schnitt und die Einrichtung des Zimmers in sich auf. Es war ein angenehmer Raum, geschmackvoll möbliert und auf einen allein lebenden Mann zugeschnitten. Aber nichts hier drin kam ihr bekannt vor. Gar nichts. Es war, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen.
Offenbar waren sie tatsächlich in Jays Wohnung; hier und da standen Bilder von ihm, größtenteils Ferienschnappschüsse mit verschiedenen Freunden beiderlei Geschlechts. Sie war ganz sicher noch nie in diesem Raum oder in diesem Haus gewesen. Sie hätte nicht einmal die Adresse gewusst, obwohl sie eine vage Erinnerung daran hatte, dass sie zu Fuß hierher gegangen war - aber von wo aus?
Genau, aus dem Wheelhouse. Dort hatte sie sich mit Jay auf einen Drink getroffen. Er hatte schon einiges intus gehabt, als sie angekommen war, aber das war nicht ungewöhnlich. Jay trank gern und vertrug erstaunlich viel Alkohol. Sie hatte ein Glas Weißwein bestellt. Anschließend hatten sie geplaudert und sich gegenseitig erzählt, was es Neues gab.
Dann hatte er gesagt... Als ihr wieder einfiel, was er ihr erzählt hatte, überlief sie eine Gänsehaut, die nichts mit der Kälte im Zimmer zu tun hatte. Die Hand auf den Mund gepresst, um ein leises Aufstöhnen zu unterdrücken, drehte sie sich zum Bett um. Sie hauchte ein bekümmertes »O Jay« und wiederholte damit die Worte, die sie ausgestoßen hatte, als er ihr gestern Abend die grauenvolle Neuigkeit eröffnet hatte.
Können wir zu mir gehen und dort weiterreden?, hatte er gefragt. Ich bin inzwischen umgezogen. Eine alte Tante ist gestorben und hat mir ihre weltlichen Güter hinterlassen. Einen Haufen Porzellan, Kristall, antike Möbel, lauter alten Krempel. Ich habe alles zu einem Antiquitätenhändler geschleppt und mir von dem Erlös ein Haus in der Stadt gekauft. Gleich hier in der Nähe.
Er plauderte fröhlich weiter, so als hätten sie nur über die nahende Hurrikan-Saison gesprochen, dabei hatte seine Nachricht wie eine Bombe eingeschlagen. Grauenvoll. Nicht zu glauben. Es hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. War ihr Mitgefühl schließlich in ein anderes Gefühl umgeschlagen? Erklärte das die Liebesnacht?
Mein Gott, warum konnte sie sich nicht erinnern?
Auf der Suche nach Antworten und nach ihren restlichen Kleidern schlich sie weiter ins Wohnzimmer. Ihr Kleid und ihre Strickjacke lagen zusammengeknüllt auf einem Sessel, ihre Sandalen standen auf dem Boden. Auf dem Tisch vor dem Sofa sah sie eine offene Flasche Scotch und zwei Gläser. In der Flasche war nur noch ein Fingerbreit Flüssigkeit. Die Sofakissen waren eingedellt und verrutscht, so als hätte sich jemand darauf herumgewälzt.
Offenbar sie und Jay.
Im nächsten Moment lief sie ins Schlafzimmer zurück und weiter in das dahinter liegende Bad. Sie drückte lautlos die Tür zu, aber diese Vorsichtsmaßnahme war angesichts der Tatsache, dass sie schon Sekunden später würgend über der Toilette hing, überflüssig. Ihr Magen wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt und stieß scheinbar literweise Scotch aus. Sie war noch nie eine große Scotch-Trinkerin gewesen, aber jetzt würde sie nie wieder einen Tropfen von diesem Gift anrühren, so viel stand fest.
In dem Spiegelschrank über dem Waschbecken stöberte sie etwas Zahnpasta auf, drückte sie auf ihren Zeigefinger und versuchte, den Schmutzfilm und den schlechten Geschmack von den Zähnen zu massieren. Danach fühlte sie sich zwar besser, aber immer noch so schmutzig, dass sie unbedingt duschen wollte. Wenn sie sauber war, würde sie Jay selbstbewusster gegenübertreten können, und die Exzesse der letzten Nacht wären ihr nicht mehr ganz so peinlich.
Die Duschkabine war bis unter die Decke gefliest und mit einer fest montierten Regendusche ausgestattet. Direkt unter dem Pseudoregen stehend, seifte und spülte sie sich mehrmals ab. Besonders sorgsam und gründlich wusch sie den Bereich zwischen ihren Beinen. Sie shampoonierte sich auch die Haare.
Nachdem sie fertig geduscht hatte, verlor sie keine unnötige Zeit. Bestimmt hatte ihn der Lärm, den sie veranstaltet hatte, inzwischen aufgeweckt. Sie zog sich wieder an, glättete ihr Haar mit seiner Bürste, holte tief Luft, um ihren ganzen Mut zusammenzunehmen, und riss die Badezimmertür auf. Jay schlief immer noch. Wie war das möglich? Er war ein trainierter Trinker, offenbar hatte die vergangene Nacht sogar ihm zugesetzt. Wie viel Scotch war in der Flasche gewesen, als sie zu trinken angefangen hatten? Hatten sie tatsächlich zu zweit einen knappen Liter geleert?
Allem Anschein nach. Warum konnte sie sich sonst nicht erinnern, wie sie sich ausgezogen hatte und mit Jay Burgess ins Bett gehüpft war? Sie hatten vor Jahren eine kurze Affäre gehabt, die aber schnell erkaltete und geendet hatte, bevor sie sich zu einer echten Beziehung auswachsen konnte. Beide waren mit ungebrochenem Herzen daraus hervorgegangen. Es hatte keine Szene gegeben, keiner hatte offiziell Schluss gemacht. Sie hatten einfach aufgehört, miteinander auszugehen, und waren dennoch Freunde geblieben.
Nichtsdestotrotz hatte Jay, der charmante und unverbesserliche Jay, jedes Mal versucht, sie ins Bett zu locken, wenn sich ihre Wege gekreuzt hatten. »Man kann auch nur befreundet sein und trotzdem hin und wieder miteinander in die Kiste gehen«, hatte er ihr mit seinem verführerischsten Lächeln versichert.
Sie sah das anders, und genau das hatte sie ihm immer erklärt, wenn er sie überreden wollte, um der alten Zeiten willen bei ihm zu übernachten.
Gestern Nacht hatte sie sich offensichtlich breitschlagen lassen.
Sie hätte erwartet, dass er in aller Frühe aus dem Bett springen würde, um mit seiner Eroberung zu prahlen, oder dass er sie mit einem Kuss wecken und sie ironisch zu einem Frühstück im Bett einladen würde. Sie konnte ihn fast auftrumpfen hören: »Wenn du schon hier bist, kannst du die Burgess-Behandlung auch bis zum Schluss genießen.«
Warum war er eigentlich nicht zu ihr unter die Dusche gehüpft? Das wäre typisch Jay. Eigentlich hätte er sich zu ihr stellen und erklären müssen: Du hast eine Stelle auf deinem Rücken vergessen. Huch, und da vorne auch. Aber nicht einmal die Dusche hatte ihn geweckt. Genauso wenig wie das mehrmalige Spülen der Toilette.
Wie konnte er all das verschlafen? Er hatte sich nicht einmal...
Bewegt.
Ihr Magen hob sich wie auf einer Flutwelle. Ätzender Schleim schoss ihr in die Kehle, und sie hatte Angst, sich gleich wieder zu übergeben. Sie schluckte schwer. »Jay?«, fragte sie zaghaft.
Dann lauter: »Jay?«
Nichts. Kein Seufzen und kein Schniefen. Nicht die leiseste Bewegung.
Wie angewurzelt stand sie da und spürte ihr Herz klopfen.
Dann setzte sie sich widerstrebend in Bewegung, trat ans Bett, legte die ausgestreckte Hand an seine Schulter und rüttelte sie mit aller Kraft. »Jay!«
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Unter dem quietschenden Protest der Scharniere zog Raley die verrostete Fliegentür auf. »Hey! Bist du da?«
»Bin ich doch immer!«
Ein ausgeblichener roter Lacksplitter löste sich, als der Holzrahmen hinter Raley zuschlug und er in die winzige Hütte trat. Es roch nach gebratenem Schweinefleisch und nach der mäuselöchrigen
Armeedecke auf der Pritsche in der Ecke.
Seine Augen brauchten ein paar Sekunden, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt und den Alten entdeckt hatten. Er saß an seinem dreibeinigen Tisch, über seine Kaffeetasse gekrümmt wie ein bissiger Hund, der einen mühsam erkämpften Knochen bewacht, und starrte auf den verschneiten Bildschirm eines Schwarz-Weiß-Fernsehers. Geisterhafte Schemen zogen über das Bild. Aus dem Lautsprecher kam nur statisches Rauschen.
»Guten Morgen.«
Der Alte schnaubte einen Willkommensgruß durch die buschigen Nasenhaare. »Nimm dir ein'.« Er nickte zu der Emailkanne auf dem Herd hin. »Aber besser ohne Sahne. Die hat über Nacht einen Stich gekriegt.«
Raley stieg über die drei reglos am Boden liegenden Jagdhunde hinweg und trat an den Kühlschrank, der eingeklemmt zwischen einer zur Speisekammer zweckentfremdeten antiquierten Kuchenvitrine und einem Werktisch stand, der keinerlei Zweck erfüllte, außer Staub anzusammeln und den verfügbaren Platz in der übervollen Hütte zu verstellen.
Der Griff am Kühlschrank war abgerissen, wahrscheinlich schon vor Jahrzehnten, aber wenn man die Finger an der richtigen Stelle in die weiche Gummidichtung bohrte, konnte man die Tür aufbekommen.
»Ich habe dir Fisch mitgebracht.« Raley legte den in Zeitungspapier eingewickelten Katzenwels auf ein rostiges Kühlschrankgitter und schloss hastig die Tür vor dem Duftgemisch aus saurer Sahne und allgemeiner Verwesung.
»Hab zu danken.«
»Gern geschehen.« Der Kaffee war wahrscheinlich mehrmals aufgekocht worden und hatte mittlerweile die Konsistenz von frischem Asphalt angenommen. Ohne Sahne zur Verdünnung verzichtete Raley dankend.
Er warf einen Blick auf den stummen Fernseher.
»Du musst deine Hasenohren neu ausrichten.« Dabei streckte er eine Hand nach der schleifenförmigen Zimmerantenne aus.
»Das sind nicht die Hasenohren. Ich hab den Ton abgestellt.«
»Wieso das?«
Der alte Mann reagierte mit einem rituellen Schnauben, das heißen sollte, dass er sich nicht zu einer Antwort herablassen würde. Der selbst ernannte Eremit hauste seit »dem Krieg« im frei gewählten Exil, wobei er sich nie genauer darüber ausgelassen hatte, welchen Krieg er meinte. Er wollte so wenig wie möglich mit anderen Homo sapiens zu tun haben.
Kurz nachdem Raley in seine Nachbarschaft gezogen war, hatten sich ihre Wege im Wald gekreuzt. Raley hatte gerade in die Knopfaugen einer toten Beutelratte gestarrt, als der alte Mann durchs Unterholz gekracht kam und ihn angegeifert hatte:
»Denk nicht mal dran!«
»Woran?«
»Mir mein Opossum wegzunehmen.«
Den grauenvoll stinkenden, aufgedunsenen und mit Fliegen übersäten Kadaver mit dem rosa Schwanz anzurühren war so ziemlich das Letzte, was Raley in den Sinn gekommen wäre. Er hob kapitulierend die Hände und trat beiseite, damit der barfüßige alte Mann im fleckigen Overall seine Beute aus dem Metallkiefer der kleinen Falle lösen konnte.
»So wie du hier rumtrampelst, hätt's mich nicht gewundert, wenn du in meiner Falle gelandet wärst und nicht das Opossum«, grummelte er.
Raley war davon ausgegangen, dass um die Hütte, die er kürzlich erworben hatte, meilenweit niemand lebte. Er brauchte keinen Nachbarn, schon gar keinen, der über sein Kommen und Gehen Buch führte.
Als der alte Mann aufstand, protestierten seine Knie mit so lautem Knacken und Knirschen, dass er unter Schmerzen das Gesicht verzog und einen Schwall von Flüchen ausstieß. Den baumelnden Kadaver in der Hand haltend, taxierte der Alte Raley von der Baseballkappe und dem bärtigen Gesicht abwärts bis zu den Wanderschuhen. Nach abgeschlossener Inspektion spuckte er einen Strahl Tabaksaft in den Dreck, um seine Meinung über diesen Anblick kundzutun. »Is' schließlich nicht verboten, im Wald rumzulaufen«, sagte er. »Aber lass bloß die Finger von meinen Fallen.«
»Es würde die Sache vereinfachen, wenn ich wüsste, wo sie stehen.«
Die Lippen des Alten verzogen sich zu einem breiten Grinsen, bei dem er tabakfleckige Stummel entblößte, wo früher einmal Zähne gewesen sein mussten. »Kann ich mir vorstellen.« Immer noch keckernd wandte er sich ab. »Die findest du schon, da wette ich drauf.« Noch lange nachdem er im dichten Unterholz verschwunden war, hörte Raley sein meckerndes Lachen.
Während der folgenden Monate waren sie sich immer wieder zufällig im Wald begegnet. Zumindest waren es für Raley zufällige Begegnungen gewesen. Er nahm an, dass sich der Alte nur zeigte, wenn ihm danach war, und unsichtbar blieb, wenn er keine Lust hatte, seinem neuen Nachbarn einen Gruß zuzugrunzen.
An einem heißen Nachmittag trafen sie in der Tür des Lebensmittelladens im nächsten Ort aufeinander. Raley wollte gerade hinein, der alte Mann heraus. Sie nickten einander zu. Als Raley später mit mehreren Einkaufstüten wieder nach draußen kam, sah er den Alten in einem Korbsessel auf der schattigen Veranda vor dem Laden sitzen und sich mit dem Hut Luft zufächeln. Aus einem Impuls heraus zerrte Raley eine gekühlte Bierdose aus dem Sixpack und warf sie dem Alten zu, der sie in einem exzellenten Reflex mit einer Hand auffing.
Raley lud die Einkäufe auf der Ladefläche des Pick-ups ab und kletterte hinter das Steuer. Der Alte beobachtete mit sichtlichem Misstrauen, wie er den Rückwärtsgang einlegte und aus der Parklücke setzte, aber Raley war aufgefallen, dass er die Dose geöffnet hatte.
Am nächsten Morgen klopfte jemand an Raleys Hütte. Nachdem er noch nie Besuch bekommen hatte, näherte er sich argwöhnisch der Tür. Vor ihm stand der Alte, in der Hand hielt er eine gesprungene Keramikschüssel mit einem Berg von rohem Fleisch unbekannter Herkunft. Es sah aus wie Aas, das sogar das Jagdhundetrio verschmäht hatte.
»Für das Bier. Ich mag keine Schulden bei niemand haben.«
Raley nahm die Schüssel entgegen, die ihm an die Brust gedrückt wurde. »Danke.« Sein Besucher machte kehrt und stapfte die Stufen hinab. Raley rief ihm nach: »Wie heißen Sie eigentlich?«
»Wer will das wissen?«
»Raley Gannon.«
Übersetzung: Christoph Göhler
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Blanvalet Verlag
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Autoren-Porträt von Sandra Brown
Sandra Brown arbeitete als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman »Trügerischer Spiegel« auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher die Spitzenplätze der »New York Times«-Bestsellerliste erreicht! Ihr endgültiger Durchbruch als Thrillerautorin gelang Sandra Brown mit dem Roman »Die Zeugin«, der auch in Deutschland zum Bestseller wurde. Seither konnte sie mit vielen weiteren Romanen ihre Leser und Leserinnen weltweit begeistern. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sandra Brown
- 2012, Erstmals im TB, 512 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Christoph Göhler
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442378060
- ISBN-13: 9783442378067
- Erscheinungsdatum: 11.05.2012
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